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Vertauschte Rollen

Ein kleines Gedankenexperiment
von

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nachdenklich

Sie hatten kurz angehalten, um den Pferden eine Pause zu gönnen und schnell etwas zu essen. Eren saß am kleinen Hang, der zum Bach herabführte, und sah hinauf zur Sonne. Sie stand bereits merklich tiefer, es würde nicht mehr lange dauern, bis die Abenddämmerung einsetzen und die Reise deutlich schwieriger gestalten würde.

Er senkte den Blick wieder hinunter zu den Tieren, die etwa drei Meter von ihm entfernt in scheinbarer Seelenruhe tranken. Sie waren nicht festgebunden, aber es waren die trainierten Pferde der Einheit, sie würden nicht davonlaufen. Sie dachten nicht einmal daran.

Eren biss nachdenklich in sein Brot und nahm selbst einen Schluck aus der Feldflasche, als sich jemand neben ihn sinken ließ.

„Beeil dich, wir müssen noch vor Einbruch der Nacht ankommen.“

Eren nickte nur, sein Blick huschte kurz zu Levi herüber, der sein Brot bereits so gut wie aufgegessen hatte und gerade seine Beine leicht streckte. Für einen Moment schien es fast, als würde er dabei das Gesicht verziehen. Eren schluckte schnell unter und versuchte nicht weiter darüber nachzudenken. Mit nicht gerade überragendem Erfolg.

„Captain?“, fragte er schließlich langsam.

„Mmh?“, war alles, was zurückkam. Eren sah nun doch zu ihm herüber. „Sie haben gesagt, dass man nicht mehr tun kann, als mit den getroffenen Entscheidungen zu leben, nicht? Aber …“, er zögerte, wusste nicht genau wie er es in Worte fassen sollte, „Fragen Sie sich nie, was wäre, wenn man etwas anders gemacht hätte?“

Levi sah ihn für ein paar Momente nur schweigend an, schob sich dann den Rest seines Essens in den Mund, kaute und schluckte erst, ehe er den Blick zum Horizont wandern ließ und fast ein wenig melancholisch antwortete: „Eren, wir können nichts an der Vergangenheit ändern. Es ist Zeitverschwendung darüber nachzudenken. Es gibt zu viele Möglichkeiten. Was wäre, wenn du dich anders entschieden hättest? Wenn du bei der Militärpolizei gelandet wärst? Wenn du als kleiner Windelscheißer schon gestorben wärst?“ Levi zuckte die Schultern und stand auf. „Da könntest du genauso gut darüber nachgrübeln, wie diese Welt ausgesehen hätte, wenn unsere Rollen vertauscht oder Erwin eine Frau wäre.“ Ein Schnauben. „Hör auf dir über so einen Mist den Kopf zu zerbrechen und komm lieber, wir müssen weiter.“

Hastig stopfte sich Eren den Rest Brot in den Mund und sprang auf, um Levi zu folgen. Diese seltsam nachdenkliche Antwort, die keine Antwort gewesen war, half ihm aber irgendwie nicht wirklich. Und als er sich erneut in den Sattel schwang, schien Levis Stimme noch in seinen Gedanken widerzuhallen.

… wenn unsere Rollen vertauscht wären?

vertauscht

Eren riss an den Zügeln und sein Pferd blieb abrupt stehen. „Was zum Teufel ist denn hier bitte los?“, entwich es ihm.

„Das wüsste ich auch gern.“, kommentierte Jean, der gerade sein Pferd neben ihm zum Stehen brachte. Sie tauschten einen kurzen Blick. Jean war ernst, seine Augenbrauen leicht heruntergezogen, die Stirn gerunzelt und da war dieser Ausdruck in seinen Augen, der nichts Gutes heißen konnte.

„Eren.“

Er nickte in Richtung der Mauer. Eren schnaubte nur – und feuerte sein Gear ohne sich die Mühe zu machen vorher abzusteigen. In Sekunden war er auf der Mauer und sah unter sich das schiere Chaos. Titanen in Trost. Und ein verstopftes Tor? Was bitte war hier geschehen in den knappen zwei Stunden, die sie nicht da waren?

Schnell drehte er sich um, lief an den äußeren Rand der Mauer und ballte eine Faust, die er ruckartig in einem Halbkreis nach unten zog. Das Signal für einen Alarm.

Er sah Jean gestikulierend Befehle geben, ehe der Haupttrupp sich seitwärts entlang der Mauer bewegte und nur eine kleine Gruppe zurückblieb.

Eren wartete aber nicht auf weitere Befehle und stürmte wieder ins Innere der Mauer zurück. Wenn er sich nicht irrte, hatte er zwischen dem ganzen Trubel noch Menschen gesehen, Soldaten, die auf längst verlorenem Posten kämpften. Was taten diese Idioten? Es brauchte nicht viel Verstand um zu wissen, dass es sinnlos war die Titanen im freien Gelände vor dem Tor anzugreifen und erst recht nicht, wenn man zu der Mauerngarnison gehörte und seit Jahren das Manövergear nicht mehr benutzt hatte.

Er sprang ohne zu zögern nach unten und streckte zwei Titanen dicht der Mauer im Sprung nieder. Kaum, dass er gelandet war, hörte er aber einen Ruf hinter sich und drehte sich verwirrt um. Was zum Geier machten denn die Rekruten hier?

„Hey, was ist hier los?“

Sie antworteten nicht, starrten ihn nur fragend an. Und der eine sah ganz schön mitgenommen aus. Eren wollte gerade nochmal nachfragen, als Jean mit einem leicht knackenden Geräusch neben ihm auf dem sich auflösenden Titanenskelett landete.

„Eren, kannst du nicht ein einziges Mal warten, bis … Heilige Scheiße.“

Eren nickte mit einem Schnauben. „Ja, das war auch etwa mein Gedanke. Und was machen wir jetzt?“

Jean hob für einen kurzen Moment die Hand an den Mund und dachte nach, sein Blick huschte nach links und rechts und Eren konnte quasi sehen, wie er eilends mehrere Möglichkeiten im Kopf durchging.

„Schaff die Kinder hier raus“, sagte er schließlich, „Ich schick dir Connie und Sasha zur Unterstützung. Bring sie die Mauer hoch und seht zu, dass ihr alle Soldaten aus Trost rausbekommt. Ich suche den Verantwortlichen hierfür.“

Eren nickte langsam. „Was ist mit …“

„Keine Zeit, Eren. Ich schick Armin mit den Pferden nach Karanese, kümmer du dich um Trost.“

Und damit feuerte Jean seine Ausrüstung ab und war verschwunden. Eren seufzte leise. Trost war für Jean was Shiganshina für ihn gewesen war. Kein Wunder, dass es ihn so mitnahm, aber wie es aussah, war hier das Wunder geschehen, auf das sie jahrelang vergeblich gewartet hatten, wie auch immer das ausgesehen haben mochte.

Sein Blick wanderte zu dem gigantischen Felsbrocken und er fragte sich, wie irgendwer oder irgendwas den bewegt haben konnte. Ein Schrei riss ihn aber schnell wieder in die Wirklichkeit zurück, als eine 12-Meter-Klasse auf ihn zukam. Eren wich dem Schlag eilends mit einem Sprung zur Seite aus, schoss gleichzeitig und bohrte seinen Haken direkt in den Schwachpunkt des Titanen. Er zog an, schnitt sauber durch das Fleisch, löste damit seinen Haken wieder und landete sicher auf dem toten Titanen.

Ein schneller Blick über die Umgebung offenbarte zu viele, um sich direkt um sie zu kümmern. Seine Hand krampfte sich leicht um die Griffe der Schwerter. Wie er diese verdammten Monster hasste und jetzt waren sie schon wieder viel zu weit im Menschengebiet.

Er zwang sich schnell zur Ruhe, wagte es nach einem weiteren sichernden Umgebungsscan sich kurz umzudrehen.

Der schwarzhaarige Junge war so gut wie bewusstlos, aber die anderen beiden sahen halbwegs fit aus. „Könnt ihr ihn da rauf schaffen?“, fragte er und deutete auf die Mauer hinter ihnen.

Das Mädchen sah ihn nur entsetzt an, aber der zweite, blonde Junge nickte langsam. „Ja, aber was …?“

Eren schüttelte nur den Kopf. „Los, ich komme gleich nach.“

 

Aus „gleich“ wurde am Ende fast eine halbe Stunde, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit die ganzen Soldaten aus dem Gebiet zu evakuieren. Wieso waren überhaupt so viele noch hier unterwegs gewesen?

Eren seufzte, als er das letzte Mal auf der Mauer landete und seine Schwertscheiden zurück in die Halterungen schob. Er hatte kaum noch Ersatz, das waren wirklich viele Titanen und ein Blick zurück offenbarte noch einen ganzen Haufen mehr von ihnen. Das würde dauern, die alle wieder loszuwerden.

Die Rekruten hatten gehorsam auf ihn gewartet. Der Schwarzhaarige saß auf dem Boden, konnte sich aber inzwischen zumindest wieder alleine aufrecht halten. Er schien etwas benommen, aber ansprechbar, die anderen beiden knieten neben ihm und sahen Eren unruhig entgegen, als er näher kam.

„Also, möchte mir jetzt endlich jemand erklären, was genau hier los ist?“

Sie tauschten einen Blick, keiner wollte anfangen. Wunderbar. Eren stöhnte und fuhr sich über das Gesicht.

„Okay, fangen wir einfach an. Eure Namen?“

Der Blonde räusperte sich. „Ich bin Erwin Smith und das sind Petra Ral und Levi.“

Eren nickte kurz. „Eren Jäger.“ Für einen unendlich kurzen Moment weiteten sich Erwins Augen, als er ihn vermutlich erkannte, doch Eren wartete nicht darauf, er wand sich um.

„Levi und weiter?“

Ein undeutliches Genuschel war die Antwort, doch Petra sprang stattdessen ein: „Nichts weiter. Nur Levi.“

Mit anderen Worten eines der Kinder, die ohne Eltern aufgewachsen waren. Zumindest keine, die sich offiziell je zu ihnen bekannt hätten. Oder ein Straßenkind. Ein Waise. Etwas in der Art, davon gab es mehrere und seit dem Fall von Maria waren es noch mehr geworden.

Da Petra damit beschäftigt schien, Levi vor dem Umfallen zu bewahren, als dieser erneut leicht schwankte, wand sich Eren stattdessen an Erwin.

„Wie kommen die Titanen hier rein?“

Der Junge biss sich kurz auf die Zunge, wurde dann aber überraschend ernst und setzte ein unberührtes Gesicht auf, das wirklich einigen Veteranen alle Ehre gemacht hätte.

„Der riesige Titan ist wieder aufgetaucht.“

„Was?!“, entwich es Eren und er spürte, wie sich ein eisiger Stich in seinen Magen bohrte. Sein persönlicher Albtraum war wahr geworden und er war nicht einmal da gewesen. Unbewusst ballte er die Fäuste und rammte seine Nägel tief ins eigene Fleisch.

Fünf Jahre war es nun her, dass Shiganshina gefallen war. Sie waren damals auf dem Rückweg von der Expedition gewesen. Trotz aller Proteste hatte er kehrt gemacht, als die Nachricht kam – und war gerade rechtzeitig gekommen, um seine Mutter sterben zu sehen. Er hatte den Titan sofort zu Fall gebracht, aber das hatte natürlich nichts mehr geändert.

Seine Wut hatte sich eine ganze Weile sinnlos entladen, bis Armin und Mikasa ihn schließlich stoppen konnten. Und Eren hatte geschworen, dass er niemals wieder etwas Ähnliches zulassen würde. Niemals.

Er gab einen mehr als unwilligen Laut von sich und vermutlich hätte er die daran vollkommen unschuldigen Rekruten angefaucht, wenn nicht in dem Augenblick mal wieder Jean aufgetaucht wäre.

„Wer von euch ist Levi?“, fragte er und durchbrach damit Erens Wut für einen Moment. Nun eher verdutzt drehte er sich um.

„Du kennst seinen Namen?“

Jean nickte düster. Er war ernst, noch ernster, als er bei ihrer Ankunft vor der Mauer gewesen war.

„Levi hat sich in einen Titan verwandelt und diesen Felsbrocken ins Tor gesteckt.“

Eren dachte, Jean würde ihn veralbern. Aber Jean war noch immer absolut ernst. Und das konnte einfach nichts Gutes bedeuten. Menschen, die sich in die Titanen verwandeln konnten? Bitte was?

„Verarsch mich nicht, Jean!“

 

„Das … das ist Wahnsinn! Ein Mensch, der sich in einen Titan verwandeln kann?!“ Eren lief im Zimmer auf und ab, riss immer wieder die Arme hoch, ballte die Faust, entspannte sie wieder, strich sich selbst durch die Haare.

Jean saß deutlich ruhiger an seinem Tisch und folgte ihm nur mit den Augen, während Armin vor ihm stand und nachdenklich auf die Papiere in seiner Hand starrte.

„Heißt das, alle Titanen sind Menschen? Heißt das, jeder hier ist ein potenzieller Feind? Was zum Teufel soll das bedeuten und überhaupt, wie kommst du auf diese dämliche Idee, dass …“

„Eren.“, diesmal unterbrach Jean ihn nun doch und es war in diesem einen Tonfall, den er nur sehr selten benutzte – zumindest seinen Freunden gegenüber. Der, bei dem er keine Widerrede duldete und ausreden wollte.

„Was?“, knurrte Eren, blieb nun stehen und drehte sich zu Jean um, während er die Arme verschränkte und ihn herausfordernd anfunkelte.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, dass das nicht zur Debatte steht. Wir wissen beide, wie wenig wir in den letzten Jahren mit menschlichen Mitteln erreicht haben. Und dieser Junge ist eine Chance, wir können sie nicht verstreichen lassen.“

Er sah Eren an, als erwartete er einen Widerspruch. Eren schnaubte. Den sollte er bekommen.

„Du willst also darauf bauen, dass ein Straßenjunge, der sich in einen vermaledeiten Titanen verwandeln kann uns hilft und nicht am Ende noch eine weitere Mauer einreißt? Jean, das ist purer Wahnsinn! Er konnte noch nicht mal sagen, woher er das kann, er weiß es nicht. Wie kann man so etwas nicht wissen?!“

Eren schlug wütend die Hände auf Jeans Tisch und lehnte sich zur ihm herüber. Jean stand daraufhin auf und beugte sich ebenfalls vor. „Das ist mir im Augenblick ziemlich egal, solange er auf unserer Seite steht. Warum sollte er die Mauer stopfen, wenn er eine einreißen will?“

„Woher soll ich das wissen, bin ich ein Titan?“, fauchte Eren zurück, doch ehe sie das weiter auf die übliche Art klären könnten, räusperte sich Armin überdeutlich.

Eren hielt den Blickkontakt noch etwa fünf Sekunden, dann wichen sie beide ein Stück zurück und drehte sich stattdessen zur Seite um.

„Ich denke, Jean hat recht, Eren.“

Eren biss sich auf die Lippe. „Nicht auch noch du, Armin, ich …!“

Doch Armin hob eine Hand und Eren brach ab.

„Lass mich ausreden. Die Theorie, dass hinter den Titanen Menschen stecken, ist nicht neu, sie ist damit nur ein wenig wahrscheinlicher geworden. Und es stimmt auch, dass es wenig Sinn macht Trost zu versiegeln, wenn er sich gegen die Menschen stellen würde.“, Armin ließ die Zettel ein Stück sinken und legte sich schließlich ganz auf dem Tisch ab, „Abgesehen davon, Eren, seit wann fängst du denn bitte an Menschen ihre Herkunft vorzuhalten?“

Die letzten Worte klangen hart und vorwurfsvoll – und sie trafen. Natürlich hatte Armin vollkommen recht. Wie immer. Es war eigentlich nicht Erens Art und er verurteilte es immer hart, wenn jemand auch nur damit aufgezogen wurde, dass er nicht aus reichen Verhältnissen stammte. Eigentlich war er der erste, der sich einschalten würde. Was war nur los mit ihm? Aus irgendeinem Grund machte ihn der Junge wütend. Nein, eigentlich war es offensichtlich. Er bekam all den Hass ab, den Eren sich normalerweise für die Titanen aufsparte. Und gerecht war das vermutlich nicht.

Eren presste die Augen einen Moment lang fest zusammen, dann atmete er schwer aus. „Ihr wollt also wirklich, dass wir den Jungen zu uns holen?“, fragte er betont beherrscht.

Jean nickte. „Wir werden ihn holen, die Frage ist, ob du damit klar kommst. Ich brauche deinen Rückhalt, Eren.“

Das war der letzte Tropfen. Eren seufzte leise und schüttelte den Kopf. „Den hast du. Ich bin nicht überzeugt, ich weiß nicht, ob er mich überzeugen kann. Aber wenn ihr es für das Richtige haltet …“

 

Eren hasste Gerichtssaale. Er hasste es so lange still stehen zu müssen und nicht laut sagen zu dürfen, was er dachte. Und ganz besonders hasste er die Tatsache, dass nicht nur Jean, sondern auch Armin und Mikasa gemeint hatten, sie müssten ihn noch einmal extra daran erinnern. Als ob er das nicht selbst wüsste. Als ob sie sein Temperament nicht kennen würden und wussten, dass er das nicht absichtlich machte.

Entsprechend war seine Laune nicht eben überragend hoch, als er versucht still neben Jean stand und dabei zusah, wie Levi hereingeführt wurde.

Erens Blick huschte über die Zuschauer. Erwin und Petra waren anwesend und tuschelten gerade mit einem weiteren Rekruten neben ihnen mit dunklen Haaren und einem Drei-Tage-Bart.

Gegenüber auf der anderen Seite standen einige Priester, Adelige und natürlich die Vertreter der Militärpolizei. Er warf Marco einen fragenden Blick zu, den dieser aber offenbar nicht sah, weil seine Augen auf Levi fixiert waren. Zu welchem Ergebnis sie wohl gekommen waren? Für Levi gab es nur zwei Möglichkeiten – Übergabe an die Polizei oder die Aufklärungslegion. Eren wusste, welche er an seiner Stelle wählen würde, aber der Junge war ziemlich verschlossen gewesen, als sie ihn gestern im Kerker besucht und darauf angesprochen hatten. Er hatte eingewilligt mit den Worten, dass es ohnehin sein Vorhaben gewesen wäre, aber es war Eren nicht wirklich vorgekommen, als wäre es eine Entscheidung aus freien Stücken gewesen. Viel eher, als würde ihn etwas oder jemand dazu zwingen diesen Weg einzuschlagen. Er wusste nicht, ob das gut war. Ob sie etwas mit ihm würden anfangen können, wenn er es als ein reines Muss ansah?

Hoffentlich wusste Jean, was er da tat.

Levi ließ sich wortlos hereinführen, ging auch nach zwei, drei Sekunden zögern gehorsam in die Knie. Er wirkte unbeeindruckt, nur ein klein wenig überfordert, als er sich im Raum umsah. Für Bruchteile von Sekunden traf er Erens Blick. In seinen Augen lag Widerwille, aber auch Resignation oder Frust, das konnte Eren so schnell nicht ausmachen. Und zum ersten Mal gelang es ihm kurz nicht den Titanenjungen vor sich zu sehen. Wenn er es aus seiner Warte betrachtete, so hatte er der Menschheit den ersten Sieg geschenkt, obwohl er selbst nicht wusste, woher diese Kraft kam und als Dank schleppten sie ihn vor Gericht? Das war wirklich nicht gerade fair.

Erens Gedanken wurden unterbrochen, als Marco das Wort ergriff. „Ich bin Kommandant Marco Bodt, ich spreche für die Militärpolizei“, stellte er sich kurz den Zuhörern vor, ehe er sich von Annie einen Zettel geben ließ und begann: „So schwer mir diese Entscheidung fällt, wir sind nach eingehender Beratung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Existenz eines Menschen wie Levi die Ordnung durcheinander bringt. Die Menschen fühlen sich verunsichert, wissen nicht mehr, woran sie glauben sollen und haben Angst vor ihren Nachbarn. Ich möchte nicht so weit gehen zu sagen, dass wir ihn auf der Stelle … verschwinden lassen sollten“, Marco warf einen kurzen Seitenblick auf seine Vize herüber, aber Annie zuckte nicht einmal. Eren konnte sich sehr gut vorstellen, dass ein solcher Vorschlag von Annie kommen würde, gut, dass Marco da ein wenig vernünftiger war, „so halte ich es doch für notwendig seine Existenz geheim zu halten und dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt. Wenn er an uns übergeben werden sollte, so würde ich ihn der Forschungsabteilung überantworten und …“, selbst Marco zögerte einen Augenblick, atmete tief durch und sprach es dann aus, „und dafür sorgen, dass sein Auftauchen zu einem reinen Gerücht wird. Das bedingt natürlich die Verschwiegenheit aller bisher Beteiligten.“

Eren runzelte die Stirn. Der Forschungsabteilung überantworten? Dafür sorgen, dass sein Auftauchen zu einem reinen Gerücht wurde? Das klang in seinen Ohren zwar besser als ihn umzubringen, aber übersetzte sich für ihn zu einer lebenslangen, abgeschotteten Haftstrafe. Er war sich nicht sicher, ob das zuvorkommend von Marco war oder nicht eher grausam. Eren konnte kein wirkliches Mitleid mit dem Jungen dort vorne empfinden, aber auf ewig weggesperrt zu sein war in seinen Augen eines der grausamsten Dinge, die man einem Menschen antun konnte. Sie waren ohnehin alle eingesperrt, da brauchten sie keine zusätzlichen Gitterstäbe.

Beinahe hätte er etwas gesagt, doch Jean ergriff zuerst das Wort. „Ich bin Jean Kirschstein, Kommandant der Aufklärungslegion. Ich möchte einen Gegenvorschlag machen. Wir würden den Jungen zu uns nehmen und ihn als Waffe gegen die Titanen einsetzen.“ Unruhiges Murren machte sich breit, doch Jean ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ohne seine Hilfe hätten wir Trost aufgeben müssen.“ Eren war vermutlich der einzige, der den schweren Unterton in Jeans Stimme hörte. Ein Tonfall, den er nur zu genau kannte und der ihn in jeder anderen Situation traurig hätte lächeln lassen. „Anstatt ihn als Feind der Menschheit zu sehen, sollten wir seine Fähigkeiten als Chance betrachten, wenn er sich dazu bereiterklärt sie für uns einzusetzen.“

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann räusperte sich Marco. „Jean, hältst du das für eine gute Idee? Er weiß selbst nichts über seine Kräfte und wenn meine Informationen stimmen, hat er einen seiner Freunde angegriffen, ehe er die Kontrolle bekommen hat.“

Jean nickte langsam. „Das ist richtig.“ Erens Blick wanderte wieder herüber ins Publikum. Er hatte die Geschichte inzwischen auch gehört, auch wenn Erwin und Petra offensichtlich alles versucht hatten, um sie nicht erzählen zu müssen. Auch jetzt zuckte Petra zusammen und sah unsicher zu Levi herüber, während Erwin nach wie vor die gleiche, scheinbar unbeeindruckte Miene zur Schau stellte. Gott, der Junge war ja schlimmer als Jean.

„Aber ich denke, der entscheidende Punkt hier ist, dass er es geschafft hat. Wenn wir das ganze in Shiganshina wiederholen können, erhalten wir mit einem Schlag ein riesiges Gebiet zurück.“

Marco wirkte nicht wirklich überzeugt. „Was garantiert dir, dass es nächstes Mal nicht schlimmer wird und er sich vollkommen vergisst?“

Diese Frage hatten sie erwartet und so zögerte Jean nicht zu erklären: „Unter meinem Kommando befinden sich einige unserer besten Soldaten. Ich werde dafür sorgen, dass sie ihn nicht aus den Augen lassen.“

Und zum ersten Mal während dem ganzen Prozess sah Levi nun auf. Seine Mimik war verkniffen und schwer zu deuten, aber wenn wirkte er leicht ungläubig und fast schon überrascht, als sein Blick zu Eren herüber wanderte, der nun nach einem angedeuteten Nicken von Jean auch das Wort ergriff: „Wir haben schon größere Titanen zu Fall gebracht, ich bin sicher, wir können auch ihn aufhalten, sollte es nötig werden.“

 

Der Rest der Verhandlung war Formsache verbunden mit nicht mehr wirklich ernsthaften Wortgefechten zwischen Jean und Marco, ehe sie Levi vorerst zugesprochen bekamen.

Eren war nicht wirklich sicher, ob er das gut fand, aber er hatte sein Wort gegeben und er würde es halten – und hoffen, dass Levi kooperativer sein würde, als er sich im Augenblick gab.

Er sagte nicht einmal dann etwas, als sie ihn zu dritt aus dem Gerichtssaal begleiteten und in ein ruhigeres Nebenzimmer brachten. Ehe sie allerdings dort ankamen, sah Eren aus den Augenwinkeln eine Bewegung und ließ sich ein Stück zurückfallen.

Auf dem Gang standen vier Rekruten zusammen und redeten hastig aufeinander ein. Eren trat einen Schritt näher und fing noch ein, zwei Bruchstücke einiger Sätze auf, die eindeutig um Levi gingen. Er schnaubte. Natürlich, sie machten sich Sorgen.

„Wir werden ihn sicher nicht sezieren, Erwin, warum sollten wir?“, mischte er sich ein und augenblicklich drehten sich vier Augenpaare reichlich erschrocken zu ihm um.

Eren schmunzelte leicht und hob die Hand, um sie zu stoppen, als alle vier erkannten, wer er war und sofort salutieren wollten. „Hört auf, das ist nicht nötig“, winkte er ab und warf einen interessierten Blick in die Runde.

Erwin wirkte ein wenig unsicher, aber es drückte sich nur in seiner Körperhaltung aus, sein Gesichtsausdruck war wie zuvor auch absolut neutral. Petra neben ihm schien regelrecht erschrocken und hatte eine Hand gehoben, als wollte sie sie vor den Mund schlagen. Stattdessen zupfte sie aber nervös am Kragen ihrer Jacke und wartete scheinbar darauf, dass Eren etwas sagte.

Der dunkelhaarige Junge aus dem Gericht wiederum hatte die Arme verschränkt und wirkte ein wenig verstimmt. Eren kannte diesen Gesichtsausdruck nur gut – er versuchte so zu tun, als wäre ihm alles egal, während er sich eigentlich auch Gedanken machte.

Und dann war da noch ein braunhaariger Kadett, bei dem sich Eren im ersten Moment nicht sicher war, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte. Etwa schulterlange Haare, die zu einem Zopf gebunden waren, eine Brille, schlanke, recht neutrale Statur und ein sehr ernster, kalkulierender Ausdruck in den Augen.

Eren machte sich eine gedankliche Notiz sich die Gesichter zu merken – oder es wenigstens zu versuchen – falls sie hinterher zu ihnen in die Einheit kommen sollten. Er hätte gerne mit ihnen gesprochen, denn offenbar kannten sie alle Levi gut. Aber er hatte dazu im Augenblick keine Zeit, Jean würde sicher schon ungeduldig auf ihn warten.

Er seufzte im Stillen. „Macht euch keine Sorgen, wir brauchen ihn, wir können ihm nichts antun“, sagte er daher nur und machte sich auf den Weg.

inkompatibel

Levi schwieg die meiste Zeit. Er hatte nur genickt und einsilbig auf die Fragen geantwortet, die Jean und Armin ihm gestellt hatten. Er hatte geschwiegen, als Eren ihn heute Morgen aus dem Kerker abgeholt hatte und er schwieg auch jetzt noch.

Es war zum verrückt werden, wirklich. Eren zwang sich nichts dazu zu sagen, versuchte einfach gar nicht zu sehr über den Jungen nachzudenken, der neben ihm auf dem Pferd ritt und den Kopf gesenkt hielt.

Einmal hatte Eren kurz einen Blick auf sein Gesicht erhascht, aber er wusste nicht so ganz, was er mit dem anfangen sollte, was er sah. Levi wirkte beinahe traurig, resigniert und irgendwie noch immer, als würden ihn andere zu etwas zwingen. Nun, irgendwo taten sie das wohl, aber als sie gestern mit ihm gesprochen hatten, hatte er wiederholt bestätigt, dass er ohnehin der Legion hatte beitreten wollen. Was genau war sein Problem? Dass er es jetzt nicht wie die anderen tun durfte? Oder gefiel ihm nicht, dass er halb wie ein Gefangener abgeführt wurde? Zugegeben, dass würde Eren auch nicht gerade gefallen, aber wenn man bedachte, was Levi getan hatte, was er war, dann gingen sie eigentlich sehr harmlos mit ihm um, fand Eren.

Er schüttelte über sich selbst den Kopf und rieb sich die Schläfe. Versuch zu erreichen, dass er Vertrauen zu dir fasst, hatte Jean gesagt. Vertrauen. Wie sollte er überhaupt irgendwas versuchen, wenn der Junge verdammt nochmal nicht redete?

Erens Gedanken wurden von einem Lachen unterbrochen und als er zur Seite sah, merkte er, dass Connie fast vom Pferd gefallen war, während Sasha neben ihm lachte und ein Stück vorausritt. Eren schmunzelte. Wahrscheinlich hatte sie ihn entweder gestoßen oder wieder einmal versucht einen ihrer Taschenspielertricks zum Besten zu geben und ihm irgendwas zu klauen.

Eren schmunzelte leicht. Die beiden würden sich wohl nie ändern. Auf der anderen Seite begann er aber auch zu zweifeln – er hatte sie aus dem Grund mitgenommen, dass sie nicht nur gut waren, wenn es darauf ankam, sondern auch einige Male einfach nicht ernst waren. Er hatte gehofft, dass das Levi ein wenig beruhigen würde, aber den Blick, den der Junge zur Seite warf, konnte er nicht deuten. Nur begeistert war er nicht, soviel stand fest.

Er nickte Mina zu, die daraufhin ein Stück näher zu Levi ritt und ihm das Ziel der Reise erklärte. Vielleicht kam sie mit ihrer ruhigen Art leichter an den Jungen heran.

Und Eren dachte in dem Moment, dass es wirklich zu blöd war, dass er Krista nicht hatte haben können – aber Jean hatte sie schon für die neuen Rekruten eingeteilt, die sie hoffentlich haben würden, und damit fiel sie raus. Also musste es wohl irgendwie so gehen.

Eren sah keine leichte Aufgabe auf sich zukommen. Er war nicht die Art Mensch, die sich schnell mit anderen verstand und er wusste, dass sich genügend Soldaten an seiner forschen, direkten Art störten. Er war sich nicht einmal sicher, ob es nicht sogar besser gewesen wäre, hätte Jean lieber jemand anderem die Aufsicht über Levi übertragen. Das einzige Problem war nur, dass der Richter verlangt hatte Levi den möglichst stärksten Leuten zu unterstellen und das wiederum hatte ihnen allen keine Wahl gelassen.

Erens Blick wanderte erneut zur Seite. Trotz Minas gutem Zureden hatte sich Levi kein bisschen bewegt. Er sah sie nicht einmal an, starrte stur nach vorne, die Lippen zu einem schmalen Streifen zusammengezogen und die Augenbrauen in dauerhaftem Missfallen herabgezogen.

Erst, als die alte Burg in Sichtweite kam, reagierte der Junge überhaupt mit einem scharfen Zischen. Ohne zu fragen oder auf eine Ansage zu warten, zog er hart an den Zügeln und brachte sein Pferd zum Stehen. „Das ist nicht euer Ernst, oder?“, knurrte er und sein Blick huschte eilends über die zugewachsenen Mauern und verwahrlosten Felsen, die den Boden bildeten. „Das ist eine Ruine!“

Es waren die ersten Worte, die Eren Levi von sich aus sagen hörte, ohne dass er ihm eine direkte Frage stellte – und sie ließen ihn die Stirn runzeln. Was war das bitte für ein Tonfall gegenüber Vorgesetzen und in seiner Lage?

Ja, die Burg hatte sicherlich bessere Tage gesehen, aber einen derartigen Aufstand zu proben war wirklich übertrieben. Eigentlich sollten sie lieber froh sein, dass sie einen derart abgelegenen Unterschlupf zur Verfügung hatten und hier ungestört vorgehen konnten ohne, dass ihnen die Militärpolizei oder jemand anderes im Nacken saß.

„Du kannst gerne saubermachen“, war daher Erens nicht gerade freundliche Antwort, als er seitlich in Levis Zügel griff und ihn weiter vorwärts zog. Er würde keine Widerrede direkt am ersten Tag zulassen. Die Antwort bestand in einem äußerst wütenden Funkeln, das Eren vollkommen ignorierte, sich aber eine gedankliche Notiz machte.

Rebellion war keine Option im Militär, Gehorsam absolute Pflicht. Das würde Levi lernen müssen, wenn das hier funktionieren sollte. Sie gingen recht locker mit den Vorschriften um, aber ihre Grenzen waren klar abgesteckt und Levi hatte sie heute schon überschritten. Sie brauchten seine Kampfkraft, keinen trotzigen Soldaten, der nicht wusste, was Befehle bedeuteten.

Eren zwang sich tief durchzuatmen und sich nicht gleich wieder selbst hoch zu stacheln, als er im Innenhof abstieg und sich erstmal umsah. Schön war es wirklich nicht, aber auch keine Katastrophe. Sie wollten hier nur trainieren, da störten die Pflanzen wenig. Allerdings sollten sie vielleicht vor Sonnenuntergang ein paar Zimmer wieder in Schuss bringen.

Er nickte den anderen zu und wie üblich brauchten sie keine weiteren Erklärungen, banden ihre Pferde an und verschwanden ins Innere. Einzig Mina warf ihm noch einen kurzen, fragenden Blick zu und als er diesem folgte, stellte er fest, dass Levi sich nicht von seinem Sattel fort bewegt hatte. Sofort wanderten Erens Augenbrauen tiefer, aber er machte Mina ein Zeichen, dass er sich darum kümmern würde und sie lief nach kurzem Zögern weiter.

„Levi.“

Der Angesprochene verschränkte die Arme und sah ihn nur herausfordernd an. „Komm da runter, bind dein Pferd an schnapp dir einen Eimer. Oder möchtest du hier im Hof schlafen?“

Mit einiger Mühe schaffte Eren es nicht laut zu werden. Dieser verdammte Titanenbengel dachte wohl, er bräuchte eine Extraaufforderung?

Levi musterte ihn abschätzend, ehe er sich dazu herabließ sich herunterrutschen zu lassen und seine Zügel in die Hand zu nehmen. Er verzog angesichts des Bodens merklich das Gesicht, sagte aber nichts und zu Erens Überraschung machte er sich sogar bereitwillig und übertrieben gründlich daran den Aufenthaltsraum zu reinigen. Ordentlich genug, dass Eren es für sicher hielt ihn dort allein zu lassen und sich in der Zwischenzeit um die angrenzenden Zimmer zu kümmern. Sie waren zum Glück nicht zugewachsen, nur etwas staubig und voller Spinnenweben.

„Eren?“

Er blickte auf, als Sashas Stimme hinter ihm erklang und drehte sich um. Sie hielt einen großen Korb in der Hand. „Ja?“, er stöhnte leise, „Sag nicht, dass Levi schon was angestellt hat?“

Sie blinzelte und schüttelte dann langsam den Kopf. „Außer, dass er mich aus der Küche gescheucht hat, weil ich ihm nicht gründlich genug war, nein. Eigentlich wollte ich dir das zeigen. Die habe ich in der Vorratskammer gefunden.“

Nicht gründlich genug? Eren vertagte es sich darüber Gedanken zu machen und sah sich die Dosen an, die Sasha ihm in dem Korb hinhielt. Sie sahen … alt aus. „Ich glaube nicht, dass wir die noch essen sollten, Sasha.“

„Aber das ist eingelegtes Fleisch!“

Eren warf ihr einen skeptischen Blick zu, ehe sich doch ungewollt ein kleines Schmunzeln auf seine Lippen stahl. „Ich weiß, aber genau deswegen sollten wir das nicht. Der Stützpunkt wird seit über fünf Jahren nicht mehr benutzt, ich bezweifle, dass sich Fleisch so lange hält.“

Sasha schmollte ein wenig. „Captain, bitte um Erlaubnis es dennoch probieren zu dürfen!“

Nun musste Eren wirklich leise lachen. „Erlaubnis nicht erteilt. Sasha, ich brauche dich morgen noch. Aber ich erlaube dir eine aufzumachen und daran zu riechen. Wenn du dann immer noch der Meinung bist, es probieren zu wollen, rede mit Armin, sobald er hier ist.“

Sasha schmollte noch immer ein wenig, seufzte übertrieben und nickte dann aber. „Er kommt auch?“

„Ja, sobald der ganze Papierkrieg geklärt ist, immerhin hat er am meisten Ahnung von …“

Eren hielt inne, als er hinter Sasha mit einem Mal einen Schatten sah, der sich nicht bewegte und stumm dastand.

„Levi? Bist du fertig?“

Levi sah ihn nicht direkt an, als er erwiderte. „Mit der Küche ja. Soll ich … kann ich hier weitermachen?“ Er stolperte offenbar über die ungeplante Wortwahl. Eren war nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Hatte er in drei Jahren Grundausbildung keinen entsprechenden Umgangston gelernt?

„Ja, tu das. Auf dem Flur sind sechs Zimmer, wir werden sie alle brauchen.“

Levi nickte, schielte mit einem nicht sehr glücklichen Ausdruck in das Zimmer, das Eren gerade beinahe komplett gereinigt hatte und verschwand dann mit Eimer und Lappen im Nachbarraum.

Eren sah ihm kurz nach, wand sich dann an Sasha. „Wir sollten auch weitermachen, ehe es dunkel wird. Tu mir den Gefallen und benutz das Zeug nicht fürs Abendessen, ja? Nicht, ehe Armin es nicht wenigstens abgenickt hat.“

Er deutete nochmals auf ihren Korb, dann wand er sich wieder der Fensterbank zu, die er gerade abgestaubt hatte – und musste nießen. Wie er sauber machen doch hasste!

 

Die restliche Zeit bis zum Essen verlief ruhig und bis sie alle zusammensaßen waren die Zimmer auf der Etage nicht nur bewohnbar, Connie hatte auch die Ställe wieder hergerichtet und Mina den Brunnen in Betrieb genommen.

Sashas Gemüsesuppe war schmackhaft wie immer und für einen Moment konnte Eren sich sogar entspannen, als sie im Kerzenschein zusammensaßen und kurz einfach mal ausatmen konnten.

Levi saß neben ihm und aß schweigend seine Suppe – er sagte nichts dazu, aber vielleicht war das sogar ganz gut, da er seinen Mund ja offenbar fast nur öffnete, um sich zu beschweren.

„Wie genau gehen wir denn jetzt eigentlich vor?“, fragte Mina nachdem sie alle fertig waren und nur noch eine Tasse dampfenden Tee vor sich hatten. Eren rieb die Hände daran ohne daraus zu trinken.

„Erstmal warten wir auf weitere Befehle und nutzen die Zeit, um uns ein wenig mit Levis Fähigkeiten vertraut zu machen. Armin wird in den nächsten Tagen kommen, dann sehen wir weiter.“

Levi sah nun doch auf und er traf Erens Blick. Darin lag keine Frage, keine Unsicherheit nur Frust und Widerwillen, der Eren fast wieder wütend werden ließ. Was war jetzt schon wieder? Jeans Worte kamen ihm wieder durch den Kopf, er krampfte die Hände für ein paar Augenblicke fester um die Tasse und atmete langsam aus.

„Gut, ich denke, für heute sollten wir auch schlafen gehen. Wir haben morgen viel vor.“

Die anderen blieben unüblich ruhig, aber Eren entgingen nicht die unsicheren Blicke, die die drei tauschten, ehe sie wortlos aufstanden und sich Richtung Flur wandten.

„Captain.“

So, wie Levi das Wort aussprach lag darin keinerlei Respekt. Es war noch keine Verachtung, aber auch keine Anerkennung des Titels und forderte einiges von Erens Selbstbeherrschung.

„Ja, Levi?“

„Ich möchte die Zelle noch sauber machen, ehe ich darin schlafe.“

War das gerade der Versuch einer Bitte? Eren wand sich zu ihm um und schüttelte den Kopf. „Warum willst du in einer Zelle schlafen?“ Die Frage, ob ihm die normalen Betten nicht gut genug waren, verkniff er sich gerade noch.

Nun war es an Levi ihn überrascht anzusehen. Und zum ersten Mal lag kein Trotz, sondern wirklich Verwirrung in seinem Blick.

„Muss ich das denn nicht?“

Eren schnaubte ironisch. „Wenn es nach dem Gericht geht vielleicht. Ich sehe keinen Sinn darin. Wenn du dich da unten verwandelst, legst du die komplette Burg in Schutt und Asche, hier oben sollte wenigstens ein Teil stehen bleiben.“ Er zuckte die Schultern. „Es sei denn du bestehst auf deine Gruft, sonst schläfst du im Zimmer neben mir.“

Ein Blinzeln. Naja, vielleicht war das wenigstens ein Anfang … Hoffentlich.

 

Offenbar hatte Eren zu viel in diese Mimik interpretiert, denn der nächste Tag und auch der darauf folgende verlief relativ genau so, wie er erwartet hatte. Levi brauchte für so ziemlich alles eine extra Aufforderung, tat nur genau das, was man ihm sagte und keinen Handgriff mehr und sprechen wollte er auch nicht.

Es war wirklich zum verrückt werden und brachte Erens ohnehin kurzen Geduldsfaden mehr als einmal an die Grenze des Reißens. Er gab sich alle Mühe ruhig zu bleiben – weil er wusste, dass Jean sich auf ihn verließ und er in seiner Position eigentlich so etwas wie ein Vorbild sein sollte – aber Eren war sich nur zu bewusst, dass das nicht lange so weitergehen konnte. Levi nahm ihn nicht ernst, er tanzte ihm beinahe auf der Nase herum und das konnte und wollte er nicht länger zulassen.

Als Levi am Morgen des dritten Tages keine Anstalten machte nach dem Frühstück aufzustehen, reichte es Eren. Er schickte die anderen vor in den Hof, um die Ausrüstung bereit zu halten und blieb mit Levi sitzen. Er wartete auf eine Reaktion. Die meisten Menschen würden merken, dass etwas geschehen würde, doch Levi saß nur stumm da und sah ihn an.

Ihre Blicke trafen sich – und ein stummes Duell entstand. Levis Augen waren für sein Alter ungewöhnlich kühl und unbeeindruckt. Eren war sich sicher, dass er damit so einigen Leuten Angst machen oder sie einschüchtern konnte, wenn er das wollte, aber er wusste auch, dass solch ein Blick nicht von irgendwo kam.

Er erinnerte sich dunkel an ein Gespräch vor Jahren, in seiner eigenen Ausbildungszeit, als Kameraden ihm und Jean vorgeworfen hatten, sie hätten die gleichen, wilden, harten Augen und sie sich deswegen in die Haare bekommen hatten. Heute verstand er ansatzweise, was die anderen ihnen damals hatten sagen wollen und er fragte sich, was Levis Augen über ihn aussagen mochten. Was hatte der Junge erlebt, um so kaltblütig und unbeeindruckt zurückzusehen, wenn er ihn anfunkelte? War das wirklich der Mensch vor ihm oder der Titan in ihm?

So oder so, Eren hatte nicht vor dieses Duell zu verlieren und so groß, wie Levi gerne gehabt hätte, war die Wirkung auf Eren auch nicht. Er hatte als Kind genug Spott und Prügel eingefangen, ihn schreckte nur noch wenig ab.

„Warum bist du hier, Levi?“, fragte Eren nach bestimmt fünf Minuten, als ihn die Stille langsam aber sicher unruhig machte.

Erst schien es, als wollte Levi gar nicht antworten, dann zuckte er nur die Schultern. „Sollten wir nicht trainieren, Captain?“

Dieses Mal war der Titel definitiv als Provokation gemeint. Der Tonfall eisig und ironisch und Eren war sich sicher, dass er im Spiegel eine kleine Wutader auf seiner Schläfe hätte sehen können.

„Möchtest du mir etwas sagen, Kadett?“, fauchte er zurück und gab jede Art der Zurückhaltung auf.

Levi schnaubte nur. „Sollte ich nicht eigentlich vom stärksten Kämpfer bewacht werden?“, fragte er, die Stimme nur so von Spott triefend.

Erens spürte, wie sich sein Mund langsam verzog als er dicht an der Grenze zum Schreien antwortete: „Falls du Mikasa meinst, sie ist schwanger, du wirst also mit mir vorlieb nehmen müssen. Und, glaub mir, du solltest froh darüber sein. Sie würde dir das hier nicht durchgehen lassen?“

„Oh?“, kam es nur unbeeindruckt, was bei Eren endgültig eine Sicherung durchbrennen ließ. Er griff Levis Kragen, zog ihn zu sich und knurrte: „In fünf Minuten beim Training, wenn du nicht da bist, verbringst du den Rest des Tages in der Zelle.“

Damit stieß er Levi unsanft von sich, sodass dieser unsanft auf dem Boden landete und wand sich ohne ein weiteres Wort ab. Er konnte sich gerade noch davon abhalten sich wirklich mit ihm zu prügeln und schaffte es stattdessen in sein Zimmer, um bei geschlossener Tür mit einem nur halb unterdrückten Schrei die Faust gegen die Wand zu schlagen, dass seine Haut aufplatzte und Blut zu Boden tropfte.

Dieser scheiß Kerl machte ihn echt wahnsinnig. Dummes Titanenbalg!! Eren knurrte wütend.

Eine halbe Stunde später hatte Eren sich wieder beruhigt, seine Hand schnell verbunden und einen halben Plan für heute.

Die letzten zwei Tage hatten bei Levi eher durchschnittliche Ergebnisse gezeigt, was den Gebrauch der Ausrüstung anging – und standen im Widerspruch zu dem, was seine Leistungen in der Ausbildung zeigte. Eren war sich nicht sicher, ob Levi sich nicht bewusst war, dass sie seine Akten hatten, aber es bedeutete in erster Linie eins: Er hielt sich zurück.

Die einzigen Aufgaben, die er klaglos und gründlich verrichtete waren die, die Eren ihm eigentlich zur Strafe aufgab: Putzen, sich um die Tiere kümmern oder Wasser holen.

Alles andere, seien es nun Ausritte oder Gearübungen ließ er mehr über sich ergehen, als dass er mitmachte. Keine gute Voraussetzung. Irgendwie mussten sie ihn aus der Reserve locken – vorausgesetzt überhaupt es gab eine und der Junge hatte seine Ergebnisse zuvor nicht gefälscht.

Levi reagierte nicht, als er aus der Tür trat, er nickte ihm nicht mal zu oder sah zu ihm, erst als Eren ihn ansprach, bedachte er ihn mit einem mehr als herausforderndem Blick, der Erens Nackenhaare sogleich wieder stehen ließ. Wollte er einen echten Schlag?

„Absprungtraining.“, knurrte Eren nur, beinahe sofort wieder auf 180, „Auf die Pferde, sofort.“

 

Die ernüchternde Bilanz am Abend ließ Eren tief seufzen. Es war dunkel draußen und die anderen waren längst ins Bett gegangen, als er vor dem kleinen Schreibtisch in seinem Zimmer saß und einen Bericht für Jean verfasste.

Er war heute ein hohes Risiko eingegangen, um Levi anzustacheln und hatte sich im Flug in eines seiner Seile fallen lassen, um ihn zu zwingen schnell zu reagieren. Levi hatte sich geschickt abgefangen, war daraufhin aber auf dem Ast stehen geblieben mit der einzigen Aussage, dass er sich erst wieder bewegen würde, wenn alle unfähigen Hindernisse aus der Luft verschwunden waren.

Eren hatte daraufhin alle Geduld verloren und ihn anschließend mit zum Nahkampftraining genommen. Es war … unschön gewesen. Für beide. Keiner hatte nach- oder gar aufgeben wollen und aus der koordinierten Übung war schnell ein hartes Prügeln und Rangeln geworden, das erst endete, als Armin ankam und erschrocken schrie die beiden zu trennen. Es hatte alle vier und einiges an gutem Zureden bedurft, ehe sie sich wegzerren ließen.

Eren wusste, dass er Armins anschließende Standpauke verdient hatte, aber das hieß nicht, dass er allem zustimmte, was der andere gesagt hatte.

Vielleicht war Levi wirklich einfach kein Mensch, sondern nur ein dummes Tier. Jeder andere mit halbwegs vernünftigem Verstand hätte längst gemerkt, dass er es nur schlimmer machte. Dass in einer solchen Situation Rebellion gegen einen Vorgesetzten und dieses vollkommen bewusste Provozieren nur negative Konsequenzen haben würde.

Eren sah nachdenklich auf seinen Unterarm, auf dem sich dunkelrote und blaue Abdrücke einer Hand unter dem dünnen Hemd deutlich abzeichneten. Levi hatte mit aller Kraft gekämpft – fast schon besessen und wild hatte er sich gegen Erens Griffe gewehrt, grob, teils härter als nötig und beinahe in Panik ja nicht unterlegen zu sein.

Eren strich langsam darüber. Es schmerzte, für seine kleine Gestalt hatte der Junge einiges an Kraft – ob sie von seiner Titanenseite kam oder er sie auch so hatte, war ungewiss. Eren musste ihm lassen, dass er kämpfen konnte, nicht mal schlecht, aber das war sicher nicht, was er in der Grundausbildung gelernt hatte.

Levi kämpfte nicht fair, er hatte kein bisschen Rücksicht auf ein Training genommen und war gezielt auf alle Schwachpunkte losgegangen, die ihm irgendeinen Vorteil verschaffen konnten. Die traurige Wahrheit war, dass Eren durchaus eine vage Vorstellung hatte, woher das kam, aber es würde etwas bedeuten, über das er nicht weiter nachdenken wollte und dass er daher weit von sich schob.

Als es klopfte, zuckte Eren leicht zusammen, drehte sich dann aber um, als Armin den Kopf durch die Tür streckte und schließlich eintrat, als er sicher war, dass Eren nicht schlief.

„Sag nichts.“

Armin lächelte leicht, als Eren den Kopf abwand und leise seufzte. „Er setzt dir ganz schön zu, was?“

Eren schnaubte. „Armin, das ist eine Untertreibung. Der Kerl ist schlimmer als ich es jemals war!“

Armin ließ sich ungefragt auf Erens Bett nieder und sah ihn einen Moment lang abschätzend an. „Ich weiß nicht, du bist schon schwer zu übertreffen, was das angeht …“, stichelte er und schaffte es damit Eren ein kein wenig abzulenken und aufzumuntern.

„Ich habe aber auf meine Vorgesetzten gehört.“

„Ja, das hast du“, stimmte Armin zu, „Aber hinter ihrem Rücken hast du genauso geflucht.“

Eren schmunzelte. Das hatte er. Oft. Vor allem dann, wenn er das Gefühl hatte, dass sie ihm nichts beibrachten. Er hatte sich allerdings niemals offen gegen sie zur Wehr gesetzt, er war sich seiner Position im Militär immer sehr bewusst gewesen.

„Armin, was soll ich mit ihm machen? Er setzt es doch geradezu an, mich auf die Palme zu bringen. Vielleicht bin ich einfach nicht dazu geeignet jemanden zu beaufsichtigen …“

Armin dachte eine ganze Weile über seine Antwort nach, ehe er langsam vorschlug: „Finde heraus, warum er das tut? Wenn er nicht gelogen hat und in die Legion wollte, muss es einen Grund geben, warum er so reagiert?“

Eren schüttelte nur den Kopf. Armin ging das ganze wieder zur ruhig und theoretisch an, als ob alles an Menschen – oder Monstern – logisch zu erklären wäre. Vielleicht war es auch einfach unmöglich, vielleicht brauchte Levi einen anderen Vorgesetzten, der ihm endlich gehorsam beibrachte, vielleicht war er einfach als Soldat komplett ungeeignet und Jean würde sich einen anderen Weg suchen müssen.

Warum nur hatte er zugestimmt und den Kleinen nicht einfach der Militärpolizei überlassen? So, wie er sich gerade aufführte, wäre ihm das nur recht geschehen …!

vergangen

Es war eine kalte, klare Nacht und der Mond war nur als schmale Sichel irgendwo weit entfernt zu sehen.

Der Hof lag fast gänzlich im Dunkeln, nur das flackernde Licht der Fackel in seiner Hand malte Lichtspiele auf die Pflanzen und Ranken, die die Steine überwucherten.

Eren fragte sich ernsthaft, was er hier eigentlich tat, warum zum Geier er nicht lieber Mina geweckt und losgeschickt hatte. Er konnte jetzt schon vorhersagen, wie das ganze enden würde und er war sich ganz und gar nicht sicher, ob er ruhig genug würde bleiben können, damit es nicht erneut eskalierte.

Und doch hatte ihn sein Pflichtgefühl hinausgetrieben, als Armin ihm gesagt hatte, dass Levi verschwunden war ohne seine Wunden verbinden zu lassen. Eren wusste, dass er ihn mindestens einmal gut erwischt hatte und wenn sonst nichts, zumindest die Platzwunde am Kopf sollte versorgt werden. Ganz abgesehen davon, dass Levi nun mal leidigerweise unter seiner Verantwortung stand.

Ein paar Schritte in Richtung Ställe und Eren entschied, dass es keinen Sinn hatte. Er würde nicht in irgendwelchen Winkeln herumkriechen und das entflohende Haustier zu suchen. „Levi!“, schrie er noch nicht in voller Lautstärke, aber definitiv laut genug, um gehört zu werden, „Komm raus und stell dich mir wie ein Mann.“

Keine Reaktion. Na wunderbar.

„Hör zu, ich habe keinen Bock dich zu suchen und ich kann mir nicht vorstellen, dass du Spaß am Verstecken hast. Also komm her, lass mich deine Wunde untersuchen und wir reden nicht mehr drüber. Wenn du hier bleibst, muss ich die anderen wecken und dich suchen lassen. Das wird Konsequenzen haben, die wir beide nicht wollen.“ Ein Rascheln, aber keine Bewegung. Eren knurrte. „Gut, wenn du unbedingt in die Versuchskeller der Polizei möchtest …“

Wieder ein Rascheln und rechts neben ihm löste sich ein Schatten von der Wand. Levi zeigte keine Zeichen von Reue, als er in den Fackelschein trat. Er stand aufrecht, funkelte Eren wieder nur herausfordernd an und presste seine Lippen fest aufeinander.

Eren biss sich selbst stark genug auf die Zunge, dass er Blut schmeckte, um nichts Unbedachtes zu sagen. Stattdessen unterzog er Levi einer schnellen Untersuchung. Schmutzig und blutig, zerrissene Kleidung, verkrampfter Gesichtsausdruck.

Eren seufzte.

„Komm mit.“ Er blickte sich nicht um, versuchte daran zu glauben, dass Levi ihm freiwillig folgte und lief voran in die Küche, wo ein großer Bottich bereitstand. Er setzte warmes Wasser auf und füllte es ein, registrierte aus den Augenwinkeln, dass Levi in der Ecke stehen geblieben war und ihm zusah.

Als Eren die Temperatur für annehmbar hielt, deutete er darauf. „Los, wasch dich.“ Levi beäugte ihn kurz, begann dann aber ausnahmsweise einmal gehorsam seine Kleidung abzulegen. „Und dann lass mich deine Wunden sehen.“

Das wiederum ließ Levi innehalten und zischen wie ein wildes Tier. Eren hatte für heute genug von diesem Verhalten.

„Keine Widerrede, wir können es uns nicht leisten, dass sich etwas entzündet, scheiß egal, was ich denke oder du denkst, du bist unser Soldat und ich habe dafür zu sorgen, dass du einsatzfähig bist.“

Damit wand er sich aus dem Raum und kam erst fünf Minuten mit dem medizinischen Bedarf zurück.

Zu seiner angenehmen Überraschung saß Levi tatsächlich in das Nachthemd gekleidet, dass Eren ihm hingelegt hatte, sauber und mit noch nassen Haaren neben dem Bottich und wartete mit gesenktem Kopf.

„Zeig mir deine Schläfe.“

Levi wand den Kopf ab. „Sie ist okay.“

Eren knurrte ungeduldig, packte Levis Kinn und drehte es zu sich. Hätte er sich wirklich wehren wollen, hätte Levi es sicher getan, aber er ließ es mit mahlenden Zähnen zu und Eren stellte erstaunt fest, dass die Wunde wirklich bereits geschlossen und beinahe verheilt war.

Langsam ließ er die Hand wieder sinken. „Wie …?“

„Ich bin ein Monster, weißt du noch?“, fauchte Levi unwirsch und drehte sich erneut ab. Und für eine Sekunde schien es Eren, als würde ihm schlagartig etwas klar werden, dann aber verging der Moment und er blieb leicht verwirrt zurück.

„Du … heilst mit Titanenrate?“, fragte er langsam.

Levi verkrampfte sich, ballte die Fäuste und schien offensichtlich mit sich selbst zu kämpfen, dann unendlich langsam schüttelte er den Kopf. „Nicht ganz. Aber schneller als normal.“

Eren nickte langsam. „Das ist … praktisch.“

Levi fuhr entsetzt herum und starrte ihn fassungslos an, doch Eren sagte nichts darauf. Stattdessen beherzigte er Armins Rat, wenn Levi anscheinend zur Abwechslung mal seine Fragen beantwortete. „Levi, willst du unbedingt, dass ich die Beherrschung verliere?“

Levi hob langsam eine Augenbraue und sah ihn nur an, die stumme Frage, ob er das ernst meinte hing in der Luft, dann aber zuckte er nur die Schultern und stand auf.

„Nein.“

„Warum reagierst du dann so?“

Levi schnaubte nur. „Respekt ist verdient, nicht geschenkt“, flüsterte er leise, dann stürmte er schnell durch die Tür hinaus und diesmal hoffentlich in sein Zimmer. Eren blieb zurück, nicht sicher, ob er sauer sein sollte oder nicht. Was war das für ein komischer Junge?

 

Die folgende Nacht war unruhig, Eren konnte kaum schlafen und lag grübelnd wach. Er wurde aus Levi einfach nicht schlau, aber er hatte wenigstens einen kleinen Hinweis bekommen. Monster.

So hatten ihn einige der anderen aus der Ausbildungszeit auch genannt. Es war scherzhaft gemeint gewesen, genauso wie sein anderer Spitzname, aber seinerzeit hatte er gesessen. Niemand wurde gern als Monster bezeichnet und sich selbst so zu nennen … Ja, heute würde er das vielleicht tun, heute zuckte er auch nicht mehr, wenn jemand anderes das tat. Aber Levi war jung und etwas an ihm war einfach anders. Er war wirklich ein Monster.

Aber konnte jemand ein Monster sein, wenn er selbst Angst davor hatte eins zu sein? Eren sah in ihm einen der verhassten Titanen – und wahrscheinlich spürte Levi diese Ablehnung in seinem Verhalten – aber was … was wenn Levi das selbst auch so sah?

Als er am nächsten Morgen zum Frühstück kam, war Eren keinen Schritt weiter gekommen. Selbst wenn Levi sich selbst deswegen verachtete, hieß das nicht, dass Eren ihm sagen konnte, dass er es nicht tun sollte. Immerhin war er ein Titan … oder?

Levi saß schweigend am Tisch, starrte in seine Haferflocken mit Milch und blickte nur kurz auf, als Eren eintrat. In seinen Augen stand heute Morgen einfach … nichts. Keine Entschuldigung, kein Bedauern, aber auch kein Hass oder Vorwurf. Einfach nichts. Und beinahe war es noch erschreckender als der kalte Blick der letzten Tage. Und fast sofort wand er sich auch wieder zurück zu seinem Frühstück – aber nicht schnell genug, als dass Eren nicht gesehen hätte, dass die Platzwunde rückstandslos verschwunden war.

Eren kommentierte das ganze aber nicht, nahm sich auch eine Schale und erklärte stattdessen: „Ich werde nach dem Essen heute einen Ausritt machen und geeignetes Gelände untersuchen, Armin, erklär Levi bitte, was wir in den nächsten Tagen vorhaben, danach nehmt ihn bitte mit in die Wälder und macht ein Wettrennen. Ich will wissen, wie gut er mitkommt.“

 

Eren ging ihm den ganzen Tag aus dem Weg. Er blieb auch am Nachmittag in seinem Zimmer, aß getrennt von den anderen zu Abend und ließ sich nur von Mina einen Bericht geben. Er wollte in Ruhe nachdenken und dachte, dass es vielleicht auch Levi gut tun würde, statt mit ihm Zeit mit den anderen zu verbringen. Mit ihnen kam er ja scheinbar besser klar.

Am Morgen des fünften Tages schließlich kam in aller Frühe ein Bote mit dem Brief an, auf den Eren gewartet hatte. Er war kurz und enthielt nicht alles, was er erhofft hatte, aber er erklärte ein wenig und er brachte Eren auf eine Idee.

Es war noch vor der Frühstückszeit, aber er wusste, dass Levi Stalldienst hatte und nachdem er den Boten ins Haus geschickt hatte und sicher war, dass Sasha ihn mit Essen versorgen würde, machte er sich auch auf den Weg zu den Pferden.

Dort fand er den Kadetten wie erwartet vor, pflichtbewusst dabei eine Stute zu bürsten.

„Guten Morgen, Levi.“

Ein Schnauben war die einzige Reaktion, aber Eren ließ es ihm diesmal durchgehen, lehnte sich gegen die Box und verschränkte die Arme. „Deine Freunde sind ebenfalls der Aufklärungslegion beigetreten."

Nun hielt Levi doch kurz inne und seufzte leise, dann fuhr er fort.

„Du bist wegen ihnen hier, oder?“

Levi stockte erneut und wand nun allmählich den Kopf zu Eren um. Eren merkte sofort, dass er sich hier auf dünnes Eis begab, denn Levis Gesichtsausdruck fragte ganz eindeutig, ob er das Thema wirklich anschneiden wollte. Jetzt gab es kein Zurück mehr, entweder sie kamen darüber oder sie brachen ein. Alles oder nichts. Nichts Neues, Eren lebte schon lange nach diesem Prinzip.

„Du bist nicht der einzige, aber du solltest dir im Klaren darüber sein, dass die Aufklärungslegion kein Spaß ist. Du musst hinter dem stehen, was du tust, sonst gehst du drauf.“ Levis Augenbrauen wanderten langsam nach unten, doch Eren fuhr unbeeindruckt fort. „Armin ist wegen mir hierher gekommen, das weiß ich und ich wollte es ihm ausreden. Er ist kein guter Kämpfer, er ist jedes Mal gefährdet, aber er ist einer der schlausten Menschen, die ich kenne und ohne ihn wäre das alles deutlich schwieriger. Er weiß das und er hat sich mit seiner Rolle mehr als abgefunden, wir verlassen uns alle auf ihn und er beweist uns immer wieder, dass wir das können.“

Schweigen, ein bohrender Blick.

„Ich verstehe, dass du sie nicht alleine das Risiko eingehen lassen wolltest, aber, Levi, kannst du hinter deiner Entscheidung stehen? Kannst du wirklich ehrlich sagen, dass du hier sein wolltest?“

Levi knurrte. „Und wenn nicht?“

„Dann nehme ich dich nicht mit raus.“

Das ließ Levi nun kurz stutzen und Eren sah einen kleinen Spalt in seiner Mauer, wenn auch nur für den kurzen Augenblick. „Zögern oder zweifeln bringt dich da draußen um und wir nehmen niemanden mit, um ihn zu verfeuern. Ich weiß, dass du Potential hast, aber wenn du das nicht einsetzen willst, bist du für uns wertlos und wir können die ganze Aktion hier gleich abbrechen.“

Levi wand nur den Kopf ab und bürstete weiter, aber Eren sah seine verkrampfte Miene und wie die Hände sich fast schon in die Bürste und das Fell krallten.

„Pass auf, wie es jetzt ist, kommen wir beide nicht weiter. Ich schlag dir einen Deal vor. Überzeug mich, dass du uns wirklich helfen willst und kannst, dass du echt lieber bei uns als der Polizei sein willst.“

Levi sah ihn nicht an und er sprach sehr leise, aber er fragte: „Und was kriege ich dafür?“

Eren machte eine kurze Kunstpause, dann antwortete er ruhig: „Ich hole deine Freunde her.“

Nun blickte Levi doch auf.

„Du bist wegen ihnen hier und ich vermute, dass es effektiver ist, euch zusammen zu halten, als zu trennen. Ich werde Jean bitten sie hierher zu schicken. Allerdings erwarte ich dafür auch, dass du endlich zeigst, was du kannst und dich nicht wie ein wildes Tier hinter fauchen und kratzen versteckst. Denk darüber nach und schlag nur ein, wenn du es ernst meinst.“

Eren strich der Stute kurz über die Seite, dann warf er Levi einen letzten Blick zu und ging zum Frühstück.

 

Der Tag verlief ungewohnt ruhig. Levi war nicht gerade ein Übermaß an Motivation, aber seine Leistung nahm im Vergleich zum Vortag zumindest weit genug zu, dass Eren Hoffnung hatte, dass es vielleicht werden konnte.

Und am Nachmittag überraschte er ihn sogar noch mit der seltsamen Bitte noch einmal mit ihm den Nahkampf zu üben. Erens Blutergüsse vom letzten Mal waren nicht mal ansatzweise verheilt, aber als er einen Blick mit Armin tauschte und der ihm sacht zunickte, gab Eren nach.

Der zweite Kampf war beinahe genauso hart, wie der erste, aber er war kontrollierter und weniger blutig. Nach einer knappen halben Stunde hatte Eren Levi mit einiger Mühe in einem Haltegriff, von dem er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Junge vermutlich ausbrechen würde. Da er aber keine Finger in seinen Augen oder ähnlich schmerzhafte Abwehrmechanismen provozieren wollte, ließ er los und erklärte den Kampf als unentschieden für beendet.

Levi sagte dazu nichts, nahm aber das feuchte Tuch entgegen, dass Sasha ihm gab und wischte sich über die Kratzer, die er davongetragen hatte. Erens Sammlung an blauen Flecken hatte sich etwa verdoppelt, aber er dachte nicht zu sehr darüber nach. Da hatte er schon schlimmeres erlebt. Er würde heute Abend etwas Salbe darauf schmieren und sie die nächsten Tage ignorieren, bis sie von selbst wieder verschwanden.

Nach dem Abendessen schließlich kam Levi von sich aus zu ihm. „Captain …“ Diesmal klang es immerhin nicht wie ein Fluch, verdammt, wenn Armin hiermit Recht hatte, würde Eren sich das beim nächsten Mal, wenn sie anderer Meinung waren, wieder ewig anhören dürfen. Egal, Hauptsache, sie kamen vorwärts. „Hast du …“ Ein kurzes Zögern, ein auf die Lippe beißen, dann ein Räuspern. „Habt Ihr einen Moment?“

Eren nickte nur und bedeutete ihm mit in sein Zimmer zu kommen, wo er auf den Stuhl deutete und sich selbst auf das Bett sinken ließ.

„Ich schätze, du hast dir über mein Angebot Gedanken gemacht?“

Levi nickte langsam und sah ihm dann wieder direkt in die Augen. Mut hatte er ja, das musste er ihm lassen.

„Ich … werde mir Mühe geben.“ Die Aussage kostete ihn ganz offensichtlich einiges an Überwindung und ließ Eren zumindest ein klein wenig aufatmen. Ein erster Schritt, immerhin. Wortlos streckte er Levi eine Hand entgegen, die sein Gegenüber erst einmal zweifelnd musterte, dann aber in einer ruhigen, etwas zögerlichen, aber sicheren Bewegung ergriff und schüttelte.

„Sehr gut, Soldat“, erklärte Eren in einem Versuch zu zeigen, dass auch er es ernst meinte, „Ich werde gleich Jean einen Brief schreiben und das ganze erklären. Die Entscheidung wird vermutlich ein paar Tage dauern, aber ich werde mein Wort halten.“

Levi wirkte ein klein wenig erleichtert, als er langsam ein schwaches Nicken andeutete.

 

Letzten Endes dauerte es vier Tage, bis Jeans Antwort kam – aber sie war positiv. Er stimmte zu und würde die entsprechenden Neuzugänge in einer Woche vorbeischicken.

In der Zwischenzeit machte Eren ein paar kleine Fortschritte mit Levi. Auch wenn der Junge noch immer recht einzelgängerisch wirkte und nie von sich aus etwas begann, er gab sich Mühe bei dem, was er tat. Und seine Leistungen mit dem Manövergear waren wirklich herausragend bis zu dem Punkt, an dem er die anderen Anwesenden übertraf. Eine solche Wendigkeit hatte Eren bisher nur bei Mikasa und manchmal Jean gesehen und sie erstaunte und beeindruckte ihn mehr, als er zuzugeben bereit war.

„Er hat keinen Respekt, weil er denkt, wir können ihm nichts beibringen“, hatte Armin nach wenigen Tagen gesagt und jetzt verstand Eren den Teil auch. Ja, was das Gear anging, konnte er geradeso mithalten, wenn Levi aufdrehte, allerdings nur was das Tempo anging, nicht das Geschick.

Eine weitere Erkenntnis war, dass die Androhung von Strafen nur deswegen gut funktioniert hatte, weil Levi eine absolute Abneigung gegen Dreck und Schmutz hatte und mehr davor zurückschreckte in einer dreckigen Zelle zu schlafen, als in einer Zelle an sich.

Eren konnte darüber nur den Kopf schütteln, aber es hatte einen ungeplanten Nebeneffekt, den er selbst eigentlich nicht beabsichtigt hatte. Es machte Levi menschlicher. Er wirkte immer weniger wie ein Titan auf ihn, sondern mehr wie ein Junge, der nicht wusste, was er im Leben sollte.

Eren versuchte sich solche Gedanken zu verbieten, um nicht zu vergessen, welche Gefahr von ihm ausging, aber er war nicht wirklich erfolgreich. Und so fiel es ihm unerwartet schwer, als Armin meinte, er hätte einen guten Ort gefunden, um Levis Verwandlung zu testen und würde das morgen gerne tun.

Aber es brachte ja alles nichts, er musste mit Levi reden und so klopfte er nach dem Abendessen an dessen Zimmertür und wartete sogar auf das mürrische „Ja?“, ehe er eintrat.

„Levi, ich muss mit dir reden …“, er brach ab, was war das bitte für ein Anfang? Eren strich sich durch die Haare und zuckte dann die Schultern. Lieber direkt raus, dachte er sich und erinnerte er sich, wie er solche Ansagen von Vorgesetzten hasste.

„Pass auf, eigentlich sind wir ja hier, um deine Shifterfähigkeit zu untersuchen und Armin hat einen Weg gefunden, wie wir das … was ist?“

Levis Gesicht zeigte mit einem Mal blanke Panik, was so gar nicht zu seiner sonstigen, ruhigen Art passen wollte.

„Nichts“, antwortete er unwirsch und sah wieder weg, „Also, morgen?“

Eren runzelte die Stirn, kommentierte das aber vorerst nicht. „Ja, Armin hat einen Weg gefunden, wie es ungefährlich für alle Beteiligten abläuft und ich denke, das ist in unser aller Interesse nicht?“

Levi nickte langsam und seufzte dann. „Es wäre einfacher, wenn ich wüsste … wie das geht, nicht?“, wisperte er leise und Eren war sich nicht sicher, ob er überhaupt mir ihm sprach. Dann, plötzlich zuckte Levis Kopf nach oben. „Captain, was ist, wenn jeder Titan eigentlich ein Mensch ist, der sich nicht unter Kontrolle hat.“

Und damit erwischte er Eren kalt. Die Frage hatte er sich nämlich auch schon gestellt ohne eine Antwort darauf zu finden. Ja … was, wenn das so wäre? Dann hätten sie seit Jahren Menschen umgebracht, aber auf der anderen Seite …

„Wenn wir sie nicht töten würden, würden sie uns töten, Levi“, antwortete Eren mit leicht gesenkter Stimme, ehe er ihn einen Moment lang musterte, „Wie alt bist du? Sechszehn?“

Levi zuckte die Schultern. „Vermutlich so ungefähr, wieso?“

„Hast du den Fall von Maria miterlebt?“

Levi stutzte kurz und schüttelte dann aber den Kopf. „Ich war zu der Zeit weiter im Inneren im U… egal. Ich war nicht dort. Du … Ihr etwa?“

Eren erlaubte sich ein kleines, amüsiertes Seufzen. „Ehe du dir einen abbrichst, sag halt du. Und, ja, ich stamme aus Shiganshina. Meine Mutter hat zu dem Zeitpunkt noch dort gelebt und wir waren gerade in der Nähe, als die Mauer fiel. Es war die Hölle, glaub mir, kaum jemand, der nicht nahe des Tors war, hat überlebt.“

Für einen kurzen Moment sah er es wieder vor sich. Einstürzende Häuser, Trümmer, die durch die Luft flogen, schreiende Menschen, Panik.

„Selbst wenn es Menschen sein sollten, müssen wir sie stoppen, ehe sie noch mehr Opfer fordern. Mir gefällt der Gedanke auch nicht, aber wenn du einen Menschen gegen einhundert aufwiegen musst, wofür entscheidest du dich?“

Levi wog den Kopf leicht hin und her. „Aber wenn es ein wichtiger Mensch gegen hundert Fremde ist?“

Eren verzog ironisch den Mund. „Dann hast du eine harte Entscheidung vor dir.“ Und eine, die er niemals wieder treffen wollte, soviel stand fest.

„Werdet ihr mich morgen auch umbringen, wenn ich die Kontrolle verliere?“ Das war vermutlich eher die Frage, um die es ihm ging.

Eren schüttelte versucht beruhigend den Kopf. „Armin hat einen alten Brunnenschacht entdeckt. Dort wirst du selbst als Titan nicht herauskommen und wenn es hart auf hart kommt, warten wir, bis du wieder du selbst wirst. Nach den Berichten bist du in Trost irgendwann vor Erschöpfung zusammengebrochen und wieder zum Mensch geworden. Wir setzen darauf, dass das noch einmal funktionieren wird.“

Levis nachdenklicher Blick aus dem Fenster ließ Eren erneut zweifeln, wen er da vor sich hatte: Ein verlorenes Kind oder ein Monster?

„Du weißt wirklich nicht, woher du das hast, oder?“, flüsterte er und sprach damit mehr einen Gedanken laut aus, als eine wirkliche Frage.

Levi knurrte wieder leise. „Wenn ich es wüsste, würde ich es sagen!“

Ja, allmählich konnte Eren ihm diese Aussage glauben. Allmählich.

entschieden

Wie gewohnt war Levi ohne ein Wort in den Brunnen geklettert, er hatte ihnen nicht einmal mehr einen Blick zugeworfen und wartete nun stumm auf dem Grund auf einen Befehl. Eren lehnte sich über den gemauerten Rand, um hinunter sehen zu können.

Levi wirkte winzig in dem beinahe zwanzig Meter tiefen Loch, klein und verschollen, wie er mit verschränkten Armen und gesenktem Blick dort stand und keinen Mucks von sich gab, fast wie eine Statue.

Eren wand sich zu Armin um, der neben ihm stand und langsam nickte, ehe er Eren fast schon gewaltsam ein Stück zurück drückte, um seinen Platz einzunehmen. Eren war körperlich stärker, er hätte sich ohne Probleme wehren können, doch die unerwartete Aktion ließ ihn diesmal mitgehen und auf einmal spürte er jemanden nach seinen Armen greifen und ein Blick zu den Seiten gab Connie und Sasha zu erkennen.

Eren runzelte die Stirn und wollte gerade den Mund öffnen, um zu fragen, was das bitte sollte, als Armin mit ruhiger, fester Stimme einen Befehl in den Brunnen rief.

Sekunden vergingen, dann erklang ein Knall, ein lauter Schrei und schräg über den Rand sah Eren den Kopf einer gigantischen Kreatur.

Augenblicklich erstarrte er und konnte nicht anders als gebannt auf das Monster vor ihm zu starren.

Ein Titan.

Tief in Eren meldete sich abgrundtiefer Hass und reine, schwer zu fassende Wut, wie jedes Mal, wenn er einem dieser Ungeheuer begegnete. Er spürte regelrecht, wie  beides durch ihn jagte, ihn kampfbereit machte und der Reflex loszuspringen, seine Ausrüstung zu benutzen und das vermaledeite Ding niederzustrecken war sofort da.

Aber Eren machte keine Ansätze sich zu rühren, denn da war noch etwas anderes, dass die Wut überlagerte und ihn komplett bewegungsunfähig machte. Das war Levi.

Wie ein Mantra echote seine eigene Stimme in seinen Gedanken.

Er war dort gewesen, er hatte in den Brunnen gesehen, da war nur Levi gewesen, der sich weigerte ihm in die Augen zu sehen. Und nun stand dort ein Titan. Der Levi war. Der Junge hatte sich wirklich in einen Titanen verwandelt.

Bisher war es nur eine Erzählung gewesen, weit weg, unwirklich. Es war nicht einmal so, dass Eren den Berichten gar nicht geglaubt hätte, aber es nun selbst zu sehen, machte ihm klar, dass er zu sehr gezweifelt hatte. Ja, er war überzeugt gewesen, dass keiner gelogen hatte, als er davon erzählte, aber wirklich geglaubt hatte er ihnen ganz offensichtlich nicht.

Und nun wusste er selbst nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte.

Armin vor ihm hatte sich wie immer besser im Griff. Er stütze sich leicht auf den Steinen ab und beugte sich vor – sicher außerhalb der Reichweite, die er vermutlich ganz genau berechnet hatte – dann, noch immer mit absolut kontrollierter Stimme fragte er: „Levi?“

Und der Titan nickte.

Eren glaubte seinen Augen nicht. Er nickte.

„Bist du bei Bewusstsein und in Kontrolle über den Körper?“

Der Titan öffnete den Mund und gab einen undeutlichen Schrei von sich. Eren brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass das der vergebliche Versuch war, etwas zu sagen. Stattdessen folgte ein weiteres Nicken.

Eren starrte noch immer fassungslos auf das Bild vor sich, doch als Armin nach seiner Ausrüstung griff und meinte „Gut, ich komme zu dir runter“, kam Eren endlich wieder zu Sinnen und riss etwas ruckartig an seinen Armen.

„Connie, Sasha, lasst mich los!“

Sie tauschten einen Blick, hielten aber fest, woraufhin Eren die Augen verdrehte und stöhnte.

„Ich hab‘ mich im Griff, ehrlich!“

„Wenn du meinst …“, murmelte Sasha und ließ fast schon zögerlich locker. Kaum, dass Connie zweifelnd ihrem Beispiel folgte, riss Eren sich wirklich los und stürmte mit zwei großen Schritten wieder zu Armin, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen und ihn aufzuhalten.

„Lass mich.“

Armin warf ihm einen wenig begeisterten Blick zu und hob langsam eine Augenbraue. „Ich halte das für keine gute Idee“, erklärte er offen heraus, „Du und Titanen sind keine gute Mischung, Eren.“

Eren atmete tief durch und sah noch einmal herunter in den Brunnen, aus dem ihm nun zwei große, hellblaue Augen fast schon herausfordernd entgegensahen.

„Stimmt, aber das dort ist einer meiner Leute.“

„Solche Worte aus deinem Mund?“ Armin war alles andere als überzeugt, soviel stand mal fest …

 

Als der Spuk eine halbe Stunde später vorbei war, war Levi etwa in dem Zustand gewesen, in dem Eren ihn das erste Mal gesehen hatte.

Er überließ es Armin die Überreste des Titans zu untersuchen (was immer er damit machen wollte), fischte stattdessen Levi heraus, verfrachtete ihn vor sich auf sein Pferd und brachte ihn zurück zu ihrem momentanen Quartier.

Der Ritt verlief schweigend, was zum Teil auch daran lag, dass Levi nach der Hälfte einfach einschlief und erst aufwachte, als Eren bereits am Absteigen war. Trotz seiner Erschöpfung (und Levi war nicht mal mehr wirklich in der Lage alleine zu laufen), bestand er darauf sich zu waschen, ehe er ins Bett ging.

Das schien ihm ja wirklich verdammt wichtig zu sein und so ließ Eren es zu und ihn ruhen, bis er zwei Stunden später mit einer heißen, frisch gekochten Suppe an Levis Tür klopfte, um nach ihm zu sehen.

Levi antwortete etwas langsam und träge, aber als Eren die Tür öffnete wirkte er immerhin wieder halbwegs ansprechbar.

Eren suchte vergeblich nach Worten, um über das ganze zu reden und ließ Levi einfach erstmal essen, während er sich auf einen Stuhl neben ihm sitze und erstmal schwieg.

„Tut es weh?“, fragte er irgendwann, als Levi beinahe aufgegessen hatte.

Der Junge ließ daraufhin den schon erhobenen Löffel wieder sinken und warf ihm einen dieser herausfordernden Blicke zu, ehe er sich offenbar besann, auf seine Hand herabsah und den Kopf schüttelte.

„Die Verletzung vorher schon, aber die Verwandlung … der Körper fühlt sich an, wie meiner. Ich spüre meinen … echten nicht mehr.“

Eren nickte langsam. „Armin hat gemeint, dass du selbst aber da bleibst – vermutlich im Schwachpunkt der Titanen. Er geht davon aus, dass wir dich vielleicht auch so herausbekommen ohne warten zu müssen, bis du vor Erschöpfung zusammenbrichst“, fasste Eren ihre Besprechung kurz zusammen, „Und er will jetzt ein paar wilde Titanen fangen und im Nacken aufschneiden. Ich ahne, wer diesen Job bekommen wird …“, murmelte er einfach nur, um sie nicht wieder in Schweigen verfallen zu lassen.

Da Levi aber keine Anstalten machte, darauf einzugehen, zuckte Eren nur die Schultern. „Das war sehr gute Arbeit, Soldat“, merkte er dann stattdessen an und stand währenddessen auf, „Als Belohnung habe ich morgen eine Überraschung für dich.“

Levi hob nur eine Augenbraue, aber Eren schüttelte mit einem winzigen Lächeln den Kopf und verließ das Zimmer.

 

Um neun Uhr am folgenden Tag kam ein kleiner Trupp Reiter an. Eren hatte bereits im Hof auf sie gewartet und lief kaum, dass Jean von seinem Pferd herunter war, auf ihn zu, um ihn mit einem festen Handschlag zu begrüßen.

Wie üblich wurde es ein halbes Armdrücken, ehe beide lachend davon abließen.

„Wie geht’s Mikasa?“

„Gut, gut. Sie will immer noch in den aktiven Dienst, obwohl es langsam doch sehr … sichtbar wird. Und ich soll dir sagen, dass du auf dich aufpassen und gescheit essen sollst.“

„Typisch …“

„Oh ja.“

Sie grinsten beide, ehe sie etwas ernster wurden.

„Also, wie sieht’s aus?“, kam Jean direkt zur Sache, während er sein Pferd zum Stall führte. Eren war ganz automatisch nebenher gelaufen.

„Den Umständen entsprechend gut. Levi redet endlich mal mehr als ein Wort mit mir und wir haben gestern das Experiment, ich würde mal behaupten, sehr erfolgreich durchgeführt. Aber ich glaube, die Einzelheiten erklärt dir besser Armin als ich.“

Jean nickte langsam und nahm den Sattel herunter.

„Vermutlich. Aber wie sieht deine Einschätzung aus?“

Eren sah ihn fragend an. „In Bezug auf was genau? Levis Fähigkeiten als Soldat oder ob er ein Titan ist?“

Jean verzog leicht das Gesicht. „Beides, auch wenn ich gerade eher die Kombination meinte.“

Eren seufzte. Er hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde und er war noch immer nicht sicher, wie er sie wahrheitsgemäß beantworten sollte. Also tat er das gleiche, wie sonst auch und sprach einfach aus, was ihm in den Kopf kam.

„Er ist ein sehr guter Kämpfer und im Umgang mit dem Gear können eher wir von ihm als er von uns etwas lernen.“ Was Eren noch auf einen anderen Gedanken brachte, den er später weiterverfolgen würde. „Er kann sich in einen Titanen verwandeln und zumindest dieses Mal hatte er ihn auch unter Kontrolle. Er ist ansprechbar und versteht problemlos, was wir sagen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

„Das reicht mir“, Jean nickte erneut und deutete dann mit dem Kopf zu den Kadetten, die mit ihm gekommen waren. „Kümmer du dich bitte um sie, ich nehme an, Armin ist in seinem Zimmer?“

„Vermutlich, ja.“

Und damit war Jean weg und Eren lief ein Stück zur Seite, wo die drei standen und scheinbar darauf warteten, dass jemand ihnen einen Befehl gab. Petra wirkte ein wenig nervös, Erwin stand fast schon zu still da, (wie er jetzt dank der Akte wusste) Hanji schien sich gar nicht an dem Ganzen zu stören und sah sich neugierig um.

„Guten Morgen, freut mich, euch wiederzusehen.“

Drei Augenpaare wanderten zu ihm und antworteten mit einem Salut, den Eren erst abwinken wollte, dann aber lieber erwiderte.

„Willkommen in meiner Einheit. Ich bin froh, dass ihr euch dazu bereit erklärt habt. Ich hoffe, das wird es uns allen etwas einfacher machen.“

Er bedeutete ihnen zu folgen und lief in Richtung der Küche, die Levi um diese Uhrzeit in aller Regel schrubbte. Nicht, weil er das musste, sondern weil er darauf bestand. Eren ließ ihn gewähren, wenn es ihm dann besser ging.

„Captain? Wie geht es unserem Kameraden?“

Eren schmunzelte. Er hatte die Frage direkt bei ihrem Eintreffen schon erwartet. „Keine Sorge, wir haben ihm nichts angetan. Und ihr werdet es gleich selbst sehen.“

Er öffnete die Küchentür und fand Levi wie erwartet mit einer Schürze vor und gerade dabei den Herd abzuwischen.

„Levi, unsere Verstärkung ist angekommen.“

Levi sah zu ihm herüber und hielt mitten in der Bewegung inne.

„Levi!“ In Sekundenbruchteilen war Petra ihm um den Hals gefallen und Hanji neben ihm dabei ihm durch die Haare zu wuscheln. Nur Erwin ging mit ruhigeren Schritten auf ihn zu, doch auch sein versuchtes Pokerface ließ ein Lächeln erahnen.

Eren blieb in der Tür stehen und dachte stumm für sich, dass es eine gute Idee gewesen war. Levis Züge entspannten sich, als er Petra kurz drückte und dann sacht von sich löste.

„Nicht, dass ich ihn vermisse, aber ist Nile nicht mitgekommen?“, fragte er schließlich langsam anstelle einer Begrüßung. Ihm reichten wohl die Blicke der anderen. Passte.

„Nein, er hat Marie endlich gefragt und sie wollte nicht, dass er in die Aufklärungslegion geht“, antwortete Erwin, woraufhin Levi amüsiert schnaubte.

„Wurde langsam auch Zeit.“

„Ja, dachte ich auch. Ich war kurz davor sie zu fragen, ob sie mit mir ausgeht, um ihn aus der Reserve zu locken …“

Eren schmunzelte und stieß sich von der Wand ab, um Armin und Jean zu suchen. Levi und die anderen waren offensichtlich gut aufgehoben und hatten ein bisschen was nachzuholen. Er würde sie nach der Besprechung früh genug aus der Wiedervereinigung reißen müssen, wenn es an die täglichen Übungen ging. Ganz zu schweigen davon, dass Armin morgen nochmal zum Brunnen raus wollte – wovon Levi noch nichts wusste.

 

Nach dem üblichen Gear Training beschloss Eren, das wohl ein guter Zeitpunkt war, um noch etwas anderes in die Tat umzusetzen und als Levi mit den anderen nach drinnen gehen wollte, hielt er ihn zurück. „Levi, warte bitte kurz.“

Der Junge hatte gerade seine Halterung an den Beinen lösen wollen, ließ nun aber davon ab und drehte sich zu ihm um. Und tatsächlich lag diesmal keine Herausforderung in seinem Blick, sondern lediglich eine seltsame Ruhe, die irgendwie sogar ein wenig auf Eren abzufärben schien und ihn erstmal ausatmen ließ.

„Ich habe eine Bitte an dich.“

Ehe er genauer werden konnte, fragte Levi verwundert und ungläubig: „Eine Bitte?“

Eren nickte. „Ja, das ist eine Bitte, kein Befehl, ich will dich nicht dazu zwingen.“

Levi sagte nichts und wartete einfach ab, bis Eren klar wurde, dass keine weitere Reaktion kommen würde und er mit einem leichten Schulterzucken fragte: „Bring mir ein paar deiner Manövertricks bei.“

Levi blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“

„Du wirst auch gemerkt haben, dass du wendiger und sicherer bist als wir. Da draußen braucht man gegen einen Titan jeden Trick, den man lernen kann. Ich möchte, dass du mir oder eher uns etwas davon beibringst.“

Er wirkte kein bisschen überzeugt. Levi verzog das Gesicht in einer unwilligen, unsicheren Art, die Eren so von ihm nicht kannte. Vermutlich wollte er sich um eine Antwort herumdrücken, doch diesmal war es Eren, der einfach nur ruhig stehen blieb und abwartete, bis Levi nach fast einer Minute eher flüsterte als wirklich sagte: „Ich glaube nicht, dass ich jemandem etwas beibringen kann.“

Eren nickte langsam. Die Bedenken verstand er. Besser, als Levi vermutlich glaubte.

„Du könntest es wenigstens versuchen, was soll schon im schlimmsten Fall passieren?“, Eren schüttelte langsam den Kopf und wand sich dann leicht zum Gehen. „Denk darüber nach und sag mir, wenn du weißt, ob du es versuchen willst. Wie gesagt, das ist kein Befehl, wenn du nein sagst, werde ich es hinnehmen.“

Und damit ließ er einen etwas überfordert und verwirrt wirkenden Levi alleine stehen und lief in Richtung des Quartiers, um aus der verschwitzten Uniform herauszukommen.

 

Am Ende dauerte es fast drei Tage, bis Eren seine Antwort erhielt. Levi stimmte zu es zu versuchen, aber er wollte nicht gleich die ganze Truppe dabei haben. Und so war Eren der Einzige, der zum ersten Versuch mitkam.

Er stellte schnell fest, dass Levi ein harter, schwieriger Lehrer war. Er war es nicht gewöhnt etwas zu erklären und so konnte er es nur vorführen und Eren immer wieder sagen, dass er es falsch machte, bis er nach einigem hin und her endlich Worte fand, die beschrieben, was genau nicht richtig war.

Aber Eren war sicher, dass sie das Problem würden lösen können – und wenn nur damit, dass Armin mitkam und Levis Bewegungen in Worte übersetzte, bis dieser es selbst gelernt hatte. Das hieß, wenn sie ihn denn von seinen Notizen wegbekamen, in die er sich seit Tagen vertieft hatte.

Inzwischen oft genug begleitet von Hanji. Nach einer knappen Woche kannte Eren sie als extrem neugieriges, niemals stilles Mädchen, das mit einem Wort einfach durchgeknallt war. Sie erinnerte ihn an Sasha in noch schlimmer, nur, dass ihr Fleisch offenbar Wissen war. Hanji hatte Armin mit Fragen gelöchert, bis dieser ihr seine Aufzeichnungen gezeigt hatte. Und entweder war sie eine extrem überzeugende Schauspielerin oder sie hatte die seltsamen Skizzen und Gedanken, die für Eren nur Kauderwelsch waren, tatsächlich verstanden, denn sie hatte munter weitergefragt.

Erwin und Petra auf der anderen Seite hatten sich sehr ruhig verhalten und fielen kaum direkt auf. Während Petra eher der besorgte Typ Mensch zu sein schien, war sich Eren fast sicher, dass Erwin einmal entweder General oder Ausbilder werden würde. Er sprach immer sehr sachlich und bedacht und verzog nur sehr selten eine Miene, selbst dann nicht, wenn er sich freute oder gelobt wurde.

Es nervte Eren ein wenig, wenn er ehrlich war, denn er war extrem schlecht darin Menschen wie ihn zu lesen oder einzuschätzen und musste sich rein auf sein Gefühl verlassen, wenn es darum ging Erwins Reaktion zu beurteilen. Das funktionierte nicht immer überragend gut, aber wenigstens war Erwin sich seiner Position vollkommen bewusst und gehorchte Befehlen anstandslos.

Alles in allem hatte Eren das Gefühl, dass die Ankunft der Neuen selbst nachdem Jean wieder abgereist war, eine gewisse Ruhe mitgebracht hatte. Er war sich selbst nicht sicher, ob das nun die Kinder selbst waren oder ihr Einfluss auf Levi. Vielleicht sogar, dass nach den ersten Tests die spürbare Anspannung bei allen ein wenig nachgelassen hatte – oder auch nur seine eigene? Er war nie gut gewesen solche Dinge zu hinterfragen oder zu verstehen, aber was immer es war, es war gut gewesen.

 

Vier Wochen waren eine viel zu kurze Zeit, um wirklich vorbereitet sein zu können. Das war Eren klar gewesen und das war auch Jean klar gewesen. Aber selbst mit viel Verhandeln und Diskutieren hatte er nicht mehr als zwei weitere Wochen herausschlagen können, dann drängten die Leute auf sichtbare Ergebnisse.

Und das bedeutete, dass sie nach draußen, raus aus Rose mussten und nicht mit leeren Händen wiederkommen durften.

Eren fühlte sich gar nicht gut, als er den Befehl zum Aufbruch gab und den kleinen Trupp in Richtung des Hauptlagers in der Nähe des Tores von Karanese lenkte. Es war gerademal drei Tage her, dass sie es erfolgreich geschafft hatten, Levi aus dem Titanenkörper zu schneiden, ehe er von selbst herauskam – und das ganze hatte sehr unschön mit abgetrennten Händen und Füßen geendet. Eren war über den Anblick noch immer nicht ganz hinweg. Weder über den einen Menschen aus einem Titanen herauszuoperieren, noch über den des durch seine Hände dermaßen zugerichteten Jungen.

Sicher, die Glieder waren in nicht mal zwei Stunden nachgewachsen, aber Eren hatte Levi trotzdem erstmal nicht in die Augen sehen können. So etwas sollte man niemandem antun und erst recht nicht einem Jungen in seinem Alter. Aber der Gedanken war überflüssig, eigentlich sollten Sechszehnjährige auch nicht in der Armee gegen Monster kämpfen und Eren erinnerte sich noch sehr genau, wie er darauf gebrannt hatte und am liebsten schon mit zehn beigetreten wäre.

Daher schob er das ganze so schnell es ging von sich und konzentrierte sich lieber darauf mit Jean alle möglichen Planungen durchzusprechen und schließlich an seine Truppe weiterzugeben.

Trotzdem blieb ein ungutes Gefühl, als sie am Morgen vor dem sich öffnenden Tor auf den Pferden saßen und warteten, dass es los ging.

Sein Blick wanderte zu den Neuen, die bisher noch alle recht gefasst wirkten. Levi direkt neben ihm saß still, nur seine Augen wanderten immer wieder hin und her. Als sich ihre Blicke zufällig trafen, hielt Levi kurz inne.

Dann, kaum hörbar murmelte er leise „Danke, dass du dein Wort gehalten hast … Captain.“

Und zum ersten Mal klang es so, als würde er den Titel auch meinen und keine Floskel oder ein Schimpfwort daraus machen. Es rang Eren ein winziges Lächeln ab und er nickte.

Dann hallte Jeans Stimme über den Platz und mit einem Ruck setzte sich der Trupp in Bewegung.

unabänderlich

„Eren! Eren! Hey, hör auf mit offenen Augen zu schlafen und beweg deinen Arsch hierher!“

Eren blinzelte und kam langsam wieder zurück in die Wirklichkeit. Levi stand ein paar Schritte von ihm entfernt, die Zügel seines Pferdes in der Hand und er wirkte alles andere als gut gelaunt.

Eilig stieg Eren ebenfalls ab und dankte stumm seinem Pferd, das trotz seiner Tagträumerei brav weitergelaufen war und führte es langsam ebenfalls in Richtung des Unterstandes, in dem sein Vorgesetzter ungeduldig wartete.

„Will ich wissen, was dir schon wieder durch dein Erbsenhirn gegangen ist?“, knurrte Levi während sie die Pferde versorgten. Es klang genervt und unwillig, aber inzwischen hatte Eren genug gelernt, um zu verstehen, dass es Levis Art war, sicherzustellen, dass er einsatzfähig war. Und das war vermutlich auch der einzige Grund, aus dem er etwas verspätet wahrheitsgemäß antwortete: „Ich bin froh, dass Sie Captain sind, Captain.“

Levi hob daraufhin nur verständnislos eine Augenbraue.

Aber das wunderte Eren nicht und er ging auch nicht weiter darauf ein. Der Traum oder Gedankengang, was immer es gewesen war, hatte ihm erst wirklich bewusst gemacht, wie kompliziert und schwierig so etwas aus anderen Perspektiven war.

Egal, was sie sagten oder taten, niemand hatte die ganze Situation kommen sehen, niemand wusste sicher, wie man mit der seltsamen Verwandlungsfähigkeit umgehen sollte und Eren war ziemlich sicher nicht der Einzige, der es als schlechten Scherz ansah, dass gerade er sie bekommen hatte. Er war sicher auch nicht der Einzige, der sich wünschte, er hätte sie nicht.

Es hatte sicher auch seinen Vorgesetzen einiges abgerungen ihm zu glauben, dass er nicht ihr Feind war, dass er ihnen nichts Böses wollte und den Menschen anstelle des Monsters in ihm zu sehen.

Im Nachhinein war es ihm ein Rätsel, wie Levi es überhaupt auf einen Versuch hatte ankommen lassen, wie er hatte ahnen können, dass es funktionieren würde – zumindest so gut, wie es eben bis jetzt funktioniert hatte.

Eren wusste recht sicher, dass er selbst das nicht gekonnt hätte. Er hätte niemals jemandem auch nur ansatzweise vertrauen können, wenn dieser sich vor seinen Augen in einen Titanen verwandelte, er konnte sich ja teilweise selbst nicht mehr vertrauen.

Ihm war nunmehr wieder klar geworden, wie sehr der Verlauf eines Ereignisses von den beteiligten Personen abhing. Und er wagte fast nicht sich vorzustellen, wie sein Leben ab Trost verlaufen wäre, wenn jemand anderes als Captain Levi und Kommandant Erwin in den jeweiligen Positionen gewesen wären.

Er hatte ungeheures Glück gehabt, dass diese beiden bereit waren so hoch zu pokern. Und, soviel stand auf jeden Fall fest, die Verantwortung für eine solche Entscheidung und ihre Folgen wollte Eren selbst niemals tragen!


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich denke, ich sollte an dieser Stelle kurz warnen, dass ich ein winziges bisschen an Erens Charakter ändern musste - aus dem simplen Grund, dass ich persönlich ihn nie in einer Führungsposition sehen würde. Ich halte das nicht wirklich für eine seiner Stärken.
Trotzdem habe ich mir alle Mühe gegeben ihn so dicht am Original wie möglich zu halten und hier auch generell einige meiner Headcanons bzw. Vorstellungen einfließen lassen, wie die Charaktere älter bzw. jünger wohl sein werden/gewesen sind. Ich hoffe, dass das Ergebnis des ganzen möglichst verständlich und nicht störend beim Lesen geworden ist ... Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit endet das Gedankenexperiment. Es tut mir sehr leid, wenn einige jetzt enttäuscht sein werden, dass ich an der Stelle aufhöre - ehrlich gesagt bin ich ohnehin überrascht, ich hätte nicht gedacht, dass überhaupt viele diese Spielerei interessant finden.
An euch eine extra große Entschuldigung! Die Sache ist nur die, dass ich ursprünglich nur einen kurzen One Shot schreiben wollte, der einen kleinen Blick auf die Situation in vertauschten Rollen wirft. Die Geschichte ist so schon deutlich länger geworden, als ich sie geplant hatte und dies ist nun auch der Punkt, an dem ich nicht mehr dicht an der original Geschichte bleiben könnte - ich müsste die komplette female Titan Arc umschreiben und eigentlich wollte ich alles möglichst parallel halten.
Deswegen gibt es an der Stelle von meiner Seite erstmal einen Cut. Erstmal, weil mir die Idee auch ziemlich Spaß gemacht hat. Ich will nichts versprechen, aber ich überlege, ob ich nochmal ein oder zwei Szenen aus einer anderen (zum Beispiel Levis) Sicht schreiben sollte.
So oder so, würde mich sehr interessieren, wie ihr euch den weiteren Verlauf vorgestellt hättet. Wenn jemand Lust oder Ideen hat, meldet euch doch gerne bei mir!
Ansonsten vielen Dank fürs Lesen und ich hoffe wirklich, ich habe euch nicht zu sehr enttäuscht! Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Jaelaki
2015-05-04T23:49:35+00:00 05.05.2015 01:49
Tolle Geschichte. Interessante Idee bis zum Ende durchdacht. Die Charaktere wirken trotzdem IC (wenn man die Rahmenbedinungen bedenkt) und dein Schreibstil ist schön flüssig, anschaulich und fehlerfrei.
Was mich ehrlich gesagt etwas abgeschreckt hatte, diese FF zu lesen, war der Titel. Klingt ziemlich langweilig und unkreativ. Aber letztlich ist das nur ein Detail – weswegen ich es trotzdem gewagt habe. (Was ich nicht bereut habe, aber das weiß man immer ja erst danach.) ; )

Gruß,
Jaelaki
Von:  punkermietz
2014-11-15T11:57:35+00:00 15.11.2014 12:57
Sehr interessantes Fic, ich bin gespannt wie du es weitergestaltest! Und ich finde, Eren war hier wunderbar in Character - schließlich ist er ja in deiner Geschichte auch etwas älter als ein 15jähriger Junge ^^ Freu mich schon auf dein nächstes Update!


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