Prolog
„Hütte 17, Hütte 2, Hütte 8...“, murmelte Rafael Finnigan und sah noch einmal auf den Haustürschlüssel. „Wo zum Hippogreif ist Hütte 5? Sind die überhaupt geordnet? Was meinst du, Louis?“ Doch Louis antwortete nicht. Verblüfft drehte sich Rafael um und entdeckte, dass sein Kumpel wohl auf halber Strecke liegen geblieben war. Rafael war sich sicher, dass Louis an der Rezeption noch hinter ihm gewesen war.
Mit einem Achselzucken wandte er sich wieder der Suche nach ihrer Bleibe für die nächsten Tage zu, schließlich war Louis kein kleiner Zauberer mehr und Rafael nicht seine Mutter. Er würde ihn schon finden, wenn er wollte.
Wie so oft, wenn man etwas suchte, befand sich die Almhütte an dem Ort, an dem Rafael zuletzt suchte, nämlich direkt zwischen dem Naturteich und Hütte 7.
Er schloss auf und warf zuallererst seine Reisetasche auf den Küchenboden. Die Hütte war komplett aus Holz gebaut, doch auf magische Weise so abgedichtet, dass sie Wind und Wetter standhielt und immer warm blieb. Das Feuer, das eine Angestellte gerade eben noch in dem großen Kamin entzündete, diente einzig und allein als Unterstützung für die romantische Stimmung. Rafael trat ins Wohnzimmer und sah sich beiläufig um. Sein Blick blieb an den Bücherregalen an den Wänden, den mit Kunstfellen belegten Holzbänken rund um den Tisch sowie an der jungen Hotelangestellten hängen. Diese war bei seinem Eintreten schnell zurückgetreten und ihn mit großen, blauen Augen anstarrte. Sie war ein hübsches, junges Ding, doch Rafael kümmerte es wenig. Er war diese Reaktionen bereits gewöhnt und normalerweise machte er auch sofort Nutzen davon, doch dieses Mal beschränkte er sich auf ein kurzes, aber charmantes Lächeln, um sich alle Möglichkeiten offenzuhalten. Eigentlich hatten er und Louis einen Männer-Ski-Urlaub geplant, bei dem es ausnahmsweise nicht um Frauen gehen sollte, doch man konnte nie wissen.
Die junge Frau errötete und schien etwas sagen zu wollen, doch Rafael gab ihr mit einer Handbewegung unmissverständlich zu verstehen, dass sie gehen sollte. Er würde sich schon zurechtfinden. Als sie sich stammelnd aus der Hütte entfernte, stieß sie mit Louis zusammen, der ihr endgültig den Rest zu geben schien. Einen Mann mit Veela-Genen hatte sie wohl noch nicht allzu oft gesehen.
Rafael lachte leise, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck sah, und fragte sich im selben Moment, ob er sie nicht bemitleiden sollte.
Stattdessen fiel sein Blick auf Louis’ Gesicht, dessen Stirn in Falten gelegt war und dessen Blick irgendwie abwesend war.
„Hey, wo warst du?“, sagte Rafael und hob fragend eine Augenbraue. „Ich habe noch etwas erledigt“, antwortete Louis ausweichend und schlug sofort ein neues Thema vor, „und was hältst du von der Hütte? Ist doch chillig.“ Rafael beschloss darauf einzugehen, vor allem weil die andere Möglichkeit ein Gespräch über Gefühle wäre und er dies im Allgemeinen vermied. „Das wird der beste Urlaub ever!“, grinste er und schlug mit Louis ein. Gemeinsam machten sie sich daran, alle Zimmer ihrer Skihütte zu erkunden.
Doch als sie sich zum Abendessen ins Gasthaus begaben, erkannte Rafael, dass sich ein Gespräch nicht vermeiden ließ. Sein Freund stocherte in seinem Essen und warf ständig Blicke zu den Gästen zwei Tische weiter, von denen er wohl glaubte, dass sie unauffällig waren.
Rafael verdrehte die Augen und versuchte seinerseits, einen Blick auf die geheimnisvollen Besucher zu erhaschen, doch leider musste er bereits kurze Zeit später erkennen, dass seine Versuche vergebens waren. Er ließ klirrend seine Gabel fallen, um Louis aus seiner Trance zu reißen. Als ihn sein Freund erschrocken ansah, lehnte er sich ein wenig über den Tisch und flüsterte eindringlich: „Was ist dein Problem, Louis?“ Louis sah ihn erschrocken an, dann schüttelte er den Kopf: „Nichts, wirklich. Wir sollten unseren Urlaub genießen und... Es ist wirklich nichts“, beteuerte er, als Rafael skeptisch die Augenbrauen hob.
In diesem Moment erhob sich eine blonde junge Frau von besagtem Tisch und Louis wandte seinen Kopf demonstrativ ab. Auf den ersten Blick konnte Rafael erkennen, dass sie zwar attraktiv war, allerdings eher dem Typ „Nettes Mädchen von nebenan“ entsprach.
Er verzog das Gesicht und wollte gerade zu einer abwertenden Bewertung ansetzen, als er ihre Begleiterin sah. Mit ihrem dunkleren Hautton, den schwarzen, langen Haaren, und ihrer Figur, die ein Model vor Neid erblassen ließe, traf sie viel mehr Rafaels Geschmack und er spürte, wie sich in seinem Kopf bereits ein Plan formte.
„Alles klar“, murmelte Rafael, „sieht so aus, als würde unser Sylvesterfest doch nicht so einsam, wie wir es geplant hatten.“
Louis folgte seinem Blick und runzelte die Stirn. „Das ist keine gute Idee, denke ich. Roxanne hatte ein schweres Jahr-“ Rafael schnitt ihm das Wort ab: „Willst du die andere, oder nicht? Du weißt, dass man Frauen immer alleine ansprechen sollte, und wenn ich ihre Freundin ablenke...“ „Sie heißt Romy“, sagte Louis gereizt, „und meine Cousine ist wirklich verletzt. Sie wird nicht auf deine Maschen reinfallen!“
Rafael verdrehte die Augen und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Wann verstehst du endlich, was ich dir seit Jahren zu sagen versuche? Die Coolen kriegen immer die Frauen. Das nennt man Nahrungskette. Und wir sind die Coolsten der Coolen, das oberste Ende der Nahrungskette. Ich sage, nein, ich verspreche dir, heute Abend werden wir nicht alleine schlafen gehen!“
Louis seufzte.
Auf der Piste
Tatsächlich bekam Rafael seine erste Chance erst am darauffolgenden Tag, weil die beiden Frauen das Restaurant zu schnell verlassen hatte. Aber das machte nichts, bestimmte Rafael, der richtige Moment war noch nicht gekommen. Rafael blühte erst richtig auf, wenn er sich ein Ziel gesetzt hatte. Dass es sich bei diesen Zielen meist um Frauen handelte, machte ihn nicht weniger erfolgreich. Louis’ Einwand, dass die beiden sie noch aus Hogwarts kannten und deswegen vorgewarnt seien, tat er mit einer Handbewegung ab. „Ein weiteres Problem, das keine Hürde darstellen wird. Vetrau’ mir, Louis, ich kenne mich mit Frauen aus.“
Rafael war überdurchschnittlich gut gelaunt, als er sich hausgemachte Erdbeermarmelade auf sein Croissant schmierte und bald darauf summend seine Ski schulterte. „Das wird legendär“, fuhr er fort, als hätten sie ihre Konversation nie unterbrochen, und langsam glaubte auch Louis daran.
Als er gestern Romy und Roxanne an der Rezeption gesehen hatte, hatte sein Herz für einen Moment ausgesetzt und er war sich sicher gewesen, dass er die Diejenige-Welche, die Eine gefunden hatte. Und wenn er damit eine Gelegenheit mit Romy zu sprechen bekam, nahm er auch in Kauf, dass sich Rafael mit Roxanne anlegte. Um ehrlich zu sein, war er gespannt, welcher der beiden Dickköpfe gewinnen würde.
Als sich Rafael mit einem verschwörerischen Zwinkern zu ihm umdrehte und sich im letzten Moment vor Romy drängte, um mit Roxanne im Zweiersessellift Platz zu nehmen, erkannte Louis, dass auch seine Gelegenheit gekommen war.
Währenddessen ordnete Rafael seine Ski, sodass einer auf der Fußraste lag und der andere entspannt baumeln konnte, und ignorierte geschickt Roxannes irritierten Blick und ihren ungläubig geöffneten Mund. Er hob die Hand und lächelte ihr kurz zu, dann seufzte er. „Was für ein schöner Tag zum Skifahren“, schwärmte er und das war es tatsächlich. Es hatte in der Nacht zuvor geschneit, doch jetzt war der Himmel klar und die Wintersonne stand wärmend am Himmel. „Ich kann’s kaum erwarten auf die Piste zu kommen.“
Dann drehte er sich noch einmal zu Roxanne und tat so als würde er sie erst jetzt erkennen. Er nahm sogar seine Sonnenbrille ab, als er sagte: „Sagen Sie kennen wir uns nicht? Romilda, richtig?“
„Roxanne“, verbesserte sie automatisch und verzog ihren Mund zu einem gequälten Lächeln. „Ach ja, wie kann man so einen schönen Namen nur vergessen? Oder so eine hübsche Namensträgerin?“
Sie sah nicht zu ihm, sondern betrachtete den Wald um sie herum äußerst interessiert.
Doch Rafael dachte gar nicht daran, sich davon demotivieren zu lassen. Allerdings sah es nicht so aus, als würde Roxanne auf seinen Smalltalk-Versuche reagieren. Deshalb beschloss er gleich in die Vollen zu gehen und sein Glück zu versuchen.
„Hey, ich habe da eine Idee. Wir könnten gemeinsam zur Silvesterparty im Dorf gehen und über die guten alten Zeiten reden. Du kannst gerne auch eine Freundin mitbringen und ich-“ Er unterbrach sich, als er Roxannes eisigen Blick bemerkte. „Sicher nicht“, sagte sie bestimmt. „Warum denn nicht?“, fragte Rafael, noch immer als könne ihn kein Wässerchen trüben, „es ist doch nichts dagegen einzuwenden, ein bisschen in Erinnerungen zu schwelgen.“ Roxanne lachte kurz, doch es klang bitter. „Und Rafael Finnigan hat nichts anderes im Sinn als ein nettes Pläuschchen, nicht wahr?“ Er lächelte. „Du kennst ja meinen Namen noch“, meinte er, als hätte er den Rest ihrer Antwort nicht gehört. Sie seufzte tief, dann atmete tief ein und aus, als müsse sie sich zwingen, ruhig zu bleiben und nicht zu versuchen, ihn gleich hier aus dem Sessellift zu werfen.
„Nun hör mal, Rafael“, spottete sie und fuhr in einem Tonfall fort, der keinen Widerspruch duldete, „du bist mit Sicherheit nicht der Typ Mann, mit dem ich jemals ausgehen würde, und schon gar nicht in diesem Jahr! Ich habe wirklich keinerlei Interesse an einem Treffen oder einem Pläuschchen mit dir, ich würde nur einfach gerne meine Ruhe haben. Du kannst also aufhören mit mir zu flirten, denn ich werde nicht darauf eingehen.“ Mit den Worten „Einen schönen Tag noch!“, stieß sie sich vom Lift ab, als sie die Bergstation erreicht hatten. Rafael folgte ihr in angemessenem Abstand.
Während sie und ihre Freundin gleich darauf weiterfuhren, hielt Louis direkt neben ihm. „Deinem Lächeln nach zu urteilen war es ein gutes Gespräch“, murmelte Louis, „du Glückspilz!“ Erst jetzt merkte Rafael, dass er etwas dümmlich vor sich hin gegrinst hatte. „Nicht wirklich“, sagte Rafael und setzte seine Sonnenbrille wieder auf, „aber deine Cousine wird mir immer sympathischer. Das Mädchen ist wirklich der Wahnsinn!“
„Schön für dich“, sagte Louis und atmete dabei frustriert aus, „ich habe ernsthaft versucht, mit Romy ein Gespräch zu führen, aber immer wenn ich den Mund aufmache, kommt Unsinn heraus. Sie denkt bestimmt, ich habe nicht mehr alle Zutaten im Vorratsschrank.“ Rafael runzelte die Stirn und sah seinen Jammerlappen von Freund an, der sich jetzt auf seine Skistöcke stützte und sich nach vorne hängen ließ.
„Katastrophe, sage ich dir, Katastrophe!“ „Hör auf dich zu beschweren, wir geben nicht auf. Heute Abend haben wir unsere zweite Chance, denn wo gehen alle müden Skifahrer hin?“
Louis’ Augen leuchteten. „Zum Aprés-Ski!“ Rafael nickte und machte sich auf den Weg zur Piste, die sie über einen kurzen Ziehweg erreichten. „Ganz genau.“
Sie verbrachten den Vormittag auf der Skipiste, wobei sie versuchten möglichst viele verschiedene Strecken auszuprobieren, um das Skigebiet besser kennen zu lernen. Rafael hatte mit seiner ersten Einschätzung recht gehabt. Der Schnee war wirklich hervorragend und ihre frisch geschliffenen Skier sausten nur so dahin. Während Rafael das unendlich viel Spaß bereitete und er mit einem Tempo den Hang hinunterwedelte, das Louis nur angeschlagen hätte, wenn es um Leben und Tod ginge, ließ es Louis ruhiger angehen, steigerte seine Geschwindigkeit jedoch, als er merkte, dass Rafael ihn abzuhängen drohte. Als sie gegen Mittag mit rot leuchtenden Wangen und Nasen einen Einkehrschwung auf eine Skihütte am Gipfel machten, um ein Mittagessen zu sich zu nehmen, kam Rafael wieder auf ihren Plan zu sprechen. Er schien eine regelrechte Obsession entwickelt zu haben, doch Louis war das mittlerweile nur recht. Er wusste, dass er ohne Rafael und dessen Verbissenheit wahrscheinlich längst aufgegeben hätte und war seinem Freund dieses Mal für seine Entschlossenheit dankbar.
„Wir müssen bis heute Abend besser vorbereitet sein. Du musst dringend deine Unsicherheit überwinden und dir zur Sicherheit ein paar Gesprächsthemen zurechtlegen und ich muss in Erfahrung bringen, auf was deine Cousine steht und was sie an mir nicht mag. Wie gut kennst du sie eigentlich?“
Louis zuckte mit den Achseln. „Als wir jünger waren, haben wir ziemlich viel Zeit miteinander verbracht.“ „Und jetzt?“, hakte Rafael nach. „Jetzt telefonieren wir nur noch selten miteinander-“ „Verhext!“, murmelte Rafael, doch Louis fuhr fort, „aber ich glaube, ich kenne mich ein bisschen mit ihrem Traumtypen aus.“ Rafaels Augen erstrahlten wieder und er orderte noch zwei Waffeln mit heißer Schokoladensauce.
Einen Moment lang fragte sich Louis, ob es für Rafael um mehr ging als nur den Erfolg seiner Jagd, doch gleich darauf verwarf er den Gedanken wieder. Ein Rafael Finnigan verliebte sich nicht, das war gegen seine Natur und äußerst unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich.