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Ein Meer aus Lavendel

von

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Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie in uns nach sich erwecken.
 

Christian Morgenstern
 

(1871 - 1914)
 

 

 
 

*****
 

 

Ich balancierte den Becher belebendem Koffein und die Brötchentüte in der linken Hand und kramte mit der anderen ungeduldig nach dem Autoschlüssel. Großartig! Ich ließ die Tüte auf das Autodach fallen und stellte den Kaffee mit etwas mehr Sorgfalt daneben ab. Fluchend klopfte ich ein weiteres Mal die Taschen ab. Als gäbe es nichts Aufregenderes montagmorgens, als die mit Lastwagen überfüllte Raststätte nach verlorenen Schlüsseln abzusuchen. Ich verzog das Gesicht bei dem Gedanken daran. Wenigstens befand sich die Brieftasche am richtigen Fleck. Wäre auch noch schöner, sich zusätzlich mit jemanden um den mageren Inhalt streiten zu müssen. Wo hatte ich gleich noch mal meinen Kopf? Ach ja, genau. Auf dem nach Lavendel duftenden Kopfkissen, das genauso fremd gewesen war wie die Person, die auf einem weiteren daneben lag.

 

Lavendel. Es gab nichts Erfolgreicheres, als dieses teuflisch duftende Kraut, das auf beängstigende Weise in der Lage war, das verborgene Tor zu meiner Kindheit aufzustoßen. Die ausgedehnte Theorie, die den Vorgang beinah lückenlos erklärte, war mir inzwischen ins Blut übergegangen – auch wenn sie an meinem jetzigen Arbeitsplatz praktisch nutzlos war. Um es kurz zu fassen, die Duftmoleküle lösen sich in der wässrigen Nasenschleimhaut auf, um an den Riechzellen andocken zu können. Dies führt zu einem elektrischen Impuls, der über die Nervenbahnen an das Limbische System, den Hypothalamus und Hypophyse weitergegeben wird, und schon tritt das Duftgedächtnis in Aktion. Dieses lässt Erinnerungen und Gefühle freiwerden, die einerseits entspannend und anregend, andererseits aber auch schmerzlich auf Körper, Geist und Seele wirken können.

Klang kompliziert. Die Praxis jedoch konnte nicht einfacher sein, was die rund 7,1 Milliarden Menschen täglich von Geburt bis Tod demonstrierten. Ich reihte mich da fröhlich ein. Einmal tief eingeatmet und schon fand ich mich 25 Jahre früher und circa 280 Kilometer entfernt auf einem riesigen Lavendelfeld wieder.

Unerträgliche Hitze hieß mich willkommen. Staubtrockene Erde puderte die nackten Füße. Der riesige, weiße Strohhut meiner Tante schwebte wie ein Sonnenzwilling durch das Feld. Das monotone Geräusch der unzähligen Hummeln, Bienen und Wespen ringsum und natürlich der unvergleichliche Duft der violetten Blüten, der ungefragt seine Spuren im Langzeitgedächtnis hinterließ – für das Wiedererleben praktisch verantwortlich war und somit den Kreis schloss. Die weniger schönen Erinnerungen dabei blendete ich inzwischen gekonnt aus.

 

Ich rief mich in die Gegenwart zurück und schloss für einen Moment die Augen. Fühlte die schwülwarme Luft um mich herum, der die Nacht kaum etwas hatte entgegensetzen können, den Asphalt unter den Füßen, die Schweißperlen zwischen den Schulterblättern, die ihren Weg entlang der Wirbelsäule hinab zur Boxershorts suchten – ein Umstand, der in Anbetracht der Tatsache, dass ich noch eine Stunde Autofahrt vor mir hatte und die Ersatzkleidung, die ich in meinem Wagen für den Fall der Fälle bereithielt, bereits trug, weniger erwünscht war.

Ich zupfte unwirsch am T-Shirt herum, und richtete den Blick über das Autodach hinweg durch den Spalt zweier nebeneinander geparkter Straßenschiffe. Golden bewegte sich der Weizen in der Ferne.

Das Gesicht tief in goldblonden Locken und Lavendel vergraben…

Der unerwartete Gedanke an das nächtliche Abenteuer ließ mich lächeln und meine Lendengegend im sinnlichen Echo zusammenziehen. Was eine zufällige Begegnung am Abend doch alles nach sich zog…

 

Ich tauschte den Ausflug in die Ferne gegen einen entschuldigenden Blick in das vertraute Innere des Wagens ein, so als ob ich meiner Aktentasche und den losen Zetteln auf und unter dem Beifahrersitz, den diversen Büchern auf der Rückbank und dem am hinteren rechten Haltegriff aufgehängten Anzug versichern müsste, dass sich meine Anwesenheit nur ein klein wenig verzögern würde. Idiotisch grinste mir ein von Hitze gezeichnetes und von hellbraunen Haaren umrahmtes Gesicht aus dem Seitenfenster entgegen. Skeptisch musterte ich dessen Züge. Es hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Ich seufzte und sah zum Cafe rüber.

            „Wie heißt es doch so schön, was man nicht im Kopf hat, hat man eben in den Beinen…oder so ähnlich.“ Wenig davon überzeugt, langte ich nach meinem Frühstück und machte mich erneut auf den Weg, diesmal die Augen suchend auf dem Boden.

 
 

*****
 

 

            „Ich hatte mich schon gefragt, wann Sie wieder auftauchen.“ Die Stimme klang amüsiert, als ich überrascht aufsah und den Augen der Kellnerin begegnete.

Das Cafe war verhältnismäßig klein. Eine Handvoll Tische auf der einen Seite, die zur Hälfte von mehr oder weniger ausgeschlafenen Truckern besetzt waren, die ihren Gang zur Morgentoilette wohl noch vor sich hatten, sowie einer langen, den verbleibenden Raum dominierenden Theke mit Kasse auf der anderen.

Die junge Frau, die ich bei meinem ersten Besuch anscheinend übersehen hatte, was mir bei dieser räumlichen Enge unmöglich erschien, zwinkerte mir zu. Ich musste wohl sehr irritiert dreingeschaut haben, denn sie fing plötzlich an zu lachen. „Tut mir leid. Aber Sie suchen doch bestimmt Ihre Schlüssel?“, fragte sie fröhlich, während ihr Kopf in Richtung Parkplatz deutete. „Ihre Suche war nicht zu übersehen.“ Ich folgte ihrem Blick und stellte fest, dass die meisten Lenkmeister noch in ihren Fahrkabinen liegen mussten, denn es gab hier drinnen bei weiten nicht genug Stühle, wie es da draußen Lastwagen gab. „Uh… Richtig.“ Ich betrachtete meine Gesprächspartnerin nun genauer. Mitte zwanzig. Schlanke Figur, die in einer ausgewaschenen hellblauen Jeans steckte und eines dieser abgetragenen, fragwürdig bedruckten schwarzen T-Shirts zur Schau trug, das wohl das Herz eines jeden Truckers höher schlagen ließ, sofern dieser ein begeisterter Anhänger jener Lebensweise war, die aus scharfen Kurven, einer Menge PS unter den Arschbacken und scheinbar grenzenloser Freiheit bestand – ganz im Sinne der berühmten Stars and Stripes. Kinnlanges schwarzes Haar und ein extrem kurz geschnittener Pony umgaben ein schmales Gesicht, dessen breites Lächeln und große blaue Augen, die intelligent auf meine brauen trafen, den Blick magisch anzogen.

            „Wo kann ich einen Blick auf den Schlüssel werfen?“

            „An der Kasse, aber ich hoffe, Sie haben an den Finderlohn gedacht. Meine Chefin ist da sehr eigen.“

            „Finderlohn?“ Ich musste mich verhört haben. „Sie scherzen?!“ Das Lächeln in ihrem Gesicht wurde noch breiter.

            „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ Damit ließ sie mich stehen, um ihre Arbeit wieder aufzunehmen - die verwaisten Frühstückstische räumten sich schließlich nicht von allein ab. Für einen Moment erlaubte ich mir, ihr dabei zuzusehen, eh mich die scherzenden Kumpels an ihrem Nachbartisch innerlich aufstöhnen ließen. Nichts gegen Leder, Karos oder den einen oder anderen Kilo zu viel, aber wenn, dann wenigstens gepaart mit respektvollen Umgangsformen.

Ich wandte dem nur allzu vertrauten und weniger schönen Einblick in die Gesellschaft den Rücken zu, und ging zur Kasse hinüber. Die Chefin war dabei, einen älteren Herrn abzukassieren, der sichtlich Schwierigkeiten hatte, das Kleingeld in seiner Geldbörse auseinanderzuhalten. Geduldig starrte ich an beiden vorbei zum aufgehängten Fernseher, wo ein stummgeschalteter Nachrichtensender lief. Eine hektisch zusammengeschnittene Aufzeichnung einer Pressekonferenz wurde gerade eingespielt, deren Inhalt ich auch ohne Ton erahnen konnte – war ich doch für einige Informationen mit verantwortlich. Ich studierte das eingeblendete Phantombild und fragte mich, wie vielen falschen Hinweisen die Polizei nun nachgehen musste, und wie vielen beim unerwarteten Anblick der Uniformierten auf dem eigenen Fußabtreter das Herz ins Stolpern geraten würde. Das Bild wechselte erneut. Ein junger Moderator in grau. Seine stummen Mundbewegungen mussten das Wetter angekündigt haben, denn als nächstes wurde eine Landkarte gezeigt, auf der eine übergroße, lächelnde Sonne mit Sonnenbrille zu sehen war. Während ich mir noch den Kopf darüber zermarterte, was der Sinn einer Sonnendarstellung mit Sonnenbrille war, hörte ich, wie der Mann vor mir einen schönen Tag wünschte und den Weg zur Kasse freigab.

            „Junger Mann?“ Fragend sah mich die Chefin an. Ein Blick über meine Schulter ließ mich wissen, dass sie wirklich mich meinte. Ich schaffte es tatsächlich, meine Augenbrauen in ihrer Aufwärtsbewegung erstarren zu lassen. Es war nicht so, dass ich ein Problem mit dem Alter hatte und in der Tat, im Gegensatz zum vorherigen Kunden mochte ich jung erscheinen. Es irritierte dennoch ungemein, als junger Mann bezeichnet zu werden, wenn die Person, von der es kam, vielleicht gerade mal zehn Jahre Vorsprung auf einen selbst hatte. Oder sollte mir das jetzt schmeicheln?

            „Unzufrieden mit Ihrem Kaffee?“

            „Was?“

            „Sie haben eben hier Kaffee und Brötchen gekauft und wie ich sehen kann, beides kaum angerührt. Daher meine Frage.“ Ich starrte auf den Becher in meiner Hand und musste zugeben, dass der Inhalt wirklich nicht besonders schmeckte, was ich aber nicht laut sagte.

            „Äh, nein. Das Koffein erfüllt seine Funktion ausgezeichnet.“, erwiderte ich wahrheitsgemäß. „Ich bin zurückgekommen, weil ich meinen Autoschlüssel vermisse. Ich dachte, ich hätte ihn vielleicht hier-“

            „Zwei.“

            „Wie bitte?“ Die Einsilbigkeit der älteren Frau war gewöhnungsbedürftig.

            „Ich habe zwei Schlüssel hier liegen.“ Sie hielt beide hoch. „Einer der Ihre?“

Mein Blick fiel sofort auf den Bersteinanhänger. Erleichterung ersetzte Anspannung. Ich musste schleunigst einen anderen Platz dafür finden – was ich mir im Grunde jedes Mal sagte, wenn der Schlüssel nicht auffindbar war.

            „Ja, der mit dem Anhänger.“ Ich hätte beinah danach gegriffen. „Wollen Sie vielleicht mit zum Auto kommen, damit Sie sicher sein können, dass Sie den Schlüssel der richtigen Person gegeben haben?“

            „Und woher soll ich wissen, dass Sie die richtige Person sind?“ Die Skepsis war nicht zu überhören.

            „Können Sie nicht. Aber wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mich für eine Viertelstunde hersetzen und warten, ob noch jemand nach dem Schlüssel fragt. Was aber nicht der Fall sein wird, da es definitiv meiner ist.“ Ich schenkte ihr mein vertrauenswürdigstes Lächeln.

            „Schon gut. Hier Ihr Schlüssel.“, bestimmte sie. „Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich kann schließlich nicht für alle verlorenen Dinge die Verantwortung übernehmen.“ Dankend nahm ich den Schlüssel entgegen. Ihre Aussage war nachvollziehbar, doch hoffte ich, dass sie trotzdem die eine oder andere Frage vor Herausgabe stellen würde.

            „Nochmals vielen Dank und einen schönen Tag noch.“

 
 

*****
 

 

Ich wischte die Krümel von der Jeans und startete den Wagen. Klickte durch den angeschlossenen MP3-Player und einen Augenblick später saß Andy Bell, und mit ihm die Nostalgie, im Auto. Ich genoss die ersten Takte von ‚A Little Respekt’ in voller Lautstärke, bevor es im etwas gemäßigten Ton Richtung Beschleunigungsspur ging.

 

Der Anhalter stand in der Nähe der letzten Parkplätze. Schlecht platziert, wie ich fand, denn er war leicht zu übersehen. Auf seinem Schild stand mein Ziel, aber ich hatte in den letzten 24 Stunden genug fremde Begegnungen gehabt. Während ich also vorbeifuhr, musterte ich ihn nur beiläufig und stoppte wenige Meter weiter, um ungläubig in den Rückspiegel zu starren. Ich konnte sehen, wie er sich umdrehte, aber stehen blieb. Die flimmernde Luft über dem Asphalt hatte mir keinen Streich gespielt. Schwarze Sonnenbrille, Armbinde und ein zu seinen Füßen liegender Stock – er war blind. Was machte ein Blinder hier auf der Raststätte? Nicht, dass Blinde nicht das Recht besäßen, sich hier aufzuhalten. Fasziniert, aber zugleich alarmiert schaltete ich den Motor aus. Die Kombination aus blind und trampen war mir völlig fremd, und schwer zu akzeptieren. Ich ermahnte mich, diesen bevormundenden Gedanken loszulassen.

Der junge Mann, ich schätzte ihn auf das Alter der Kellnerin, schien zu warten. Was machte ich jetzt? Ich hatte nicht angehalten, um ihn mitzunehmen. Schock und Neugier waren für mein Halten verantwortlich. Jetzt aber einfach weiterfahren, war auch nicht richtig. Unentschlossen trommelte ich mit dem Daumen auf das Lenkrad. Ich sah über meine Schulter nach hinten, um eine bessere Sicht zu haben. Er trug eine Jeans, die ihm lose um die schmale Hüfte hing. Sowie ein eng anliegendes T-Shirt einer Musikband, das knapp über den Bauchnabel reichte und somit den Anblick eines straffen Unterbauchs nebst Hüftknochen erlaubte. Ich ließ meinen Blick weiter nach oben wandern. Von seinem Gesicht war dank der Brille und dem kinnlangen, dunkelbraunen Pony nicht viel zu sehen. Wie ein Blinder sah er nicht aus – selbst mit den obligatorischen Accessoires. Ich ermahnte mich ein weiteres Mal. Es stand nirgendwo geschrieben, wie ein Blinder auszusehen hatte, noch wie er seine Freizeit gestaltete. Ich war über meine stereotype Vorstellung entsetzt – lehnte ich solche doch kategorisch aus vielerlei berechtigten Gründen ab. Manchmal schien eine Konfrontation nötig, um sich dessen überhaupt erst wieder bewusst zu werden. Ich schnallte mich also ab und verließ das Auto.

            „Hallo!“, rief ich lauter als nötig.

            „Hey!“ Er hatte eine angenehme Stimme und ein entwaffnendes Lächeln. Mir war mit einem Mal nicht wohl bei dem Gedanken, dass er womöglich in ein anderes Auto oder gar Lastwagen steigen würde. Diese unerwartete Reaktion ließ mich stocken – dafür musste definitiv meine Unwissenheit über die Lebenswelt blinder Menschen verantwortlich sein. Schief grinsend blieb ich vor ihm stehen und war mit einem Anflug schlechten Gewissens froh darüber, dass er meinen inneren Monolog, der sich mit größter Wahrscheinlichkeit auf meinem Gesicht zeigte, nicht sehen konnte.

            „Wir haben das gleiche Ziel, da dachte ich, ich nehme Sie mit?“ Wenigstens klang meine Stimme unbefangener als ich mich fühlte. „Ich bin mir nur nicht sicher, wie ich Ihnen versichern kann, dass Sie vor mir nichts zu befürchten haben, wenn Sie in mein Auto steigen.“ Er lachte, und es war ansteckend. „Mache ich mich lächerlich?“

            „Nein.“

            „Nein?“ Fragend starrte ich die Sonnenbrille an, als ob ich die dahinter liegenden Augen sehen könnte.

            „Eigentlich nicht. Sie sind nur der erste, der diesen Gedanken ausspricht, der versucht emphatisch zu handeln. Es spielt aber letztendlich keine Rolle, ob ich Sie sehen kann oder nicht, wenn ich in Ihr Auto steige. Es ist schließlich unmöglich, in den Kopf des Gegenübers zu sehen, oder?“ Er ging in die Knie und griff beinah zielsicher nach dem Blindenstock und seinem Rucksack. Er musste sich gemerkt haben, wo er sie abgelegt hatte. „Es gibt nur die Wahl zwischen Vertrauen oder Sicherheit.“ Als er wieder stand, lächelte er mich offen an. „Wenn Sie also einen freien Platz anzubieten haben?“

Idiotischerweise hätte ich beinah ausgeplaudert, dass Mr. Bell auf dem Beifahrersitz eventuell Einwände hervorbringen könnte, stattdessen sagte ich aber: „Das war meine Intention.“ Sein Lächeln wurde breiter.

            „Mein Name ist Eric. Freut mich.“ Ich ergriff seine ausgestreckte Hand. Sie war überraschend kühl.

            „Chris. Freut mich ebenfalls.“ Sein Händedruck war nicht weniger fest als meiner. „Soll ich dich vielleicht zum Auto führen?“

            „Geht schon.“

            „Ungefähr zehn Meter, linke Seite, sofern es hilft.“

            „Danke.“

Ich ging voraus, um die Beifahrerseite freizuräumen. Ich warf alles auf die Rückbank. Achtete aber darauf, dass die schwere Tasche keines der Bücher beschädigen konnte.

            „Chris?“

            „Hier. Einen Moment noch. Räume gerade die letzten Sachen zur Seite, damit du unbeschadet ein- und aussteigen kannst. Ein Glück, dass du das Chaos nicht se-“ Ich brach mitten im Satz ab. „Uh, das war wohl mehr als ungeschickt. Tut mir leid“, rief ich über meine Schulter.

            „Kein Grund sich zu entschuldigen. Wenn ich etwas gar nicht mag, dann die unnötige Habachtstellung der Menschen um mich herum.“ Eric stand dicht hinter mir. Ich konnte sein Aftershave riechen – mir unbekannt, aber dadurch nicht weniger angenehm.

            „Nachvollziehbar“, entgegnete ich betroffen, während ich mich aufrichtete und umdrehte, „aber der Mensch tut sich schwer in solchen Dingen.“ Um ihn nicht zu berühren, zwängte ich mich mit Bedacht an ihm und der Autotür vorbei. „Der Versuch, Mitgefühl zu zeigen, misslingt häufig. Und nicht, weil sie es so wollen, sondern, weil sie sich zu sehr anstrengen. Es fehlt das nötige Vokabular. Das Einfühlungsvermögen wurde nie richtig erlernt. Um sich in solchen Situationen nicht völlig hilflos zu fühlen, wird das Handeln dann häufig von Desinteresse oder Übereifer bestimmt.“

            „Hm… Ich denke, es ist häufiger etwas, was zwischen diesen beiden Dingen liegt.“ Ich betrachtete ihn nachdenklich. Seine Aussage machte Sinn, hielt ich mich mit meinem Verhalten doch selbst irgendwo im Raum zwischen den beiden Möglichkeiten auf – es gab in der Tat weit mehr Menschen, die nicht im Entweder-oder-Schema anzutreffen waren.

Ich stand hinter ihm und beobachtete, wie er geübt den Stock zusammenfaltete und nach der Karosserie tastete. „Kann ich einsteigen?“ Gedankenverloren wie ich war, entging mir beinah seine Frage.

            „Oh, ja klar.“ Es war nicht das erste Mal, dass ich einen Anhalter mitnahm. Aber er war definitiv der erste, der nicht an Smalltalk interessiert war. Ob es daran lag, weil er von einem seiner Sinnesorgane abgeschnitten war, konnte ich nur mutmaßen.

Die Vorstellung, plötzlich nicht mehr sehen zu können, diese eine Form der Wahrnehmung der Außenwelt zu verlieren, war beängstigend. Wohl schwerer für jemanden zu akzeptieren, der die Welt schon einmal gesehen hatte, als für jemanden, der von Geburt an einer Sehstörung litt. Ich fragte mich, welche medizinische Ursache für Erics Blindheit verantwortlich war.

 

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich sah kurz zu meinem unerwarteten, aber höchst interessanten Mitfahrer rüber. Als ich den Wagen startete, war es nicht nur ich, der zusammenzuckte. Ich hatte Andy völlig vergessen.

            „Hoppla.“ Schmunzelnd stellte ich die Musik leiser.

            „Netter Song.“

            „Finde ich auch“, stimmte ich grinsend zu. „Kann es losgehen?“

            „Ja. Und danke noch mal fürs Mitnehmen.“

Wenn die Stunde Autofahrt genauso verlief, wie die ersten Minuten unserer Begegnung, dann würde es eine unterhaltsame Zeit werden – und ich musste zugeben, dass ich ihr mit Begeisterung entgegensah.

            „Ich muss etwas gestehen.“

 

Ich setzte den Blinker und reihte mich mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel vor dem Sattelschlepper ein. Keine Sekunde später raste der Audi vorbei, der mir seit Beginn des Überholmanövers unangenehm am Heck geklebt hatte. Meine Gedanken rasten nicht weniger. Zu gerne würde ich dem Fahrer mein angefertigtes Portfolio über die sichtbaren sowie unsichtbaren Verletzungen eines Autounfalls zeigen, wohl wissend, dass es nicht zur Vorsicht oder Rücksichtnahme animieren würde, was zum Beispiel der mäßige Erfolg der abschreckenden Bilder auf den Tabakschachteln zeigte – wie ich zugeben musste.

            „Chris? Hast du mich gehört?“

Ich sah zu Eric. Er hatte sich mir zugewandt. Wartend.

            „Entschuldige. Ich war in Gedanken.“

Ein weiteres Mal fielen mir seine attraktiven Gesichtszüge auf, auch wenn Brille und Haare das meiste davon versteckten. Er war rasiert. Ich fragte mich, ob er es trocken oder nass tat. Die Verletzungsgefahr bei der Nassrasur war nicht zu unterschätzen und ich konnte mir vorstellen, dass Blinde die Trockenrasur bevorzugten. Vor allem, wenn sie allein lebten und sie niemand darauf hinweisen konnte, dass kleine Schnitte das Kinn zierten – das getrocknete Blut im Gesicht würde in der Öffentlichkeit wohl zu höchst unterschiedlichen Reaktionen führen. Mitgefühl. Betroffenheit. Belustigung. Wie erginge es mir, wenn ich Eric so sehen würde? Ich nahm meine Gedanken wieder an die Leine, damit sie nicht noch weiter undirigiert durch die Gegend laufen konnten und Eric weiter warten musste.

            „Was meinst du damit, du müsstest etwas gestehen?“

Ich setzte an, den nächsten Lastwagen zu überholen.

            „Muss ich mir jetzt Gedanke um meine Sicherheit machen?“, scherzte ich. Dies zu sagen, mag unsensible klingen, aber Eric hatte darauf bestanden, keine falsche Zurückhaltung zu zeigen. Dennoch kam ich nicht umhin, bei dem dominierenden Unterton der Frage ein Anflug von Entsetzen zu spüren.

            „Gestehen ist vielleicht nicht das richtige Wort.“ Kommentarlos überging er meine Bemerkung und nun hatte ich noch mehr das Bedürfnis, mich erklären zu müssen.

            „Ich steige sonst nie ein“, fuhr er fort, „ist heute das erste Mal.“

            „Wie meinst du das? Du hältst dein Schild hoch, wartest bis jemand anhält und dann überlegst du es dir anders?“

            „So in etwa.“ Seine Stimme hatte diese vergnügte Nuance, der mir zuvor schon aufgefallen war.

            „Ich muss wohl etwas weiter ausholen, um es verständlich werden zu lassen.“

Stumm warf ich einen Blick auf Erics Hände, die mit dem Blindenstock spielten. Ob dies ein Zeichen von Nervosität war, vermochte ich nicht sagen, da mir dazu zu viele Anhaltspunkte fehlten. Aber würde ich seiner Stimme nach urteilen müssen, dann war er alles andere als unruhig.

            „Ich glaube nicht, dass du dich in irgendeiner Form erklären müsstest. Wir kennen uns schließlich nicht. Dennoch muss ich zugeben, dass mich der Umstand, einem trampenden Blinden zu begegnen, schon neugierig gemacht hat, mich gleichzeitig aber auch bestürzt“, gab ich zu.

            „Eben. Um genau diese unterschiedlichen Reaktionen zu sammeln, bin ich hier. Na ja, stehe ich in der Regel an Raststätten und fahre nicht mit.“ Er lachte. „Ich habe heute eine meiner eisernen Regeln gebrochen.“

            „Soll ich mich jetzt gut oder schlecht fühlen, da ich für den Regelbruch verantwortlich bin?“

            „Weder noch, denn du bist nicht der Grund dafür“, entschied er plötzlich ernsthaft, „die Hitze ist verantwortlich.“

Ich konnte aus dem Augenwinkel heraus sehen, dass er den Signalstock zwischen seine schmalen Oberschenkel geklemmt hatte und nach dem Rucksack zu seinen Füßen griff. Seine unerwartet forsche Antwort ließ mich enttäuscht zurück.

Zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde fragte ich mich, warum Erics Auftreten einen so starken Einfluss auf meine Gefühlswelt hatte. Es war seltsam. Ich kannte ihn nicht, dennoch bewegte er mich. Ich beschloss, dass das Blindsein der Katalysator dafür war.

            „Die Hitze?“, fragte ich ernüchtert.

            „Ja, aber ich muss eben erklären, warum ich überhaupt hier stehe. Ein Freund von mir an der Uni leitet ein Forschungsprojekt über die Interaktion von Blindheit und Gesellschaft in bestimmten Situationen. Dies hier ist solch eine, für dessen Elaborat ich verantwortlich bin.“

Überraschung zeigte sich auf meinem Gesicht, wie ich im Rückspiegel erkennen konnte. Ein Forschungsprojekt?

            „Das heißt, dein Freund hat sich blinde Testpersonen gesucht, um mit ihnen den zwischenmenschlichen Umgang in unerwarteten Situationen unter besonderen Voraussetzungen zu erforschen“, gab ich in meinen eigenen Worten wieder und konnte nicht vermeiden, dass ich dabei äußerst skeptisch klang. Weder kannte ich den Freund, vermutlich ein Professor, noch dessen Beweggründe. Vielleicht war er selbst blind, was ich aber nicht glaubte. Vermutlich wäre es von größerem Nutzen gewesen, alltägliche Situationen zu erforschen, als solche, die höchst selten anzutreffen waren. Eric hatte zudem in der Mehrzahl gesprochen, was bedeutete, es gab weitere ausgewählte Situationen. Eine blinde Sexarbeiterin vielleicht? Wollte ich es wirklich wissen?

            „Testperson ist nicht ganz das richtige Wort. Aber ich muss zugeben, dass ich bisher nie darüber nachgedacht habe zu trampen. Somit ist es wirklich wie eine Art Experiment für mich, auch wenn es nicht vorsieht, tatsächlich mitzufahren, sondern an Ort und Stelle eine kleine Befragung durchzuführen“, erklärte Eric, der suchend im Rucksack herumtastete. „Würde es dir etwas ausmachen, dich dennoch zu interviewen?“

Ich sah zu Eric, der nun ein Diktiergerät in der Hand hielt und auf meine Antwort wartete. Sicher war ich mir nicht. Hatte ich doch auf eine zwanglose und freie Unterhaltung gehofft.

            „Bevor du fragst, es ist anonym, recht kurz und mit offener Fragestellung. Dein Name wird später nicht auftauchen. Ich werde das Interview mitschneiden. Was denkst du?“

            „Ich kann nicht behaupten, dass ich heute Morgen mit dem Wunsch danach aufgewacht bin, aber warum nicht.“

            „Danke. Es ist auch gar nicht schlimm.“ Ich konnte die Freude über meine Entscheidung in seiner Stimme hören, was mich grinsen ließ.

            „Das sagen sie alle“, stellte ich spöttisch fest, was ihn zum Lachen brachte.

            „Okay. Wenn ich das Tonband starte, werde ich kurz ein paar Angaben zur Person erfragen. Anschließend eine Handvoll Fragen, deren Antworten eventuell zu der eine oder anderen Zwischenfrage führen könnte.“

            „Aha. Da wird das ‚kurz’ schon relativiert.“

            „Nicht wirklich. Kommt halt auf die Antwort an.“

            „Dann sollte ich vielleicht so beantworten, dass es Zwischenfragen ausschließt?“, fragte ich im Scherz.

            „Bloß nicht! Bitte keine berechnenden Antworten geben“, erwiderte Eric entgeistert. Jetzt musste ich lachen.

            „Das war natürlich nicht ernst gemeint. Versprochen.“

Ich stellte die Musik aus – Andy mochte es mir hoffentlich verzeihen – und rückte etwas gemütlicher in den Sitz. Warf beiläufig einen Blick aus dem Seitenfenster auf die goldnen Felder, und schob augenblicklich die unangebracht aufblitzenden Bilder der letzten Nacht zur Seite.

Die Augen wieder nach vorn auf die Straße gerichtet, lauschte ich gespannt den Geräuschen zu meiner Seite. Eric tastete erneut im Rucksack umher, ehe er sich anschließend entspannt im Sitz zurücklehnte und die neue Tonbandkassette auspackte. Diese setzte er mit Hilfe beider Hände ein. Ich vernahm, wie er einmal tief einatmete, wohl um sich für das Kommende zu sammeln, bevor zu sprechen begann.

            „Kann ich beginnen?“

            „Schieß los.“ Ich hörte, wie Eric das analoge Diktiergerät einschaltete und das Interview startete.

 
 

*****
 

 

            „25. Juli. Erstes und einziges Interview. Gesprächspartner männlich.“ Es gab eine kurze Pause, so, als ob mir die Möglichkeit gegeben wurde, die erste Feststellung zu korrigieren.

            „Alter?“

            „38.“

            „Beruf?“

            „Rechtsmediziner.“ Erneut eine Pause. Diese ließ sich schwerer einordnen. War es Überraschung auf seiner Seite, oder sollte ich anmerken, ob ich als solcher auch arbeitete? Bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, durchkreuzte seine nächste Frage meine Gedanken.

            „Gibt es Menschen mit Sehbehinderungen im Bekanntenkreis?“

            „Nein“, antwortete ich zuerst, relativierte es aber im nächsten Moment, „obwohl, wenn ich an die beginnenden Sehstörungen von in die Jahre gekommenen Bekannten denke, dann ja, auch wenn niemand vollständig erblindet ist.“

In der Ferne sah ich, dass sich der Verkehr zu stauen begann. Ein Umstand, der den Renovierungsarbeiten der Fahrbahn zuzuschreiben war, und in dessen Wirkungskreis wir gleich eintraten. Es würde dann eine Zeit lang im gemäßigten Tempo vorangehen, bevor es anschließend beinah nahtlos in den stockenden Verkehr des Autobahnkreuzes überginge. Danach waren es nur noch wenige Kilometer, bis wir unser Ziel erreichten und mir fiel ein, dass ich überhaupt nicht wusste, wo ich Eric absetzen sollte.

            „Kommt es häufiger vor, dass Sie Anhalter oder Anhalterinnen mitnehmen?“

            „Häufig würde ich es nicht nennen, aber hin und wieder wenn es passt.“

            „Wenn es passt? Gibt es Ausschlusskriterien?“, hakte Eric das erste Mal nach.

            „Mit ‚passen’ meine ich, dass ich in der Stimmung dafür sein muss“, erklärte ich, „wobei es in der Tat ein Ausschlusskriterium gibt. Ich nehme niemanden mit Hund mit.“

Ich würde also einen Blinden mit Blindenhund eiskalt stehen lassen. Jetzt stand ich wohl gar nicht gut dar. Sicher war ich mir nicht, aber ich hatte den Eindruck, ein unterdrücktes Lachen gehört zu haben.

            „Was war Ihr erster Gedanke, als Sie feststellten, dass der Anhalter blind ist?“

Im Geiste wanderte ich zu dem Moment zurück. Sofort durchströmten mich erneut Neugier, Sorge und Zweifel. Laut sagte ich: „‚What the hell!’ trifft es ganz gut.“

            „Was genau versteckt sich hinter ‚What the hell!’?“

            „Ein ziemliches Potpourri an Empfindungen“, begann ich zu erklären. „Ich dachte erst, meine Augen hätten mir einen Streich gespielt. Daher habe ich angehalten, um mich zu vergewissern. Unglaube und Neugier standen zu Beginn wohl im Vordergrund. Eigentlich hatte ich auch nicht vor, jemanden mitzunehmen. Aber ich konnte dann einfach nicht mehr weiterfahren, nachdem ich angehalten hatte.“

            „Was ist dann aus dem Hintergrund vorgerückt?“

            „Bitte?“, irritiert sah ich zu Eric.

            „Sie haben gesagt, dass anfangs Fassungslosigkeit und Wissensdrang Ihr Handeln bestimmt hat“, beseitigte er meine Verwirrung, und fuhr fort „was war dann dafür verantwortlich, dass Sie doch einen Platz im Auto anzubieten hatten?“

            „Ach so.“ Ich nahm mir einen kurzen Moment, um nachzudenken. Unbewusst wischte ich mir dabei mit der Hand den Schweiß von der Nasenspitze, den ich anschließend im Haar verteilte. Die Richtung des Interviews war schwer zu lesen. Es war ersichtlich, dass es momentan darum ging, herauszufinden, was die ersten subjektiven Reaktionen waren. War das dann schon alles? Im Prinzip gab es da nicht wirklich viel zu erforschen, wie ich fand. Natürlich könnten die Fragen bezüglich der Gefühle und Reaktionen noch mehr in die Tiefe gehen, um so zum Bespiel den individuellen Nährboden für jene herauszuarbeiten. Aber das konnte ich mir bei besten Willen nicht vorstellen, da dann eine extrem psychologische Komponente der Befragten in den Mittelpunkt rücken würde, wo es doch in erster Linie um den Moment des Aufeinandertreffens ging. Was konnte also noch kommen? Vielleicht eine Art Wissenstest über die Welt der Sehbehinderungen, um diese Antworten dann in Beziehung zu denen der ersten Reaktion zu setzen. Durchaus eine Möglichkeit, über die ich nachdenken würde, wäre ich Teil des Forschungsteams.

            „Haben Sie die Frage verstanden? Oder soll ich sie wiederholen?“ Erics Stimme riss mich aus den Gedanken.

            „Nicht nötig“, rief ich hastig.

Das anhaltende formelle Siezen hinterließ einen fahlen Nachgeschmack, wie ich feststellen musste. Ich wünschte, wir würden zum Du oder den Vornamen zurückkehren können.

            „Ich denke, das müsste Besorgnis gewesen sein. Vielleicht auch ein Hauch Paternalismus.“

            „Inwiefern paternalistisch?“

Ich zögerte einen Moment mit der Antwort.

            „Insofern, dass das Trampen für einen blinden Menschen viel gefährlicher ist, und er es im Hinblick auf das eigene Wohlergehen besser unterlassen sollte. Und damit meine ich nicht das blinde Einsteigen an sich, das eh für alle gleich ist, sondern eher die häufig weniger barrierefreie Gestaltung der Raststätten“, erklärte ich. „Barrierefreiheit ist ein Ideal, dass nie vollständig erreicht werden kann, sich dessen Umsetzung zudem auch den Gegebenheiten anpasst. Daher lassen sich Rampen, abgeflachte Bordsteinkanten, breite Eingänge oder Toiletten eher finden, als ein Terminal, dass dem Nutzer per Knopfdruck eine Lagekarte beschreibt. Soll heißen, Menschen im Rollstuhl werden nicht nur als reine Mitreisende im Auto gesehen, sondern eben auch als aktiv Reisende – wenn auch die Zahl schwindend gering ist. Blinde hingegen können nur passiv teilnehmen.“

Ich merkte, dass meine Begründung ausschweifender war, als ich es beabsichtigt hatte. Die Stille, die nun folgte, fühlte sich unangenehm an. Was mochte Eric jetzt denken? Nur weil ich bevormundende Gedanken hatte, hieß das nicht, dass ich auch dafür wäre, sie zum Beispiel per Gesetz zum Wohle der Person zu verankern – was sowieso nicht möglich wäre, dass es gegen Artikel 2 des Grundgesetzes verstoßen würde. Ich brach die anhaltende Ruhe im Raum und dachte gleichzeitig, dass Andy dafür eigentlich viel besser geeignet wäre.

            „Ich sollte vielleicht klarstellen, dass ich niemandem das Trampen verbiete“, setzte ich nach, „meine irrationale Besorgnis lässt sich wohl aufgrund meiner Unwissenheit erklären. So denke zumindest ich.“ Ich sah zu meinem stummen Beifahrer rüber, der, wie es schien, intensiv nachdachte. Er fuhr sich dabei abwesend mit der Zunge über die Lippen und hinterließ eine feuchte Spur. Ich hielt den Atem an.

            „Sie sagen also, dass Ihre Bedenken weniger stark ausgeprägt wären, wenn Sie mehr über die Welt von Blinden wissen würden?“, brach Eric den Zauber.

            „Schon möglich. Ich mein, es ist schwierig etwas zu verstehen, etwas einzuschätzen, was einem unbekannt ist.“ Unwohl rutschte ich im Sitz umher, und nicht nur, weil mir der Schweiß am Rücken klebte. Ich war froh über die Ablenkung, die sich vor mir auftat. Der stockende Verkehr löste sich endlich. Ich konnte wieder Geschwindigkeit aufnehmen.

            „Das Mindeste, was der Mensch in solch einer Ausgangssituation machen sollte, ist offen und tolerant zu reagieren. Da aber Berührungspunkte im Alltag relativ selten sind, kann auch nicht wirklich ein Lernprozess stattfinden. Die Aufklärung findet, wenn überhaupt, meist nur theoretisch statt. Da kann es beim tatsächlichen Aufeinandertreffen, trotz Wissen, dennoch zu Hemmungen kommen.“

            „Verstehe. Damit wären wir auch schon fast am Ende. Eine letzte Frage habe ich aber noch. Gibt es etwas, was Sie einen blinden Menschen schon immer fragen wollten?“

Irgendwie wurde ich den Eindruck nicht los, dass das Interview viel zu abrupt endete. Nicht, dass es mich störte. Vor allem, da dann noch etwas Zeit für eine freie Unterhaltung blieb, aber meine letzten Offenbarungen nagten an mir. Sie belasteten, weil ich mich jetzt fragte, was Eric von mir dachte, und wie sich das auf die nächsten Minuten auswirken würde. Ich befreite mich davon und dachte über die letzte Frage nach.

Gab es etwas, was ich schon immer wissen wollte? Eigentlich nicht. Würde es als Desinteresse ausgelegt werden? Vielleicht sollte ich etwas fragen. Soviel dazu, keine berechnenden Antworten zu geben. Gut, in dem Fall eine Frage zu stellen.

            „Dass Blinde durchaus träumen können, habe ich während meiner Ausbildung gelernt. Es ist verständlich, dass es da einen Unterschied gibt zwischen denen, die von Geburt an blind sind und denen, die es später wurden. Gibt es neue Erkenntnisse über die Beschaffenheit der Träume von Menschen, die die Welt nie gesehen haben?“ Ich hatte keine Ahnung, warum mir diese sehr akademische Frage über die Lippen rutschte. Hätte ich doch viel lieber wissen wollen, ob Eric in der Lage war, im Stehen zu pinkeln. Aber mit dieser geistlosen Frage hätte ich mich wohl endgültig ins Abseits geschossen. Ich sah kurz rüber. Ein Lächeln zierte seine Lippen.

            „Ich bin mir nicht sicher, ob ich den aktuellsten Forschungsstand wiedergebe, aber ich versuche es mal“, begann er konzentriert. „Bisher ging die Wissenschaft davon aus, dass die Träume gänzlich ohne „optische“ Eindrücke stattfinden. Sprich, sie lediglich aus der Verarbeitung der anderen Sinneseindrücke bestehen. Inzwischen ist bei Tests herausgefunden worden, dass einige in der Lage sind, optische Wahrnehmungen im Traum im Nachhinein zu zeichnen, auch wenn diese Bilder sehr ungelenk erscheinen mögen. Gemessene Hirnströme zeigten zudem, dass genau der Teil der Hirnrinde im Schlaf aktiv ist, der für Verarbeitung optischer Sinneseindrücke verantwortlich ist“, beendete Eric die Erklärung.

            „Verstehe.“

            „Ich hoffe, die Antwort ist ausreichend?“

Eric klang leicht unsicher.

            „Natürlich. Vielen Dank.“

            „Ich bedanke mich ebenfalls für das Interview, das hiermit geschlossen wird.“

Ich hörte das endgültige Klicken des Diktiergerätes und es schien, als würde damit ein unsichtbarer Vorhang zwischen uns geliftet. Befreit atmete ich ein und griff zum Radio.

            „Was dagegen, wenn ich die Musik wieder anstelle?“

Auch wenn mich das ungewöhnliche Forschungsprojekt neugierig gemacht hatte, wollte ich doch das Interview nun so schnell wie möglich vergessen. Ich hoffte, dass Eric nicht von mir erwartete, diese Thematik Teil unserer Unterhaltung werden zu lassen. Denn, viel lieber wollte ich mehr über ihn herausfinden. Mir war dabei natürlich klar, dass ich nur auf allgemeine Fragen zurückgreifen konnte, die eben in so einer Situation angebracht waren. Wir waren schließlich keine Freunde, sondern Fremde.

            „Nein“, antwortete Eric abwesend, der das Diktiergerät gegen eine Wasserflasche eingetauscht hatte.

            „Besondere Wünsche? Auch wenn ich nicht glaube, dass ich etwas auf dem Player habe, dass deinen Geschmack treffen würde.“

            „So? Und der wäre?“

Mit einer Gegenfrage hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte absolut keine Ahnung, welche Musik er hören könnte. Er war mindestens zehn Jahre jünger. Die Band auf seinem T-Shirt war mir auch unbekannt. Ich überlegte kurz und entschied mich für eine scherzhafte Antwort.

            „Justin Bieber vielleicht?“

Er lachte und ich mit ihm.

            „Der mag ja ganz niedlich sein, aber meine Musik ist das definitiv nicht.“

Ich wusste nicht, worüber ich mehr verwundert war. Die Tatsache, dass er Herrn Bieber als niedlich bezeichnete, oder wie er als Blinder überhaupt wissen konnte, wie der Teenieschwarm aussah. War er also nicht immer blind gewesen? Bevor ich nachhaken konnte, bremste Eric mich.

            „Erasure ist schon okay. Wie weit sind wir noch entfernt?“

Seine Frage rief mir meine eigene ins Gedächtnis zurück.

            „So circa 20 Minuten, würde ich sagen. Wo soll ich dich eigentlich absetzen? Ich muss zum Institut für Rechtsmedizin. Soll ich dich zur Uni bringen, oder hast du etwas anderes im Sinn?“

            „Uni ist okay, wenn es kein Umweg für dich ist.“

            „Liegt auf dem Weg.“

Das wäre geklärt. Aber die viel interessantere Angelegenheit um Justin Bieber musste ich noch herausfinden.

Das Institut, ein moderner Neubau mit viel Holz und wenig kaltem Metal an der Außenfassade, erhob sich aus einer ausgedehnten Parkanlage, die mit ihrem Grün und etlichen Sitzflächen Mensch wie Tier gleichermaßen anzog. Der flache Fluss, der die Grünfläche auf der einen Seite umschloss, und die Straßenbahntrasse auf der anderen, die daran erinnerte, dass sich dieser Platz innerhalb einer Ortschaft befand, waren weitere Fundgruben des Lebens.

Fünf Minuten die Strasse runter war das lebenserhaltende Treiben der Universitätsklinik zu finden. Zehn Minuten die Straße rauf, vorbei am Institut, war die Innenstadt, die zu dieser frühen Stunde ein fast menschenleerer Raum war. Lediglich die zur Arbeit eilenden und die bereits arbeitenden, beschäftigt mit der routinemäßigen Belieferung der Geschäftsräume, würden dort die Straßen mit Leben erfüllen.

 

Ich parkte den Wagen direkt vor dem Eingang des Gebäudes. Froh, noch einen der dort, dank einer Reihe eindrucksvoller Laubdächer, sonnenlosen Plätze erwischt zu haben. In wenigen Stunden würde hier alles gnadenlos zugeparkt sein. Im Park wären die Schattenplätze dann Mangelware, die Gesprächsinseln dafür im Überfluss vorhanden. Mehr als sonst würde es hier draußen, wie auch im Institut selbst, vor Menschen nur so wimmeln.

Gedankenverloren strich ich mir die verschwitzen Haare aus der Stirn und richtete meinen Blick auf die Rückbank, wo sich dank des unerwarteten Mitfahrers nun alles befand, was ich heute für die Arbeit brauchte.

Der Anblick des Anzugs bereitete mir jetzt schon Kopfschmerzen. Wobei er auch etwas Gutes hatte, denn er ersparte mir einen Höllentag im Institut, sofern die heutige Verhandlung im gleichen Stil verlief wie die letzte. So viel Glück hatten einige Kollegen nicht, wie ich wusste. Sie würden mir dies mit größter Wahrscheinlichkeit mehr als einmal unter die Nase reiben, aber das nahm ich liebend gern in Kauf. Besonders der Gedanke an eine ganz bestimmte Person ließ mich grinsen.

 

Der Klingelton ließ mich zusammenzucken und wischte mir das Grinsen aus dem Gesicht. Ich kramte nach dem Handy und zögerte einen Moment, als ich das Display sah. Ein Anruf zu dieser Stunde konnte nichts Gutes bedeuten.

            „Benjamin.“

            „Hey Großer!“, kam es fröhlich aus dem Lautsprecher. „Ich hoffe, ich habe dich geweckt?“

            „Hätte ich gern gesagt, aber ich muss dich enttäuschen. Die Nacht war kurz und heftig. Der Morgen dafür aber aufregender als alles bisher erlebte.“

Benjamins schroffes Lachen drang an mein Ohr.

            „So genau wollte ich es nicht wissen. Aber stell mir das Wunderwerk bei Gelegenheit ruhig mal vor! Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffung für meine alten Knochen.“ Erneut erfüllte sein vertrautes Lachen den Raum. Ich dachte an die Nacht zurück und meinte spöttisch: „Ich kann dir gern den Namen des Treffpunktes geben und ein Phantombild anfertigen lassen. Ob du aber unversehrt durch die Nacht kommst, wage ich zu bezweifeln.“

            „Hey! Komm mir nicht mit den zwölf Jahren Unterschied!“ Seine gespielte Entrüstung war charmant. „Ich war schon auf der Piste, da bist du noch unschuldig durch das Lavendelfeld gesprungen, auch wenn das ja nicht sehr lange angehalten hat.“ Das bedeutungsvolle Schweigen, das für einen Moment zwischen uns lag, ließ mich grinsen. Es gab niemanden, der mehr über mich wusste, dem ich mehr anvertraut hatte – mehr als manchmal vielleicht sinnvoll gewesen wäre. Benjamin war eine Art Fels in der Brandung für mich, auch wenn wir uns nicht mehr so häufig sahen. Mied ich doch den Ort, den er an meiner statt verwaltete.

            „Du hast mich bestimmt nicht angerufen, um mit mir über alte Geschichten zu sinnieren“, brach ich die Stille.

            „In der Tat. Danke, dass du mich zum rechten Pfad zurückführst. Oh schei~ Wart mal einen Moment.“ Die Geräusche, die nun durch das Telefon drangen, klangen dumpf und waren schwer zu deuten. Unter anderem hörte ich Benjamin etwas brüllen, konnte aber nicht verstehen, was es war. Die unmittelbare Antwort darauf ging im Lärm einer Maschine unter, die groß und schwer klang. Ich versuchte mir ein Bild von dem Gehörten zusammenzubasteln, kam aber über ‚Benjamin steht im Hof’ nicht hinaus.

            „Du wirst nicht mögen, was ich dir jetzt erzähle“, kam er einen kurzen Moment später auf mich zurück.

            „Sag das nicht, wenn es etwas mit der Farm zu tun hat“, erwiderte ich beinah fröhlich und hörte ihn aufstöhnen.

            „Manchmal denke ich, ich hätte dich noch härter ran nehmen sollen.“

            „Wolltest du nicht auf den rechten Weg zurück?“, fragte ich unschuldig.

            „Fast ein halber Hektar Ernte ist zerstört worden.“

Es hatte also wirklich etwas mit dem Hof zu tun. Ein halber Hektar von insgesamt zehn war in der Tat nicht gut. Das waren knapp 5% Verlust und ich mochte nicht daran denken, wie die langjährigen Abnehmer darauf reagieren würden. Auch wenn ich mich mit ihnen nicht auseinandersetzen musste, dafür war Benjamin da, wusste ich doch, dass der ein oder andere direkt zu mir kommen würde. Alte Familienbanden ließen sich schließlich nicht so einfach lösen – auch nicht mit einer ganzen Menge Kilometer dazwischen.

            „Großer? Hast du mich gehört?“ Besorgnis drang an mein Ohr.

            „Sicher, dass alles verloren ist?“

            „Ich fahre jetzt rüber, um mir ein genaues Bild machen zu können. Maxime ist schon vor Ort, und ist nicht unbedingt vor Freude in die Luft gesprungen.“ Meine Gedanken flogen zu Maxime, dem Franzosen. Er war neu auf der Farm. Mein Alter und wie ich, mit Lavendel groß geworden. Aber mit dem feinen Unterschied, dass er die Arbeit seiner Familie geliebt hat. Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte er den Familienhof verlassen, da es dem Anschein nach unüberbrückbare Differenzen mit dem älteren Bruder gab. „Viel wird nicht zu retten sein, wie Maxime angedeutet hat.“

            „Schön zu hören, dass er noch nicht weiter gezogen ist.“

            „Wer? Maxime?! Oh verdammt noch mal, Chris! Könntest du wenigstens so tun, als ob dir die Hiobsbotschaft den Boden unter den Füßen wegzieht?“

Benjamin nannte mich Chris, wenn er ernsthaft von mir irritiert war. Etwas, dass nicht mehr so oft vorkam, und dass das Erwachsenwerden mit sich gebracht hatte. Vielleicht sprachen wir aber auch einfach zu selten miteinander.

            „Hey! Würde ich nicht im Auto sitzen, hätte ich mich Halt suchend an einen Baum lehnen müssen, wahlweise auch an einen Laternenmast. Ein Pech, dass mein Chef nirgends zu sehen ist. Für dessen breite Schultern wäre ich augenblicklich aus dem Auto gesprungen.“ Der unartikulierte Laut am anderen Ende der Leitung brachte mich zum Lachen.

            „Lach du nur! Mal sehen, ob du immer noch lachst, wenn eine gewisse Frau Spender bei dir auf der Fußmatte auftaucht, wahlweise mit breiten Schultern im Schlepptau.“

            „Solange es nicht die meines Chefs sind. Nein, jetzt mal ernsthaft. Greift eine Versicherung?“

            „Wohl die deines Nachbars, aber das erspart mir nicht die unangenehmen Gespräche mit unseren Großkunden.“ Benjamin klang so, als ob er in Gedanken schon mit einem sprechen würde. Ich beneidete ihn nicht um diese Aufgabe.

            „Wie meinst du das mit der Versicherung?“, fragte ich neugierig. Versicherung hin oder her. Die Farm hatte genug Rücklagen, um durchaus mehrere Jahre schlechte Ernteerträge überstehen zu können. Und wenn alle Stricke reißen würden, könnte ich mit meinem eigenen Vermögen aushelfen. Was ich nur zu gern tun würde, da ich mit dem Haufen Geld meiner verstorbenen Eltern wenig anfangen konnte.

            „Eine Herde Rinder hat heute Morgen das Weite gesucht, nachdem es zu einem Blitzeinschlag in einer Hütte in ihrer Nähe kam.“ Stille.

            „Kein Scherz?“

            „Hörst du mich kichern? Normalerweise sind die ja härter im Nehmen, aber das Feuer muss Panik ausgelöst haben. Die sind blind losgerannt. Haben es in ihrem Angstzustand geschafft, unser Feld zu erwischen, und sind dann auf der nächsten saftigen Wiese wieder zur Ruhe gekommen.“

            „Nur gut, dass sie nicht wie Feldhasen auf saftige junge Triebe zum Anknabbern stehen. Ich nehme an, ihr werdet schauen, was ihr von den niedergetrampelten Pflanzen noch verwenden könnt?“

Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass die beschädigte Fläche nun handverlesen werden musste. So wie ich Benjamin kannte, würde er diese Arbeit den jüngeren überlassen. Mein alter Freund genoss da lieber die seltene Fahrt mit der letzten Anschaffung des Unternehmens – eine moderne Erntemaschine, die, ginge es nach Maxime, nie zum Einsatz kommen würde.

Benjamin hatte vor dem Kauf ausgiebig mit mir darüber gesprochen. Und nicht, weil er meine Erlaubnis einholen musste, schließlich war er der Verwalter der Farm, sondern um mir seinen Konflikt über den Erwerb anzuvertrauen.

Die Ernte war zu Lebzeiten meiner Tante traditionell mit Sichel vollzogen worden. Später, auch durch den Zukauf weiterer Hektar, kam zusätzlich die Heckenschere zum Einsatz. Nach ihrem Tod und dem Wechsel der Leitung hin zu Benjamin, haben einige kleine Veränderungen stattgefunden, was nicht ungewöhnlich war. Die maschinelle Erntehilfe aber hatte ihm große Kopfschmerzen bereitet. All die damit einhergehenden Vor- und Nachteile hatte er sorgfältig gegeneinander aufgewogen, dennoch war es Benjamins oberstes Prinzip gewesen, niemandes Arbeitsplatz zu ersetzen – was er auch eingehalten hatte.

            „Ja“, hörte ich ihn nachdenklich zustimmen, „das, und wir müssen schauen, ob Pflanzen ersetzt werden müssen. Die Herde hat sich das jüngste Feld ausgesucht. An die Kuhfladen mag ich gar nicht denken.“ Einige mussten sich mit Kuhdung auseinandersetzen, andere sägten sich durch tote Körper, was mich an meine Arbeit erinnerte.

            „So sehr ich den Klang deiner Stimme liebe, wenn sie Kuhfladen sagt, muss ich dich jetzt dennoch abschütteln. Ich bin etwas spät dran.“

            „Hatte ich mir schon gedacht. Wenn du willst, rufe ich dich heute Abend an, und erzähle dir dann gerne mehr über Ausscheidungen“, erwiderte Benjamin süffisant.

            „Tu das, also anrufen und mich über die Lage aufklären. Das andere spar dir für jemand anderen auf.“

            „Und hier dachte ich, ich hätte etwas, worauf ich mich heute Abend freuen könnte.“

Ich lachte, während ich mich verabschiedete.
 

 
 

*****
 

 
 

Der stickige Besprechungsraum leerte sich schneller als er sich gefüllt hatte. Ich klaubte meine Unterlagen zusammen und bemerkte, dass jemand neben mir stehen blieb.

            „Christian!“

Ich stöhnte innerlich. Das konnte ich am heutigen Morgen wirklich nicht gebrauchen.

            „Was musstest du machen, damit du nicht Teil dieses Horrortages wirst?“

            „Eine Gerichtsverhandlung haben. Gutachten schreiben. Das Privileg des außergewöhnlichen Charmes?“, entgegnete ich gleichgültig.

            „Wie seltsam! Unterscheidet sich überhaupt nicht von meinem Arbeitstag. Und am Liebreiz allein kann es ja nun wirklich nicht liegen“, die Stimme des Sprechers quoll über vor vertrauter Herablassung.

            „Kann ich etwas für dich tun, Michael? Ansonsten entschuldige mich bitte, da ich etwas in Eile bin.“

            „Du könntest meine Führungen des Nachmittags übernehmen.“

            „Nicht machbar. Außerdem hat sich der Chef schon etwas dabei gedacht, dass er dich damit beauftragt hat.“

            „Und das wäre?“

            „Komm schon, Michael. Du weißt genau, dass du dafür am Besten geeignet bist. Das weiß eben auch der Chef, sonst hätte er dir bestimmt nicht die VIP-Tour anvertraut. Na ja, vielleicht war der verschobene Gerichtstermin ebenfalls ganz hilfreich. Was weiß ich...“

            „Du sagst also, ich bin ein Lückenfüller?“

Ich blickte auf, allmählich genervt und bereit, dem Gefühl Luft zu verschaffen, als ich überrascht innehielt. Auf Michaels Gesicht lag ein Ausdruck, den ich noch nie bei ihm gesehen hatte. Er war doch tatsächlich verunsichert. Ich schluckte die bissige Bemerkung, die mir auf der Zunge lag, runter und gab ihm einen aufmunternden Klaps auf den Oberarm.

            „Du solltest unseren Chef eigentlich besser kennen, Michael. Er würde solch eine Entscheidung niemals leichtfertig treffen. Du leistet gute Arbeit, und das weiß er.“

Wer hätte gedacht, dass heute ein Tag der außergewöhnlichen Vorkommnisse werden würde. Michael einmal aufheitern zu müssen, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Löste dieser Gedanke doch allerlei unschöner und unreflektierter Gefühle aus.

            „Deine Worte kannst du dir sparen. Ich weiß selbst am besten, dass ich gute Leistung bringe.“

So überraschend, wie Michaels offener Gemütszustand für einen Moment zu Empathie einlud, so schnell war diese Regung mit einem zweiten Blick auf das Gesicht verschwunden. Die bekannte, offen zur Schau getragene Arroganz schien Michaels Mienenspiel nun wieder fest im Griff zu haben. Stärker als sonst, wie ich fand, beinah so, als ob sie die kurzfristige Schwäche von eben mehr als wettmachen wollte. Ich fluchte innerlich und ermahnte mich, demnächst ein paar Übungen aufzufrischen – sehr zur Freude meiner Tante.

            „Gut. Dann wäre ja alles gesagt. Du entschuldigst mich also?“ Ich schnappte mir meine lose Blättersammlung und ging schneller als nötig zur Tür. Michaels Blick durchlöcherte mich förmlich, aber ich mochte mich nicht noch einmal umdrehen. Sollte er doch denken, was er dachte.

 
 

*****
 

 

Erledigt warf ich meine Aktentasche auf den Schreibtisch, die keine Rücksicht nahm und einen Stapel Ordner auf den Boden beförderte. Skeptisch begutachtete ich mein Werk und trat anschließend zum Fenster meines Büros. Ich sah auf den Park hinab. Eine Gruppe junger Studenten nutzte den Schatten einer großen Eiche für ihren Studienkreis, während an einer anderen Ecke eine kleinere Gruppe Anzug tragender Herren stand – die meisten Sakkos über die Arme gelegt, die Krawatten gelöst und die obersten Hemdknöpfe ungenutzt. Michael war unter ihnen. Die VIP-Tour. Drei Gesichter waren mir sogar bekannt. Herren der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Eine weitere Person eilte geradewegs auf die Gruppe zu. Ich konnte sie als die erkennen, mit der ich die letzten Stunden verbringen musste.

Der Chef hatte den Anzug fürs Gericht gegen eine hellblaue Designerjeans und ein weites, weißes Sommerhemd ausgetauscht. Ich bezweifelte, dass er alle Knöpfe geschlossen hatte, so wie das Hemd um seinen Oberkörper flatterte. In diesem Aufzug hätte er auch glatt an den Anzügen vorbei zu den Studenten gehen können, die ihn freundlich als den ihren willkommen geheißen hätten. Ich grinste. Michaels Gesicht sagte alles.

Mein Blick wanderte rüber zum Fluss, wo grasende Enten von vorsichtigen Kleinkindern bestaunt wurden. Deren Eltern standen wachsam in der Nähe, breit, bei jeder falschen Bewegung loszustürmen. Etwas den Fluss abwärts auf einer Bank saß ein junger zeitungslesender Mann. Das braune Haar und etwas in der Körperhaltung erinnerte an Eric. Ich fragte mich, wo er jetzt sein mochte, was er tat, ob er allein war und ob ich ihn je wieder sehen würde. Der letzte Gedanke ließ mich lächeln. Anstatt über eine Wiederholung der fantastischen Nacht nachzudenken, wünschte ich mir ein Gespräch mit einem Jungspund, der zu allem Überfluss blind war.

            „Verärgert über die Verhandlung?“

Ich zuckte zusammen. Marc lehnte grinsend im Türrahmen, und deutete mit einem Nicken auf meine neue Bodengarnitur.

            „Nah, nur unachtsam.“ Ich grinste ich zurück.

            „Uh… Das ist das Todesurteil in deinem Beruf, das weißt du hoffentlich?“

            „Wie könnte ich das vergessen, bei all dem Tod um mich herum. Und falls doch, gibt es immer noch dich, der mich gern daran erinnern darf.“ Ich lehnte mich entspannt an die Fensterbank und beobachtete, wie Marc näher kam. Er blieb dicht neben mir stehen und sah zum Fenster hinaus. Ich hörte ihn amüsiert auflachen. Neugierig studierte ich sein attraktives Profil, dessen Schattenspiel ich inzwischen zu allen Tages- und Nachtzeiten gesehen hatte.

            „Michael sieht aus, als wäre er dreimal durchgekaut und dann ausgespuckt worden. Wie kann er nur so stur sein, und das Sakko trotz Hitze anbehalten, wo es doch alle um ihn herum besser wissen.“ Er schüttelte tadelnd den Kopf und wandte sich mir zu. Fragend hob er die Augenbrauen.

            „Was schaust du mich an? Wenn ich wüsste, was in seinem Kopf vorgeht, könnte ich meinen Alltag hier um einiges angenehmer arrangieren.“

            „Wohl wahr.“ Marc zeigte eine Reihe weißer Zähne. Sein Lächeln war ansteckend.

            „Wie war’s denn?“, fragte ich neugierig, während ich mich um das Durcheinander kümmerte.

            „Voll, laut und lästig. Wir von der Verwaltung mussten zum Glück nirgends einen Part übernehmen. Die VIP-Tour ist kurz reingeschneit gekommen, und ich konnte einen Blick auf Michael werfen. Der ist wirklich für so etwas gemacht.“ Marc hob ein paar lose Blätter auf, die er mir reichte. „Es erstaunt mich immer wieder, wie genau unser Chef die Ambitionen seiner Kollegen kennt.“

            „Er ist nicht umsonst unser Chef. Beliebt, bewundert und ein gefragtes Genie in unserem Beruf“, erwiderte ich ernsthaft. „Das ist selbst dir aufgefallen.“

            „Das, und durchaus noch andere Dinge, aber was red ich. Was hast du später vor? Lust etwas Essen zu gehen, und anschließend zu dir oder mir?“

Ich schob den letzten Ordner auf den Schreibtisch und sah skeptisch zu Marc. Er zwinkerte mir vielsagend zu, bevor er zu lachen begann. Marc war einer der wenigen Menschen an der Arbeit, deren Gesellschaft ich auch außerhalb jener genoss. Er nahm kein Blatt vor den Mund, war humorvoll und schonungslos ehrlich zu den Menschen, die ihm etwas bedeuteten – und leider nicht geschaffen für eine feste Beziehung, was ich früh habe feststellen müssen. Dennoch schliefen wir auch jetzt noch hin und wieder miteinander, was auf körperlicher Ebene mehr als befriedigend war.

Zu Beginn unserer kleinen Abenteuer post mortem hatte ich beiläufig versucht, herauszufinden, warum er sich nicht dauerhaft binden mochte. Einer Antwort darauf war ich bis heute nicht näher gekommen. Marc mochte zwar offen und ehrlich sein, aber in Hinblick auf dieses eine Kapitel in seinem Leben war er ein verschlossenes Buch und träge wie ein Bobtail, der versucht aus dem Pool zu klettern.

            „Essen klingt gut, aber für das restliche Abendprogramm bin ich nicht zu haben.“ Meine Stimme klang entschuldigend, was mich ärgerte.

            „Wie schade.“

Er trat lächelnd auf mich zu und machte sich mit seinen Händen an meiner Krawatte zu schaffen. Marc war gleichgroß, nur etwas schmaler in der Figur. Seine grauen Augen waren konzentriert auf die Arbeit seiner Hände gerichtet.

            „Was hast du vor?“ Ich spürte die Anspannung wachsen. Marc löste den Knoten, zog den Stoff aus dem Hemdkragen, und hängte ihn sich selber um den Hals.

            „Das gute Stück werde ich mal an mich nehmen“, flüsterte er betörend in mein Ohr, „abholen kannst du es bei mir daheim.“ Für einen kurzen Moment fanden seine warmen Lippen meine. Ich spürte das vertraute Ziehen in der Lendengegend. „Und da ich weiß, dass du nicht viele besitzt, solltest du also nicht lange zögern.“ Er schlenderte aufreizend zur Tür und ließ die Krawatte in seiner engen Hosentasche verschwinden, was ein lästiges Bügeln unvermeidlich werden ließ. „In einer Stunde?“

            „Am Auto in einer Stunde und gemeinsam zum Essen. Rest des Abends unverändert“, erwiderte ich ungeschlagen.

            „Wie werden sehen.“ Damit verschwand Marc um die Ecke, während ich mir die obersten Hemdknöpfe öffnete, um die angestaute Hitze herauszulassen.

            „Du scherzt?“

Marc saß mir gegenüber und blickte skeptisch von seinem Sandwich auf. Wir saßen in einem ruhigen Cafe am Fenster mit Blick auf die Fußgängerzone. Es hatte Klimaanlage, nettes Personal und gutes Essen – alles was das Herz am Ende eines heißen, anstrengenden Tages in durchgeschwitzten Klamotten ersehnte.

            „Nein, wieso sollte ich?“

            „Na ja, vielleicht um mich anzutörnen?“

Ich lachte laut auf.

            „Nein, ehrlich. Vielleicht willst du mir damit sagen, dass du auf Rollenspiele stehst.“

Ungläubig sah ich zu Marc.

            „Ich habe ja bei Michael schon Schwierigkeiten. Aber was bei dir da manchmal unerwartet im Hirn vorgeht, schlägt ihn um Längen.“ Kopfschüttelnd stocherte ich in meinem Salat. „Rollenspiele, Marc!? Ernsthaft?“

            „Ist doch nix dabei! Aber vielleicht ist es das Alter, denn prüde bist du ja nicht unbedingt.“

            „Ich habe dir gerade von einem blinden Tramper erzählt, und deine Synapsen da oben laufen aus dem Ruder?“

            „Na komm, das erscheint mir nicht schlimmer als dein trampender Blinder. Wie zum Teufel kommt ein Blinder überhaupt auf die Idee, so etwas zu machen?“

Ich griff nach meinem Alkoholfrei und prostete Marc fröhlich zu.

            „Genau das hatte ich mich im ersten Moment auch gefragt. Später habe ich dann von Eric erfahren, dass es für eine Studie ist und eigentlich ganz anders ablaufen würde.“

            „Eric?“, fragte Marc misstrauisch, der sich mit der Zunge die Mayonnaise von den Lippen leckte. Ein netter Anblick.

            „Auch Blinde haben Namen. Das solltest du eigentlich wissen“, belehrte ich ihn scherzhaft.

            „Schon klar, sollte nicht un-pc klingen“, entgegnete Marc, der nach seiner Limo langte, „aber verrat mir doch mal, ob du die Tatsache genossen hast, ihn von oben bis unten abchecken zu können, ohne das er es registrieren konnte?“

Für einen kurzen Moment dachte ich, meine Wangen hätten Feuer gefangen. Aber es war nur das schlechte Gewissen, das sich zeigte. Ich vergaß manchmal, wie scharfsinnig der Mann war. „Erwischt. Ich gebe zu, er war sehr attraktiv, aber mehr gibt es da nicht zu erzählen. Sein Name ist alles, was ich über ihn weiß. Na ja, und das er Student ist.“

            „Hm, höre ich da etwa ein Bedauern heraus?“

            „Da musst du dich verhört haben“, erwiderte ich leichtfertig, vermied aber Augenkontakt. Was mich natürlich noch verdächtiger erscheinen ließ.

            „Wie lange kennen wir uns inzwischen, Chris? Sechs Jahre? Und du glaubst tatsächlich noch, du könntest mir etwas vormachen?“ Marcs amüsiertes Lachen drang an mein Ohr. Er hatte sich entspannt zurückgelehnt und sah mich erwartungsvoll an.

            „Was willst du hören?“, rief ich geschlagen und leerte meine Bierflasche. „Glaubst du wirklich, ich würde mich an einen Blinden heranschmeißen, den ich beim Trampen aufgelesen habe?“

            „Spricht doch nichts dagegen, außer vielleicht deine verkorkste Persönlichkeit.“

            „Wo wir gerade von verkorkster Persönlichkeit sprechen. Ist nicht die Person die abgedrehtere, die sich freiwillig mit der gleichen Sorte einlässt?“ Ich zwinkerte Marc belustigt zu, und signalisierte dem Kellner mit der leeren Flasche eine weitere Runde. „Mal ernsthaft. Er ist mindestens zehn Jahre jünger. Wohnt womöglich daheim, und beteiligt sich an äußerst schrägen Selbstversuchen. Ach, und das er blind ist, habe ich bestimmt auch schon erwähnt.“ Ich ertappte mich doch tatsächlich dabei, wie ich Marc mein Herz ausschüttete. „Aber er ist gewitzt, aufmerksam und hat wahnsinnig sinnliche Lippen“, sinnierte ich, „die sexy Hüftknochen nicht zu verge-“

            „Stopp!“, unterbrach mich Marc. „Irgendwie habe ich jetzt ein schlechtes Gewissen.“

Irritiert starrte ich rüber. „Warum? Du bist doch sonst immer Feuer und Flamme für solche Gespräche.“

            „Schon, aber irgendwie erscheint es mir falsch, so über jemanden zu reden, der, na ja, der-“

            „-blind ist?“, half ich ihm aus. „Keine Sorge, es spricht nichts dagegen. Höchstens vielleicht der generell objektivierende Aspekt dabei.“ Ich sah Marcs Augenbrauen in die Höhe schießen. „Ich will hier keine Sexismus-Debatte lostreten, aber am Hervorheben der inneren wie äußeren Werte ist nichts auszusetzen. Aber ich weiß, was du meinst.“ Ich schenkte dem Kellner, der das zweite Alkoholfrei brachte, ein dankbares Lächeln. „So erging es mir zu Beginn in Erics Gegenwart ebenfalls. Ich war übervorsichtig bei allem was ich tat oder sagte, und dann auch wieder nicht. Ich war fasziniert, so blöd das auch klingen mag.“

            „Worüber habt ihr gesprochen?“, fragte Marc neugierig, der mit einem Auge die Speisekarte studierte. Ich wusste, dass er auf der Suche nach etwas Süßem war. Es verging kein gemeinsames Essen ohne einen überzuckernden Abschluss seinerseits.

            „Viel Zeit für eine freie Unterhaltung blieb wegen des Interviews nicht, dabei habe ich schon bewusst nicht so sehr aufs Gaspedal getreten. Nicht, dass ich sonst rasen würde.“

Marc quittierte diese Aussage mit einem Schmunzeln. „Ja klar. Und morgen gibt uns der Chef Überstundenfrei.“

            „Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Mein Auto lädt noch nicht einmal dazu ein! Außer, du stehst auf special effects wie sich lösende Schrauben, ohrenbetäubendem Lärm und nicht zu vergessen der luftige Fahrtwind, der dir trotz augenscheinlich geschlossener Fahrerkabine die Tränen in die Augen treibt“, verteidigte ich mich schon fast schwärmerisch.

            „Du hast den durch die Luft fliegenden Müll vergessen“, fügte Marc hilfsbereit hinzu.

            „Genau, den auch. Und wenn hier jemand rast, dann doch der Chef. Hattest du mal das Vergnügen?“

            „Nein, leider nicht. Wobei ich ein anderes mit ihm auch vorziehen würde.“

            „Das andere hätte ich auch vorgezogen, aber wir sind hier nicht bei ‚Wünsch Dir was!’. Nein, jetzt mal ernsthaft. Neben dem Üblichen, was jeder halbwegs normale Mensch in solch einer Situation quatscht, kamen wir natürlich auch auf seine Blindheit zu sprechen“, versuchte ich der Unterhaltung wieder die nötige Würde zu geben, „daran ist übrigens Justin Bieber schuld.“ Marcs Augen blitzten belustigt auf. Ein Versuch war es wert.

            „Und, wie ist es dazu gekommen?“

            „Was?“, entgegnete ich irritiert, hatte ich mich in Gedanken schon auf eine spöttische Bemerkung eingestellt.

            „Sein Augenlicht, was sonst?“ Marc stand auf. „Aber komm darauf zurück, wenn ich wieder da bin.“ Er schenkte mir sein breites Lächeln und verschwand Richtung Herrentoilette. An der Theke gab er aber vorher noch eine Bestellung ab. Kuchen? Eis? Marc schien in richtig guter Laune zu sein. Ich hoffte nur, er behielt diese auch, wenn er später allein hoch in seine Wohnung gehen musste.

Ich blickte nach draußen und ließ die Seele baumeln. Die wenigen Menschen, die am Fenster vorbeiliefen, waren Repräsentanten dieses neuen, an Beliebtheit steigenden, Szene-Wohnviertels. Es war ein bunter Kontrast aus jungen Geschäftsleuten in modebewussten Anzügen, Müttern mit ihren Kindern in Tragetüchern, sowie Plastiktüten tragende Obdachlose, die zumindest zu dieser Jahreszeit keine Angst haben mussten, nachts zu erfrieren.

Meine Gedanken flogen zu meiner ersten Leichenöffnung eines Obdachlosen. Ich konnte mich noch genau an die massiven körperlichen Veränderungen erinnern, die ein solches Leben mit sich brachte. Es war beängstigend, was unzureichende Ernährung, mangelnde Hygiene und medizinische Versorgung, sowie das Ausgesetztsein gegenüber jeglicher Witterung und körperlicher Gewalt dem menschlichen Organismus alles antat. Und dabei waren das nur die sichtbaren Abweichungen. Das Wieso und Warum, weshalb jemand in solch eine Lage rutschte, spielte bei der Obduktion keine Rolle. Das war, wenn überhaupt, an anderer Stelle zu klären.

Die traurigen Konflikte der Gesellschaft ließen mich an Erics Lage denken. Sein neues Leben war, wie er selbst sagte, aufregend. Dennoch war mir die leichte Unsicherheit und ein schlummerndes Bedauern in unserer Unterhaltung, als das Gespräch persönlicher wurde, nicht verborgen geblieben. Natürlich hatte er einen Vorteil denen gegenüber, die von Geburt an blind waren. Gleichzeitig mochte dies aber umso schmerzhafter sein, da er genau wusste, zu was er nun nicht mehr in der Lage war, und wovon die Gesellschaft noch meilenweit entfernt war.

            „Wünschen Sie auch noch etwas?“

Die Stimme des Kellners riss mich aus den Gedanken. Wie ich sehen konnte, sollte Käsekuchen heute Marcs Abschluss sein. Gegen ein paar einfache Kohlenhydrate sprach zwar nichts, aber mit dem Nachtisch meines Mittagessens hatte ich dies schon auf meiner Liste abgehakt. Ich bestellte einen Milchkaffee. Das Lächeln des Bedieners wurde durch Marcs abgelöst, der gerade zurückkam. Er bedankte sich, und ließ sich grinsend auf seinem Stuhl nieder, während seine Augen dem Kellner folgten.

            „Das solltest du vielleicht etwas unauffälliger tun.“

            „Was?“, entgegnete Marc unschuldig zwischen zwei Gabeln voll Kuchen. „Etwa das Glotzen?“

            „Was sonst.“ Grinsend schob ich unser Geschirr zusammen und beobachtete Marc, der seine Süßigkeit sichtlich genoss.

            „Unmöglich!“, antworte er mit vollem Mund.

Das Erscheinen des Kaffees stoppte meine Erwiderung. Ich quittierte ihn mit einem Lächeln, das ansteckend war. Nachdem wir wieder allein waren, warf mir Marc einen skeptischen Blick zu.

            „Mein Starren ist definitiv harmloser, als dein Gelächle.“ Ich musste lachen. „Würde mich nicht wundern, wenn du mit der Rechnung seine Telefonnummer bekommst.“

            „Ich hoffe nicht“, gab ich alarmiert zurück, was Marc ein Lachen entlockte.

            „Stimmt. Da ist schließlich noch Eric, der ihn zwar nicht sehen könnte, dafür aber riechen würde, falls er dich in flagranti erwischen würde.“

            „Himmel! Manchmal bist du echt eine Sau!“

            „Das hoffe ich doch!“, erwiderte Marc mit vielsagendem Augenaufschlag. „Aber jetzt erzähl mal, was du über Erics Situation erfahren hast.“

Ich ging im Kopf die wenigen Fakten durch. Unbefriedigend wenige Fakten, wie mir wieder bewusst wurde.

            „Er hat sein Augenlicht durch einen Autounfall verloren. Was genau passiert ist, hat er nicht erzählt.“

            „Hm, muss ein ganz schöner Horror gewesen sein, aufzuwachen und nichts mehr sehen zu können.“ Anteilnahme verdunkelte Marcs Gesicht.

            „Traumatisch in jeder Hinsicht, und niemandem zu wünschen. Er hat nur wenig über die erste Zeit danach erzählt. Nur soviel, dass er es überstanden hätte und nun nach vorne sähe.“

            „Wirst du etwas unternehmen?“

Ich sah fragend zu Marc, der genüsslich die letzten Krümel seines Kuchens vertilgte. „Was unternehmen?“ Ich nahm einen Schluck Kaffee.

            „Jetzt tu nicht so, ihn wiederzusehen natürlich!“

            „Habe ich dir nicht schon gesagt, dass das außer Frage steht? Aber mal so rein theoretisch, wie soll das deiner Meinung nach funktionieren? Ich habe keinen Schimmer, wie ich ihn erreichen könnte. Und ich werde mich bestimmt nicht an die Uni stellen und darauf warten, dass er zufällig vorbeiläuft.“

            „Es gibt zwei Ansatzpunkte, mein lieber. Du könntest zum Beispiel einfach erneut die Raststätte aufsuchen. Sofern die Befragung nicht beendet ist, oder er womöglich die Standorte wechseln muss, solltest du ihn dort wieder antreffen können. Zum anderen könntest du die heißen Kontakte deines unwiderstehlichen Arbeitskollegen nutzen.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, drückte mir Marc den Fuß in den Schritt, was bei der Enge unseres Sitzplatzes einem Kunststück gleichkam.

            „Würdest du bitte den Schuh von meiner Hose nehmen!“ Der Druck verschwand, und ich konnte nun Marcs Worten ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Die Raststätte war in der Tat ein Versuch wert, sofern ich an einem Wiedersehen interessiert war – was ich ja nicht war, oder? Ich leerte meine Kaffeetasse. Was Marcs Kontakte anging, das war definitiv verbotene Zone. Auch wenn ich darauf vertrauen konnte, dass er die Angelegenheit mit Diskretion behandeln würde, so fühlte ich mich doch unwohl bei dem Gedanken, dass er sich an meiner statt umhören würde.

            „Vielen Dank für deine Angebote“, entgegnete ich entschieden, und bezog mich damit nicht nur auf das Schnüffeln. „Ich denke, ich belasse es dabei. Es war nett und interessant, aber wer hat schon je davon gehört, zweimal auf denselben Tramper zu treffen.“

            „Du vergisst, dass er kein wirklicher Tramper ist.“

            „Was auch immer. Könnten wir das Thema jetzt bitte beiseite schieben? Ich würde gern zahlen und ab nach Hause. Ich bin echt erledigt.“

Marcs Einwand ignorierend, stand ich auf und ging zur Theke. Ließ ihn aber über meine Schulter wissen, dass ich für uns beide zahlen würde. Ich musste zugeben, es kam einer Flucht gleich, aber ich wollte nicht mehr über Eric reden. Je früher ich ihn aus meinen Gedanken strich, desto besser.

Während ich das Rückgeld nebst Quittung, wohlgemerkt ohne Telefonnummer, einsteckte, tauchte Marc an meiner Seite auf. Mit einem Lächeln in meine Richtung, ließ er sich zwei weitere Stücke Kuchen einpacken, von denen das eine definitiv für mich bestimmt war. Wollte er mich damit in seine Wohnung locken? Marc wusste genau, dass ich nach dem Sex gern etwas Süßes aß, und Kuchen stand dabei ganz oben. Aber heute würde er ihn allein essen müssen, da sich an meiner Planung für den Abend nichts geändert hatte. Auf mich warteten eine Dusche, ein Gutachten und ein Telefonat.

 
 

*****
 

 

            „Und du willst wirklich nicht mit hochkommen?“ Marc zog sich zurück, ließ aber die Hand abwartend auf meinem Oberschenkel zurück. Ich konnte noch immer seine warmen Lippen auf meinen spüren, ganz zu schweigen vom Käsekuchengeschmack im Mund.

            „Wie ich schon sagte, ich bin fix und alle. Alles was ich jetzt brauche, ist eine Dusche und mein eigenes Bett.“

            „Nicht vielleicht auch noch ein Stück Kuchen?“, murmelte Marc, der erneut die Distanz zwischen uns überbrückte und mich ein weiteres Mal küsste. Ich genoss die Berührung und musste zugeben, dass ich nicht darauf wartete, dass er sie unterbrach. „Da, wo der herkommt, gibt es noch viel mehr von!“, hauchte er mir gegen die Lippen.

Lachend schüttelte ich den Kopf.

            „Heute wirklich nicht, hübscher!“, erwiderte ich endgültig und fuhr ihm entschuldigend durch das dichte Haar, da ich wusste, dass er diese Berührung mochte. Ich konnte für einen Moment Enttäuschung in seinen Augen aufblitzen sehen.

            „Verstanden. Aber das nächste Mal kommst du mir nicht davon!“ Er griff nach seiner Tasche auf dem Rücksitz. „Mal sehen, ob ich mich vielleicht nicht doch etwas schlau mache bezüglich eines gewissen Experiments. Kann ja nicht schaden, mal in die Abgründe der Universität zu blicken.“

            „Hey!“

            „Hey dich selbst!“ Lachend verließ Marc das Auto. Während er den Wagen umrundete, kurbelte ich das Fenster runter.

            „Marc! Ernsthaft! Ich will das nicht“, rief ich ihm hinterher.

            „Wer sagt denn, dass ich was für dich tue? Vielleicht interessiert mich einfach diese Forschung.“ Sein breites Grinsen war nicht zu übersehen.

            „Klar, und morgen regnet es Kondome.“

            „Sag das lieber nicht zu laut. Im Safety hat es letztens wirklich welche geregnet!“ Kopfschüttelnd sah ich ihm nach, bis er im Eingang verschwand.
 

 
 

*****
 

 

Mein Anrufbeantworter blinkte mir wichtig entgegen, als ich die Tür hinter mir schloss. Ich legte Tasche und Schlüssel ab, drückte Abhören und zog, während ich lauschte, die durchgeschwitzten Klamotten aus. Nackt ließ ich mir von Benjamin erklären, dass er es später noch einmal versuchen würde, und ich ja den Hörer abnehmen sollte. Die nächste Nachricht brachte mein Sammlerherz zum Klopfen. Es sah so aus, als hätte mein bevorzugter Antiquitätenhändler endlich eine von mir lang gesuchte Schallplatte ausgraben können. Ein wortloses Auflegen war der ganze Inhalt der letzten Mitteilung. Achselzuckend löschte ich die Anrufe, und lief der ersehnten Dusche entgegen.

 

Eine viertel Stunde später stand ich erfrischt, und mit nichts als einer weichen Boxershorts bekleidet vor meinem offenen Kühlschrank, als das Telefon klingelte. Ich schnappte nach dem Smoothie und rannte in den Flur.

            „Einen wunderschönen guten Abend! Lust auf ein heißes Gespräch?“

            „Eisiges Schweigen wäre mir gerade lieber!“, erwiderte ich lachend. Den Smoothie kühlend an die Stirn gepresst, wanderte ich mit dem Telefon Richtung Wohnzimmer, wo mir die Klingel beides vor Schreck fast aus den Händen beförderte. Fluchend vertröstete ich Benjamin, und lief zur Gegensprechanlage.

            „Ja?“

            „Chris?!“

            „Maximilian?“, krächzte ich ungläubig.

            „Wieso gehst du nicht an dein Diensthandy? Ich versuche dich schon seit 20 Minuten zu erreichen.“ Der tadelnde Ton des Chefs bereitete mir doch tatsächlich eine Gänsehaut.

            „Ich stand unter der Dusche.“ Schweigen.

            „Wie auch immer.“ Hatte ich da etwa ein missbilligendes Schnauben vernommen? „Mach dich fertig und komm runter. Du wirst mich begleiten.“

            „Okay. Brauche ich irgendwas?“

            „Nur deinen scharfen Verstand und beeil dich, wir kommen eh schon zu spät.“

            „Bin sofort da.“

Ich rannte ins Schlafzimmer zum Schrank. Die Müdigkeit war wie weggeblasen. Anschließend verabschiedete ich mich von Benjamin, den ich fast vergessen hatte, und verließ die Wohnung, die ich vor nicht weniger als einer dreiviertel Stunde betreten hatte.



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