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Котик

Kätzchen
von
Koautor:  Aphrodi

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Russia Is Nicknaming

Khabarovks Flughafen.

Sie hatten das Ziel ihrer langen Reise erreicht – jedenfalls beinahe. Jetzt mussten sie nur noch in die Autos steigen, deren Fahrer bereits am Terminal auf die warteten und sich entspannt in das nahegelegene Einfamilienhaus kutschieren lassen. Der anstrengende Teil war also geschafft. Wenn es nach Lev ging, dann hatten sie diesen sogar schon vor Wochen hinter sich gelassen. Es war nicht der sechseinhalbstündige Flug, das Umsteigen mit dem langen Aufenthalt am Flughafen in Incheon, die Enge im Flieger, die bei seinen langen Gliedmaßen sehr unangenehm war.

 

Sorge bereitet hatte ihm einzig und allein Yaku. Es war viel Überzeugungsarbeit nötig gewesen, um ihn zum Mitkommen zu überreden, denn egal was Lev auch sagte, für alles fand sein kleiner Freund eine Ausrede. Es gab immer etwas zu mäkeln und zwischendrin hatte er längst das Gefühl, Yaku wollte gar nicht mit. Der hatte nämlich keine Zeit, ein paar Tage nach Russland zu fliegen, er musste schließlich für die nächsten Prüfungen lernen. Dass ein paar Tage ohne zu lernen sicher nicht viel ausmachen würden, wollte Yaku nicht hören. Außerdem hatte er auch gar kein Geld für den Flug, wie er meinte. Dass Levs Familie ihm die Reise bezahlen würde – er gehörte schließlich irgendwo dazu –, wollte er dann auch wieder nicht. Und Russisch sprach er auch nicht einmal, wie könnte er also nach Russland fliegen? Wie sollte er sich mit Levs Familie unterhalten? Dass Lev selbst kein Russisch sprach und sein Englisch auch weitaus schlechter war als Yakus, der immerhin Dolmetschen studierte mit Hauptfach Englisch und Zweitfach Chinesisch, sollte auch kein akzeptables Argument sein. Dafür gab es nur einen Tritt für Lev, weil er nicht fleißig genug Englisch lernte. Und überhaupt sollte er mehr Zeit für die Schule investieren... Lev hatte es schon so oft gehört, als hätte er mit Yaku eine kaputte Schallplatte in seinem Zimmer herumleiern.

 

Zum Glück ging das bei Lev durchs eine Ohr rein und durchs andere wieder raus.

 

Als Yaku ihm dann den einen Freitag, an dem sie sich für eine ihrer Wochenendübernachtungen getroffen hatten, verkündet hatte, er würde mitkommen und Lev solle ihm bitte nochmal die genauen Reisedaten und Kosten nennen, staunte der Riese nicht schlecht. Und jetzt standen sie hier in Khabarovsk gemeinsam mit Levs Eltern, Alisa und Yamamoto, hatten ihr Gepäck und den kleinen braunen Spitz Namens Vassi an sich gebracht und gingen auf Levs Verwandte zu, die sie abholten. Die Damen in ihrer Gruppe waren gleich herzlich und fielen Levs Tante Agnessa in die Arme. Danach war Lev dran und schon musste er sich anstrengen, um die russischen Fetzen, die er verstand, zusammenzubasteln. Er konnte kein Russisch sprechen, denn mit seinem geringen Wortschatz brachte er es zu kaum einem sinnigen, vollständigen Satz. Aber immerhin verstand er ein bisschen. Verständig machte er sich daher nahezu ausnahmslos in gebrochenem Englisch.

 

„Leva ist ja schon wieder ein großes Stück gewachsen“, hörte er seine Tante sinngemäß sagen und musste grinsen. „Und Ala ist eine richtige Dame geworden!“

Natürlich war seine Schwester hübsch und eine Dame, das lag schließlich in der Familie. Also... das mit der Dame traf jetzt nicht auf Lev zu, aber die Schönheit lag den Haibas in ihren russischen Genen.

 

„Levka! Du sprichst immer noch kein Russisch? Pass dich gefälligst endlich mal an. Kannst jawohl nicht erwarten, dass wir alle Japanisch lernen“, hörte er seinen Cousin von der Seite sagen – in russisch akzentuiertem Englisch, was es ihm noch einmal extra schwer machte, es zu verstehen. Das typische Grinsen, das Lev dabei aufgesetzt hatte, konnte kaum die Frechheit in seiner Antwort kaschieren.

„Japanisch ist eine sehr höfliche Sprache, Grisha. Da würdest du an deine Grenzen stoßen.“

 

Aus dem Augenwinkel bemerkte Lev den Blick von Yaku, der sich gerade von Alisa gemeinsam mit einem eingeschüchterten Yamamoto seiner hübschen Tante vorstellen ließ. Den hatte er mit seinem coolen Spruch jetzt sicher beeindruckt. Er grinste mehr, schließlich gab ihm das Genugtuung, doch Grisha tat so, als wäre er nicht einmal tangiert davon, dabei wusste er, dass sein Cousin es sehr wohl war. Er hatte es ihm gegeben.

 

„Ich heiße Grigori! ...Wer ist denn hier bitte unhöflich und stellt mir seine kleine Freundin nicht vor?“

 

„Freundin?“, kam es sehr überrascht von Lev, dann folgte er Grishas – er dachte gar nicht dran, ihn Grigori zu nennen, schließlich nannte ihn jeder bei seinem Spitznamen, seit er ein kleiner Junge gewesen war – Blick zu Yaku, Alisa und Yamamoto, bevor er anfangen musste zu lachen.

„Das ist nicht meine Freundin. Das ist Moro- Morisuke, ein Freund von mir. Klein ist er allerdings wirklich, selbst für einen Japaner.“

 

Im nächsten Moment spürte Lev einen Stich an seiner Hüfte und schaute, als er den Kopf drehte, direkt in das erzürnte Gesicht von Yaku, der ihm ganz fies in die Seite kniff und dabei bedrohlich anmerkte, dass sie beide darüber später nochmal reden würden. Leider glaubte Lev nicht daran, dass er damit diese Art von Privatgespräch meinte...

„Auuu...“

Lev rieb sich unter Gelächter von Grisha über die Stelle, die unter seinem Shirt sicher längst ein roter Kreis auf seiner blassen Haut zierte.

 

„Dass du dich nicht mal gegen so einen Zwerg wehren kannst, Levka, ist echt traurig. Du bist kein Mann, du bist eine Memme.“

 

„Willst du auch? Dann sehen wir ja, was für ein Mann du bist“, funkelte Yaku Grisha entgegen und brachte Lev damit zum Schmunzeln. Weh tat es längst nicht mehr und bevor sein kleiner Kampfspitz noch auf seinen Cousin losging, nahm er ihn lieber an die imaginäre Leine, indem er ihm eine Hand auf die Schulter legte.

 

„Nimm ihn nicht so ernst, er redet nur gern daher.“

 

„Dann liegt die große Klappe also in der Familie...“

 

„Lyovochka! Kannst du uns mit dem Gepäck helfen~?“

 

„Natürlich, Schwesterchen~“, singsangte Lev mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, das zeigte, dass Yakus Spruch an ihm abgeperlt war wie Wasser an einer Regenjacke. Eigentlich perlte so ziemlich alles an ihm ab, wenn es negativ gemeint war, egal wer es sagte. Ein kurzer Blick in Yakus mies gelauntes Gesicht änderte daran ebenfalls nichts. Es war nicht beunruhigend, wenn der so guckte, das wusste er. Es war schon fast das typische Gesicht, das Lev von ihm gewohnt war und daher sah er nicht den Hauch einer Gefahr mehr darin.

 

„Lyovochka“, hörte er Grisha noch vor sich hin prusten. „Du bist echt noch ein Baby.“

 
 

***

 

 

„Was hat es mit diesen Spitznamen auf sich?“, fragte Yaku fast beiläufig, aber trotzdem mit einem gewissen Grad an Neugierde, als sie zumindest ein paar ihrer Klamotten in den vorhandenen Kleiderschrank des Gästezimmers hingen – die, die sie zur Geburtstagsfeier von Levs Oma anziehen wollten, und die damit keine paar Tage knitterfrei im Koffer überleben würden. In dem Zimmer schlafen würden sie allerdings nicht, das war ihren Eltern vorbehalten. Yaku und ihm blieb lediglich die Couch im Wohnzimmer mit einer ausklappbaren Matratze davor, während Alisa und Yamamoto das alte Zimmer von Grisha bekamen. Alisa könne schließlich nicht auf dem Boden schlafen, hieß es und Lev hatte natürlich zugestimmt.

 

„Lev, hörst du mir zu?!“

 

„Klar hab ich dich gehört, Morochka.“

 

„Und warum antwortest du dann nicht?!“

 

Er drehte den Kopf zu Yaku, schmunzelnd und viel zu ausgelassen. Für den Moment sah Yaku noch viel mehr aus wie Vassi, wenn er sich wieder einmal an Levs Bein hochstreckte und ihn anbellte. Es war niedlich, wie er fand.

„Ich hab dir das doch schon mal erzählt, als du so genervt davon warst, dass ich dir einen Spitznamen gegeben habe. Es ist ein Zeichen der Zuneigung.“

 

„Weiß ich“, merkte Yaku irgendwie entnervt klingend an, dann seufzte er und begann irgendwas in sich hinein zu brummen. Das konnte aber nichts mit seinem Spitznamen zu tun haben, war sich Lev sicher, denn den hatte sein Freund schließlich schon lange akzeptiert und er wettete, dass der Kleine ihn mittlerweile sogar mochte. Lieber als Reisbällchen jedenfalls.

 

„Aber?“

 

„Jeder hier nennt jeden anders, das ist verwirrend! Dass deine Schwester dich Lyovochka nennt, wusste ich ja, aber deine Tante sagt immer wieder Leva, dieser schreckliche Cousin von dir nennt dich Levka.“

 

„Ahhh, das meinst du“, kam es von Lev, als ihm endlich ein Licht aufging. „Hmm, wie erklär ich das jetzt am besten?“

 

„Verständlich.“

 

„Lyovochka ist eine Verniedlichung. Aus einem Löwen wird damit ein Löwchen. Aber es gibt mehrere Möglichkeiten dafür, Levushka zum Beispiel. Ochka, ushka, enka... das macht einen Namen niedlich.“

 

„Und das hast du mit meinem Namen gemacht?!“

 

„Natürlich, weil ich dich so gern hab, Morochka! ...ARGH!“

Der Tritt gegen seine Oberschenkel hatte wirklich wehgetan, taten sie immer noch, trotz aller Gewohnheit. Manchmal traf Yaku seine Kniekehlen, dann sackte er sogar richtig zusammen, andere Male erwischte es seinen Hintern, der nicht gut genug gepolstert war, um den Schmerz abzufangen.

„Und so einen peinlichen Namen gibst du mir?!“, hörte Lev ihn noch motzen, während er eigentlich gerade mit seinem eigenen körperlichen Leid zu tun hatte.

 

„Es ist nicht peinlich, es ist-“

Bevor er süß sagen konnte, hatte ihm Yaku noch einen Tritt verpasst – vorsorglich. Aber wenn man ehrlich war, hätte Lev ihn sowieso abbekommen.

„Ich wollte, dass du zu uns gehörst.“

 

In seinem Gesichtsausdruck konnte Lev lesen, dass Yaku verstand. Nicht lange allerdings, denn dann rümpfte er die Nase und drehte sich mit einem unnötig verärgerten Gesicht und einem „Hab ich nicht drum gebeten“, weg. Lev wusste allerdings, dass es zu seinem Tsundereverhalten gehörte, das er viel zu oft unnötigerweise an den Tag legte. Er könnte ja auch einfach mal dazu stehen, dass es ihm ein bisschen nahe ging.

Damit war Lev zufrieden.

 

„Ah, wegen den anderen Namen: Leva ist einfach die Kurzform von Lev. Ich weiß, das klingt komisch, weil es gar nicht kürzer wird, aber das ist eben allgemein. Ala für Alisa, Vlada für Vladivoska, wie meine Mutter. Levka ist eine Art Spitznamen zu bilden, aber weder niedlich noch irgendwie höflich. Also mach das besser nicht.“

 

Yaku sah Lev tatsächlich aufmerksam an und hörte ihm geduldig zu, bis dahin jedenfalls.

„Dieser Grigori nennt dich immer so“, stellte er fest und Lev musste schmunzeln, die Schultern zuckend. Als sie noch Kinder waren, da hatte er ihn auch noch Lyovochka genannt, aber seitdem er ein selbsternannter Mann war und damit kein Baby mehr, hatte sich das geändert. Lev machte sich nichts daraus. Er konnte auch als Lyovochka cool sein – vermutlich weil niemand wusste, dass er damit nicht männlicher als ein Lev-chan war.

„Russische Jungs nehmen untereinander diese Art von Spitznamen. Es ist cool.“

 

„Na gut, damit sollte ich jetzt besser durchblicken. Aber Lev...“

 

„Hm?“

 

„Nenn mich nicht so, wenn irgendwer dabei ist.“

 

Lev hob die Augenbrauen nebst dieser Forderung von Yaku. Es war fies, das zu hören, wo der Name doch nur ein Ausdruck seiner Gefühle für ihn war. Nett gemeint, liebevoll, gefühlvoll – mehr nicht. Er wollte Yaku damit sicher nicht bloßstellen und doch war es typisch für seinen Freund, dass er so reagierte. Lev war es gewohnt, auch wenn das oft genug ein bisschen in seiner Brust stach.

 

„Hatte ich nicht vor, Morochka.“

Russia Is Beauty And Kitsch

„Ihr müsst das nicht tun“, wiederholte Alisa nun schon zum dritten Mal. Sie hatte sich mit beiden Armen bei Yamamoto eingehakt und ging an ihn schmiegend hinter Lev und Yaku her. Das erste Mal hatte er diesen Satz von ihr gehört, als er im Wohnzimmer angekündigt hatte, mit Vassi Gassi zu gehen. Das zweite Mal, nachdem sie das Haus gemeinsam verlassen hatten. Alisa und Yamamoto – also eigentlich nur seine Schwester, denn sein Schwager in spe machte sowieso alles, was sie wollte – hatten beschlossen, sie zu begleiten. Und so war das Quartett schon ein paar Straßen weit durch die idyllische Großstadt.

 

„Alisochka. Ehrlich, es macht uns nichts aus.“

 

„Es ist sogar ganz angenehm sich ein bisschen die Beine zu vertreten.“

 

Sie hatten schließlich einen langen Flug mit viel Aufenthalt am Flughafen hinter sich, da kam es Lev und Yaku nur gelegen, sich zu bewegen. Und ganz davon abgesehen hatten sie nicht einmal ein eigenes Zimmer, in das sie sich zurückziehen konnten. Eigentlich war das sogar der Hauptgrund für ihre Flucht. Dass sie jetzt noch zwei ungebetene Begleiter hatten, war für Lev allerdings kein Problem. Er hatte sowieso nicht vorgehabt, sich mit Yaku so öffentlich in eine fragwürdige Knutscherei zu begeben oder einfach nur Händchen zu halten.

 

„Das stimmt, es ist angenehm“, wiederholte Alisa und klebte mit einem viel zu glücklichen Gesichtsausdruck noch immer an ihrem Freund. Ein wenig beneidete Lev sie dafür, dass sie ihre Liebe so frei heraus zeigen konnte. Er würde es selbst gerne tun, einfach den Arm um Yakus Schulter legen und gemeinsam durch die Straßen flanieren. Aber Lev tat es nicht, weil er wusste, dass sein Freund es nicht mochte – nicht, wenn man sie sehen konnte. Dabei könnte man meinen, in Russland wäre es egal, schließlich kannte ihn hier sowieso niemand.

Aber Lev wusste es besser.

Und viel wichtiger noch, er gönnte seiner Schwester alles Glück der Welt und konnte mit Yamamoto an ihrer Seite sehr gut leben.

 

„Ich dachte ja, deine Schwester wäre beeindruckend, aber hier sind alle Mädchen Augenweiden“, stellte Yaku erstaunt fest, nachdem er seinen Blick eine Weile hatte schweifen lassen. Zugegeben, Lev hatte geglaubt, er würde sich die Umgebung ansehen, nicht die ganzen Frauen. Yamamoto stimmte ihm zu, betonte dann aber kleinlaut, dass Alisa viel schöner als sie alle wäre, was hinter ihren Rücken zu einem kitschigen Turteln führte. Lev sah Yaku mit den Augen rollen, dann grinste er schief.

„Verlieb dich bloß nicht, Morisuke. Wir müssen dich wieder mit nach Hause nehmen, sonst wird deine Mutter unglücklich“, sagte er schließlich halb im Scherz. Und wirklich nur halb – er sollte sich nicht trauen, hier einem Mädchen schöne Augen zu machen!

 

„Hatte ich nicht vor! Aber es ist schon verrückt. Die sehen alle aus, wie aus einem Modemagazin oder vom Laufsteg gefallen.“

 

„Russische Frauen achten eben auf ihr Aussehen. Aber vieles davon sind sicher auch gute Gene, das sieht man ja an Alisa und mir.“

 

„Nicht das schon wieder, Lev...“

 

„Aber es ist wahr!“

 

Als stumme Reaktion bekam Lev von Yaku lediglich einen Schlag auf dem Hinterkopf, der ihn erst einmal ruhig stellte und wodurch er sich auf die Zähne beißend durch die Haare rieb.

„Es ist nicht nur das“, hörte er Alisa sagen und schaute neugierig über die Schulter zu ihr nach hinten, genau wie Yaku. Nur Vassi hatte den Blick weiter unbeeindruckt nach vorne gerichtet und stolzierte in all seiner Königlichkeit die Promenade entlang, die sie unterdessen erreicht hatten.

 

Das hieß noch mehr schöne Frauen – viele davon im Bikini. Yamamoto hatte Mühe, sich zusammenzureißen. Ein prüfender, kurzer Blick zu Yaku fiel zu nichtssagend aus, um zufriedenstellend zu sein.

 

„Was denn noch?“, fiel es Lev wieder ein, nachdem er für einen Moment den prüfenden Blick hatte wandern lassen. Jetzt ruhte seine Aufmerksamkeit wieder nur auf Alisa.

 

„Mama hat es mir mal erzählt: In Russland gibt es einen Frauenüberschuss, der so groß ist, dass ein richtiger Konkurrenzkampf herrscht. Daher macht jede Frau sich so hübsch wie möglich, um einen Mann abzubekommen. Viele Frauen suchen als Folge dessen auch einen Mann aus dem Ausland.“

 

„So wie Mama? Und ich dachte, ihre Liebe war ein bisschen romantischer.“

 

„War sie auch! Dass sie sich kennen gelernt haben, war Schicksal“, bekräftigte Alisa ein wenig empört klingend. Lev grinste schief und winkte mit einer Hand beschwichtigend ab.

„An etwas anderes habe ich doch auch nie geglaubt, Alisochka. So romantisch wie eure.“

Seine Augen blitzten einen Moment verschmitzt auf, bevor er weitersprach, den Blick auf sie und Yamamoto gerichtet.

„Der Moment, in dem du das Ass auf dem Platz spielen siehst, ist der, in dem du dein Herz verlierst.“

 

Yaku verzog ungläubig das Gesicht, offenbar waren ihm Levs Worte wie immer zu kitschig, aber Alisa brachte er damit zu einem peinlich berührten Kichern, während sie mit einer Hand einen Teil ihres Gesichts verbarg. Lev war sich sicher, sie wurde ein bisschen rot. Bei Yamamoto dagegen konnte er sich sicher sein, dass er gerade knallrot anlief, und er konnte nicht anders, als zu grinsen bei dem Anblick.

„Denk nicht, dass der Job eines Asses nur daraus besteht, angehimmelt zu werden. Es ist harte Arbeit. Du musst dich erst einmal beweisen!“

 

„Yamamoto hat Recht. Wenn du nur das Ass sein willst, damit man dich verehrt, dann lass es gleich bleiben.“

 

„Sei doch nicht so, Morisuke! Ich werde dich als Nekomas Ass stolz machen!“

 

So wirklich schien ihm keiner zu glauben, weder Yaku noch Yamamoto. Gemeinheit! Dabei strengte er sich wirklich an – jedenfalls so weit, wie er es für angebracht hielt. Und seitdem er Kapitän und Ass gleichzeitig war, hatten seine Mitspieler alle Mühe, ihn dazu zu bekommen, sich intensiv aufs Spiel zu konzentrieren. Er hatte es zwar geschafft, sich keine großen Böcke mehr zu leisten, beherrschte die Basics und hatte mit seinem schwungvollen, peitschenartigen Schmetterball eine gefährliche Waffe, aber viele seiner Handlungen waren nach wie vor von einer zu lockeren Mentalität geleitet. Lev war ein Macher, kein Denker.

 

Und trotzdem war er Nekomas Ass und Kapitän.

 

„Hmpf. Darin, große Töne zu spucken, bist du gut, aber lass doch endlich mal Taten sprechen, Lev.“

 

Lev war still – zu still für einen Moment. Er sah Yaku einfach nur an, der es erst gar nicht bemerkte, bis es schon zu spät war und er sich unzufrieden meckernd und zappelnd auf Levs Armen wiederfand.

„Was wird das, du Behemoth?! Lass mich gefälligst runter!“

Natürlich hörte Lev nicht darauf, es beeindruckte ihn auch nicht die Bohne. Yakus Blick war nicht halb so furchteinflößend, wie er sich das mit seinem grimmig dreinblickenden Gesichtsausdruck wohl vorstellte. Dass er Yaku gerade verärgerte? Lev nahm das nicht so ernst. Viel wichtiger war gerade das, was er mit ihm vorhatte. Um es mit Yakus Worten zu sagen, die er nur allzu oft benutzte, wenn er Lev trat: „Du hast es dich gefragt.“

 

Für einen Moment war Yaku tatsächlich still – bewegte sich nicht, sprach nicht. So als müsste er diese Worte, die gegen ihn gerichtet waren, erst einmal verarbeiten. Lev bekam ihn einige Meter weiter getragen, dank der langen Beine, bis das Gezappel wieder los ging, das Vassi dazu animierte, immer wieder bellend in die Luft zuspringen, dabei trotz seiner kurzen Beinchen mit ihnen mithaltend.

„Du spinnst doch! Lass mich gefälligst runter, sonst-!“

 

„Sonst was?“

 

„Sonst wirst du es bereuen!“

 

„Leere Worte.“

Das Drücken und Kneifen an seinen Oberarmen, sowie seiner Brust, störte Lev nicht. Als hätte er für einen Moment eine Metalllegierung bekommen, reagierte er nicht einmal auffallend darauf. Auf den Sand unter seinen Füßen dagegen reagierte er schon eher – seine Schritte wurden schwerer, behäbig und er hatte Mühe, vorwärts zu kommen. Zum Glück war der Strand allerdings nicht gerade breit. Als Yaku dämmerte, was ihm bevor stand, wurde aus Drücken und Kneifen Klammern und Krallen.

 

„Lev, ich meine es ernst! Wenn du das machst, dann-“

 

Es muss an dem festen, ernsten Blick von Lev gelegen haben, dass Yaku den Satz nicht zu Ende bringen konnte. Er sah nicht aus, als würde er spaßen. So ernst sah Lev selten drein; wenn er es tat, bedeutete das meistens nichts Gutes. In der Regel hieß es, dass Yaku ernsthaft etwas Blödes getan hatte. Es machte Lev unberechenbar.

Dass Yaku selbst aber gar nicht wusste, was er angestellt hatte, war ihm leicht im Gesicht abzulesen. Irritiert. Verdattert. Verunsichert. Offenbar befürchtete er wirklich, dass er gleich mit dem Hintern voran im Wasser landen würde, an dem Vassi gerade schnüffelte, die Pfötchen ein Stück darin versunken, bis er die Nase rümpfend die Flucht ergriff.

 

„Du vertraust mir nicht.“

 

„W-was?“

 

„Nach all der Zeit vertraust du mir immer noch nicht. Ich kann es in deinem Gesicht sehen.“

 

„Du redest mal wieder Schwachsinn.“

Yaku wendete den Blick entnervt zur Seite ab, aber er konnte damit nicht verstecken, was Lev mit Sicherheit gesehen hatte. Er hatte wirklich befürchtet, dass Lev ihn fallen ließ. Als ob er so etwas jemals tun würde mit seinem kostbaren Reisbällchen.

 

Es herrschte eine unschöne Stille zwischen ihnen, die erst von Yamamoto durchbrochen wurde.

„Hey, die Dame hat Hunger! Beeilt euch und kommt wieder her, damit wir weiter können!“

Ohne, dass sie sich noch etwas zu sagen hatten, und das obwohl Lev noch einmal vergeblich Yakus Blick suchte, ließ er ihn von seinen Armen runter, ohne ihn überhaupt in Berührung mit dem durch Industrie verschmutzten Wasser kommen zu lassen.

„Wir kommen!“, bestätigte Lev noch, dann machte er sich mit Vassi und einem auf Abstand folgenden und vor allem schweigenden Yaku daran, zu ihnen aufzuschließen. Nur ums sich dann von Alisa eine Standpauke abzuholen.

 

„Lyovochka, nein! Guck dir Vassis Pfötchen an. Hast du ihn etwa in diesen Schmodder gelassen?!“

Unter Levs irritiertem und völlig unschuldigen Blick hockte sie sich hin, kramte eine Packung Taschentücher aus ihrer Handtasche und begann damit, Vassis Pfoten von Sand und Matsch zu befreien.

„Mein armer, kleiner Prinz. Pfui!“

 

„Pfui, Lev“, kommentierte Yaku tonlos und schaute ihn nicht einmal an. Empört plusterte der einen Moment lang die Wangen auf, bis Yamamotos schallendes Gelächter ihn kurz davon ablenkte, beleidigt zu sein.

„Bwahahahahahaha, Nekomas großes Ass wird wie ein Hund behandelt.“

 

„Hmpf! Und wie oft hat Kuroo-san dir bitte gesagt, dass du die Klappe halten sollst?“

 

„Lyovochka, halt den Mund!“

 

„Bwahahaha!“

 

Für den Moment war Lev nun wirklich verärgert. Es war unfair, wie er fand, dass sich nun jeder gegen ihn wendete. Dass Yaku angepisst war, hatte er bemerkt, aber dass sogar Alisa sich so verhielt, war gemein. Sie waren Geschwister, sie mussten zusammenhalten! Er konnte doch nichts dafür, dass dieser Hund seinen eigenen Willen hatte und er gerade anders beschäftigt gewesen war – mit Yaku nämlich. Und es wurmte Lev nun zusätzlich, dass es auch noch eine erfolglose Aktion gewesen war, die – eher im Gegenteil – ihre Stimmung ruiniert hatte.

 

Yaku, wenn er ihn mal ansah, schaute sichtlich genervt.

 

Lev seufzte bedient und sah noch einmal in die Runde.

„Wollten wir nicht etwas essen? Ich hab da schon ein Lokal im Kopf, das ist auch gar nicht weit weg.“

Hätten sie gewusst, wohin Levs sie führen würde, wären sie sicherlich nicht so einfach mitgegangen. Aber sie wussten es nicht und ziemlich blöd verzogen sie ihre Gesichter, als sie den Laden betraten, der sich „Chilly“ nannte. In dem Lokal herrschte eine ausgelassene Stimmung, die Einrichtung war inspiriert von Südamerika – mediterrane Farben an den Wänden, rustikale Holzbalken und eine bunte Wanddekoration bestehend aus Schals, kleinen Hüten und bunten Tellern, auf denen tanzende Pärchen zu sehen waren.

Es war kitschig. Es war schrill. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen, weil sie von der Optik fürs erste so geplättet waren, folgten sie Lev wortlos weiter hinein zu einem Tisch, den er für sie aussuchte.

 

„Ist es nicht toll? Sie haben sogar einen offenen Grill. Guckt euch mal an, wie hoch die Flammen schlagen!“

Die Anderen wussten gar nicht, wo sie hingucken sollten. Zu dem offenen Grill, der Mirachi-Band, die allesamt mit Sombreros und Gitarren ausgestattet waren oder zu den leicht bekleideten Tänzerinnen, die sich gerade mit auf die Bühne gesellten und Levs Blick ebenfalls damit für einen Moment fesselten.

„Gaff nicht so!“, grummelte Yaku neben ihm, aber noch bevor Lev großartig reagieren konnte, war Alisa von ihrem Platz aufgestanden und verkündete schon im Davonhasten, dass sie hier ganz sicher nicht essen würden. Yamamoto musste sie dabei an seinem Oberarm mitzerren – irgendwie wirkte er ein wenig abwesend.

 

Eher widerwillig folgte Lev den anderen hinaus und war sichtlich enttäuscht. Es war doch ein aufregendes Lokal gewesen, es gab so viel zu sehen und er hatte schon richtig Lust auf Tacos, Burritos und mexikanisches Fleisch gehabt. Lev konnte es schon auf seiner Zunge schmecken...

„Jetzt entscheide ich, wo wir hingehen“, sagte Alisa streng und begann, mit Vassi in zügigem Tempo – und lustigerweise trotzdem mit eher kleinen Schritten – die Straße runter zu gehen. Dass sie dafür jetzt noch einmal einen Fußmarsch hinter sich bringen mussten, nachdem Lev sie schon durch die halbe Stadt gejagt hatte, nahm sie dafür scheinbar hungrig in Kauf. Sie kamen an mehreren Sushi-Lokalen entlang, aber jedes Mal winkte Alisa ab. Da, wo sie hingehen würden, wäre es besser. Lev konnte es sich immer mehr denken, je näher sie ihrem Ziel kamen.

 

Am Ende waren sie wieder an der Promenade angekommen, jedenfalls fast, denn dieses Mal befanden sie sich oben am Fluss, an dem großen Platz vor einem von Khabarovsks Wahrzeichen, einer weißen Kathedrale mit hohen zeltförmigen Dächern in himmelblau, verziert mit Gold und braunen Streifen an der orientalisch angehauchten Fassade.

 

„Das sieht aus wie das Schloss aus dem Disneyland!“, verkündete Yamamoto und fand es äußerst amüsant so ein Gebäude hier vorzufinden.

 

„Mit viel Fantasie“, merkte Alisa an und schüttelte den Kopf. Lev entging nicht, dass ihre Laune schlecht war – verständlich, denn Yaku konnte auch immer furchtbar zickig werden, wenn er hungrig war. Umso mehr hoffte er, dass sich die Stimmung zwischen ihnen wieder einpendelte, wenn sie erst einmal alle satt und zufrieden waren.

„Es ist eine Kirche.“

 

„Genauso kitschig wie das Schloss aus dem Disneyland ist sie jedenfalls. Aber das sind hier einige Gebäude. Das rosa Puppenhaus da hinten zum Beispiel. Oder dieses Hotel dort. Und das da. Das.“

Lev drückte Yakus Hand wieder runter, bevor sie noch mehr wichtige Nationalgebäude verpönen konnte. Das waren immerhin die Philharmonie, ein Nationalmuseum und das Museum für östliche Kunst.

 

„Du wirst dich an den Anblick gewöhnen müssen, Mora. Wir gehen in dem Hotel essen“, stellte Alisa klar und ging unbeirrt weiter Richtung Zielort, Vassi an der Leine führend, weil Lev viel zu verantwortungslos war, um auf ihn aufzupassen.

Bei ihren Worten entgleiste Yakus Gesicht, aber Lev war sich sicher, dass es nicht an der kitschigen Fassade lag, sondern eher daran, dass dieses noble Hotel nach ziemlich hochpreisigem Essen aussah. Und damit lag er genau richtig.

Lev und seine Familie waren schon oft in dem Hotel essen gegangen, wenn sie in Khabarovsk waren, einfach weil die Lage optimal war. Wenn sie in der Philharmonie waren, konnten sie vorher oder danach noch einen Abstecher in das Hotel machen, wenn sie am Amur entlang flanierten ebenfalls und auch nach einem Besuch im Nationalmuseum lud es geradezu dazu ein, dort zu speisen. Das Essen war ausgezeichnet und dass es in dem zweistöckigen Restaurant sogar japanisches Essen gab, war neben dem unnachahmlichen Ausblick auf den Amur ein unschlagbares Kriterium.

Es passte einfach alles. Immer.

 

Yaku wollte sich partout nicht einladen lassen, genau so wenig, wie er die Reise hatte bezahlt bekommen wollen, das wusste Lev. Aber so viel Geld für Essen ausgeben wollte er auch nicht.

„Muss das wirklich sein?“, fragte er missmutig und sah zu dem im Jugendstil gebauten Hotel herüber. Lev warf einen prüfenden Blick zu Alisa, war sich aber schon vorher sicher gewesen, dass sie nicht umzustimmen war.

„Die Sushi-Bar, an der wir eben vorbeigekommen sind, sah doch nett aus. Und ihr mögt doch gerne Sushi.“

 

Lev war ja schon ein wenig verzückt davon, dass sich Yaku sein Lieblingsessen gemerkt hatte. Er liebte diese mit Reis gefüllten Tofutaschen einfach, die gab es allerdings auch in dem Hotel, wie er wusste. Und bei Alisa konnte Yaku mit seiner Idee gar nicht punkten, denn was er nicht wusste war, dass sie am liebsten Seeigel-Sushi mochte. Und das bekam man eben nicht in einer 0-8-15-Sushi-Bar – in dem Hotel zwar auch nicht, aber das spielte ja dann auch keine Rolle mehr.

 

„Sushi haben sie in dem Hotel auch, Mora. Und noch andere japanische Spezialitäten, Ramengerichte, Udon, Yakisoba...“

Alisa musste gar nicht weiterreden, denn Yamamoto lief schon das Wasser im Munde zusammen, auch wenn sie die Yakisoba sicher nicht in einem Hotdog-Brötchen servierten. Aber es reichte aus, um Yaku zu überstimmen.

„Wir übernehmen auch die Rechnung, also kannst du alles essen, was du möchtest. Nur keine falsche Scheu“, sagte sie noch liebenswürdig – Lev war dem Charme seiner Schwester sofort verfallen und auch Yaku wurde ein Stück weit verlegen, wie er sehen konnte. Was er da in sich hinein grummelte, konnte Lev nicht verstehen, musste er aber auch nicht, denn Yamamoto bewegte den sturen Zwerg schiebend vorwärts, Alisa folgend und so setzte sich auch Lev wieder in Bewegung.

 

Es lohnte sich. Der Ausblick auf den Amur, den sie von dem Balkon des Hotels aus genießen konnten, war zauberhaft und die langsam untergehende Sonne, die sich entzündenen Laternen des benachbarten Aussichtspunktes, die den alten Gaslaternen nachempfunden waren, und die Aufmachung des Restaurants sorgten für ein angenehmes Ambiente. Lev war sich sicher, dass Yaku es als kitschig abtun würde, so wie immer, aber er selbst genoss es. Es war schön und er war froh, mit ihm hier zu sein.

Es machte ihn ein wenig gefühlsduselig, aber noch hielt er sich zurück. Oder er versuchte es zumindest, aber so ganz wollte es ihm nicht gelingen und das nur, weil Yaku in diesem gedimmten Licht einfach so wunderschön aussah. Selbst dann noch, als sich ihre Blicke kreuzten und Yaku ein grimmiges Gesicht aufsetzte und sich verunsichert über den Mund wischte.

 

„Was guckst du so?“

 

„Einfach so.“

 

„Es gibt Leute, die es nicht mögen, wenn sie beim Essen beobachtet werden...“

 

„Ah, tut mir leid, es ist nur...“, sprach Lev und wagte es nicht, seine Gedanken in Worte zu fassen. Jedenfalls nicht für aller Ohren hörbar. Stattdessen beugte er sich zu einem mit einer Mischung aus Grimmigkeit und Perplexität dreinblickenden Yaku hinüber, weit genug herunter, um ihm ein paar Worte ins Ohr zu hauchen, die den Adressaten rot werden ließen. Und viel schneller als sie beide gucken konnten, hatte Lev zwei Hände und ein Nigiri-Sushi im Gesicht kleben, die ihn wegdrückten.

 

„Mo-!“

 

Ungläubig hielten sie beide inne und starrten sich nur an, Lev mit einem zermatschten Reisklumpen an der Wange, der langsam bröckelte und zu Boden fiel, als die Hand zurückgezogen wurde, Yaku mit einem Streifen Thunfisch auf dem Schoß, der einen wunderbaren Fettfleck hinterließ. Stille. Stille, die bald von einem Prusten und einem erfolglos zurückgehaltenen Lachen abgelöst wurde. Auch Yamamoto fand es lustig, Alisa eher nicht so, ihr war das dann doch ein bisschen zu peinlich vor den anderen Leuten.

Die Papierserviette half dabei, die letzten Reiskörner von Levs Wange zu putzen, der restliche Reis wurde grob mit einem Taschentuch vom Boden aufgehoben, wozu sich dann auch das Stück Thunfisch gesellte. Lev nahm es gelassen, schließlich waren sie hier nicht in Japan und es brauchte sich niemand über ein zerfallenes Nigiri-Sushi empören.

 

Zu Alisas und damit ihrer aller Glück landete daraufhin kein Essen – egal ob Soba oder Pelmeni, Sushi oder Blini – auf dem Boden, in fremden Gesichtern oder auf Hosen. Lev allerdings war dankbar über das Sushi im Gesicht. Es hatte die schlechte Stimmung ein wenig gelockert und vor allem die Eiszeit zwischen ihm und Yaku beendet. Man merkte zwar noch, dass Yaku ihm die Nummer vom Strand noch ein wenig krumm nahm, aber sie sprachen miteinander, nicht gehässig, sondern normal. Es war eine Besserung und Lev war sich sicher, dass es noch besser werden würde. Ob er ihm nun vertraute oder nicht, erzwingen konnte er das Vertrauen sowieso nicht, für eine gute Atmosphäre allerdings konnte er sehr wohl sorgen. Musste er aber gar nicht.

Khabarovsk selbst war es, das sich in Szene setzte und aufbot, was es konnte. Ihr Spaziergang nach dem Essen führte sie noch einmal über den Platz mit den stimmungsvollen Gaslaternennachbildungen, durch die Innenstadt hindurch zu einem großen Platz, der von kleinen Brunnen mit Wasserspiel und rechteckig angelegten Blumenbeeten eingerahmt wurde. In seiner Mitte befand sich das eigentliche Glanzstück – ein großer Springbrunnen aus rotbraunem Gestein, dessen Wasserfontänen mit unterschiedlichen Strahlern in ein buntes Regenbogenschauspiel getaucht wurden.

 

„So schön!“, schwärmte Alisa bei dem Anblick und zog Yamamoto mit zu dem großen Springbrunnen in der Mitte, um den Anblick zu genießen. Schnell zückte sie ihr Handy und nur ein Blinzeln später warf sie sich enger an ihren Freund, den Arm weit ausgestreckt, um sich in Szene setzend ein paar schöne Fotos von ihnen zu machen. Mal drückte sie Yamamoto einen Kuss auf die Wange, ein anderes Mal legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und sogar Vassi wurde auf einem Foto mit verewigt – wie eine kleine, glückliche Familie. Yamamoto ließ alles über sich ergehen, aber Lev konnte auch nicht sagen, dass er unglücklich aussah.

 

„Das ist die Krönung“, stellte Yaku entgeistert fest und riss Lev damit aus seinen eigenen Fantasien, die bei diesem Anblick viel zu schnell in seinem Kopf entstanden waren. Er hob fragend eine Augenbraue, blickte von Yaku zu dem Brunnen und wieder zurück, ehe er zu schmunzeln begann.

„Du magst es nicht.“

 

„Natürlich nicht. Es ist furchtbar hässlich.“

 

„So schlimm ist es auch wieder nicht, Morochka.“

 

„Du hast gesagt, du lässt es!“

 

Unschuldig hob Lev eine Augenbraue, dann grinste er schief.

„Nicht ganz. Ich sagte, ich nenne dich nicht so, wenn es jemand hören kann. Aber alle hier sind viel zu sehr mit sich selbst und dem Brunnen beschäftigt, da achtet niemand auf uns.“

Er ließ sich nicht beirren und würde ihn weiter so nennen, wenn es die Gelegenheit zuließ und ganz besonders in diesem Augenblick war er in der Stimmung. Yaku hatte offenbar nicht mehr vor, neben seinem schmollenden Gesicht noch etwas anderes von sich zu geben, also übernahm Lev selbst die Initiative. Er griff ihn am Oberarm, weit genug weg von seiner Hand, um bloß nicht dein Eindruck eines Händchenhaltens zu erregen, und zog ihn mit sich zum Springbrunnen.

 

„Was hast du vor?!“

 

„Na was wohl, ich will auch ein paar Fotos machen.“

 

Yakus Gesicht entgleiste, dann zog er die Augenbrauen zusammen und zog seinen Arm zurück – ohne Erfolg, er konnte Levs Griff nicht entrinnen. Der Halbrusse selbst schaute einen Augenblick irritiert auf ihn herunter, dann wurde sein Lächeln wieder sorglos. Er ließ Yaku keine Chance, sich loszumachen oder auf sonstige Weise zu verhindern, sich mit ihm vor die kitschige Kulisse zu stellen, nicht einmal ein Tritt hätte ihn davon abgehalten. Es folgte zum Glück aber auch keiner, nur ein mauliges „Leeeeev!“ seitens Yaku.

 

Es half nichts. Lev ließ sich nicht erweichen und er war ehrlich gesagt auch viel zu glücklich, während er sich – den Sicherheitsabstand wahrend – zu Yaku herunterbeugte und in die Handykamera lächelte. Er machte einige Fotos, zur Sicherheit, wo er sie immerhin blind schoss. Die Frontkamera hatte natürlich weder Blitz noch eine so gute Kameraauflösung und war damit keine Option so spät am Abend. Auf vielen machte Yaku ein unbegeistertes oder entnervtes Gesicht, man konnte sehen, wie Levs eigenes beim Betrachten von Mal zu Mal unglücklicher wurde. Ein schmollender, eine Schnute ziehender Yaku war süß, aber in diesem Moment war es nicht das, was er sich bei den Bildern vorgestellt hatte.

 

„Gut... Ein Bild“, genehmigte Yaku schließlich, der zu wissen schien, was Levs Mundwinkel hängen ließ. So wie ihm das ins Gesicht geschrieben war, war das allerdings auch kein Kunststück, genauso wie die Freude über Yakus Aussage sofort sein Gesicht einnahm.

„Aber nur eins! Wenn du es ruinierst, bist du selbst schuld“, brummte er noch, bevor Lev sich wieder zu ihm herunterbeugte, ihm nicht einmal aufmerksam zuhörend, beziehungsweise den Ernst der Lage ignorierend. Er schoss das Foto ohne zu zögern und vertraute auf seine Schokoladenseite, sowie auf Yakus Versprechen.

 

Und es wurde wunderschön. So schön, dass Lev es Yaku gleich vor die Nase halten musste.

 

„Wow, du hast es nicht verbockt“, kam es mit so schlecht gespielter Begeisterung, dass er damit nicht einmal die goldene Ananas gewonnen hätte. Allerdings wollte er auch gar nicht begeistert wirken, da war sich Lev sicher. Trotzdem war er zufrieden.

„Ich schick es dir!“, merkte Lev ungefragt an und noch bevor Yaku seinen Protest beendet hatte, meldete sich sein Handy, um über die Ankunft des Bildes zu informieren.

 

„Ich hab nicht drum gebeten!“, grummelte Yaku, ein wenig hilflos, denn Lev entschied sich, den Protest völlig zu ignorieren und sich lieber damit zu beschäftigen, das Bild zu seinem neuen Bildschirmhintergrund zu machen – für Home- und Sperrbildschirm natürlich. Und dann zeigte er es zur Feier des Tages noch Alisa, die ihm stolz den Kopf tätschelte.

 

Am nächsten Morgen fand Lev besagtes Foto auch als Yakus Sperrbildschirm wieder.

Russia Is Gender Roles And Traditions

Der Morgen begann noch ruhig, wobei es nicht so angenehm war, in einem Durchgangszimmer zu schlafen, welches das Obergeschoss mit der Küche verband. So wurden Lev und Yaku früher geweckt, als ihnen lieb war.

Nach dem Frühstück ging es für sie beide mit Yamamoto und Pawel, dem Onkel von Lev, zu dem Haus, in dem Levs Cousine mit ihrem Mann und dem kleinen Maksim lebte. Es hatte einen großen Garten, wie Lev Yaku und Yamamoto erklärte, und war deshalb als Location für die Geburtstagsfeier ausgewählt worden. Während Levs Mutter und Alisa also zuhause blieben und Levs Tante beim Zubereiten von allerlei Köstlichkeiten halfen – die Levs Oma übrigens auch ganz alleine zubereiten wollte, obwohl die rüstige Dame sich damit viel zu viel vorgenommen hatte - kümmerten sich die Männer darum, den Garten mit Tischen und Stühlen auszustatten, die Musikanlage anzuschließen und damit alles für die Feier vorzubereiten. Bis auf die Tischdekoration, das übernahm Levs Cousine selbst, da war er auch froh drum.

 

Zwischen dem Herumtragen von Tischen und Stühlen und dem Aufbau mehrerer Pavillons fiel Lev immer wieder dieser Blick auf, den Yaku auf ihn gerichtet hatte, nicht wissend, was er davon halten sollte.

Er schob die Gedanken erst einmal beiseite.

 

Dank der vielen helfenden Hände wurden sie rasch fertig und konnten sich wieder auf den Rückweg machen – was natürlich irgendwie blöd war, schließlich mussten sie danach eben wieder genau hierhin zurückkehren, aber mit den Klamotten und ungeduscht konnten sie kaum zu dem Geburtstag auftauchen. Sie mussten zurück und sich noch ordentlich in Schale schmeißen.

Lev staunte nicht schlecht, als sich sein Blick von der Seite her zu Yaku stahl. Er hatte den kleinen Asiaten bisher nur in Schuluniform oder Casual gesehen, dabei waren das Sakko und die Bundfaltenhose der Uniform noch am Meisten an Abendmode herangekommen. Yaku trug sowas eben nicht und sie hatten auch bisher gar keinen Anlass gehabt, zu dem er sich hätte derartig kleiden müssen.

Lev war wirklich überrascht. Positiv. Es stand ihm, wie er fand und er hätte nichts dagegen gehabt, ihn in Zukunft öfter so zu sehen, besonders dann, wenn sie mit seiner Familie ausgingen. Besser als die am Hacken zerfetzten Hosenbeine, die dank seiner Größe immer auf dem Boden schlurften, war das Outfit allemal.

 

Leider war es Yaku sehr leicht anzusehen, dass er sich nicht wohlfühlte in seiner Kleidung, die für ihn wohl eher verkleidet als elegant war. Er sah unzufrieden aus. Lev in seinem Anzug zu sehen, überzeugte ihn scheinbar genau so wenig – irgendwie enttäuschend, dabei hatte er sich doch ziemlich herausgeputzt. Dass der positive Eindruck ausblieb, war frustrierend.

„Morochka... Mach nicht so ein Gesicht, du wirst meine Oma unglücklich machen, wenn du so guckst.“

 

„Noch sieht sie mich nicht, also kann ich so gucken, wie ich will.“

 

„Irgendwie wusste ich, dass du das sagen wirst“, seufzte Lev angestrengt und ging vom Spiegel zu ihm herüber, seine halb gestylte Frisur ignorierend. Das hatte schließlich Zeit. Er blieb vor Yaku stehen und sah zu ihm herunter, legte seinen Daumen streichend auf seine Unterlippe und sah ihm in die Augen.

„Aber ich sehe es und es macht mich traurig, dich so zu sehen. Lächle für mich, Morochka.“

 

Statt zu lächeln drehte sich Yaku allerdings weg.

„Lass das! Kümmer dich lieber um deine Haare, sonst ist es zu spät und du musst so gehen, wie du gerade aussiehst.“

Anstatt noch etwas einzuwerfen, gehorchte Lev und stylte seine Frisur zu Ende, nicht allerdings ohne durch den Spiegel immer mal wieder zu Yaku rüber zu sehen. Er hoffte inständig, dass sich sein Freund irgendwann an diese Art von Kleidung gewöhnte, so wäre es einfacher. Immerhin würde er sich noch öfter in Abendgarderobe kleiden müssen, zum Beispiel an Alisas und Yamamotos Hochzeit, die ganz sicher in den nächsten Jahren stattfinden würde, an weiteren Geburtstagen oder wenn sie miteinander ausgingen – nicht nur in den Vergnügungspark oder ins Kino.

 

Bevor Lev sich noch um viel mehr als seine Frisur kümmern konnte, mussten sie auch schon los, reichlich Tabletts und Schüsseln in die Autos laden und sich wieder zu seiner Cousine aufmachen. Sie waren nicht die ersten Gäste, die eintrafen, aber es war noch überschaubar genug, sodass Lev Yaku jedem vorstellen konnte – entfernte Verwandte, Freunde der Familie, im Grunde Leute, die er auch nur sehr selten sah. Aber ganz oben auf der Liste der wichtigen Leute, denen er Yaku vorstellen wollte, stand natürlich seine Oma, das Geburtstagskind.

Als sie eintraf, wurde sie herzlich von allen begrüßt, beglückwünscht und an den Ohren gezogen, was bei Yaku für einen ganz besonders interessanten Gesichtsausdruck sorgte. Ob er nun wollte oder nicht, er musste auch mal. Erst dann konnten sie gemeinsam das Geschenk überreichen, das sie mit Alisa und Yamamoto zusammen gekauft hatten und die wenigen Worte Russisch, die Yaku und Lev noch vor ihrem Abflug gelernt hatten, kamen zum Einsatz. C Днём рождения! - Alles Gute zum Geburtstag!

 

Kurz nach der Glückwunschaktion, als sie gemeinsam am Tisch saßen und das selbstgemachte Mittagessen genossen, von dem reichlich vorhanden war, hörte Lev Yaku aufseufzen. Irritiert drehte er den Kopf zur Seite und sah auf das kleine Häufchen Elend neben sich.

„Morisuke... Schmeckt es dir nicht?“

 

„Das ist es nicht“, gab Yaku unzufrieden von sich und ließ die Gabel auf den Tellerrand nieder. Er machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, dabei sah er allerdings noch so leidend aus, als würde er mit sich selbst hadern.

 

„Sollen wir dir Stäbchen auftreiben?“

 

„Nein!!!“

 

„Dann... sprich mit mir? Was ist los?“

Lev hatte wirklich keine Ahnung, was seinem Reisbällchen über die Leber gelaufen war, aber es hatte Yakus Stimmung auf den bisherigen Tiefpunkt ihrer Urlaubsreise manövriert. In Situationen wie diesen verteufelte er, dass sein Freund nicht so frei heraus sprach, wie er selbst es immer tat. Wenn etwas war, dann sagte er es. Yaku war da anders.

 

„Ich will, dass du Russisch lernst. Mit allem drum und dran: Verstehen, Sprechen, Lesen, Schreiben.“

 

„W-was?“

 

„Wir lernen es zusammen, bei einem Sprachkurs oder so.“

 

„Das kommt jetzt überraschend. Hast du überhaupt Zeit für so etwas? Du musst doch viel für die Uni lernen, Morisuke“, wand Lev ein, immerhin studierte er schon zwei Sprachen – Englisch und Chinesisch, auf die er sich konzentrieren musste. Dann noch Russisch lernen zu wollen mit einer ganz anderen Schrift, das erschien ihm zu viel. Er wollte nicht, dass sich Yaku wegen ihm übernahm. Und musste Russisch überhaupt sein? Er war bisher ganz gut ohne zurechtgekommen, klar, Grisha nervte ihn immer damit, dass er es lernen solle, aber das war noch lange kein Grund.

Die wenige Zeit, die er mit Yaku hatte, seitdem der studierte, wollte er mit schönen Dingen verbringen.

 

„Die Zeit nehmen wir uns eben, wird schon klappen. Aber eine alte Frau zu sehen, die nicht einmal mit ihrem Enkel sprechen kann, ohne dass die Mutter übersetzen muss... Das ist echt mies, Lev.“

 

Lev hob überrascht die Augenbrauen und war für kurze Zeit nicht so ganz im Klaren darüber, was ihn mehr beeindruckte. Dass Yaku so süß sein konnte, indem ihm so etwas, was ihn eigentlich nicht einmal betraf, nahe ging, so nahe, dass es ihm selbst die Stimmung vermieste. Oder dass er deswegen ernsthaft mit ihm lernen wollte, ihn unterstützen, obwohl es für ihn selbst sicher nicht leicht war, mit dem ganzen Unizeug klar zu kommen. Er wollte das für Lev tun, für Levs Oma und für den Rest der Familie.

Lev konnte nicht anders, als zu grinsen. Es war wirklich süß, sehr süß, aber das behielt er für sich – zu viele Ohren waren anwesend, die es nicht hören mussten.

 

„Okay, abgemacht. Dann lernen wir russisch zusammen.“

Damit bekam Yaku zumindest kurzfristig wieder einen zufriedenen Gesichtsausdruck. So lange, bis eines der hübschen Mädchen Lev zum Tanzen aufforderte und er, ohne sich sein Okay abzuholen, mit ihr auf der Tanzfläche verschwand.

Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Vielleicht war es aber auch ein Fehler gewesen, dass Lev eine Ewigkeit nicht mehr zurückkam und es nicht nur beim Tanzen mit dem einen Mädchen – die Tochter eines Familienfreundes übrigens, wie Lev herausfand – blieb. Nach ihr wollte noch eine andere mit ihm tanzen, dann noch eine, dann Yelizaveta und am Ende war er mit dem kleinen Maksim völlig auf der Tanzfläche versackt. Bei so viel Spaß konnte man schließlich auch die Zeit vergessen und die glücklichen Kinderaugen animierten ihn zusätzlich.

 

Eine Pause des DJs brachte eine Verschnaufpause mit sich, die genutzt wurde, um sich mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen. Lev führte es zurück an seinen Tisch, an dem er schon von weitem sehen konnte, dass Yaku gar nicht mehr da war. Irritiert sah er sich um und erblickte schließlich ein paar Tische weiter ein sehr finster dreinschauendes Reisbällchen. Einmal mit der Hand durchs Haar fahrend ging er auf den Tisch zu, an dem sich viele bekannte Gesichter horteten – Yaku, Grisha und sein Bruder Feliks, Yelizavetas Ehemann, Pawel und Levs Vater. Offenbar hatten sie eine Männerrunde eröffnet, in der fleißig getrunken und geraucht wurde.

 

„Levka! Hast du jetzt alle Frauen durch? Du lässt ja wirklich nichts anbrennen“, scherzte Grisha und erntete dafür ein amüsiertes Grinsen von seinem kleinen Bruder. Yaku tat so, als wäre ihm das völlig egal, aber allein schon die Tatsache, wie erzürnt er eben noch ausgesehen hatte – und übrigens immer noch unterschwellig tat – machte Lev klar, dass er diesen Witz gar nicht lustig fand. Er hatte nur getanzt, keine sonstigen Absichten.

„Ich hab gehört, eine davon war deine Freundin. Du solltest selbst mal mit ihr tanzen, Grisha.“

 

„Später vielleicht. Du übernimmst meine Arbeit ja offensichtlich gerne. Dafür kümmere ich mich immerhin um deinen Freund. Fairer Deal.“

 

Yaku fand den Deal gar nicht gut, das merkte Lev spätestens, als er ihn keines Blickes würdigte.

„Morisuke. Wenn du willst, kannst du auch mit tanzen kommen“, bot Lev ihm an, irgendwie in der Hoffnung, dass ihr Problem so schnell und schmerzlos gelöst werden würde. So würde er nicht mit den Jungs trinken müssen und wäre immerhin in der Nähe von Lev, der nicht einsah, weswegen er jetzt ebenfalls den Abend an diesem Tisch verbringen sollte.

 

„Ich will nicht.“

 

„Aber die Mädchen würden sich freuen. Komm schon, Morisuke.“

 

„Nein!“

 

„Leeeeeeeeeev! Tanzen!“, sagte der kleine Maksim mit einer Hand voll Levushkas – eine russische Süßigkeit bestehend aus einem flüssigen Karamellkern, umhüllt von einer süßen Kondensmilch-Gelee-Masse und von Schokolade überzogen –, die er ihm entgegenstreckte, als würde er ihn bestechen wollen. Lev lächelte sanft und nahm ihm eines der Bonbons aus der Hand und wuschelte dem kleinen Fratz durch die Haare, dann nickte er.

„да“, sagte er zu ihm und sah dann noch einmal zu Yaku. „Wenn du es dir anders überlegst, wir warten auf dich. Du weißt, wo du uns findest.“

Lev ließ das Bonbon in Yakus Schoß fallen und ging mit Maksim an der Hand zurück zur improvisierten Tanzfläche.

 

Beim folgenden Abendessen war die Stimmung nicht viel besser, dabei konnte die Auswahl an russischen Leckereien eigentlich jedes Herz im Kreis springen lassen. Anders als noch am Tag zuvor half das Essen dieses Mal nicht gegen Yakus schlechte Laune. Er strafte Lev, indem er ihn ignorierte, wann immer der ihn ansah. Wenn er versuchte, ein Gespräch anzufangen, bekam er Brummlaute als Antwort. Es war zum Verrücktwerden.

„Morisuke“, versuchte Lev es erneut – wieder keine Reaktion. „Lass uns spazieren gehen, ein bisschen wegkommen von dem Trubel.“

Das Brummen, das er als Antwort bekam, klang immerhin wie ein Ja.

 

Endlich waren sie alleine. Endlich konnten sie sich aussprechen, beziehungsweise könnten sie es, wenn Yaku es dieses Mal schaffen würde, seinen Mund aufzukriegen und sich seinen Kummer von der Seele zu reden. Aber es passierte wieder einmal nichts. Lev seufzte resignierend, aber eigentlich war er sich sogar sicher gewesen, dass es so enden würde. Er musste wieder einmal selbst die Initiative ergreifen und suchte erst einmal seinen Blick – den er nicht fand, weil Yaku eisern durch die Gegend oder einfach nur stur nach vorne blickte. Es war Absicht, dessen war er sich sicher. Und das schmollende Gesicht, das er dabei machte, bekräftigte Lev nur in seiner Vermutung.

 

„Morochka... Ich wünschte, für dich wäre der Abend genauso schön geworden, wie für mich. Wir hätten so viel Spaß haben können und ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, wo wir falsch abgebogen sind und warum wir jetzt hier festhängen mit dieser Stimmung“, sagte Lev und sein Blick wurde immer hilfloser, ungeduldig abwartend, dass Yaku ihn endlich mal ansah. Einen Moment allerdings blieb es still und der Kleinere ging einfach stur geradeaus weiter, als wäre nichts gewesen. Als hätte er Lev gar nicht gehört. Seine Hände vergrub Yaku in seinen Hosentaschen, grummelnd und schließlich bekam er endlich doch den Mund auf – die Worte, die folgten, waren für Lev allerdings nicht zufriedenstellend.

„Warum bist du so? Warum kannst du nicht mehr wie ein Russe sein?“

 

Lev war doch sehr irritiert von diesen Fragen, denn damit hatte er nicht gerechnet. Und so richtig etwas anfangen konnte er ehrlich gesagt auch nicht damit. Irritiert sah er in den Himmel und überlegte ernsthaft, was daran so wünschenswert wäre, mehr wie ein Russe zu sein – und was es überhaupt bedeutete. Was an Yaku war ihm denn nicht russisch genug? Das mit der Sprache hatten sie doch geklärt, daran konnte es also nicht liegen.

„Wie...bin ich denn?“, fragte er schließlich zögerlich, weil er wirklich nicht wusste, was Yakus Problem war. Alles, was ihm bereits klar war bezüglich ihnen beiden, war, dass er an ihm so einiges nicht mochte. Sein breites Grinsen und seine angeblich schlechte Arbeitshaltung, die Lev selbst gar nicht negativ einschätzte – er war schließlich ein Optimist und hatte gerne Spaß. Trotzdem kam er immer zum Training und gab sich Mühe.

 

„So komplett anders als die Jungs, mit denen ich die letzten 2 Stunden verbracht habe, weil du nicht da warst.“

 

Kurz presste Lev die Lippen zusammen. So bitter, wie es aus Yakus Mund klang, hatte er sein Verhalten gar nicht eingeschätzt. Wenn man es genau nahm, hatte er ihm sogar angeboten, tanzen zu kommen und so Zeit mit ihm zu verbringen, aber er hatte scheinbar nicht gewollt. Warum auch immer.

„Tut mir leid, ich dachte, es wäre okay. Du hättest jederzeit sagen können, dass ich aufhören soll.“

 

„Als ob!“

 

Natürlich hätte Yaku sich nie dazu herabgelassen, ihm nachzugehen und Zeit mit ihm einzufordern. Dennoch hätte er es tun sollen, wenn es ihn so störte. Lev blieb stehen und hielt seinen Freund am Oberarm fest, damit der es ihm gleich tat und zwang ihn förmlich körperlich dazu, ihn anzusehen. Er sah ihm ernst ins Gesicht und hätte auch gerne in seine Augen gesehen, doch Yaku ließ dies nicht zu. Viel zu schnell hatte er den Blick seitlich gesenkt.

 

„Sieh mich an, Morochka. Was auch immer dein Problem ist, eins solltest du wissen: Die einzige Person, an der ich interessiert bin, bist du. Und wenn es möglich gewesen wäre, dann hätte ich den ganzen Tag nur mit dir allein getanzt. Aber das geht nun mal nicht – jedenfalls nicht hier in Russland.“

 

Er konnte deutlich sehen, wie Yaku mit sich haderte, so unruhig wie sein Blick wurde und so trotzig zugleich. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er wusste, dass Lev Recht hatte, ganz sicher. Er hatte seinem Freund auch schon vorher deutlich genug gesagt, dass es in Russland nicht gern gesehen ist, wenn sich zwei Männer lieben und so hatte er es bisher auch gut vor seiner Familie geheimgehalten. Alisa, Yamamoto, seine Eltern – alle durften es wissen, das war kein Problem. Aber bei dem Teil, der in Russland lebte, war das etwas Anderes.

Ehrlich gesagt bezweifelte Lev allerdings auch, dass Yaku in jedem anderen Land mit ihm getanzt hätte, denn soweit er wusste, konnte der gar nicht tanzen und hatte nicht vor, sich zu blamieren.

 

„Ja.... ja, ich weiß das“, kam es fast kleinlaut von Yaku. „Aber trotzdem. Du könntest mehr wie deine Cousins sein. Dass du und Yamamoto hier die beliebtesten Jungs bei den Mädchen sein sollen, dass-“

 

„Wir sind die beliebtesten Jungs hier bei den Mädchen?“, fiel ihm Lev mit seiner Frage ins Wort und war wirklich überrascht. Das hörte er zum ersten Mal und er hatte es bisher auch wirklich noch nicht mitbekommen.

 

„Seid ihr. Die Jungs haben sich zwar einerseits lustig darüber gemacht, dass du mit den Mädchen tanzt und Yamamoto an Alisa klebt wie ein kleines, dressiertes Hündchen, aber sie waren auch wirklich verärgert darüber, wie sie alle von euch geschwärmt haben.“

 

„Wer hat geschwärmt? Ich hab keine Ahnung, wovon du redest, Morochka.“

 

„Na, Grigoris Freundin, deine Cousine und irgendwelche Mädchen, die dabei standen und die du mir eben nicht vorgestellt hast.“

Lev konnte sehen, dass Yaku wieder ins Schmollen verfiel, aber bei der Menge an Menschen, die auf dem Geburtstag eingeladen waren, konnte das ja mal passieren. Am Anfang, als sie noch viel Zeit gehabt hatten, war es einfacher gewesen, doch schnell war es unüberschaubar geworden und dann musste die Vorstellungsrunde abgebrochen werden.

„Haben sie?“, fragte Lev ein bisschen aufgeregt, denn trotz der angespannten Stimmung zwischen ihnen, war das Grund zur Freude – jedenfalls ein bisschen. Er war bei der Frauenwelt beliebt, das konnte er gar nicht selbst glauben und sein ungläubiges Strahlen über das ganze Gesicht sprach Bände davon.

 

„Ja“, brummte Yaku und trat ihm in die Kniekehle, vermutlich teils aus Frust und teils damit sich Lev sein Grinsen aus dem Gesicht wischte. „Kein Grund, jetzt so blöd zu gucken.“

 

Lev versuchte ja wirklich, seine Mundwinkel unter Kontrolle zu bekommen, aber wann immer er sie versteinert nach unten ziehen wollte, gehorchten sie nicht und zuckten wieder nach oben. Yaku machte das offensichtlich nur wütender. Ganz sicher wollte er auch nicht mehr darüber reden, aber Lev hatte so viele Fragen, die er irgendwie zu unterdrücken versuchte. Eine schaffte es dann allerdings doch über seine Zunge.

„Was finden die denn so toll an uns?“

Er war aufgeregt wie ein kleines Kind an Weihnachten. Yaku dagegen machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, eine Antwort ließ dementsprechend auf sich warten.

 

„Nun sag schon, Morochka! Bitte!“, drängelte Lev und ließ es sich nicht nehmen, ihn dabei auch körperlich weiter zu bedrängen, was Yaku nur grimmiger gucken ließ.

 

„Nein!“

 

„Bitte, ich tu alles! Egal was!“

 

„Alles, huh?“, fragte Yaku misstrauisch und Lev hätte spätestens jetzt klar sein müssen, dass es ein Fehler war, das Angebot weiter aufrecht zu erhalten. Er tat es aber nicht, denn sein Kopf war ganz alleine bei seinem Image als Frauenschwarm, das er gerne verstehen wollte. Er musste doch wissen, was für geniale Tricks er drauf hatte, um die Frauenwelt in Wallungen zu versetzen.

„Wirklich alles!“, war dementsprechend seine Antwort.

 

„... Na gut...“, willigte Yaku schließlich ein und Levs Augen wurden größer und größer voller Erwartungen und Vorfreude. „Sie waren sehr angetan davon, dass ihr Zeit mit ihnen verbringt, statt sie links liegen zu lassen, wie es ihre russischen Freunde und Männer so tun. Yamamoto hat sich geduldig alles angehört, was Alisa ihren Freundinnen zu erzählen hatte – ohne vermutlich überhaupt etwas zu verstehen und du... Das hatten wir ja schon.“

 

Levs Gesichtsausdruck normalisierte sich langsam wieder, denn immer mehr kam die Erleuchtung, dass dies bei niemand anderem außer russischen Frauen klappen würde. Er war also kein wirklicher Frauenschwarm. Außerdem war da noch etwas, das ihm eher Fragen aufwarf als Freude zu schüren.

„Morochka... Dir ist schon klar, dass ich damit genug Russe bin, oder? Und du bist meine russische Freundin.“

 

Die Erleuchtung in Yakus Gesicht kam schnell, schneller noch als der Tritt gegen sein Schienbein, den er dafür erntete.

„Halt die Klappe!“

 

„Au!“, gab Lev schmerzerfüllt von sich und verzog das Gesicht nebst dem Stich, der sich an seinem Bein breit machte. „Du sagtest doch, du wolltest mich mehr wie einen Russen haben. Russisch genug?“

 

„Noch ein Wort dazu, Lev, und du bekommst noch einen Tritt. Dieses Mal aber nicht mehr so sanft!“

 

Die Drohung reichte aus, um Lev ruhig zu stellen, denn wenn das noch sanft gewesen war, wollte er nicht so sanft gar nicht kennen lernen. Er rang sich ein schiefes Grinsen ab und sah zu dem Kleineren hinunter. Eigentlich war dies der perfekte Moment, um ihn zu küssen, denn wo er nun still sein sollte, waren seine Lippen frei für Zärtlichkeiten. Aber nicht hier und nicht jetzt, das hatte er sich vorgenommen. Er blieb eisern.

„Morochka, wenn wir morgen zurückfliegen, dann hab ich ein paar Tage sturmfrei und du hast mich ganz für dich alleine“, stellte Lev fest und fand, dass das diese paar Tage in Russland wieder gut machen würde. Er musste Lev dann mit niemandem mehr teilen und sie könnten vor allem endlich wieder tun, was er nur zu gerne tat. Schmutzige Dinge, wo immer sie wollten! Auch wenn es darin enden würde, dass sie jeden Tag nur kuschelnd auf dem Sofa saßen und einen Filmmarathon nach dem anderen machten, ihm war es egal. Hauptsache war, dass er Yaku endlich wieder ungehindert nah sein konnte.

 

„Das ist auch das Mindeste. Dann kannst du auch deine Schuld begleichen.“

 

„Was verlangst du denn? Hat es mit Sex zu tun?“

 

„...Nein.“

 

Enttäuscht ließ Lev die Schultern hängen. Irgendwie hatte er ja insgeheim gehofft, dass er dieses Mal endlich das tun dürfte, worauf er schon so lange wartet, worauf er so neugierig war, aber was er ihn nie machen lassen wollte. Weil Yaku sich dafür schämte, da war sich Lev sicher und nicht, weil er es nicht mochte.

„Was ist es dann?“, fragte er schließlich, er war immerhin trotzdem noch neugierig.

 

„Dir das Rezept von den Blinis deiner Tante besorgen und mir welche machen.“

Ein russischer Mann hatte also doch auch Vorzüge für Yaku, wenn er denn Blinis machen konnte. Lev sollte es recht sein, von dem Rest überzeugte er ihn dann ein anderes Mal.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Momo26
2016-10-28T22:47:50+00:00 29.10.2016 00:47
Hey^^
Eine klasse Geschichte ^^
Hast du echt schön und so detailliert geschrieben, gefällt mir :D
Lg Momo
Antwort von:  Cirque_des_Reves
31.10.2016 20:11
Hi! :)
Es freut mich, dass es dir gefällt. Ich hatte einfach so viele Ideen, was die zwei in Russland erwartet, da konnte ich nichts auslassen und ich wollte auch, dass man ein bisschen was aus dem Land mitnimmt, über das ich schreibe.
Vielen Dank für deinen Kommentar! Ich freu mich riesig! :D

Aphrodi vom Cirque des Rêves
Von: abgemeldet
2016-10-16T08:04:04+00:00 16.10.2016 10:04
Awwwwwww ich finde die Story voll entzückend😍😍😍Besonders die Idee eine Art Familienreise zu planen, was für Turbolenzen sorgen wird [kennt ja vermutlich jeder xD] super!! Mit Lev ist das Chaos vorprogrammiert und mit einem meist genervten Yaku an seiner Seite der Lesespaß garantiert 😁😁😁😁Natürlich dürfen wir nicht Yamamoto und Alisa, so wie die anderen Mitglieder der russischen Familie vergessen [siehe Cousin xD]. Bin schon ganz gespannt wie es weiter geht !!! Gute Arbeit an euch, macht weiter so 😊😊😊 !!!
Antwort von:  Cirque_des_Reves
21.10.2016 14:07
Vielen Dank für deinen Kommentar. Es freut uns, dass du so viel Spaß an der FF hast. Aber du wirst doch nicht etwa über das Leid des armen Yaku lachen? Also wirklich XD Nur, weil der olle Lev eine blöde Aktion nach der anderen bringt. Man hat es schon schwer mit ihm, huh? :D Levs Cousin ist eh der Coolste, das darf sich hier jetzt auch gerne gemerkt werden XD Auch wenn das vermutlich sonst keiner so sieht.
Weiter geht es dann in ein paar Tagen. Ich hoffe, der Abschluss gefällt dir auch noch so gut!

Aphrodi vom Cirque des Rêves


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