Zum Inhalt der Seite

Bleeding Hearts

Bis(s) dass der Tod uns nie mehr scheidet
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Endlich geht es weiter! Ich hoffe ihr habt Spaß an der Geschichte. <3 Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Das fängt ja gut an

Der erste Tag im neuen Schuljahr. Ich freute mich nicht wirklich darauf. Ich hasste die Schule. Vermutlich lag es einfach daran, dass ich kein besonders beliebtes Mädchen war. Ich weiß nicht wieso, aber ich schaffte es einfach nie Freundschaften zu schließen. Na gut, bis auf ein paar Ausnahmen vielleicht. Meine beste Freundin hatte ich.

Aber mir gingen ganz andere Gedanken durch den Kopf, als ich das Schulgelände betrat. Es war Sommer, aber heute hatten wir schlechtes Wetter erwischt, es regnete. Hier in dieser Gegend regnete es oft, und im Winter war immer alles unter einer dicken Schneedecke begraben. Was ich nicht gerade schlecht fand, denn ich liebte Schnee. Aber jetzt regnete es, immerhin nicht sehr doll, so dass ich nicht allzu nass geworden war auf meinem Weg zur Schule. Viele meiner Mitschüler wurden am ersten Tag von ihren Eltern gebracht oder fuhren mit dem eigenen Auto vor. Nicht so ich. Mein Dad hatte keine Zeit um mich zur Schule zu bringen, mal ganz abgesehen davon, dass er fand, dass ich dafür auch schon zu alt sei. Immerhin war ich schon 16 Jahre alt. Aber es lohnte sich auch nicht mit dem Wagen zur Schule zu fahren, denn ich wohnte nur 10 Minuten zu Fuß von hier entfernt. Da konnte ich auch genau so gut laufen.

Ich hatte mir die Kapuze meines Pullovers über den Kopf gezogen, damit meine Haare nicht nass würden. Ich hatte mich an einer neuen Frisur versucht, denn am ersten Schultag musste man ja gut aussehen. Ich hatte sie mir über Nacht geflochten, und so wogten sich heute sanfte Wellen haselnussbraunen Haares um meine Schultern. Sofern die Kapuze nicht alles plattdrückte.

Meine Klamottenwahl heute war eigentlich so wie immer. Eine enge Jeans, ein kariertes Hemd unter dem Pullover, bequeme Schuhe. Ich ging nie mit der Mode, ich hatte da einfach kein Händchen für, geschweige denn Geld. Vermutlich noch ein Grund, warum ich in der Schule nicht sehr beliebt war. Beliebt waren nur die Mädchen, die sich schminkten und schicke Klamotten trugen, und da gehörte ich definitiv nicht zu.

Aber vielleicht wurde dieses Jahr ja alles besser. Ich hoffte es jedenfalls, so wie ich es jedes Jahr hoffte. So wie ich jedes Jahr hoffte, dass ich endlich richtige Freunde finden würde. Und vielleicht sogar einen festen Freund, denn einen Freund hatte ich noch nie gehabt. Mich sah ja nie ein Junge an, zumindest nicht so, als ob er Interesse an mir hätte. Und wenn er es doch hatte, dann war es immer irgendein Spinner, der ich der Schulhierarchie noch weiter unten stand als ich, und das meist zurecht. Jungs, die nichts von Körperhygiene hielten, oder die so wirkten, als wären sie geistig zurückgeblieben. Ich war zwar verzweifelt, was Liebesdinge anging, aber doch nicht SO. Auch ich hatte Ansprüche, auch wenn ich mit den Jahren langsam zu der Überzeugung kam, dass ich die wenigen Ansprüche, die ich noch hatte, doch noch ein wenig herunterschrauben sollte, wollte ich jemals einen Freund finden.
 

Vor mir lag also ein neues Schuljahr, eine neue Chance sich zu beweisen. Ich musste es optimistisch angehen, sonst würde das ja nie etwas werden. Also richtete ich mich gerade auf, Brust raus, Bauch rein, und spazierte mit festem Blick durch die Eingangstüren. Dieses Jahr wollte ich gleich von Anfang an alles richtig machen und wenigstens so tun als hätte ich Selbstbewusstsein. Und hoffentlich würde sich das dann positiv auf meine Ausstrahlung auswirken. Leider achtete ich nicht auf das, was vor meinen Füßen lag. Prompt stolperte ich über die Kante einer Gummimatte und fiel auf den harten Fußboden. Nun hatte ich das erreicht, was ich beabsichtigt hatte, wenn auch auf anderem Wege. Ich hatte die volle Aufmerksamkeit der anderen Schüler um mich herum. Alle starrten mich an, fingen an zu reden und zu kichern. „Na, zu blöd zum Laufen“, hörte ich von irgendwo her.

Ich spürte Hitze in meinem Gesicht aufsteigen, vermutlich lief ich gerade knallrot an. Das war ja auch peinlich! Eben noch habe ich versucht so selbstbewusst wie möglich zu wirken, und im nächsten Moment lag ich vor allen anderen auf dem Fußboden, der feucht war vom Regen, den die anderen mit ihren Schuhen hineingetragen hatten. Ich hätte im Erdboden versinken können! Das fing ja gut an. Konnte es denn noch peinlicher werden? Ja, konnte es. Das stellte ich fest, als sich eine Hand in mein Sichtfeld bewegte. „Komm, ich helf dir.“ Ich kannte die Stimme und brauchte eigentlich gar nicht mehr den Blick zu heben, aber ich tat es trotzdem. Vor mir stand Nick. Nick Kesey. Er ging in meine Klasse und war schon seit Jahren in mich verknallt, wie er immer beteuerte. Aber mir ging das auf den Keks. Ich wollte ihn nicht, aber egal wie oft ich auch versucht hatte ihm das klar zu machen, er hatte es bis heute noch nicht kapiert. Eigentlich hätte ich froh sein können, dass sich jemand für mich interessierte, aber doch nicht Nick! Er war einer von diesen Strebern, die lieber ihre Nase in Büchern steckte oder den ganzen Tag vor dem Computer saß. Seine Klamotten waren einfach furchtbar, so schlabberig. Kaum zu fassen, aber Nick hielt noch weniger von Modetrends als ich. Und er hatte einfach eine unangenehme Art an sich, ich konnte das nie gut beschreiben. Jedenfalls jagte es mir jedes mal Schauer über den Rücken, wenn er mich ansprach, und falls es mal dazu kam, dass er mich berührte, dann hatte ich immer das Bedürfnis mich zu schütteln. Nick war einer der größten Loser unserer Schule, und es war mir peinlich mit ihm gesehen zu werden. Ich stand eh schon nicht hoch im Kurs bei den anderen, und mit Nick zusammenzuhängen wertete mich noch mehr ab.

„Nein danke, ich schaff das schon“, erwiderte ich schlecht gelaunt und erhob mich wieder. Ich bedachte Nick keines weiteren Blickes, obwohl er versuchte mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich hörte gar nicht hin, sondern hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet und marschierte schnell in Richtung Mädchentoiletten. Alles, was ich hörte, war das Gekicher und die hämischen gezischten Kommentare meiner Mitschüler, die Zeuge meines Sturzes gewesen waren.
 

Im Bad stellte ich mich vor ein Waschbecken und wusch mir erst einmal die Hände, die dreckig geworden waren. Auch meine Hose hatte an den Knien ein paar Flecken abbekommen, aber da war erst einmal nichts zu machen. Auch kein Drama, das würde wieder trocknen. Ich schlug meine Kapuze zurück und betrachtete mich. Das war also ich, Stella Elizabeth Amaryllis Deer, 16 Jahre alt. Mittellange Haare, die den Farbton von Haselnüssen hatten. Grüne Augen wie Smaragde. Ziemlich schlank. Die Wangen immer noch ganz rot vor Aufregung. Ich hatte mich nie als hübsch empfunden, im Gegenteil. Ich fand mich ziemlich hässlich, obwohl mein Dad immer sagte, dass ich hübsch sei. Und auch Nick sagte mir immer wieder, wie schön er mich fand, aber das war mir egal. Die beiden sagten das doch bestimmt eh nur, damit ich mich etwas besser fühlte, aber es funktionierte nicht. Ich wusste doch, dass die Wahrheit ganz anders aussah. Aber was sollte ich da schon machen? Nicht einmal meine Haare sahen noch gut aus, ich hätte das mit der Kapuze sein lassen und einen Regenschirm benutzen sollen. Das hatte ich jetzt davon, ich sah aus wie eine Vogelscheuche. Ob man das noch irgendwie retten konnte? Ich wurschtelte solange an meinen Haaren herum, bis die Schulglocke ertönte und ich in meine Klasse musste. In aller Hast blieb mir nichts anderes übrig als einfach einen Pferdeschwanz zu binden. Das war es wohl mit besonders gut aussehen heute, ich war wieder bei der Frisur gelandet, die ich auch sonst so gut wie jeden Tag trug.
 

Der erste Schultag verlief nicht besonders spannend. Wir bekamen unsere neuen Bücher, neue Lehrer stellten sich vor, es war so wie jeder andere normale erste Schultag auch. Mein einziger Lichtblick an diesem Tag war die Pause, in der ich mit meiner besten Freundin Lilly in der Cafeteria saß und an einem Sandwich kaute. Das Essen war hier nicht besonders gut, aber immerhin besser als nichts.

Gelangweilt saß ich auf meinem Stuhl, die Ellbogen auf dem Tisch. Es gab nicht viel, das ich Lilly hätte erzählen können, denn schließlich waren wir so gut wie Nachbarn, sie wohnte nur ein paar Häuser weiter, und wir sahen uns fast täglich. Also war sie stets auf dem neusten Stand, was mein langweiliges Leben anging. Während der Sommerferien hatte ich eigentlich nichts erlebt. Ich hatte in einem Café gejobbt, um mir ein wenig Geld zu verdienen. Taschengeld bekam ich nicht, das konnte Dad sich nicht leisten. Wenn ich etwas brauchte, klar, dann bekam ich Geld dafür, aber auch nicht immer. Also musste ich neben der Schule arbeiten, wenn ich etwas Größeres haben wollte. Aber dieses Jahr war es einfach nur so gewesen, um etwas zu haben, falls ich mal Geld brauchte, und Dad mir nichts geben konnte, was öfter mal vorkam. Wir waren eben nicht reich.

Lilly war anscheinend nicht so langweilig wie mir. Sie beobachtete jeden einzelnen Jungen in der Cafeteria, ob jemand Neues dazugekommen war, oder sich jemand in den Ferien positiv verändert hatte. Lilly liebte es zu flirten und stets auf dem neuesten Stand zu sein was das Angebot an flirttauglichen Jungs an unserer Schule anging. Sie war in Liebesdingen wesentlich erfolgreicher als ich selbst. Sie hatte auch schon hin und wieder versucht mich zu verkuppeln, aber es hatte nie geklappt. Meistens hatte der Junge, den sie sich für mich ausgeguckt hatte, kein Interesse an mir, oder sie wollte ihn lieber für sich selbst. Derzeit hatte sie keinen festen Freund, mit dem letzten hatte sie vor kurzem Schluss gemacht, nach 2 Monaten Beziehung. Er hatte zu sehr geklammert, hatte sie behauptet. Ich musste gestehen, dass ich immer ein wenig eifersüchtig auf Lilly war. Sie sah auch viel hübscher aus als ich mit ihren roten Locken und den blauen Augen.

Ich war ganz in Gedanken versunken, als sie mich anstieß. „Da sind sie!“ Ich wusste sofort wen sie meinte. Es waren Victor und Jason Blackraven. Die beiden waren vor einem Jahr hierher nach Moores Mill gezogen und hatten sofort alle Schüler für sich eingenommen. Obwohl sie Zwillinge waren, waren sie, zumindest was das Aussehen anging, unterschiedlich wie Tag und Nacht. Victor war derjenige der beiden, der sofort auffiel. Er hatte etwas längere hellblonde Haare, die im Sonnenlicht wie Gold glänzten. Jedes Mädchen konnte neidisch sein auf seine Mähne. Seine Augen waren eisblau, genau so wie strahlende Saphire. Er hatte einen so stechenden Blick, der mir immer durch und durch ging. Ich musste gestehen, dass ich nie nie einen so gut aussehenden Jungen gesehen hatte. Fast alle Mädchen der Schule waren hinter ihm her, und Victor schien das auch immer sehr zu genießen von ihnen umgarnt zu werden. Ich jedoch hatte für ein solches Verhalten nicht viel Verständnis übrig. Ich würde mich niemals so benehmen, dachte ich. Wie die anderen Mädchen förmlich an seinen Lippen hängen und am liebsten noch den Boden küssen auf dem er wandelte. Einfach völlig übertrieben. Aber trotzdem... Ja gut, ich musste es mir eingestehen, dass er schon etwas hatte, und dass sogar ich am Anfang, als er noch neu an der Schule war, irgendwie verknallt in ihn gewesen war. Aber ich hatte von Anfang an gewusst, dass ich sowieso niemals eine Chance haben würde. Ich hatte mir also niemals Hoffnungen gemacht, dass da jemals auch nur irgend etwas laufen könnte. Victor war einfach viel zu cool für ein Mädchen wie mich. Eigentlich war er viel zu cool für jeden, das wusste er, und das zeigte er auch.

Sein Bruder Jason war da etwas anders. Jason hatte zwar ebenso blaue Augen wie sein Bruder, aber lange und schwarze Haare, die er meistens zu einem Zopf gebunden trug. Er war zwar auch irgendwie cool, aber anders. Er war der ruhigere von den beiden und hielt sich lieber etwas mehr im Hintergrund auf. Trotzdem war es unmöglich ihn zu übersehen, denn er hatte eine ebenso starke Ausstrahlung wie sein Bruder Victor. Aber Victor war ganz eindeutig der interessantere und beliebtere der beiden Brüder, daran hatte niemand auch nur den geringsten Zweifel.

Lilly setzte sich aufrecht hin und in Pose, wobei sie stets darauf achtete den Blickkontakt zu Victor nicht zu unterbrechen. „Irgendwann kriege ich ihn noch“, prophezeite sie, ohne mich auch nur anzusehen.

„Ach ja“, kam meine missgelaunte Antwort. „Das denken sich alle anderen Mädchen bestimmt auch. Du weißt doch, dass er sich noch nie eine Freundin gesucht hat.“

Nicht offiziell. Natürlich hatte Victor irgendwelche Geschichten am Laufen, dauernd gab es irgendwelche neuen Gerüchte, aber nie hatte man ihn je mit einem Mädchen länger als 1 oder 2 Tage am Stück gesehen.

„Ach, jetzt lass mich doch.“ Ich sah, dass Lilly versuchte nicht zu schmollen. Ich wusste, dass sie das in diesem Moment liebend gern getan hätte, immerhin kannte ich sie schon als wir beide noch zusammen im Sandkasten gespielt hatten. „Man wird doch wohl noch träumen dürfen.“

„Wenn du meinst.“ Ich war davon nicht sehr überzeugt, dass Lilly oder irgendwer sonst jemals Erfolg bei Victor haben würde. Ich kaute weiter an meinem Sandwich, das mit Putenbrust und Salat belegt war, herum, und überlegte, wie ich den Rest des Tages, die ganze Woche und überhaupt das ganze Schuljahr überstehen sollte.

Plötzlich zog Lilly scharf die Luft ein und murmelte halb aufgeregt halb panisch vor sich hin.

„Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott, er kommt her!“

Zuerst wusste ich gar nicht was los war, bis ich meinen Blick von meinem nicht gerade wohlschmeckenden Pausenessen abwandte und in die Richtung blickte, in die Lilly sah. Victor kam direkt auf uns zu! Zuerst nahm ich an, dass er einfach an uns vorbeigehen würde. Im Leben hätte ich nicht damit gerechnet, dass er uns seine kostbare Aufmerksamkeit schenken könnte, aber trotzdem passierte es. Er ging zwar an uns vorbei, schaute mich dabei aber an, lächelte und grüßte mich.

„Hey, Stella. Alles klar?“

Und schon war er an meinem Tisch vorbeigerauscht, seinen Bruder Jason und einige seiner engsten Freunde und Bewunderer im Schlepptau. Lilly starrte ihm mit aufgerissenem Mund und Augen nach. Ich hatte kurz den Geruch seiner Lederjacke in der Nase, dann war alles auch schon wieder vorbei.

„Ich fasse es nicht.“ Lilly blickte dem Trupp nach, bis sie aus der Cafeteria verschwunden waren. „Er hat dich gegrüßt. DICH! Und er weiß sogar deinen Namen!“

Ja, er hatte mich gegrüßt. Erst jetzt fiel mir auf, wie komisch das eigentlich war. Ich, Stella Elizabeth Amaryllis, die Außenseiterin. Und der coolste Junge der Schule hatte mich gegrüßt. Und sogar meinen Namen gewusst! Ich war ebenso sprachlos wie Lilly, die erst mal nichts weiter sagte, obwohl sie sonst eine furchtbare Quasseltante sein konnte.

Eine unerwartete Einladung

Die ersten Schulwochen liefen völlig ereignislos, wenn man einmal davon absah, dass Victor mich immer noch hin und wieder grüßte und ein kleines Wort mit mir wechselte, wie es mir ging und solche Dinge. Ich wusste echt nicht, was mit ihm los war, warum er das plötzlich tat. Vor den Sommerferien war ich doch noch Luft für ihn und seine Freunde gewesen! Selbst Lilly kam das ganze komisch vor, und sie unterstellte mir sogar, dass ich heimlich was mit ihm hätte, was ich natürlich vehement bestritt. So ein Blödsinn. Nein, Victor Blackraven war einfach nicht meine Liga.

Ich saß in der Küche über meinem Geschichtsbuch. Ich musste einen Aufsatz schreiben. Normalerweise fand ich Schularbeiten alles andere als toll, wie vermutlich jeder halbwegs vernünftige Teenager, aber da es hier um Geschichte ging war das etwas völlig anderes. Auch wenn ich nicht zu den Strebern gehörte, Geschichte war mein absolutes Lieblingsfach. Ich überlegte wirklich ob ich einmal Archäologin werden sollte, oder in einem Museum arbeiten. Irgend so etwas in der Richtung vielleicht. Das war mein Traum.

Ich hörte wie ein Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür gesteckt und dann umgedreht wurde. Schwere Schritte verrieten mir, dass Dad nach Hause gekommen war.

„Hi, Dad.“

Dad steckte den Kopf zur Küche rein.

„Hallo, Lizzie.“

Dad nannte mich immer Lizzie. Meinen zweiten Namen Elizabeth hatte ich von ihm. Dads Schwester hatte so geheißen. Kennengelernt hatte ich sie nie, denn sie war schon als Kind bei einem Unfall gestorben. Sie war über eine Straße gegangen und ein Auto hatte sie überfahren. Dad hatte Elizabeth sehr geliebt, zumindest nahm ich das an. Wir hatten das eine oder andere Foto von ihr und Dad in der Wohnung stehen.

„Das Essen ist schon fertig, du musst es dir nur noch warm machen.“

Seit Mom weg war, war ich für den Haushalt zuständig.

Mom hatte uns verlassen als ich 13 Jahre alt war. Sie meinte, dass sie hier in Moores Mill einfach nicht glücklich werden könne, eine Kleinstadt sei nichts für sie. Dann war sie zurück nach Seattle gegangen, wo sie eigentlich herstammte. Ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihr, Mom schickte nur zu Weihnachten und zu Geburtstagen Karten und ein wenig Geld, das war's. Ich vermisste sie auch gar nicht, ich hatte mich schon längst damit abgefunden. Es hätte auch nichts genutzt wie ein kleines Mädchen über ihren Verlust zu weinen, sie wäre für kein Geld der Welt zurück gekommen.

„Was gibt es denn?“

Dad zog seine schweren Arbeitsschuhe aus, stellte sie in den Flur und ging in das Bad, um sich Gesicht und Hände zu waschen. Er war immer schmutzig, wenn er von der Arbeit kam. Wir hatten unter unserer Wohnung eine kleine Autowerkstatt, die einzige in der näheren Umgebung. Das sicherte Dad sein Einkommen, denn die Anwohner von Moores Mill konnten ja nirgendwo anders hin mit ihren kaputten Autos.

„Ich habe Nudeln mit Tomatensoße gemacht.“

Ich rief laut genug, damit Dad mich über das Rauschen des Wasserhahns hinweg auch verstehen konnte.

Gut kochen konnte ich nun nicht gerade, aber man konnte es essen. Zumindest hatte ich bisher noch niemanden vergiftet. Und dafür, dass ich mir in der Küche alles selber hatte beibringen müssen, denn Dad war noch schlechter im Kochen als ich, fand ich meine kulinarischen Ergebnisse gar nicht mal so schlecht.

„Mhm, klingt gut.“

Dad kam zurück in die Küche und hob den Deckel vom Topf an, roch an seinem Inhalt und schien zufrieden zu sein, denn er schaltete den Herd an, um die Nudeln aufzuwärmen.

„Hast du schon gegessen“, wollte er wissen.

Ich nickte. Ich hatte mir schon was genommen, als ich das Essen vor einer Stunde gekocht hatte, bevor ich mich über meine Hausaufgaben gesetzt hatte.

Aber ich konnte mich nicht konzentrieren, als Dad in der Küche rumklapperte, mit dem Kochlöffel im Topf rührte, einen Teller aus dem Schrank holte und eine Gabel aus der Besteckschublade. So konnte ich einfach nicht arbeiten. Also entschuldigte ich mich, packte meine ganzen Schulsachen zusammen und ging hinauf in mein Zimmer. Aber Lust zu lernen hatte ich nicht mehr. Also schaltete ich den Fernseher an, und auf dem Sender, der gerade eingestellt war, lief irgendeine dieser Vampirserien, die gerade so angesagt waren. Für so etwas hatte ich ja weniger übrig. Ich war einfach fernab jeglichen Mainstreams, was wohl auch der Grund war, warum mich in der Schule kaum jemand beachtete. Na ja.

Der Fernseher lief zwar, aber ich achtete nicht auf das Programm, es war nur Hintergrundbeduselung für mich. Statt hinzuschauen schnappte ich mir meinen Laptop von meinem Schreibtisch und loggte mich in meinen Facebook Account ein. Ich hatte in meiner Liste viele Freunde, wenigstens dort. Und über Facebook bekam ich auch jede Menge mit.

Ich las meine Nachrichten, bis ich zu einer kam, die mich stutzen ließ. Victor hatte mir geschrieben. Ich konnte es nicht fassen! Aufgeregt setzte ich mich gerade hin und räusperte mich. Ich wollte mir diese Nachricht in aller Ruhe durchlesen. Was konnte Victor nur von mir wollen?
 

[style type="italic"]Hey Stella.

Am Samstag läuft bei Richard Dean eine Party, du hast es sicher mitbekommen. Ich wollte dich fragen ob du nicht Lust hast mit mir dort hin zu gehen. Ich hol dich um 8 Uhr ab. Mach dich hübsch.[/style]
 

Ich fiel aus allen Wolken. Ich konnte es einfach nicht glauben. Das war ja beinahe so als... als würde mein Dad von Paris Hilton zu einem Date gebeten werden. Das war genau so unwahrscheinlich wie eine Einladung zu einer Party von Victor Blackraven! Ich war ganz nervös und in meinem Magen bildete sich ein Knoten. Oh mein Gott! Das einzige, was mir in diesem Moment einfiel war nach meinem Handy zu greifen und Lilly anzurufen. Das musste ich ihr unbedingt sofort erzählen! Wo war denn dieses blöde Ding nur? Mich rief ja nie jemand an, und ich hatte auch kaum wen, mit dem ich hätte SMS schreiben können. Höchstens Lilly, aber die sah ich ja jeden Tag in der Schule, und hing auch oft nachmittags mit ihr rum, da brauchte ich nicht mit ihr zu telefonieren oder ihr zu schreiben.

Ich durchsuchte die Taschen meiner Klamotten, die ich an diesem Tag angehabt hatte. Nichts. Hatte ich es auf meinen Nachttisch gelegt? Auch nicht. Es lag ebenfalls nicht auf meinem Schreibtisch. Fahrig griff ich nach meiner Schultasche und kramte hektisch darin herum, bis ich mein Handy dann endlich doch noch fand. So schnell es ging tippte ich Lillys Nummer ein, und sobald sie abgenommen hatte legte ich los.

„Lilly, du wirst es nicht glauben!“

„Was denn? Was ist denn los? Und wieso brüllst du mir so in mein Ohr?“

„Victor Blackraven hat mir auf Facebook eine Nachricht geschrieben!“

Am anderen Ende der Leitung herrschte kurzes Schweigen, ehe Lilly mir antwortete.

„Ist ja nicht wahr! Was hat er dir denn geschrieben? Na los, erzähl schon!“

„Er will, dass ich mit ihm am Samstag auf die Party von Richard Dean gehe. Du hast doch bestimmt mitbekommen, dass er bei sich zu Hause eine Party schmeißt.“

Natürlich wusste Lilly das, wir hatten uns ja gestern noch darüber unterhalten, ob wir vielleicht hingehen sollten oder nicht. Das taten wir jedes mal, wenn eine große Fete eines unserer Mitschüler anstand, aber wir gingen dann hinterher doch nie hin.

Lilly kreischte in den Hörer.

„Du lügst! Nein, das hat er nicht getan!“

„Doch, das hat er! Ich schwöre es!“

Wir waren beide sehr aufgeregt, und auch ich wurde immer lauter.

„Und wirst du hingehen? Du musst hingehen! So eine Chance bekommst du bestimmt nie wieder!“

„Aber Lilly, ich kann das doch nicht... Ich trau mich das nicht.“

„Ach, jetzt hör aber auf zu spinnen. Natürlich kannst du das! Du musst einfach!“

„Nein, Lilly, ich kann das wirklich nicht. Du weißt doch wie schüchtern ich bin.“

„Also wenn du nicht hingehst, dann werde ich wirklich stinksauer, glaub mir das. Auf so eine Gelegenheit warten Mädchen wie wir doch bloß.“

Lilly spielte darauf an, dass wir an der Schule der unteren Gesellschaftsschicht angehörten und froh sein konnten, wenn die coolen Kids uns bestenfalls ignorierten und nicht unsere Köpfe in die Toilettenschüsseln drückten.

„Aber ich ich traue mich wirklich nicht. Ich kann das nicht.“

Dann kam mir plötzlich eine Idee, die ich meiner besten Freundin auch sofort mit Begeisterung mitteilte.

„Ich weiß es! Du kommst einfach mit!“

Ich hörte Lilly vor Freude quietschen.

„Du willst mich wirklich mitnehmen? Cool! Oh mein Gott, was soll ich bloß anziehen?“

Wir redeten noch eine ganze Weile darüber was wir anziehen sollten, wie wir uns schminken sollten und wie unsere Haare am besten aussehen sollten. Dass ich mit Victor Blackraven zu der Party von Richard gehen würde, das war, ohne dass ich es wirklich festgemacht hatte, nun beschlossene Sache.

Bevor ich mich in mein Bett zum Schlafen legte musste ich Victor natürlich noch zusagen. Beinahe hätte ich es vergessen.
 

[style type="italic"]Lieber Victor,

ich würde mich sehr freuen, wenn ich dich zu der Party von Richard begleiten dürfte. Ich werde dann um 8 Uhr auf dich warten.

Wir sehen uns vermutlich morgen in der Schule.

Liebe Grüße,

deine Stella[/style]

Ein blöder Kerl?

Am nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten in die Schule zu kommen. Dad lag noch in seinem Bett und war am Schlafen. Er machte seine Werkstatt erst auf, wenn ich schon in der Schule war. Deswegen war ich, wie jeden anderen Morgen auch, ganz alleine, als ich mich fertig machte. Ich suchte mir an diesem Tag etwas aus meinem Kleiderschrank, das ein bisschen figurbetonender war als die Sachen, die ich sonst immer trug. Ja, sogar ich besaß Klamotten, die ein bisschen mädchenhafter und schicker waren als das, was ich sonst immer an meinem Körper trug. Ich entschied mich für eine meiner üblichen Jeans. Die saßen einfach gut. Dazu wählte ich ein enges rosafarbenes Top mit Spaghettiträgern mit einem zarten Blümchenmuster, und darüber eine dünne Jacke. Es war zwar noch warm draußen, aber es ging langsam auf den Herbst zu. Aus meinem schlecht bestückten Schuhregal holte ich ein Paar weißer Sandalen. Die trug ich sonst eigentlich nur zu besonderen Anlässen wie Familienfeiern oder so, wenn ich mal ein wenig schicker aussehen musste. Im Bad hatte ich sogar ein wenig Schminke, aber nicht viel. Ich schminkte mich normalerweise nicht, das war mir einfach zu kompliziert. Aber um Kajal, Wimperntusche und Lipgloss aufzutragen reichte es so gerade noch. Meine Haare trug ich heute mal offen anstatt wie üblich zu einem Zopf gebunden. Ich gefiel mir heute eigentlich ganz gut. Das war auch wichtig, denn schließlich wollte ich Victor ja gefallen, wenn er mich schon zu seiner Begleitung für die Party bei Richard am nächsten Wochenende ausgewählt hatte.

Ich konnte es immer noch nicht fassen, unter all den Mädchen aus denen er hätte wählen können hatte es mich getroffen, und ich war so glücklich darüber.
 

Aber in der Schule redete er nicht mit mir, so wie ich es mir erhofft hatte. Eigentlich hatte ich angenommen, dass er jetzt ein wenig mehr Kontakt zu mir haben würde, wo er mich doch eingeladen hatte, aber während des Unterrichts saß er bloß auf meinem Platz und hörte den Lehrern zu. In der Pause nickte er mir nur kurz zu, ehe er sich wieder mit seinen Freunden unterhielt.

Ich schnappte mir Lilly und schleppte sie zu meinem Lieblingsplatz auf dem Pausenhof. Es handelte sich um eine Bank, die unter einem großen Baum stand. Was das für eine Art Baum war wusste ich nicht, ich hatte damals, als wir das in Biologie durchgenommen hatten, nicht wirklich aufgepasst. Ich fand es auch gar nicht so schrecklich wichtig wissen zu müssen was für ein Baum nun dieser oder jener war. Sollte doch einmal der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass ich so etwas einmal wissen musste, dann gab es ja schließlich immer noch das Internet.

Ich ließ mich also auf die Bank aus Holz plumpsen und seufzte. Lilly nahm neben mir Platz.

„Was ist denn los“, wollte sie von mir wissen und sah mich besorgt an.

Wie konnte sie denn nur nicht wissen was los war, hatte sie denn keine Augen in ihrem Kopf? Sie hatte doch den ganzen Tag bisher mit mir verbracht und musste schließlich wissen was passiert war, oder was in meinem Fall eben nicht passiert war, nämlich dass Victor mit mir geredet hätte. Ich war ziemlich traurig wegen der Zurückweisung.

„Weißt du, ich hatte gedacht, dass er jetzt mehr mit mir reden würde, nachdem er mir schon auf Facebook geschrieben hat. Er hat mich sogar seiner Freundesliste hinzugefügt.“

Darauf war ich ganz besonders stolz gewesen, dass sich meine schon nicht so geringe Anzahl an Freunden um jemanden erweitert hatte, der so beliebt war bei anderen.

„Er ist halt ein blöder Kerl.“

Lilly wusste genau wie man einer frustrierten Freundin half.

„Nimm es nicht so schwer. Er redet bestimmt noch mit dir. Spätestens wenn er dich zur Party abholt, denn dann muss er ja wohl mit dir reden. Wie sähe das denn sonst aus?“

Sie grinste und stuppste mir in die Seite.

Ich wagte ein schüchternes Lächeln. Sie hatte bestimmt recht. Die beste Freundin hatte doch immer recht, nicht wahr? Also konnte ich erst einmal nichts weiter tun als darauf zu vertrauen, dass alles so eintreffen würde, wie meine Freundin es mir vorhergesagt hatte.

Immerhin hatte ich dann nach Schulschluss doch noch einmal das große Glück, dass Victor mit seinem Motorrad an mir vorbeifuhr und neben mir anhielt.

Er nahm seinen Helm ab und rief mir nach. Ich drehte mich um, weil ich erst nicht mitbekommen hatte, dass es Victor war. Ich hatte nämlich meine Kopfhörer drin, weil ich über meinen MP3-Player Musik hörte. Erstaunt nahm ich die Stöpsel aus den Ohren.

Als Victor mich anlächelte kribbelte es ganz stark in meinem Bauch. Victor hatte die Sonne im Rücken und sah einfach unverschämt gut aus. Obwohl er im Sommer an das Meer gefahren war, wie er irgendwann nach den Sommerferien einmal behauptet hatte, war er sehr blass. Seine Haut war makellos und so weiß wie edler Marmor. Und in seinen blauen Augen, die wie funkelnde Saphire waren, hätte ich in diesem Moment versinken können.

„Hey. Tut mir leid, dass ich heute keine Zeit für dich hatte. Ich freu mich, dass du mit mir zu der Party gehen willst. Ich hoffe du hast was Schickes zum Anziehen.“

Ich nickte automatisch, wie gebannt von seinem Gesicht und dem leicht kratzigen Klang seiner Stimme. Dabei wusste ich gar nicht, ob ich wirklich was Schickes zum Anziehen zuhause hatte. Na ja, zur Not würde ich vorher noch shoppen gehen müssen. Das war gut, da konnte ich dann Lilly mitnehmen, die hatte eh einen viel besseren Geschmack als ich.

„Gut, dann sehen wir uns also morgen.“

Victor setzte seinen Helm wieder auf und fuhr davon. Ich blickte ihm nach, bis er um eine Straßenecke verschwand.

In dem Moment fuhr Victors Bruder, Jason, mit seinem schwarzen Auto an mir vorbei, warf mir einen merkwürdigen Blick zu, und war dann sofort wieder verschwunden. Das kam mir schon ein bisschen merkwürdig vor, mir kroch ein leichter Schauer über den Rücken, aber alles in allem war ich froh, dass Victor nun doch noch mit mir geredet hatte, auch wenn es nicht viel war. Es war immer noch besser als gar nichts. Und ich war so aufgeregt! Ich konnte die Party bei Richard Dean kaum noch erwarten.

Eine Party mit Überraschung

Die Zeit bis zur Party kroch nur so dahin wie zäher Sirup. Jeder Tag kam mir doppelt so lang vor wie sonst. An Victors Verhalten mir gegenüber hatte sich bisher nicht viel geändert, es blieb immer noch bei ziemlich kurzen Gesprächen auf dem Schulflur und hin und wieder einem Lächeln im Unterricht, bei dem mir jedes mal ganz warm um mein Herz wurde.
 

Am Samstag Abend kam Lilly zu mir. Wir waren noch shoppen gewesen um uns mit anständigen Klamotten einzudecken. Ich hatte etwas von meinem gesparten Geld abgezwackt, weil ich genau wusste, dass mein Dad mir kein Geld für Kleidung geben würde, nur damit ich auf eine Party gehen konnte. Ich konnte froh sein, dass ich mir keine Gedanken darum machen musste wie ich ihm erklären sollte, dass ich auf eine Party ging. Wie vermutlich jedes andere Teenymädchen auch hätte ich mich eigentlich ordentlich bei ihm einschmeicheln müssen oder ihm wirklich gute Argumente geben müssen, damit er mich gehen ließe. Aber das Problem erledigte sich von alleine dadurch, dass Dad Samstag abends sowieso nie Zuhause war. Samstags ging er immer mit seinen Kumpels zum Bowlen und anschließend etwas trinken. Meistens kehrte er erst in den frühen Morgenstunden zurück und war dann die nächsten zwölf Stunden nicht mehr ansprechbar. Bis dahin wäre ich schon längst wieder zurück, oder ich würde ihm auftischen, dass ich kurzfristig bei Lilly übernachtet hätte. Das würde er mir auf jeden Fall glauben. Lilly hatte ihren Eltern von vornherein gegenüber behauptet, dass sie heute Nacht bei mir schlafen würde. Unsere Alibis waren also gesichert.

Lilly hatte auch ihre ganze Schminke mitgebracht und fuhrwerkte nun in meinem Gesicht herum.

„Aber übertreib es nicht! Ich will schließlich nicht aussehen wie ein Clown.“

„Nur keine Sorge, du kannst mir vertrauen. Du wirst schon gut aussehen. Immerhin habe ich ja Übung im Schminken.“

Da hatte sie natürlich recht, immerhin schminkte sich Lilly jeden Tag für die Schule, und es sah nicht schlecht aus. Ich war wirklich heilfroh, dass ich sie bei mir hatte, und dass sie mir heute Abend zur Seite stand. Wenn ich ohne sie auf die Party hätte gehen müssen, ich wäre wahrscheinlich viel zu schüchtern gewesen.

Als meine Freundin fertig war begutachtete ich ihr Werk in Spiegel im Badezimmer. Ein zarter Hauch von hellbraunem Lidschatten, der gut zu meinen leuchtend grünen Augen passte. Ein wenig Wangenrouge. Kajal, Wimperntusche. Und natürlich rosa Lipgloss, dessen Farbton wunderbar zu dem Lidschatten passte. Meine Haare waren auch schon gemacht, Lilly hatte sie mit Hilfe von Lockenwicklern gelockt und anschließend zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur aufgetürmt. Eigentlich sah das ganz hübsch, fand ich.

„Du bist wunderschön“, bekräftige Lilly und war sehr zufrieden mit dem, was sie mit mir angestellt hatte.

Ich selber war mir zwar noch nicht ganz so sicher, ob ich mir gefiel, denn immerhin war das ein völlig anderer Style als der, in dem ich mich sonst zeigte, aber vielleicht gewöhnte ich mich ja noch daran. Zumindest hoffte ich das.

Nun konnte ich mir endlich mein Kleid anziehen. Es war aus einem schönen weichen Stoff und dunkelgrün, so dass es wunderbar zu meinen Augen passte, wie Lilly fand. Jedenfalls hatte sie das behauptet, als sie es mir im Laden in die Hand gedrückt und mir befohlen hatte es zu kaufen, nachdem ich es anprobiert hatte. Es war so schmal geschnitten, da konnte man wunderbar meine Figur sehen. Mir war das noch nicht so ganz geheuer, aber das würde schon gehen. Dazu würde ich meine weißen Sandalen tragen. Was anderes hatte ich nicht, nur Turnschuhe und Stiefel. Was Kleidung an betraf war ich eigentlich immer mehr der praktische Typ gewesen. Aber ich konnte ja nicht aussehen wie ein Bauerntrampel, wenn ich mich dem Schulschwarm Victor Blackraven auf eine Party ging!
 

Lilly und ich waren gerade rechtzeitig fertig mit schminken und umziehen, als es vor meinem Haus hupte.

„Oh mein Gott, da sind sie!!!“

Lilly packte mich am Arm und zerrte mich die Treppen hinunter. Sie ließ mir gerade noch genug Zeit die Haustür abzuschließen und den Schlüssel in meiner Handtasche zu verstauen. Draußen auf der Straße stand Jason Blackravens schwarzer Kombi, der mich immer ein wenig an einen Leichenwagen erinnerte. Es war mir nicht ganz geheuer in ein Gefährt einzusteigen, das eine solche Assoziation in mir hervorrief, aber ich hatte doch keine Wahl. Lilly schubste mich unbarmherzig vorwärts, sie freute sich richtig auf den Abend. Wieso auch nicht? Immerhin war dies das erste mal, dass eine von uns beiden explizit zu einer Party eingeladen worden war.

Jason saß hinter dem Steuer und blickte irgendwie finster drein. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn noch nie hatte lächeln sehen. Er fixierte mich mit seinem eiskalten Blick und ich fühlte mich nicht so ganz wohl. Aber sein Bruder Victor, der auf der Beifahrerseite saß, stieg sofort aus, als er Lilly und mich über den Gehweg kommen sah, und begrüßte uns.

„Ah, sehr pünktlich, die Damen. Darf ich ihren Arm nehmen, Madame?“

Er nahm meine Hand und öffnete mir die hintere Autotür, so dass ich einsteigen konnte.

„Deine Freundin kann vorne bei meinem Bruder sitzen.“

Ich hatte Victor erzählt, dass ich Lilly mit auf Richards Party nehmen würde, denn immerhin waren wir beide beste Freundinnen, schon seit unserer Kindheit, und da musste sie einfach mit! Ich war so froh, dass Victor mir dann gesagt hatte, dass das kein Problem sei, und sie dann mit Jason gehen könne. Und Lilly hatte absolut nichts dagegen gehabt.

Sie saß vorne auf dem Beifahrersitz und versuchte sich mit Jason zu unterhalten. Der gab ihr zwar Antworten, aber die waren kurz und einsilbig Offenbar hatte er keine große Lust dazu sich mit seiner Begleitung für diesen Abend zu unterhalten. Und ich fragte mich ob er das hier überhaupt freiwillig mitmachte, oder ob Victor ihn irgendwie dazu überredet hatte. Normalerweise verstanden sich die beiden Brüder sehr gut und waren ein prima Team. Aber ich überlegte ob ich denn Lust dazu gehabt hätte, wenn Lilly ein Date gehabt hätte, der Typ einen Freund mitgebracht hätte und ich mich um ihn hätte kümmern müssen. Das kam dann wohl auf den Jungen an.
 

Die Fahrt zu Richard Deans Haus war nur kurz. Wir fuhren an dem Wald vorbei, der sich östlich von Moores Mill erstreckte, Richard wohnte ein wenig außerhalb der Stadt, aber da diese nicht besonders groß war, war die Strecke nur kurz.

Ich hatte kaum Zeit mich mit Victor zu unterhalten. Das wurde auch dadurch erschwert, dass Jason das Autoradio laut aufgedreht hatte. Es lief irgendeine düstere Rockmusik. Ich hatte vorher nie gewusst, was die beiden Blackraven Brüder für Musik hörten, aber als ich es dann hörte, wunderte es mich nicht. Irgendwie passte die Musik zu den beiden, die sich gerne in Jeans kleideten, schwarze Shirts trugen und dazu schwarze Lederjacken, wenn es nicht zu heiß war. Und natürlich trugen sie während der warmen Monate ständig Sonnenbrillen. Sie waren echt cool, und jeder coole Typ trug eine Sonnenbrille, das war ein ungeschriebenes Naturgesetz. Und ohne Sonnenbrille und Lederjacke konnte ich mir die beiden auch schlecht vorstellen.

Ich hatte einen Moment Zeit wwährend der Fahrt Victor und Jason miteinander zu vergleichen. Victor war blond, Jason hatte schwarze Haare. Sie waren wie Tag und Nacht. Victor war derjenige von ihnen, der mehr extrovertiert war, während Jason den lonesome wolf oder so verkörperte. Victor war derjenige von beiden, der sie anführte, so viel war mir klar. Und trotzdem waren sich die beiden so schrecklich ähnlich. Wenn man mal ihre Frisuren außer acht ließ sahen sie beide absolut identisch aus. Natürlich taten sie das, denn immerhin waren sie beide Zwillinge. Ihre Haut war beinahe schneeweiß. Das sah irgendwie vornehm aus, und ich mochte das. Da kam ich mir selber mit meiner vom Sommer tief gebräunten Haut wie ein Bauernmädchen vor. Die Gesichtszüge der beiden Brüder waren vollkommen eben, als wären sie wie gemeißelt. Sie waren einfach perfekt. Beinahe schon zu perfekt.
 

Jason parkte direkt vor Richard Deans Haus, so dass wir nicht weit laufen mussten. Das war auch ganz gut so, denn meine Sandalen hatten kleine Absätze, und mit den Dingern war ich noch überhaupt nicht geübt. Schließlich trug ich sie ja so selten. Ich befürchtete, dass ich an diesem Abend mindestens einmal umknicken und stürzen würde. Ich wollte mir das gar nicht erst vorstellen, das wäre einfach viel zu peinlich!

Während Jason ausstieg reichte mir Victor schon seinen Arm um mich hinüber zu dem Haus zu geleiten. Hinter uns folgten Lilly und Jason nebeneinander, aber auf die beiden achtete ich nicht besonders. Dazu war ich einfach viel zu aufgeregt und nervös!

Im Vorgarten standen vereinzelt ein paar meiner Mitschüler in kleinen Grüppchen zusammen, und alle starrten uns an, als sie uns bemerkten. Sie fingen an zu tuscheln, als sie mich sahen. Ich wusste nicht so recht ob ich das jetzt gut finden sollte oder nicht. Aber konnte es denn besser sein? Ich ging auf meine erste Party, sah umwerfend aus wie Victor mir im Auto noch versichert hatte, und ging mit dem coolsten Jungen der Schule auf eine Party. Ich fühlte mich wie in einem Traum!

Drinnen schlug uns laute Rockmusik entgegen, aber nicht so schlimme wie die, die Jason in seinem Auto hatte laufen lassen. Das hier war etwas, das auf jedem Musiksender lief. Kid Rock und so ein Zeug. Das war für mich viel erträglicher, obwohl das auch nicht unbedingt meine Musik war. Ich interessierte mich mehr für Pop. Ich mochte die Black Eyed Peas und die Pussycat Dolls, und noch so einige andere Bands und Sänger. Aber trotzdem hieß das nicht, dass die laufende Musik die Party für mich unerträglich machen würde. Nein, ich war absolut willens diesen Abend voll und ganz zu genießen!

Victor und sein Bruder ließen Lilly und mich stehen. Aber bevor er ging sagte er noch zu mir:

„Wir holen euch was zu trinken. Ihr trinkt doch Bier, oder? Wir sind gleich wieder da, also nicht weglaufen, die Damen.“

Er zwinkerte mir noch zu, und war sofort darauf mit seinem Bruder Jason verschwunden.

Ich blickte mich um und erkannte viele Kids aus meiner Schule. Diejenigen, die nicht gerade mit einem Gesprächspartner oder ihrem Becher voll Bier beschäftigt waren, beobachteten Lilly und mich. Anscheinend fanden sie es ziemlich ungewöhnlich, dass wir beide auf dieser Party anwesend waren. Ja, ungewöhnlich war es, und noch viel ungewöhnlicher waren unsere Begleiter. Wahrscheinlich hätte sich niemand von den hier Anwesenden sich träumen lassen, dass Victor Blackraven und sein Bruder mit zwei Außenseitern wie Lilly und mir jemals gemeinsam auf einer Party erscheinen würden.

Ich fühlte mich etwas beklemmt, ich war Parties nicht gewohnt, aber Lilly schien sich sofort wohl zu fühlen. Sie genoss die Aufmerksamkeit, die sie für einen kurzen Moment von den anderen Leuten bekam, bis diese sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten und mit dem fortfuhren, was sie vor unserer Ankunft getan hatten. Tanzen, trinken, sich unterhalten. Hier und dort gab es auch knutschende Pärchen. Für einen Moment kam mir der Gedanke, dass ich das auch gerne tun würde. Also jemanden küssen. Ich hatte noch nie einen Jungen geküsst, und ich fragte mich wie das wohl sein würde. In Filmen wurde das immer als furchtbar romantisch dargestellt, und genau so stellte ich es mir vor, als wäre es so toll, dass man nur noch Musik in den Ohren hattte und alles um sich herum vergaß. Vielleicht, nur vielleicht würde ich ja das große Glück haben, dass... wagte ich es, es in Worte zu fassen? Vielleicht würde Victor mich ja küssen! Ich konnte kaum glauben, dass ich daran dachte. Das war absolut unwahrscheinlich, und trotzdem hoffte ich inbrünstig darauf.
 

Es dauerte eine Weile bis Victor und Jason wieder zu Lilly und mir stießen, jeder mit zwei Bechern in den Händen, von denen sie jeweils einen mir und Lilly reichten. Wir bedankten uns und Lilly nahm sofort einen Schluck. Man hätte meinen können, dass sie ein echter Partyprofi war, so wie sie sich hier aufführte. Ganz im Gegensatz zu mir, ich stand immer noch stocksteif da wie ein Brett und starrte auf das Bier in meinem Becher. Ich hatte doch noch nie Bier getrunken! Vorsichtig probierte ich einen Schluck und kniff die Augen zusammen. Igitt, war das bitter! Aber die beiden Jungs kippten den Inhalt ihrer Becher hinunter als würde er aus Wasser bestehen. Sie schienen das Zeug wirklich zu mögen, so wie alle anderen hier auch, Lilly eingeschlossen. Ich konnte das nicht wirklich nachvollziehen, aber tapfer trank ich noch mehr, denn schließlich wollte ich nicht wie eine Spielverderberin und Spießerin dastehen. Hoffentlich bemerkte niemand wie unbeholfen ich mich fühlte.
 

Zuerst machten wir nicht viel. Victor schleppte uns durch die Gegend und stellte uns ein paar seiner Freunde vor, die ziemlich erstaunt darüber waren, dass er ausgerechnet MICH mit zu der Party genommen hatte. Ein bisschen tat es schon weh zu sehen wie unbeliebt ich im Grunde doch war. Ich hatte es ja eigentlich immer gewusst, aber so bewusst wie heute war es mir noch nie geworden. Trotzdem versuchte ich cool zu sein, lächelte jeden an und trank tapfer mein Bier. Erstaunt stellte ich fest, dass man es besser runter bekam je mehr man davon trank.

Und dann tauchte Crystal auf.

Crystal war die Anführerin der Cheerleader an unserer Schule und sehr beliebt bei den anderen Schülern. Sie war blond, hübsch und hatte Geld. Und sie stand tierisch auf Victor. Wie eigentlich fast alle Mädchen an unserer Schule, nur dass jeder davon überzeugt war, dass sie die beste Wahl für Victors Freundin wäre. Was könnte denn besser passen als der beliebteste Junge und das beliebteste Mädchen? Eigentlich hatte auch ich immer erwartet, dass die beiden einmal ein Paar werden würden. Victor und Crystal waren auch oft zusammen, sie hing an ihm wie eine Klette. Sie schienen sich ganz gut zu verstehen, aber ein Paar waren sie bisher noch nicht geworden.

„Hey, Victor, da bist du ja endlich! Ich hab schon gehört, dass du da bist, aber dass du dich so lange vor mir versteckt hältst, das geht nicht.“

Sie strich um ihn herum wie eine Katze und versuchte mein Date zu bezirzen. Mich selber beachtete sie zunächst gar nicht.

„Ich hatte gehofft, dass wir uns hier treffen würden. Hast du schon was zu trinken oder soll ich dir etwas bringen.“

„Ich habe schon ein Bier, danke dir, Crystal.“

Mir gefiel nicht wie Victor die Cheerleaderin anlächelte. Und schließlich bemerkte Crystal auch mich, obwohl ich mich stark zurückgehalten hatte. Sie begutachtete mich abschätzend von oben bis unten und verzog ihr Gesicht, in das ich in diesem Moment liebend gern rein geschlagen hätte.

„Was macht DIE denn hier? Hast du dich verlaufen, Deer? Müsstest du nicht schon zuhause in deinem Bettchen liegen?“

Ich wollte ihr gern etwas bissiges erwidern, aber mir fiel auf die Schnelle einfach nichts ein. Leider war ich nicht gerade schlagfertig. Gott sei dank kam mir Victor zu Hilfe. Er legte seinen Arm um meine Schulter und ich wäre am liebsten sofort dahingeschmolzen.

„Ich habe sie eingeladen mich heute zu begleiten. Sie ist doch immer alleine, und ich weiß ganz genau, dass du keine Probleme damit hast ein Date zu finden, Crystal.“

Crystal blieb der Mund offen stehen.

„Aber ich dachte wir beide haben heute Abend ein Date.“

Sie blickte Victor verständnislos an, dann mich. Und als ihr Blick meinen traf war ich sehr froh darüber, dass Blicke nicht töten könnten. Ansonsten wäre ich vermutlich auf der Stelle gestorben.

„Heute Abend nicht, tut mir sehr leid.“

Und schon zog mich Victor davon, weg aus Crystals Einflussbereich. Ich konnte noch hören, dass sie mir irgendeine böse Verwünschung hinterher rief, aber die Musik aus den Boxen dröhnte viel zu laut, als dass ich etwas genauer hätte verstehen können. Das war bestimmt auch viel besser so.

„Mach dir nichts draus, sie ist nur eifersüchtig“, versuchte Victor mich zu trösten. Er drückte mich und ich fühlte mich gleich schon viel besser.

„Hast du Lust zu tanzen?“

Ich nickte, bekam aber gleichzeitig Panik. Ich konnte doch gar nicht tanzen! Ich würde mich bis auf die Knochen blamieren, ich wusste es ganz genau! Hastig nahm ich noch einen großen Schluck aus meinem Becher, dann war er leer. Victor nahm ihn mir aus der Hand und stellte ihn auf eine Kommode.

„Lass den einfach hier stehen. Jetzt tanzen wir ein bisschen, und dann hol ich dir noch ein Bier, wenn du magst.“

„Kann ich vielleicht vorher noch einen Becher bekommen?“

Ich merkte zwar wie der Alkohol mich etwas lockerer machte, aber es war noch lange nicht genug als dass ich mich mit Victor auf die Tanzfläche getraut hätte.

Mein Begleiter zuckte mit den Schultern und grinste lässig.

„Klar doch. Warte hier, ich bin sofort wieder zurück.“

Ich sah ihm nach wie er in einen anderen Raum verschwand wo ich die Küche der Deans vermutete. Mein Blick fiel auf Jason, der mit Lilly tanzte, mich dabei aber unentwegt beobachtete. Langsam fragte ich mich, was mit diesem Kerl los war. Dauernd starrte er mich an! Bei mir dachte ich, dass da doch irgend etwas nicht stimmen könne, aber bevor ich mir weiter Gedanken dazu machen konnte war Victor schon wieder neben mir aufgetaucht und drückte mir einen weiteren Becher Bier in die Hand. Ich bedankte mich, ganz so wie es sich gehörte.

Es war schon komisch, dass Victor ganz plötzlich wie aus heiterem Himmel so aufmerksam mir gegenüber geworden war. Dass das einen besonderen Grund hatte, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt ja noch gar nicht ahnen.
 

Nachdem ich meinen zweiten Becher geleert hatte war ich bereits mehr als angetrunken. Ich fand dieses duselige Gefühl ziemlich komisch, schließlich war ich noch nie in meinem eben angeheitert gewesen. Aber es war doch irgendwie lustig, und iich fragte mich, warum ich das nicht schon viel früher ausprobiert hatte. Und langsam machte die Party auch viel mehr Spaß. Ich hatte mich sogar getraut ein wenig mit Victor zu tanzen, was ich mich nüchtern sicherlich nie im Leben gewagt hätte.

Doch nun zerrte Lilly, die Jason in einer Ecke hatte sitzen lassen, in einen der anderen Räume, wo gerade Singstar gespielt wurde.

„Na los, wir müssen mitmachen!“ rief sie mir zu und schleppte mich vor den Fernseher.

„Hier, wir sind die nächsten!“

„Nein, Lilly, das geht doch nicht...“

Ich versuchte mich ihrer zu erwehren, denn um vor allen anderen Anwesenden zu singen, dafür reichte vermutlich alles Bier der Welt nicht um mich betrunken genug zu machen. Leider hatte ich keine andere Wahl, denn mir wurde schnell ein Mikrofon in die Hand gedrückt. Lilly stand neben mir, ebenfalls ein Mikro in der Hand, und grinste mich fröhlich an. Sie schien auf dieser Party wirklich sehr viel Spaß zu haben.

„Na los, Stella, du schaffst das schon!“

Ich bildete mir ein, dass alle anderen um mich herum zu lästern begannen, ich würde bestimmt ganz schlimm singen, man sollte besser Oropax verteilen und solche Dinge. Ich war ein wenig paranoid, dachte ich, was so etwas anging. Ich redete mir gerne ein, dass man sich hinter meinem Rücken, oder in diesem Fall etwas offensichtlicher, über mich lustig machte.

Lilly wählte für uns beide ein Lied aus, „How you remind me“ von Nickelbeck. Ich kannte das Lied, natürlich kannte ich es, obwohl es schon so alt war. Aber gesungen hatte ich es nie. Ich war nur froh, dass ich mich an die Melodie erinnern konnte, und dass der Text über den Bildschirm des Fernsehers lief. Ich verhaspelte mich zwar hin und wieder, aber beim zweiten Refrain hatte ich es schon ganz gut raus und sang so gut ich nur konnte.

Ich sang sehr gerne, zumindest bei mir zuhause, wenn mich sonst niemand dabei hören konnte, denn das wäre mir sonst mehr als peinlich gewesen. Und auch auf dieser Party hätte ich wohl niemals gesungen, wenn ich nicht schon genug Bier in meinem Körper gehabt hätte.

Ich fand eigentlich, dass ich meine Sache gar nicht so schlecht machte, und als das Lied zuende war bekam ich sogar Applaus. Ich! Ich konnte es kaum glauben.

„Ich wusste gar nicht, dass du so gut singen kannst“, sagte einer.

Und von jemand anderem kam: „Wir sollten dich bei einer dieser Castingshows anmelden.“

„Das hast du toll gemacht!“

Ich wurde ganz rot bei so vielen Komplimenten. Das ermutigte mich später noch eine weitere Runde zu spielen, nachdem Lilly und ich für ein anderes Paar Platz an den Mikros gemacht hatten. Und auch diesmal waren alle begeistert. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich SO gut singen konnte, und ich freute mich sehr darüber. Auch Lilly war begeistert.

„Aber noch einmal spiele ich mit dir nicht, gegen dich verliere ich ja dauernd.“

Ich lachte, denn es stimmte. Lilly traf nicht jeden Ton, und punktemäßig lag ich bei jeder Runde stets weit vor ihr. Aber ich war froh, dass sie es mir nicht übel nahm. So war sie eben, meine beste Freundin.

Und später bekam Victor mich noch einmal dazu mit ihm zu tanzen. Es war sehr schön, und ich war schon sehr viel lockerer als zu Anfang. Ich machte mir nicht mehr so viele Gedanken darüber, dass ich beim Tanzen albern aussehen würde. Und wenn es so war, dann war es eben so, dachte ich mir. So spät wie es schon war würde eh kaum noch einer auf mich achten, also genoss ich die Zweisamkeit mit Victor.

Nur dass Crystal immer in seiner Nähe war und versuchte ihn mir abspenstig zu machen, was mir überhaupt nicht gefiel. Aber was sollte ich schon machen? Gegen sie kam ich nicht an. Also hoffte ich darauf, dass Victor nicht auf ihr übertriebenes und albernes Getue hereinfiel und den Abend über bei mir blieb. Ich hatte Glück, er wimmelte die lästige Crystal immer wieder ab, was der blonden Zicke natürlich überhaupt nicht gefiel. Diese blöde Thusnelda...
 

Irgendwann hatte ich völlig den Überblick über die Zeit verloren, oder auch darüber wie viele Becher mit Bier ich nun schon geleert hatte. Aber es musste schon reichlich spät sein, denn das Wohnzimmer, das zu Beginn des Abends noch brechend voll gewesen war, war nun nur noch spärlich bevölkert. Ich nahm mal an, dass viele schon nach Hause gegangen waren.

Ich musste mal auf die Toilette, die sich im oberen Stockwerk befand, und als ich wieder aus dem Badezimmer kam fing mich Victor auf dem Flur ab.

„Da bist du ja endlich.“

Hatte er auf mich gewartet? War es ihm lang vorgekommen? Vielleicht zu lang? Dabei hatte ich mich doch extra beeilt, weil ich ihn nicht hatte zu lange warten lassen wollen.

Ich war total fertig. Ich war es nicht gewohnt so lange auf zu bleiben, Mitternacht war schon lange vorbei. Außerdem hatte ich dazu noch so viel getrunken. Ich wollte eigentlich nichts lieber als nach Hause fahren, mich in mein Bett legen und drei Tage schlafen. Vermutlich sah ich auch genau so fertig aus wie ich mich fühlte. Ohje, dabei wollte ich doch gut aussehen für Victor. Aber selbst die ach so perfekte Crystal sah mittlerweile schon ziemlich fertig aus. Zumindest hatte sie das getan, als ich sie das letzte Mal zu Gesicht bekommen hatte, und das war schon ein Weilchen her. Ich hoffte, dass sie sich bereits nach Hause begeben hatte.

Kraftlos lehnte ich mich gegen die Wand, versuchte meine Augen offen zu halten und Victors Augen zu fixieren. Ich dachte er wollte sich noch ein wenig mit mir unterhalten. Mir wurde gar nicht so richtig bewusst, dass er noch völlig nüchtern zu sein schien, obwohl er mindestens 10 Bier getrunken zu haben schien. Ich hatte nicht mitgezählt, aber ich hatte gesehen, wie er das Zeug runter gekippt hatte wie Wasser. Also entweder war er Alkoholiker und gut in Übung, oder er hatte tatsächlich nur Wasser oder Apfelsaft oder was auch immer getrunken. Aber das konnte nicht sein, denn ich nahm seinen alkoholgeschwängerten Atem wahr, als sich sein Gesicht dem meinen näherte. Und wieder einmal stellte ich fest, dass sein Gesicht einfach perfekt war. Gesichtszüge wie in Marmor gemeißelt, und genau so blass, was ihm das Aussehen eines edlen Aristokraten verliehen hätte, wären da nicht seine zerzausten Haare und die Kleidung, die eines Adligen Mannes mehr als unwürdig war.

Victor kam immer näher.

„Darauf habe ich schon den ganzen Abend gewartet.“

Er hatte seine Stimme gesenkt, und sein Atem streifte über meine Haut. Er hatte eine Hand auf meinen Arm gelegt und war mir so nahe, dass kaum noch Platz zwischen uns war. Ein aufgeregter Schauer nach dem anderen jagte über meinen Rücken. Ich spürte die Spannung zwischen uns und wusste ganz instinktiv, was nun folgen würde.

Victor küsste mich.

Ich spürte seine weichen Lippen auf den meinen, und anders als ich es erwartet hatte waren sie ziemlich kühl, als hätte er einen späten Spaziergang in einer kühlen Winternacht gemacht. Aber er war sehr sanft. So sanft wie ich es ihm mit seiner coolen Art gar nicht zugetraut hätte. Ich hörte zwar keine Musik in meinen Ohren klingeln, wenn man einmal von der Partybeschallung aus der Stereoanlage aus dem Wohnzimmer im unteren Stockwerk absah, aber es war trotzdem wunderschön. Besser hätte ich es mir kaum vorstellen können. Das war er also, mein allererster Kuss! Ich war gleichzeitig nervös und und aufgeregt, aber trotzdem wollte ich mehr, und das bekam ich auch.

Ich legte meine Arme um Victors Hals. Er musste sich ein ganzes Stück zu mir hinab beugen, weil er mich um einen ganzen Kopf überragte. Seine Zunge drang in meinen Mund ein und spielte mit meiner. Ich war im 7. Himmel.

Ich weiß nicht mehr wie lange wir so dort herumgestanden und uns geküsst hatten, aber irgendwann löste sich Victor von mir.

„Ich denke es wird langsam Zeit nach Hause zu gehen, findest du nicht? Los, wir suchen Jason und deine Freundin, und dann bringen wir euch heim. Es ist schon spät, und hier ist kaum noch was los.“

Widerwillig stimmte ich ihm zu und nickte. Ich wäre nur mehr als gerne noch ein wenig hier geblieben und hätte sehr gerne noch ein bisschen mit ihm geknutscht. Das war so, als würde man einem kleinen Kind seinen allerersten Lutscher geben, es einmal daran lecken lassen und dann sagen, dass man ihn jetzt weg tut bis zum nächsten Mal irgendwann. Wirklich fies so etwas. Aber ich fügte mich trotzdem, ich war einfach schon viel zu müde. Und offensichtlich viel zu betrunken, um noch einen Aufstand in die Tat umzusetzen.
 

Ich ließ mich von Victor zu unserem Auto führen. Jason saß bereits hinter dem Steuer, Lilly wieder neben ihm. Eigentlich hätte ich es toll gefunden, wenn ich mit Victor hätte vorne sitzen können, aber wir mussten wieder nach hinten auf die Rückbank.

Lilly sah alles andere als fit aus, sie war schon halb am Schlafen. Ihre schminke war ein wenig verschmiert und sie hatte einen nassen Fleck auf ihrem Rock. Ich hoffte, dass es nichts Ekelhaftes war wie Erbrochenes oder Urin. Da ich zuvor noch nie auf einer Party gewesen war und diese nur aus irgendwelchen Filmen kannte, hielt ich alles für möglich.

Ich setzte mich hin und schnallte mich an. Sobald auch Victor neben mir saß und die Autotür geschlossen hatte ließ sein Bruder Jason den Motor an und fuhr los.

Zuerst brachten wir Lilly zu ihr nach Hause, und ich hatte einige Mühe sie bis zu ihrer Haustür zu bringen.

„Willst du ihr nicht helfen“, fragte ich Jason. „Immerhin warst du ihr Date heute. Müsstest du dich nicht darum kümmern?“

Doch Jason blickte mich nur finster an und sagte kein einziges Wort.

Ich schnaubte wütend, als ich mich unter Lillys rechten Arm klemmte und sie zu ihrer Tür brachte. Sie schien noch eine ganze Menge mehr getrunken zu haben als ich, aber schließlich war es geschafft, und ich konnte zurück zu dem Auto eilen. Dann fuhr Jason zu mir nach Hause.

Bevor ich die Autotür auf meiner Seite öffnen konnte war Victor schon ausgestiegen, um das Auto gelaufen und öffnete mir.

„Darf ich dich noch nach Hause begleiten?“

er grinste, und ich musste kichern.

„Aber natürlich doch.“

„Bekomme ich auch nichts mit einem Spaten über den Schädel gezogen, weil dein Dad die ganze Nacht aufgeblieben ist und sich fragt wo du steckst?“

Das wahr wohl sehr unwahrscheinlich.

„Nein, mein Dad ist nicht da, ich bin heute ganz alleine Zuhause.“

„Na dann muss ich mir ja wohl keine Sorgen machen. Puh.“

Gespielt erleichtert tat Victor so als würde er sich den Schweiß von der Stirn wischen.

„Wollen wir?“

Ich nickte und ließ mich von ihm bis zu meiner Haustür führen. Ich warf einen Blick auf Jason, der immer noch unbeweglich auf seinem Sitz saß und uns beobachtete. Also langsam wurde es wirklich unheimlich...

Und nun kam es, der Abschied. Das war immer was ganz besonderes, zumindest sagten das ziemlich viele Filme.

„Dann also gute Nacht“, stotterte ich nervös und nestelte an meinen Händen herum. Ich starrte auf meine Füße, die plötzlich unglaublich interessant zu sein schienen. Da war diese betretene peinliche Stimmung, ich wusste nicht was jetzt kommen würde.

„Das war wirklich ein sehr schöner Abend. Ich danke dir, dass du mich eingeladen hast.“

Ich konnte zwar immer noch nicht verstehen, was Victor dazu getrieben hatte ausgerechnet mit MIR bei Richard Dean zu erscheinen, aber ich wollte den Teufel tun mich darüber zu beschweren.

„Ich fand es mit dir auch sehr schön. Mit dir kann man gut etwas unternehmen. Das mag man gar nicht meinen, wenn man dich so in der Schule sieht.“

Ja, ich zeichnete wirklich kein gutes Bild von mir, so schüchtern und hässlich wie ich war.

Wir schwiegen beide eine kleine Weile, und ich wusste nicht so recht was ich tun sollte oder was jetzt passieren würde. Mein Problem erledigte sich von selbst, als Victor mich küsste, und es war sogar noch schöner als beim ersten Mal. Ich konnte immer noch das Bier auf seinen Lippen schmecken, das er heute getrunken hatte. Ich sank in seine zärtliche Umarmung und hätte auf der Stelle sterben können, so schön war es. Doch irgendwann ließ er mich wieder los, legte seinen Finger unter mein Kinn und zwang mich so ihn anzusehen. Als ob ich das nicht freiwillig auch liebend gern getan hätte!

„Also, dann wünsche ich dir eine gute Nacht, wunderschöne Stella Deer. Schlaf schön und süße Träume. Wir sehen uns übermorgen in der Schule.“

Dann wandte er sich von mir ab und stieg zurück in das Auto seines Bruders. Ich stand noch eine ganze Weile auf der Türschwelle meines Hauses und blickte dem schwarzen Gefährt nach, bis ich es nicht mehr sehen konnte.

Dann schloss ich schnell meine Haustür auf und eilte nach oben in mein Zimmer. Ich war furchtbar müde und wollte einfach nur noch schlafen, obwohl ich so aufgeregt war, dass mein ganzer Körper kribbelte und mich bestimmt nicht würde schlafen lassen.

Sobald ich mich meiner Kleidung entledigt hatte und in mein Nachthemd geschlüpft war kroch ich in mein Bett und deckte mich zu. Ich lag noch ein bisschen wach und dachte über alles nach, was mir an diesem Abend auf der Party passiert war, und wie wunderschön das alles gewesen war! Ich meinte immer noch den Druck von Victors Lippen auf den meinen zu spüren, seinen sanften Atem auf meiner Haut, seine zwei blauen Augen, die strahlendsten Saphire, die man sich nur vorstellen konnte. Sein Geruch in meiner Nase. Ich glaube ich hatte mich ernsthaft verliebt.

Ein langgehegter Traum wird wahr

Zwei Tage später, am Montag, stand ich morgens früh unter der Dusche. Das tat ich am liebsten morgens vor der Schule, damit ich mit einem sauberen Gefühl den jeweiligen Tag angehen konnte. Ich war gerade dabei mir die Haare ein zu shampoonieren, als ich die Türklingel hörte. Komisch, wer konnte das wohl sein? Vielleicht nur der Briefträger? Aber ich konnte ja jetzt nicht so einfach das Bad verlassen. Es klingelte noch einmal, und wenig später klopfte es heftig an die Badezimmertür.

„Lizzie? Hörst du mich?“

Es war Dad. Er klang noch ganz verschlafen, offensichtlich hatte ihn der Besucher geweckt.

Ich schaltete das Wasser ab und antwortete.

„Ja? Was ist denn?“

„Da steht ein Victor vor der Tür. Er will dich abholen.“

Ich erstarrte.

„Was? JETZT? Aber ich bin doch noch gar nicht fertig! Sag ihm, dass ich noch ein bisschen brauche.“

„Sag ihm das selber, ich leg mich wieder hin.“

„Vielen Dank auch, Dad“, murmelte ich noch.

Mir blieb keine Zeit den Schaum aus meinen Haaren zu waschen. Noch tropfend nass stieg ich aus der Dusche, schlang mir schnell ein Handtuch um meinen Körper und hastete zur Tür. Ich musste furchtbar albern aussehen, aber ich konnte Victor ja schließlich nicht warten lassen!

Ich öffnete die Tür einen Spalt breit, so dass er nicht viel von mir sehen konnte. Aber das bisschen, was Victor von mir zu sehen bekam, war wohl aussagekräftig genug. Er grinste mich mit seinem unwiderstehlichen Mund an.

„Schick siehst du aus.“

Ich räusperte mich und antwortete kleinlaut:

„Was willst du denn so früh hier?“

„Ich wollte dich abholen und zur Schule fahren, wenn du nichts dagegen hast. Und dein Dad auch nicht. Das war doch dein Dad, oder?“

„Ja, das war er.“

Ich nickte bekräftigend.

„Er wird schon nichts dagegen haben, denke ich.“

In Wahrheit war es meinem Vater so gut wie egal, was ich trieb, er kümmerte sich nicht gerade fürsorglich um mich. Es war wohl eher umgekehrt der Fall, seit meine Mom uns verlassen hatte. Meinem Dad war nur wichtig, dass der Haushalt gut lief, er ein warmes Abendessen bekam, ich gute Noten in der Schule schrieb und pünktlich abends zuhause war.

„Willst du jetzt gleich schon los?“

Victor nickte und wies mit dem Kopf auf die Straße.

„Ich wollte dich mit meinem Motorrad mitnehmen.

Ich schluckte. Wie aufregend! Ich war noch nie mit einem Motorrad gefahren, hätte das aber wirklich nur zu gern einmal ausprobiert!

„Aber ich bin noch gar nicht fertig. Ich war gerade unter der Dusche.“

„Das sehe ich.“

Victor wirkte ziemlich amüsiert über meinen Anblick. Zu meinen Füßen hatte sich bereits eine kleine Pfütze gebildet, und der Schaum rann mir den Kopf und die Schultern.

„Lass mich das eben auswaschen und mich anziehen. Ich beeile mich auch. Würdest du vielleicht solange auf mich warten?“

Bitte sag ja, flehte ich insgeheim. Und ich hatte Glück.

„Natürlich warte ich auf dich. Oder dachtest du, dass ich wieder verschwinde, wenn du noch nicht fertig bist?“

Victor schien die ganze Situation ziemlich lustig zu finden, und ich fühlte mich in diesem Moment wie ein Idiot, weil ich wirklich die Befürchtung gehabt hatte, dass er ohne mich und ganz alleine zur Schule fahren würde, wenn ich mich noch fertig machen musste. Wie naiv ich doch war!

„Gut, dann warte hier. Ich kann dich leider nicht rein bitten, mein Dad mag es nicht so gern, wenn fremde Leute in der Wohnung sind. Geb mir 5 Minuten!“

Und schon hatte ich die Tür zugeschlagen und war zurück ins Bad gerannt. Unterwegs rutschte ich aus und hätte mich beinahe lang gelegt, weil meine Füße immer noch ganz nass waren.

So schnell es ging duschte ich mich fertig. Um die Haare zu föhnen hatte ich nun nicht mehr genug Zeit, also flocht ich mir einen einfachen Zopf, da fiel es dann nicht so auf, wenn meine Haare noch nass waren.

In meinem Zimmer griff ich nach den erstbesten Klamotten, die ich erwischen konnte, und zog sie mir an. Es war eine Leggins in schwarzer Jeansoptik und ein überlanges Shirt. Ich zog dazu noch eine Strickjacke an, weil es mittlerweile ja schon langsam Herbst wurde und gar nicht mehr so warm draußen war. Jetzt noch in die alten und ausgelatschten Turnschuhe geschlüpft, meine Schultasche gepackt, und schon konnte es losgehen.

Atemlos erreichte ich die Haustür und grinste Victor entschuldigend an.

„Es tut mir furchtbar leid, dass du so lange warten musstest.“

Ich wollte ihm nicht sagen, wie unpassend sein Timing gewesen war, aber das hatte er ja selbst sehen können.

„Das macht nichts. Ich war ja auch ein bisschen früh dran. Sicherheitshalber. Ich wollte dich noch erwischen bevor du schon weg gewesen wärst.“

Mein Gesicht lief leicht rot an bei seinen Worten. Es schmeichelte mir ungemein, dass Victor mich hatte abholen und zur Schule fahren wollen.

„Bist du schon mal auf einem Motorrad gefahren“, wollte er von mir wissen.

Ich schüttelte stumm den Kopf. Nein, das war ich noch nicht. Mein Dad hatte immer gesagt, dass Motorrad fahren viel zu gefährlich sei, es gäbe so viele Unfälle mit diesen Fahrzeugen. Vor allem im Winter war es es besonders schlimm. Nicht, dass ich bisher jemals Gefahr gelaufen wäre mir bei einem Unfall mit einem Motorrad etwas zu tun, es hatte sich mir bisher noch nie die Gelegenheit geboten auf einem mitzufahren.

Victor stieg auf seinen Ofen und klopfte mit seiner Hand hinter sich auf den Sitz.

„Na komm schon, setz dich hin. Deine Füße kommen auf die Bügel da unten. Du kannst dich einfach an mir festhalten.“

„Brauche ich... keinen Helm...?“

Ich erinnerte mich. Gab es nicht so etwas wie eine Helmpflicht? Ich kannte mich da nicht besonders gut aus.

„Ich habe leider keinen, das muss ausnahmsweise mal so gehen. Aber keine Angst, ich bin ein guter Fahrer.“

Er zwinkerte mir zu und ich vertraute ihm. Er trug schließlich auch keinen Helm und lebte noch. Und hatte anscheinend bisher auch noch keinen größeren Unfall gebaut, denn Victor war körperlich absolut in Ordnung.

Ich zögerte zwar ein bisschen, aber ich war mir sicher, dass er schon recht haben würde. Also stieg ich hinter ihm auf das Motorrad, schlang meine Arme um seine Hüfte und stellte meine Füße ordentlich auf die dafür vorgesehenen Bügel. Wie aufregend! Es war auch gar nicht so unbequem wie ich immer gedacht hatte. Eigentlich saß man hier sehr gut, fand ich. Ich konnte es kaum noch erwarten loszufahren!

„Bist du bereit, Stella?“

„Ja, bin ich.“

„Dann Achtung, es geht los.“

Victor ließ den Motor an. Das ganze Motorrad vibrierte unter mir und irgendwie fühlte sich das verdammt gut an. Langsam fuhr er an, und dann ging es auch schon los.

Es war unglaublich! Zuerst hatte ich noch ein wenig Angst, weil Victor so ein schnelles Tempo drauf hatte, aber bald hatte ich mich daran gewöhnt und genoss den Fahrtwind, der mir um die Ohren sauste. Ich musste die Augen zusammenkneifen und konnte kaum sehen, wie die Häuser in wahnsinniger Geschwindigkeit an mir vorbei rasten.

Und ehe ich es mich versehen konnte war es auch schon vorbei. Ich wohnte ja ziemlich nah an meiner Schule, da war der Weg dorthin schon zu Fuß nicht sehr lang, und mit dem Auto oder Motorrad erst recht nicht.

Nachdem ich von Victors Gefährt abgestiegen war brachte ich erst einmal meine Kleidung in Ordnung und hoffte, dass der Fahrtwind mir meine Haare nicht zu sehr zerzaust hatte. Um mich herum beobachteten mich einige meiner Mitschüler und sie tuschelten.
 

Im Laufe des Tages wurde ich immer wieder komisch angesehen, und in der Mittagspause kam Lilly zu mir. Sie wirkte sehr aufgeregt.

„Sag mal, stimmt es, was alle sagen?“

„Was denn? Was sagen sie denn? Ich habe noch gar nichts mitbekommen. Ich habe zwar gesehen, dass die anderen reden, aber mir hat noch niemand etwas gesagt.“

„Na, das mit dir und Victor Blackraven. Stella, was hast du mir verheimlicht? Stimmt es, dass ihr beide etwas miteinander habt? Seid ihr jetzt ein Paar? Na los, red schon! Warum hast du mir kein einziges Wort erzählt? Ich dachte ich wäre deine beste Freundin!“

Ich versuchte Lilly zu beruhigen bevor sie zu sehr in Rage geriet.

„Nein, wir sind kein Paar, Victor und ich. Das hätte ich dir doch sofort erzählt! Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich dir SO ETWAS verschweigen könnte? Ich erzähle dir doch immer alles!“

Das schien Lilly zu besänftigen.

„Ich dachte ja nur“, sagte sie. „Weil alle darüber reden. Er hat dich doch am Wochenende mit auf die Party genommen. Und heute seid ihr sogar zusammen zur Schule gekommen! Was soll man da denn sonst denken?“

„Stimmt, du hast recht. Aber da ist nichts. Überhaupt nichts, ich schwöre es.“

Lilly beugte sich zu mir und grinste mich an.

„Aber du willst es, oder? Gib es zu, du bist total verknallt in ihn! Ich seh dir das doch an. Du machst dich hübsch für ihn. Und du wirst immer rot, wenn wir über ihn reden.“

„Das stimmt doch gar nicht!“

Mein Gesicht, dass sich plötzlich ganz heiß anfühlte, strafte meine Worte Lügen.

„Und ob das stimmt, Fräulein Pinocchio. Deine Nase wird schon ganz lang!“

Sie kniff mir spielerisch in den Arm.

„Au!“

„Das geschieht dir ganz recht. Also, willst du jetzt was von ihm? Oder kann ich ihn mir schnappen?“

Lilly lachte, und ich musste auch grinsen. Ich wusste ja, dass sie einen Spaß gemacht hätte. Wenn Victor sich statt für mich für sie interessiert hätte, Lilly hätte ganz bestimmt nichts dagegen gehabt, so wie ich sie kannte. Aber sie wusste, dass ich ihn gern hatte, und dass ich mehr von ihm wollte. Deswegen würde sie die Finger von ihm lassen. Der ungeschriebene Freundinnenkodex, an das sich normalerweise jedes Mädchen halten sollte.
 

Nach Schulschluss konnte ich Victor nicht finden, ich hätte mich noch gerne von ihm verabschiedet. Schade eigentlich. Aber Lilly war ja auch noch da. Wir wollten uns gerade auf den Heimweg machen, der ja fast der gleiche war. Draußen vor dem Schulgebäude wartete Victor aber schon. Total lässig stand er gegen sein Motorrad gelehnt, seine Sonnenbrille auf der Nase. Neben ihm stand Jason und sagte irgendetwas zu ihm, aber Victor schien überhaupt nicht hinzuhören. Ich konnte es zwar durch die dunklen Gläser der Sonnenbrille nicht sehen, aber sein Gesicht war mir zugewandt. Ich wollte schon klopfenden Herzens an ihm vorbeigehen, da sprach er mich.

„Wo willst du denn hin? Ich habe auf dich gewartet, weil ich dachte ich könnte dich nach Hause bringen. Hast du Lust?“

„Ich wollte eigentlich mit Lilly nach Hause gehen“, sagte ich zögernd und blickte meine Freundin an.

Mit meinem Gesichtsausdruck versuchte ich ihr zu sagen, wie gern ich mit Victor mitfahren würde, aber dass ich auch mit ihr gehen würde, wenn sie es denn wollte. Immerhin hatte ich es ihr ja versprochen, und wir taten das eigentlich jeden Tag. Aber Lilly war eine wirklich gute Freundin, sie nahm es mir nicht übel, dass ich lieber von Victor nach Hause gebracht werden wollte.

„Geh du nur! Wäre ich an deiner Stelle würde ich mir das im Leben nicht entgehen lassen! No los, husch!“

„Ich danke dir.“

Ich nahm Lilly fest in die Arme und war sehr froh eine solch verständnisvolle beste Freundin wie sie zu haben. Mehr konnte ich mir von einer Freundin doch gar nicht wünschen.

„Dann also bis morgen! Und viel Spaß euch beiden“, verabschiede sie sich von mir und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Hause.

„Kann es losgehen“, fragte Victor mich und ich nickte. Hinter seinem Rücken verdrehte Jason die Augen, verabschiedete sich dann aber ebenfalls.

„Wir sehen uns dann nachher zuhause“, sagte er zu seinem Bruder, stieg in sein schwarzes Auto und fuhr davon.
 

Die Rückfahrt war genau so toll, aber ebenfalls leider genau so kurz wie die Hinfahrt an diesem Morgen. Ich hätte Victor nur mehr als gern gebeten mit mir noch eine Weile durch die Gegend zu fahren, einfach weil ich lernte dieses Gefühl von Geschwindigkeit zu lieben. Und es war irgendwie abenteuerlich, immerhin war es das aufregendste, was ich bisher in meinem langweiligen Leben getan hatte.

Victor setzte mich vor meiner Haustür ab und ich druckste herum, weil ich noch mehr Zeit mit ihm herausschlagen wollte. Ich wollte dauernd bei ihm sein und jede einzelne Minute des Tages mit ihm verbringen. Also tat ich so als könnte ich meinen Schlüssel nicht in meiner Schultasche finden, aber ewig konnte ich dieses Spiel dann doch nicht spielen.

„Tja“, sagte ich, als ich den Schlüssel endlich in der Hand hatte.

„Tja“, antwortete mir Victor. „Du bist zuhause. Mission erfüllt.“

Ich musste kichern.

„Dann werde ich mal reingehen.“

Obwohl ich das doch überhaupt nicht wollte.

Victor legte einen Arm um meine Taille, zog mich an sich und küsste mich. Ich sog scharf die Luft ein, denn obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte als das, was Victor hier gerade tat, ging das einfach nicht.

„Bitte nicht hier. Mein Dad könnte uns sehen!“

Die Werkstatt meines Dads war ja schließlich in genau dem selben Haus in dem wir auch wohnten. Er brauchte nur um die Ecke zu kommen und würde uns dann sehen. Das wollte ich aber um keinen Preis, denn ich wusste nicht, wie Dad darauf reagieren würde, wenn mich ein gutaussehender Junge (der bestaussehendste, dem ich je begegnet war, wie ich hinzufügen musste) direkt vor unserer Haustür küssen würde. Jungs waren bei mir bisher noch nie ein Thema gewesen, mich hatte ja auch nie einer haben wollen, deswegen wusste ich noch nicht wie die Einstellung meines Dads zu diesem Thema war. Ich wollte lieber nichts riskieren.

Gott sei Dank schien Victor meine Ablehnung zu akzeptieren.

„Na gut, wenn es denn sein muss. Aber nur sehr ungern.“

Er hauchte mir noch einen kurzen Kuss auf meine Lippen, Zart wie der Flügelschlag eines Engels, dann ließ er mich wieder los. Ich hätte mich am liebsten sofort in seine Arme geworfen, um den Körperkontakt zwischen uns wieder herzustellen, aber ich musste hart bleiben. Es war nur zu unserem Besten, wie ich mir einredete.

„Ich werde dann wohl auch mal nach hause fahren.“

„Hm, okay. Hast du es eigentlich weit?“

„Nicht sehr weit. Moores Mill ist sehr klein, wie du ja sicherlich weißt.“

Ich nickte.

„Aber bevor ich fahre muss ich dich noch etwas fragen.“

„Was willst du mich denn fragen?“

Victor blickte mir ernst in die Augen, in denen ich mich hätte verlieren können. Blau wie Saphire, unergründlich wie das tiefe Meer.

„Ich wollte dich fragen, ob du nicht meine Freundin sein willst.“

„Deine WAS?!?“

Ich starrte ihn fassungslos an.

„WAS hast du mich gefragt?“

Ich fiel aus allen Wolken. Der unwahrscheinlichste aller unwahrscheinlichen Fälle war eingetroffen, und ich konnte es einfach nicht glauben. Mein Traum wurde wahr! Ein Junge hatte mich gefragt, ob ich seine Freundin sein wolle. Und dann war es ausgerechnet auch noch Victor Blackraven!

Natürlich tat ich nichts anderes als meine Zustimmung zu geben, und nun pfiff ich auf meine mir selbst auferlegte Enthaltsamkeit um meinen Dad nicht gegen uns aufzubringen. Ich drückte mich an ihn und wiederholte immer wieder:

„Ja, ja, ja!“

Victor lachte und streichelte mir sanft über den Kopf. Mhm, das fühlte sich so gut an.

„Ich bin froh, dass du das sagst. Ansonsten hättest du mir wohl das Herz gebrochen.“

In einer übertrieben theatralischen Geste hielt er sich die Brust und zwinkerte.

„Aber jetzt las ich dich wirklich allein. Ich hole dich morgen wieder ab, okay? Um viertel vor 8. Hoffentlich bist du dann schon fertig mit duschen.“

„Ja, ganz bestimmt. Ich hatte heute morgen nur nicht damit gerechnet, und du warst so früh da. Normalerweise gehe ich erst viel später los.“

„Ich wollte dich ja schließlich auch noch erwischen. Jetzt aber erst einmal bis morgen. Ich werde an dich denken.“

Ein letzter flüchtiger Kuss auf meine Wange, bei dem ich hätte dahinschmelzen können, dann stieg Victor auf sein Motorrad und fuhr davon, nicht ohne mir im Vorbeifahren noch einmal zuzuwinken.

Oh. Mein. Gott! Was war mir da nur passiert? Nichts hielt mich noch davon ab nach oben in mein Zimmer zu rennen, mir mein Handy zu schnappen und sofort Lillys Nummer zu wählen. Sie musste die Neuigkeit auf der Stelle erfahren!

Ich zählte jedes Freizeichen, bis Lilly endlich den Hörer abnahm. Es waren 4. Dann meldete sich endlich ihre Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Was gibt es, Stella? Bist du schon gut Zuhause angekommen?“

„Victor hat mich gefragt ob ich seine Freundin sein will“, schrie ich sofort in den Hörer, und Lilly antwortete mit einem Quietschen.

„Ist nicht wahr!“

„Doch!“

„Oh mein Gott!!! Warte, hast du gerade was zu tun?“

„Nein, wieso?“

„Bleib da, ich komme sofort zu dir! Und dann musst du mir alles ganz genau erzählen!“
 

Das tat ich dann auch, als Lilly keine 5 Minuten später in meinem Zimmer auf meinem Bett saß und sich mit mir freute.

Typveränderung

Mittlerweile war es schon beinahe Winter geworden, und ich war immer noch glücklich mit Victor zusammen. Wir hatten viel gemeinsam unternommen, waren in das Kino in der nächsten Stadt gegangen, denn Moores Mill war so klein, dass es hier kein eigenes Kino gab. Wir waren spazieren gegangen. Er nahm mich mit auf Touren mit seinem Motorrad. Manchmal lud er mich auch auf eine Pizza ein, obwohl er selbst nie etwas aß, was mir manchmal komisch vorkam.

„Nicht, dass du mir noch vom Fleisch fällst“, neckte ich ihn dann immer, und dann kniff sich Victor immer in den Bauchspeck, den er natürlich gar nicht hatte.

Alles lief wunderbar, es hätte gar nicht besser sein können. Ich war überglücklich mit ihm. Nur mit seinem Bruder wurde ich nie richtig warm, und das konnte manchmal schon ziemlich anstrengend sein, denn immerhin waren die beiden Zwillinge wie Pech und Schwefel und untrennbar. Ständig waren sie zusammen.

Bei mir Zuhause war Victor noch nie gewesen, ich wollte das nicht wegen meinem Dad. Und auch Victor hatte ich noch nie Zuhause besucht. Ich fand das ziemlich schade, denn ich hätte nur zu gerne gesehen wie er so lebte und wie seine Familie war. Manchmal fragte ich ihn danach, aber dann antwortete er mir immer, dass er es noch nicht für an der Zeit hielt, dass ich seine Familie kennenlernte. Das machte mich dann jedes mal traurig, weil ich dachte, dass er mich vielleicht doch nicht genug mochte um mich seinen Eltern vorzustellen, oder dass ich ihm vielleicht peinlich sei. Trotzdem änderte das absolut nichts an meiner Liebe zu ihm. Nur mein Aussehen gefiel ihm nie so richtig.

„Optisch passt du ja gar nicht zu mir.“

er meinte es nie böse, aber diese Aussage nagte trotzdem an mir. Ich wollte doch, dass er mich hübsch fand. Und so fasste ich einen Plan, den ich eines Tages in die Tat umsetzte.

Ich hatte ja während der Sommerferien gearbeitet und mir ein wenig Geld zusammen gespart. Davon würde ich mir eine Runderneuerung gönnen. Und Lilly half mir natürlich dabei. Eine neue Frisur, neue Klamotten, neue Schminke, und neues Selbstbewusstsein.
 

Eines Montags also spazierte ich hoch erhobenen Hauptes in die Schule. Victor hatte mich an diesem Tag nicht abgeholt, weil ich ihn darum gebeten hatte. Diesen Gang am ersten Tag meines neuen selbstbewussten Lebens wollte ich mit Lilly gehen.

Als ich das Schulgebäude betrat wandten sich mir die Köpfer aller anwesenden Schüler zu. Im Gegensatz zu früher, als ich dann automatisch immer angenommen hatte, dass etwas an mir nicht stimmte, gefiel es mir heute so angestarrt zu werden. Das war auch kein Wunder, denn immerhin hatte ich über das Wochenende eine sehr große Wandlung durchgemacht.

Letzte Woche noch war ich ein langweiliges Mädchen mit schulterlangen Haaren und schlabberingen unstylischen Klamotten gewesen. Und heute...

Ich war beim Frisör gewesen. Ich hatte mir die Haare schwarz färben und Extenions reinmachen lassen. Außerdem waren dazwischen nun lila farbene Strähnchen. Ich trug ein schwarzes Tank Top mit dem Aufdruck einer Band, die Victor so gerne mochte. Darunter trug ich eine schwarze Lederhose und hochhackige Schuhe. Ich hatte mit ihnen Zuhause extra laufen üben müssen, damit ich auf der Straße nicht umknickte. Und weil es draußen schon recht kalt war hatte ich noch eine lässige dünne Jacke übergezogen. An meinen Ohrläppchen hingen silberne Ohrringe mit Totenköpfen dran. Die Ohrlöcher hatte ich mir extra stechen lassen. Und natürlich war ich geschminkt, genau so wie alle anderen hippen Mädchen an meiner Schule.

Jetzt hätte ich mir gerne einen coolen Rocksong als Hintergrundmusik gewünscht, und ich stellte mir vor wie ich in Slow Motion den Gang entlanglief, während sich alle Köpfe zu mir umdrehten. Das hier war MEIN Moment, mein großer Auftritt. Hier und da vernahm ich einen beeindruckten Kommentar, und irgend jemand pfiff mir sogar nach. Aber ich blieb völlig cool und ging meinen Weg, ohne so auszusehen als kümmerten mich die Reaktionen der anderen.

Am Ende des Ganges erblickte ich Victor. Sein Bruder Jason stand wie immer neben ihm, und die beiden waren umringt von ein paar anderen Jugendlichen. Nie waren die beiden Blackraven-Brüder alleine anzutreffen.

„Hey“, sagte ich, als ich die Gruppe erreicht hatte, lehnte mein Gewicht auf das rechte Bein und hoffte, dass das eine gute Pose war.

„Hey“, antwortete Victor und blickte mich anerkennend an. „Du siehst verdammt gut aus, Stella.“

„Was ist denn mit dir passiert“, wollte ein anderer Junge, den ich nicht so genau kannte, von mir wissen.

„Ach“, antwortete ich, „ich hab mir ein bisschen die Haare machen lassen.“

„Ein bisschen? Du siehst aus wie völlig ausgewechselt.“

„Ich finde, dass du sehr gut aussiehst“, sagte Victor, zog mich in seine Arme und küsste mich.

Ich war froh, dass mein Umstyling etwas gebracht hatte. Es schien allen zu gefallen, nur Crystal nicht, die sich gerade durch die Menge schob um zu sehen, was es denn da so Interessantes zu sehen gab.

Erst starrte sie mich erstaunt an, dann wechselte ihr Gesichtsausdruck zu Abneigung. Angewidert sagte sie:

„Wie siehst du denn aus? Wie ein Freak. Ich würde ja sterben, wenn ich mich in solche Klamotten quetschen müsste.“

Diese blöde Kuh. Aber was sie konnte, konnte ich schon lange!

„Na ja, dich würde auch niemand in solchen Sachen sehen wollen. Wurstpellen kann man sich in jedem Supermarkt anschauen, da braucht man nicht noch eine in der Schule.“

Empört blies Crystal die Backen auf und funkelte mich wutentbrannt an, sagte aber erst mal nichts weiter, sondern stapfte wütend davon, um bei ihren Freundinnen über mich zu lästern. Und wenn schon, auf so eine Tusse musste ich nun wirklich nichts geben. Mir reichte Victors anerkennender Blick voll und ganz aus um mich selbstbewusst zu fühlen.
 

Ab diesem Tag wurde in der Schule alles anders. Ich hatte einen Freund, ich hatte Selbstbewusstsein, und ich sah endlich gut aus. Ich fing an Freundschaften zu schließen, und alles war gut. Für Lilly hatte ich nun nicht mehr ganz so viel Zeit, aber wir hingen immer noch aneinander wie die Kletten, wenn ich nicht gerade bei meinem Schatz rum hing.

Auf dem Winterball

Es war Mitte Dezember und der Winterball unserer Schule stand an. Natürlich hatte Victor mich eingeladen, und auch Lilly hatte ein Date für diesen Abend. Ich hatte wochenlang nach einem passenden Kleid gesucht, das ich würde anziehen können. Ewig lang habe ich die Läden durchstöbert, Kataloge durchblättert und mich durch diverse Internetshops gewühlt, bis ich es schließlich gefunden hatte. Es war nicht gerade billig, aber ich hatte noch etwas Geld von meinem Sommerlohn übrig, und Victor gab mir noch etwas dazu.

Ich war zu Lilly gegangen um mich zurecht zu machen, mir dabei helfen zu lassen und auch meiner Freundin zu helfen. Wir hatten uns schon mittags die Haare gemacht. Lilly wollte ihre Haare geglättet haben, meine wurden erst auf große Lockenwickler gedreht und dann später zu einer schönen Hochsteckfrisur aufgetürmt.

„Du wirst aussehen wie eine Prinzessin, Stella!“

„Na, das hoffe ich doch“, kicherte ich als Antwort.

Bei der Schminke trug ich viel dicker auf als gewöhnlich. Lilly schminkte mir Smokey Eyes. Sie hatte sich bei Youtube Videos dazu angesehen, damit sie wusste wie das ging. Und es klappte auch ziemlich gut. Meine Lippen wurden tiefrot, so rot wie Blut.

„Ich liebe den Schneewittchen.Look“, sagte Lilly und betrachtete mich zufrieden.

„Jetzt fehlen nur noch die Kleider.“

Diese lagen schon ausgebreitet auf Lillys Bett, bereit dazu angezogen zu werden.

Lillys Kleid war dunkelgrün, ging ihr bis zu den Knien und hatte vorne eine große Schleife an der Taille.

„Du siehst so toll aus“, rief ich begeistert, als ich Lilly fertig in ihrem Zimmer stehen sah.

Auch ich schlüpfte in mein Kleid. Ich hatte es im Internet gesehen und mich sofort darin verliebt. Ich hatte auf der stelle gewusst, dass ich es haben musste. Entweder dieses Kleid oder gar keines.

Es war schwarz und schulterfrei. Der Tellerrock ging mir bis knapp über die Knie, und darunter ragten die Spitzen eines Unterrockes aus Tüll hervor. Der ganze Rock war mit schwarzen Strasssteinen besetzt, die funkelten wie lauter Sterne am Nachthimmel.

„Das ist ein Traum“, rief Lilly aus, und ich gab ihr recht.

Das Kleid war nicht nur schön, es war auch sehr bequem. Nun fehlten nur noch die roten Pumps, um die Farbe des Lippenstifts aufzugreifen, ein schwarzes Schultertuch gegen die schlimmste Kälte, und ein schwarzes Handtäschchen aus Satin.

Lilly und ich drehten uns beide abwechselnd vor ihrem Spiegel hin und her und waren mit uns und der Welt zufrieden.

„Also, wenn unsere Freunde uns jetzt nicht absolut toll finden, dass müssen sie blind sein.“

Lillys Mutter fuhr uns zur schule, wir sollten mit unseren hochhackigen Schuhen nicht durch die Gegend laufen müssen, hatte sie behauptet. Unsere Füße würden uns schon früh genug weh tun.

Ich verstand was sie meinte, meine Füße schmerzten ja jetzt schon, obwohl ich mir extra Geleinlagen gekauft hatte. Ich würde heute oft und lange auf einem Stuhl sitzen müssen, befürchtete ich. Mir fehlte einfach noch die richtige Übung, um es in hohen Schuhen lange auszuhalten.
 

Der Ball fand in unserer Turnhalle statt, die ganz in weiß geschmückt war. Ballons, Luftschlangen, glitzernde Schneeflocken, die von der Decke hingen, es war einfach wunderschön.

„Wo ist Henry?“

Henry war Lillys aktueller Freund. Ich fand ihn zwar furchtbar langweilig, aber im Grunde war er ganz in Ordnung. Und man konnte ja schließlich nicht jeden mögen.

Ich erstrahlte, als ich Victor nahe beim Eingang stehen sah, neben ihm, wie üblich, sein Bruder Jason. Dieser jedoch schien ohne Begleitung zu sein, und ich fragte mich was er dann überhaupt hier auf dem Ball machte. Aber die beiden Brüder waren ständig zusammen, vielleicht war das einfach nur normal.

Endlich hatte auch Victor mich gesehen und kam lächelnd auf mich zu.

2Du siehst wunderschön aus, wie ein schwarzer Engel.“

„Vielen dank“, sagte ich, schlang meine Arme um seinen Hals und küsste ihn innig.

Ich hätte ihn wahrscheinlich stundenlang küssen können, wie immer. Denn ich liebte es einfach das mit ihm zu tun.

„Wartest du schon lange auf mich?“

„Es geht. Das macht aber nichts. Willst du dich erst einmal umsehen und unsere Freunde begrüßen?“

Ich nickte und ließ mich von Victor von einem Grüppchen Schüler zum nächsten führen, um mich zuerst ein wenig zu unterhalten, bevor wir richtig anfingen zu feiern.

Jason folgte uns die ganze Zeit mit ein bisschen Abstand. Man hätte meinen können, dass er heute den Bodyguard spielte. Aber so wirkte er eigentlich immer, er sprach so selten.

„Was ist mit deinem Bruder eigentlich los?“

Ich hatte Victor bisher nie danach gefragt, es war mir immer unangenehm gewesen. Und ich wollte nicht so wirken als würde ich Jason wie einen totalen Freak darstellen. Aber langsam konnte ich meine Neugierde nicht mehr im Zaum halten. Jason benahm sich immer ganz merkwürdig, nicht so wie man es von einem Jungen erwarten würde, der an der ganzen schule total beliebt war. Wieso er das überhaupt war, war mir immer noch ein Rätsel. Normalerweise wurden die Schüler, die immer so ruhig waren, doch immer an das untere ende der Rangordnung geschubst, weil sie niemanden an sich ran ließen.

Zur Antwort zuckte Victor nur mit den Schultern.

„Er ist halt immer so.“

„Ja, aber wieso denn? Das muss doch einen Grund haben.“

Ich ließ nicht locker, ich wollte es jetzt wissen. Nicht unbedingt weil Victors Bruder mir irgendwie wichtig war. Aber er gehörte eben zu Victor dazu, und ich verbrachte sehr viel Zeit mit allen beiden. Hatte ich da nicht auch das Recht zu erfahren was mit Jason nicht stimmte?

Victor beugte sich zu mir hinab und sagte mit gedämpfter Stimme, so dass sein Bruder ihn nicht hören konnte.

„Er ist unglücklich verliebt.“

„Ehrlich?“

Ich war ganz erstaunt. Ehrlich gesagt hatte ich große Mühe damit mir vorzustellen, dass Jason Gefühle haben konnte. Aber das war eigentlich albern. Natürlich hatte jeder Mensch Gefühle. Nur bei manchen konnte man es sich eben nur sehr viel schwerer vorstellen als bei anderen Personen.

„Und ich wen ist er verliebt? Na los, erzähl schon! Du hast mich jetzt ganz neugierig gemacht.“

Victor lachte kehlig über meine Antwort.

„Ihr Mädchen seid doch alle gleich. Nein, ich meine das nicht böse, du brauchst gar nicht so das Gesicht zu verziehen. Aber ihr wollt immer alles ganz genau wissen und in den Leben anderer Leute rumschnüffeln.“

Ich schob meine Unterlippe vor und schmollte. Ich wusste, dass das bei Victor immer zog.

„Oh nein, bitte nicht die Schnute! Na gut, ich kapituliere. Er ist in ein Mädchen verliebt, dass er schon sehr sehr lange kennt.“

„Wie lange denn schon? Schon seit seiner Kindheit?“

„Nicht ganz, aber das kommt der Wahrheit vielleicht am nächsten.“

„Und wieso sagt er ihr das nicht? Kann sie ihn vielleicht nicht leiden? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“

Ich stieß meinem Schatz in die Seite und verlangte, dass er mehr Informationen über seinen Bruder von sich preis gab.

„Na ja, das ist immer so eine on-off-Beziehung, sozusagen. Es ist schwierig zu erklären. Im Moment weiß das Mädchen noch gar nicht, dass sie ihn eigentlich liebt, denn das tut sie, das weiß ich ganz genau. Aber Jason...“

Victor seufzte.

„Jason hat einfach aufgegeben. Er hat es in der Vergangenheit schon so oft versucht, aber es ist immer irgend etwas schief gegangen. Und nun, na ja, er hat eben keine Hoffnung mehr, dass das jemals noch etwas mit ihnen beiden wird.“

„Das ist aber traurig.“

Jetzt konnte ich schon viel besser verstehen, warum Jason immer so einen mürrischen Eindruck auf mich machte.

„Und wer ist dieses Mädchen?“

Victor verzog sein Gesicht und biss sich auf die Unterlippe. Der sonst so fröhlich wirkende Junge war nun auf einmal ganz betreten.

„Das kann ich dir nicht sagen.“

„Wieso nicht? Kenne ich sie etwa?“

„Nein, das nicht.“

„Du verschweigst mir doch etwas....“

„Nein, wirklich nicht. Ich kenne sie ja selber nicht. Jason hat mir nie gesagt um wen es sich handelt. Ich habe das Mädchen auch noch nie gesehen. Ich würd es dir ja erzählen, wenn ich es wüsste. Aber ich weiß es leider nicht.“

Ich glaubte Victor zwar nicht so ganz, denn so wie er aussah verschwieg er mir da etwas. Aber es war nichts mehr aus ihm herauszubekommen, so sehr ich ihm auch zusetzte, ihn bat mir etwas mehr zu verraten. Selbst die Nummer, dass ich beinahe wütend wurde und ihn 5 Minuten lang mit eisigem Schweigen strafte zog bei ihm nicht. Nun, ich würde es hoffentlich doch irgendwann einmal herausfinden.

Aber bis dahin wollte ich mein Zusammen sein mit Victor genießen, ohne dass sich etwas zwischen uns stellen sollte.

Wir hatten so furchtbar viel Spaß an diesem Abend. Wir tranken (natürlich) alkoholfreie Bowle, wir tanzten und zwischendurch quatschten wir mit unseren Freunden, denn Victors Freunde waren mittlerweile auch die meinen geworden. Manchmal gab es Momente, in denen mir so richtig bewusst wurde, was für ein Glück ich eigentlich gehabt hatte, dass sich alles so zum Guten gewendet hatte.

Victor entschuldigte sich irgendwann, weil er draußen vor der Turnhalle eine Zigarette rauchen wollte.

„Bleib du ruhig hier drin, Stella. Draußen ist es viel zu kalt. Ich will ja schließlich nicht, dass du dich erkältest.“

Das war so schrecklich lieb von ihm! Auch wenn ich es ziemlich eklig fand, wenn er mich küsste, nachdem er eine Zigarette geraucht hatte. Ich selber rauchte nicht. Ich hatte es einmal versucht, weil ich genau so cool sein wollte wie die anderen aus der Gruppe, aber ich hatte ganz schrecklich husten müssen, und alle hatten mich ausgelacht. Das war mir vielleicht peinlich gewesen! Und geschmeckt hatte das absolut grässlich. Ich konnte nicht verstehen, wie man freiwillig rauchen konnte. Aber ich konnte es Victor ja schließlich nicht verbieten, und solange er sich hinterher ein Kaugummi in den Mund schob konnte ich noch damit leben. Aber selber rauchen, nein, niemals! So verzweifelt zu sein auf cool zu machen konnte ich gar nicht sein.

Ich blickte Victor noch nach, wie er sich einen seiner besten Freunde schnappte und nach draußen verschwand. Ich nutze die Gelegenheit sofort mich auf einen der freien Stühle zu setzen. Lillys Mutter hatte wirklich recht behalten, meine Füße schmerzten als hätte ich ein Fußbad in flüssiger Lava genommen.

Eine Weile lang beobachtete ich meine Mitschüler, was sie alle so trieben. Weiter hinten auf der Tanzfläche konnte ich Lilly mit ihrem Freund sehen, wie die beiden versuchten zu tanzen und sich gleichzeitig zu küssen, was die beide ordentlich aus dem Takt brachte. Ich freute mich sehr für Lilly, und das beste an der Sache war, dass wir nun beide miteinander über unsere Beziehungen quatschen konnten, wie glücklich wir waren und wie sehr wir unsere Freunde liebten.

Plötzlich schob sich mir ein dunkler Schatten in mein Blickfeld.

Ich schaute hoch und sah direkt in Jasons blaue Augen, die ebenso sehr Saphiren glichen wie die seines Bruders. Das war ja auch kein Wunder, denn schließlich waren die beiden Zwillinge. Und trotzdem hatten sich die beiden völlig unterschiedlich entwickelt.

„Was ist los?“

Ich versuchte zu lächeln, aber der Kerl war mir trotz der ganzen Zeit, die ich schon mit ihm verbracht hatte, immer noch ein wenig unheimlich.

Zunächst starrte mich Jason nur finster an, aber dann hielt er mir seine Hand entgegen und fragte:

„Würdest du mit mir tanzen?“

Ich riss erstaunt meine grünen Augen auf.

„Du willst mit MIR tanzen?“

Jason nickte stumm.

Ich zuckte mit den Schultern. Wieso nicht? Vielleicht würde das ja helfen, dass wir uns ein bisschen besser verstehen würden. Also nahm ich seine Hand und ging mit ihm auf die Tanzfläche, obwohl meine Füße so sehr weh taten. Auf einen Tanz mehr oder weniger würde es wohl kaum noch ankommen. Zuhause würde ich meine Füße in eine Wanne mit eisig kaltem Wasser stellen, so viel war schon mal klar.

Aus der Anlage ertönte ein langsames Lied. Es war irgend etwas von David Bowie, glaubte ich, aber sicher war ich mir da nicht. Es musste schon ein ziemlich altes Lied sein, in den Charts hatte ich es in den letzten Jahren zumindest nicht gehört. Aber schlimm war das nicht. Es klang trotzdem ganz schön.

Jason legte seine rechte Hand um meine Taille und nahm mit der linken meine rechte Hand. Meine linke legte ich auf seinen rechten Arm. So hatte ich noch nie getanzt, aber ich kannte das aus Filmen. Deswegen wusste ich, wie meine Haltung sein musste.

Die Schritte kannte ich zwar nicht, aber es ging schon irgendwie. Zuerst starrte ich auf Jasons Füße, damit ich wusste, wo ich meine eigenen bei den einzelnen Schritten hinsetzen musste.

„Du brauchst nicht da unten hinzugucken. Es ist egal, wo du deine Füße hinsetzt, sofern du mir nicht auf die meinen trittst. Mach dir einfach keine Gedanken, lass dich von mir führen.“

Und ich tat, was Jason mir befahl. Er führte mich ziemlich gut, es machte mir unheimlich viel Spaß mit ihm zu tanzen.

„Du tanzt aber sehr gut. Hast du irgendwann mal Unterricht genommen?“

Ich wusste ja so gut wie gar nichts über den Bruder meines Freundes, deswegen versuchte ich ihn ein wenig besser kennenzulernen.

„Ja, hatte ich. Aber das ist schon ewig lange her. Ich habe schon ziemlich lange nicht mehr getanzt.“

„aber du kannst es immer noch sehr gut“, sagte ich anerkennend.“Und immerhin sehr viel besser als ich.“

„Ach, das lernst du bestimmt noch, falls du das noch öfter machst.“

„Hast du denn früher viel getanzt“, wollte ich von Jason wissen.

Dieser schien kurz zu überlegen, dann antwortete er mir: „Ja, früher. Aber wie ich schon gesagt habe, ich habe schon sehr lange nicht mehr getanzt.“

„Wieso nicht? Hattest du nie Lust dazu?“

Jason schnaubte nur und zeigte mir damit, dass er anscheinend nicht weiter über dieses Thema zu sprechen gedachte.

Ich versank ganz in der Musik, und von meinem Tanzpartner so sanft über die Tanzfläche geführt zu werden ließ mich in eine leichte Art Trance geraten. Es fühlte sich sehr angenehm an.

Ich blickte Jason ins Gesicht und lächelte vorsichtig. Er schien ja doch kein ganz so schlimmer Miesepeter zu sein, wie ich es immer gedacht hatte.

Irgendwann bemerkte ich, dass er seine Lippen bewegte. Er sagte etwas, aber so leise, dass ich es zunächst nicht verstehen konnte. Fragend blickte ich ihn an, aber Jason achtete überhaupt nicht auf mich. Er blickte mich zwar an, schien aber durch mich hindurchzusehen, als wäre ich überhaupt nicht da. Als wäre alles um uns herum für ihn in diesem Augenblick überhaupt nicht existent. Aber er tanzte immer noch unverändert mit mir zu diesem Song, den ich nicht kannte.

Die Worte, die er beinahe lautlos hauchte waren in irgendeiner merkwürdigen Sprache, die ich nicht verstand. Ich hatte auch keine Ahnung, was das sein könnte.

„Jason? Jason, ist alles ok mit dir?“

Ich schüttelte vorsichtig an seinem Arm, aber er reagierte nicht.

„Jason?“

Ich versuchte es noch einmal, diesmal aber mit etwas mehr Nachdruck.

Das schien ihn zurück in die Realität zu befördern.

„Was war denn gerade los mit dir?“

Ich fand das sehr komisch von ihm und war verwirrt. Das bisschen Verbundenheit zu ihm, die ich gerade noch verspürt hatte, war einem merkwürdigen Gefühl gewichen. Ich wollte nichts mehr als von ihm weg zu kommen, doch er hielt mich immer noch fest.

Immer noch ein wenig gedankenverloren blickte er nun an mir vorbei auf einen unbestimmten Punkt hinter mir.

„Tut mir leid“, murmelte er. „Ich war kurz in Gedanken.“

„Jason“, flehte ich, „lass mich bitte los, ich möchte nicht mehr tanzen.“

Er reagierte nicht.

„Jason, lass mich los!“

Ich war mittlerweile so laut geworden, dass sich schon die ersten Leute zu uns umdrehten, weil sie unbedingt wissen wollten, was denn da wohl los war.

„Jason, bitte...“

Meine Wangen wurden ganz warm und ich spürte wie mir heiße Tränen in die Augen stiegen. Nicht mehr lange und ich würde hier vor allen anderen losheulen, und das wollte ich nun wirklich nicht.

Da Jason nicht auf mich reagierte riss ich mich einfach von ihm los und nahm ein paar Schritte Abstand.

„Mach das nie wieder“, rief ich laut, machte auf dem Absatz kehrt und flüchtete auf die Mädchentoilette.
 

Dort stellte ich mich vor den Spiegel und betrachtete mich. Mein Gesicht war ganz rot angelaufen, genau so wie meine Augen. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür zu dem Raum geöffnet und Lilly stürmte hinein.

„Um Gottes willen, Stella, was war denn da eben los mit euch?“

Ich warf mich stürmisch in die Arme meiner Freundin und begann zu schluchzen. Ich war einfach noch so erschrocken, ich musste unter Schock stehen. Es war zwar nichts passiert, aber Jason hatte mir so eine unheimlich große Angst eingejagt!

„Ich weiß auch nicht, was plötzlich mit ihm los war“, schluchzte ich. „Er hat sich auf einmal ganz komisch benommen...“

„Wieso? Was hat er denn gemacht“, wollte Lilly wissen.

„Um ehrlich zu sein.... Ich kann es mir ja selber nicht erklären. Ich kann es nicht verstehen.“

„Ja, aber was hat er denn jetzt gemacht?“

Ich war total durcheinander, aber Lilly brachte mich dazu alles noch einmal zu erzählen, was da vorhin zwischen Jason und mir passiert war.

„Ich hab erst in der Ecke hinten gesessen, weil mir die Füße so weh getan haben. Diese Schuhe sind echt furchtbar. Wenn sie nur nicht so gut aussehen würden...“

Lilly nickte verständnisvoll. Sie kannte dieses Problem selber nur zu gut.

„Und plötzlich war Jason da. Victor war kurz nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen, und dann kam sein Bruder und hat mich gefragt, ob ich mit ihm tanzen wolle. Ich dachte, ok, kann ich ja mal machen.“

„Ich dachte immer du magst Jason nicht so besonders.“

„Er ist halt ein bisschen komisch, weil er immer so ruhig ist, ja. Aber ich hab ja viel mit ihm zu tun wegen Victor. Du weißt ja, dass die beiden dauernd wie die Kletten aneinander hängen. Und da dachte ich mir, dass ich ja mal versuchen könnte mich gut mit ihm zu verstehen. Das schadet bestimmt nichts. Wir haben dann also getanzt, und irgendwann hat er so komisch geguckt und angefangen irgendwelche Worte zu sagen. In einer anderen Sprache, und ich habe übrhaupt nicht verstanden, was er da gesagt hat! Er hat durch mich hindurchgeschaut, als wäre ich gar nicht da. Oder vielmehr als wäre er in einer völlig anderen Welt.“

„Und was ist dann passiert“, hakte Lilly nach.

„Es wurde mir einfach viel zu unheimlich, und dann habe ich ihn gebeten, dass er mich doch bitte loslassen soll, aber das hat er nicht. Ich glaube er hat gar nicht mitbekommen, was ich von ihm wollte. Da hab ich Panik gekriegt. Das war so unheimlich, Lilly!“

Meine Freundin legte einen Arm um mich und tröstete mich.

„Es ist ja nichts passiert.“

„Aber ich mag jetzt gar nicht mehr rausgehen. Ich weiß gar nicht wie ich Jason gegenüber reagieren soll.“

Lilly winkte ab.

„Mach dir da mal keine Gedanken. Jason ist nämlich gegangen. Er hat so verwirrt ausgesehen irgendwie. Na ja, als du gegangen bist. Und dann hat er die Turnhalle verlassen. Vielleicht ist er ja nach Hause gefahren. Aber für dich gibt es absolut keinen Grund den Rest des Abends hier auf dem Klo zu verbringen. Ich bleibe bei dir und passe auf dich auf, ok? Mach dir keinen Kopf.“

„Aber das versaut dir doch bestimmt den Abend! Das geht nicht. Was ist denn mit deinem Date?“

„Ach der. Der kann sich auch mal ein bisschen alleine unterhalten.“

Lilly hielt nichts davon, wenn ein Paar wie eine Klette aneinander hing. Ich tat das zwar mit Victor, und sie nahm das natürlich auch hin, aber selber würde sich Lilly nie so benehmen. Sie war einfach unabhängig, und das mussten ihre festen Freunde akzeptieren, wenn sie mit der Rothaarigen zusammen sein wollten.

„Na los, lass uns wieder raus gehen.“

Lilly nahm mich am Arm. Aber bevor wir die Toilette verließen rieb sie mir noch einmal über die Wange.

„Deine Schminke war ein bisschen verschmiert. Das kommt davon, wenn man weint.“

Sie lächelte mich fröhlich an und zog mich wieder hinaus in den großen Raum der Turnhalle. Wieder einmal mehr war ich froh, dass ich sie als meine beste Freundin hatte. Sie tat mir immer so gut, und niemand konnte so gut trösten und beraten wie sie!
 

Lilly hatte ihrem Freund bescheid gegeben, dass sie jetzt ein bisschen bei mir bleiben wolle, und wir setzten uns gemeinsam auf die Stühle, die extra für die Schüler waren, die schon zu müde waren, oder die ebenso unbequeme Schuhe hatten wie ich. Warum konnten Schuhe denn nicht schön UND bequem sein? So etwas sollte endlich mal jemand erfinden, dachte ich bei mir.

„Kommt Victor gar nicht wieder? Der ist aber ganz schön lange rauchen.“

Ich wurde langsam missmutig, weil ich es nicht leiden konnte, wenn mein Freund mich so lange alleine ließ. Und vor allem jetzt, wo ich mich bei ihm aus jammern wollte. Ich wusste nur nicht so recht für wen Victor Partei ergreifen würde, wenn ich ihn vor die Wahl stellen würde. Ich war zwar immerhin seine feste Freundin, aber Jason war schließlich sein Zwillingsbruder. Ich wüsste zumindest nicht für wen ich mich in so einer Situation entscheiden sollte.

„Da ist er ja!“

Lilly zeigte auf die Eingangstür, wo ich sofort den hellen Haarschopf meines Schatzes entdeckte.

„Gott sei Dank“, murmelte ich. „Ich dachte schon, dass er gar nicht mehr wieder kommt.“

Victor sah sich suchend um, dann entdeckte er mich und kam auf mich zu. Ich stand auf und ging ihm entgegen, um ihm einen Kuss zu geben.

„Ich dachte schon du hättest mich vergessen“, sagte ich und musste lächeln.

Ich musste immer lächeln, wenn ich meinen Freund ansah.

„Weißt du eigentlich wie sehr ich dich liebe?“

Victor lachte leise bei meiner Frage.

„Ich denke doch mal, dass du mich sehr liebst.“

„Da hast du recht. Und wie sehr liebst du mich? Na?“

Victor tat so als müsse er lange überlegen.

„Ich glaube“, sagte er schließlich und rieb sich nachdenklich über das Kinn, „dass ich dich mindestens genau so sehr liebe.“

„Na dann ist es ja gut“, rief ich bis über das ganze Gesicht strahlend.

„Sag mal, was war denn vorhin los? Meine Jungs“, er wies auf seine Freunde beim Eingang der Turnhalle, „habe mir erzählt, dass du Probleme hattest. Ist etwas passiert?“

Ich verzog das Gesicht, denn eigentlich wollte ich die Sache am liebsten vergessen. Es war doch eh nichts passiert. Aber Victor blickte so besorgt drein, da wollte ich es ihm doch erzählen.

„E war nichts Schlimmes. Ich hab mit deinem Bruder getanzt. Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm tanzen würde, und dann habe ich dem zugestimmt. Zuerst war auch alles in Ordnung und wir haben uns gut verstanden. Aber dann wurde er auf einmal so komisch, sein Blick war ganz glasig, und es schien als wäre er in seinen Gedanken ganz woanders. Und dann hat er so komische Sachen gesagt...“

„Was hat er denn gesagt?“

„Ich weiß es nicht, ich konnte es nicht verstehen. Es war in irgendeiner anderen Sprache, die ich nicht kannte. Es ist eigentlich nichts passiert, aber ich war einfach nur so erschrocken, so kenne ich Jason überhaupt nicht. Da hab ich ein bisschen Angst bekommen, aber jetzt ist alles wieder gut.“

„Hm...“

Victor blickte mich komisch an und dachte anscheinend über irgendetwas nach. Ich hätte gerne alles Geld, das ich hatte, für seine Gedanken gegeben.

„Was ist denn mit Jason? Ich habe ihn danach nicht wieder gesehen. Ist mit ihm alles in Ordnung?“

„Das weiß ich nicht...“

Victor schien nun leicht abwesend zu sein. Ich vermutete mal stark, dass er jetzt an seinen Bruder dachte, was mit ihm wohl los war.

„Vielleicht sollte ich gehen und ihn suchen.“

„Hat er so etwas öfter?“

„Ja, manchmal. Aber normalerweise sieht das niemand. Er möchte das auch nicht.“

Ich nickte verständnisvoll.

„Das kann ich verstehen. Das ist ja auch irgendwie gruselig, wenn er so ist.“

Mein Schatz schob mich von sich, hielt mich aber immer noch an den nackten Armen fest. Ich spürte die Kühle seiner Hände auf meiner Haut. Dass er nicht fror, das wunderte mich immer wieder. Victor war immer so kalt...

„Ich werde mal nach ihm sehen und ihn fragen was los war mit ihm. Bleibst du hier?“

„Natürlich werde ich das. Ich werde auf dich warten, bis du wieder da bist.“

„Und mach mir keinen Blödsinn, ja? Kein Flirten mit anderen Jungs.“

Ich wusste, dass er das scherzhaft gemeint hatte. Ich würde im leben nicht auf die Idee kommen meinen Freund, den ich über alles liebte, zu betrügen! Nicht einmal in Gedanken würde ich es wagen, dazu liebte ich ihn einfach viel zu sehr.

„Im Leben nicht“, antwortete ich. „Es sei denn du kommst niemals wieder. Schließlich will ich nicht für den Rest meines Lebens alleine bleiben. Aber ich werde dich stets in guter Erinnerung behalten.“

„Du bist ein Scherzkeks, Stella.“

Er gab mir noch einen Kuss auf die Stirn, dann winkte er seinen Freunden und zusammen zogen sie los um nach Jason zu sehen.

Confessions of a Vampire

Ich blieb auf meinem Stuhl sitzen und wartete. Und wartete. Ach ja, und ich wartete. Victor kam einfach nicht zurück. Ob etwas Schlimmes passiert war? Oder vielleicht konnten sie Jason auch einfach nur nicht finden. Mein Kopf malte sich die unterschiedlichsten Bilder aus, hunderte mögliche Szenarien gingen mir durch den Kopf, angefangen dabei, dass einer der Jungs draußen womöglich von einem Auto überfahren war bis hin zu Crystal, die sich an meinen Freund ran machte und versuchte ihn mir auszuspannen, und Victor das mit sich machen ließ. Ich wollte gerade schon der Eifersucht in mir nachgeben und wütend werden, da sah ich Crystal am anderen Ende des Raumes stehen. Wenigstens diese eine Gefahr war gebannt.

Lilly war bereits von ihrer Mutter abgeholt worden. Meine beste Freundin war müde gewesen und hatte keine Lust mehr gehabt. Natürlich hatte sie mich gefragt, ob sie mich nicht noch nach Hause bringen sollten, aber ich wollte lieber auf Victor warten, er würde mich schon heim bringen später. Jedenfalls dachte ich das. Doch je mehr Zeit verstrich, desto unsicherer wurde ich mir dessen. Nicht, dass da wirklich noch etwas Ernstes passiert war! Das wäre nicht auszudenken.

Ich wartete eine halbe Stunde. Ich wartete noch eine halbe Stunde. Hin und wieder holte ich mir noch etwas zu trinken oder unterhielt mich mit dem einen oder anderen Mädchen, das keine totale Vollzicke war. (Von denen gab es bei uns an der Schule leider nur ziemlich wenige.) Aber immer hielt ich mich nahe bei der Tür auf und hatte stets mindestens ein Auge auf den Eingang gerichtet, aber nichts tat sich. Kein Victor Blackraven. Kein Jason. Nicht einmal einer ihrer Freunde, mit denen Victor losgegangen war, kam zurück. Mittlerweile machte ich mir wirklich große Sorgen.

Ich konnte nicht einfach tatenlos hier sitzen bleiben und zusehen wie der Sekundenzeiger auf der großen Uhr eine Runde nach der anderen drehte.
 

Ich ging zur Garderobe, schnappte mir mein dünnes Schultertuch und machte mich auf nach draußen. Ich war fest entschlossen die Jungs suchen zu gehen!

Draußen schlug mir beißende Kälte entgegen, die mich sofort zittern ließ und mir die Tränen in die Augen trieb. Ich hätte mir eine warme Jacke mitnehmen sollen...

Ein eiskalter Wind wehte mir die Röcke um die Beine, die mit nichts weiter als einer dünnen Seidenstrumpfhose bedeckt waren. Es würde auch nicht lange dauern und die Kälte würde durch meine Schuhe kriechen und mir meine Zehen zu tauben Eisklumpen werden lassen.

Wenn ich nur wüsste ich welche Richtung ich gehen sollte! Zuerst versuchte ich es mit den Plätzen, an denen wir uns am liebsten während unserer Pausen aufhielten, aber ich konnte niemanden entdecken.

Am Himmel kam der Mond hinter ein paar Wolken hervor und ließ den Asphalt, auf dem ich leif, hell erstrahlen. Eigentlich war es eine sehr schöne Nacht, viele Sterne schienen am Himmel. Wenn es nur nicht so kalt gewesen wäre! Ich zog mir das Tuch fester um die Schultern und betete, dass ich die Jungs bald finden würde, damit ich schnell wieder in einen warmen Raum kommen konnte.

Ich vernahm plötzlich ein Rauschen und blickte hinüber zu dem Wald, der ein paar hundert Meter hinter unserem Schulgebäude begann. Ein Vogelschwarm stieg zwischen den Baumwipfeln auf, als hätte irgend etwas die Tiere plötzlich aufgeschreckt. Natürlich konnte es irgendein Waldtier gewesen sein. Ein Fuchs vielleicht, oder auch eine Eule. Aber mein gefühl sagte mir etwas anderes...

Ganz automatisch beschleunigte ich meine Schritte und kam dem Wald immer näher. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich dort mitten zwischen den Bäumen Antworten finden würde, und hoffentlich auch endlich meinen Victor.
 

Es war ganz schön schwer mit den spitzen Absätzen meiner Schuhe durch das Laub zu laufen. Immer wieder knickte ich um, oder mein Absatz bohrte sich in die Erde, die noch nicht überall gefroren war. Irgendwann war es mir dann zu viel und ich zog die Schuhe kurzerhand einfach aus. Ich trug sie in der Hand und lief barfuß weiter. Ich merkte nicht wie kalt der Boden war, zu sehr war ich in Gedanken damit beschäftigt Victor zu finden. Wenn ihm nun wirklich etwas Schlimmes passiert war? Mittlerweile war ich mir völlig sicher, dass es so sein musste, denn sonst hätte er mich doch niemals so lange alleine gelassen, wo er mir doch versprochen hatte bald wieder zurück zu sein?

Während ich lief achtete ich auf jedes Geräusch um mich herum, aber abgesehen von dem Rauschen des Windes durch die blattlosen Äste, die wie völlig verzerrte Gerippe gegen das helle Licht des Mondes aussahen, und meinen eigenen Schritten im am Boden vermodernden Laub konnte ich nichts weiter hören als hier und da die vereinzelten Rufe einer Eule.

Und dann blieb ich plötzlich stehen. Ich hatte das Gefühl, dass mich irgendjemand..... oder irgendetwas..... beobachtete. Hastig wandte ich den Blick in alle Richtungen, konnte aber weder etwas hören oder sehen. Ich spürte nur diese merkwürdige drohend wirkende Präsenz. Die Haut in meinem Nacken kribbelte, und ich schüttelte mich, als ob ich dieses unangenehme Gefühl so loswerden könnte.

„Victor...?“

Meine Stimme war ganz leise. Ich wagte es gar nicht irgend etwas laut zu sagen. Warum ich dann trotzdem Victors Namen rief wusste ich überhaupt nicht so richtig. Ich wünschte mir, dass er jetzt hier wäre um mir die angst zu nehmen und mich zu beschützen.

Ich bildete mir plötzlich ein rechts von mir ein glühendes Augenpaar zu sehen, dass mir nachschaute und mir folgte, wo immer ich mich auch hin wandte. Verdammt, war das unheimlich!

Ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper und hielt mich selber ganz fest, ohne es wirklich zu merken. Dafür spürte ich, wie eine merkwürdige Kälte in meinen Körper kroch. Ich schob es auf die eisigen Temperaturen im Wald. Immerhin war es Dezember und schon fast Nacht. Das war wohl kaum ein Wetter um in einem Bikini in das nächste Gewässer zu springen.

„Ist da jemand“, fragte ich nun etwas lauter, aber kein Stück selbstsicherer. Ich hatte eine verdammt große Angst und konnte mir gar nicht richtig erklären wovor. Das blau funkelnde Augenpaar war genau so plötzlich verschwunden wie es aufgetaucht war, aber ich spürte immer noch die Anwesenheit eines Wesens, was auch immer es sein mochte. Ein Wolf vielleicht? Gab es hier Wölfe? Ehrlich gesagt wusste ich das nicht einmal so genau.

Oder war es... ein Geist...? Ein Gespenst...? Das war eigentlich albern, denn ich glaubte nicht an übernatürliche Wesen. Das war eher etwas für Lilly, die sich mit allergrößter Begeisterung Horrorfilme ansah und jedes Buch über Okkultismus las, das sie zwischen die Finger bekommen konnte. Also war sie, was das anging, das komplette Gegenteil von mir. Ich sah die Dinge eher rational. Für alles scheinbar Unerklärliche, was geschah, konnte sich, wenn man nur gut genug danach suchte, eine Ursache finden lassen.

Und so würde es auch in meinem jetzigen Fall sein. Zumindest hoffte ich das. Ich hörte immer noch kein einziges Geräuschs, außer einem Vogel, der hin und wieder seinen Ruf erschallen ließ.

Hoch oben am Himmel schien immer noch der Mond durch die nackten Zweige der Bäume, und sie sahen aus wie knochige Hände, die über mir ausgebreitet waren und nur darauf zu warten schienen mich zu packen und in kleine Fetzen zu zerreißen.

Ich spürte dieses Wesen näher kommen, doch wohin ich auch blickte, ich konnte nichts sehen und nichts hören. Ich wurde immer ängstlicher, und die Tränen traten mir in die Augen. Heiß rannen sie meine Wangen hinab. Mir war furchtbar kalt, es war dunkel und spät, und ich war nicht allein. Ich konnte mich keinen Zentimeter bewegen, nicht einen einzigen. Irgend etwas hielt mich davon ab.

Dann legten sich plötzlich zwei große arme von hinten um mich. Ich erschrak so sehr, dass ich laut aufschrie und zusammenzuckte.

„Hab keine Angst“, sprach eine wohlbekannte Stimme leise an meinem Ohr. „Es ist alles gut.“

Es war Victor!

Er hielt mich so fest, dass ich mich nicht umdrehen und ihn sehen konnte. Ich konnte auch immer noch nicht sprechen. Ich war noch so erschrocken, dass mir immer noch das Herz bis zum Hals schlug. Ich musste erst ein paar mal schlucken, bevor ich mit kratziger Stimme sprechen konnte.

„Wo bist du gewesen? Ich habe mir Sorgen gemacht!“

„Ssshhht, Stella.“

Er strich mir sanft über den Kopf. Ich spürte seinen Atem an meinem Hals, und seine kalte Hand um meine Taille. Ich zitterte, und das nicht nur vor Kälte, sondern auch immer noch vor angst.

„Was machst du hier? Wo sind die anderen?“

„Die sind nicht da.“

Ich war verwirrt.

„Wieso sind sie nicht da? Wo sind sie denn hin?“

„Ssshhht....“

Was, zum Teufel, war hier eigentlich los? Regungslos verharrte ich in Victors Armen und wartete auf das, was als nächstes geschehen würde.

„Stella...“

Ich konnte ihm immer noch nicht in die Augen blicken, weil er mich fest hielt.

„Ja...?“

Seine Stimme war immer noch gedämpft, während er zu mir sprach, leise und eindringlich. So ganz anders, als ich es von ihm kannte. Verdammt, alles war anders an ihm! Victor benahm sich total merkwürdig.

„Ich muss dir etwas erzählen.“

„So....“

Was konnte es sein? In meinem Kopf sponn sich ein Bild zusammen, wie er vielleicht seinen Bruder umgebracht hatte. Ich wusste natürlich, dass das total albern war, aber das hätte wenigstens seine Veränderung mir gegenüber erklären können.

„Ich bin nicht der, den du zu kennen glaubst.“

„Was... was meinst du damit...?“

Ich wusste wirklich nicht, worauf Victor eigentlich hinaus wollte.

„Glaubst du an übersinnliche Dinge, Stella?“

Seine ruhige aber kalte Stimme jagte mir eiskalte Schauer über den Rücken.

„N...nein.... eigentlich nicht.... Wieso...? Weshalb fragst du...?“

Nun drehte Victor mich endlich zu sich um. Das helle Mondlicht schien auf seine Haut, die ohnehin schon sehr blass war, aber nun wirklich weiß wie der Mond selbst war. Seine Haut war so makellos, Victor sah aus als wäre er direkt aus einer Werbeanzeige gesprungen. Er war einfach perfekt. Es saß nie auch nur ein Haar an ihm nicht da, wo es eigentlich hin gehörte.

Mein Atem bildete kleine Dampfwölkchen in der Luft. Sein Atem tat das nicht.

Ich konnte nichts anderes tun als Victor einfach nur anzustarren. Seine saphirblauen Augen schienen mich regelrecht zu durchbohren. Er grinste, als er weitersprach.

„Nun, dann wirst du jetzt vielleicht lernen daran zu glauben.“

Er öffnete den Mund, und seine Lippen legten sein makelloses Gebiss frei. Was daran ungewöhnlich war, waren die verlängerten Eckzähne. Verdammt, seit wann hatte er die denn?!?

Mir stockte der Atem.

„Du bist ein.... ein.....“

„Ganz richtig, ich bin ein Vampir.“

„Aber die gibt es doch gar nicht“, hauchte ich hilflos in die Stille der Nacht hinein. „Das ist völlig unmöglich!“

„Wenn es so unmöglich ist, wieso stehe ich dann hier?“

„Aber verbrennen Vampire nicht, wenn das Sonnenlicht sie berührt?“

Ich war nun völlig verwirrt. Mein ganzes Weltbild war ins Wanken geraten, und ich versuchte nun krampfhaft es wieder zum Stillstand zu bewegen.

Victor grinste mich immer noch an und wirkte auch immer noch so völlig anders als ich ihn kannte. Eigentlich war er fröhlich, sorglos und verdammt cool, aber nun... Er gab sich kühl, berechnend und... ich konnte es nicht richtig beschreiben, mir fehlte das passende Wort dazu. Er hatte die Oberhand in dieser Situation, und das war ihm auch absolut bewusst.

„Das mit dem Sonnenlicht ist absoluter Blödsinn. Ich habe keine Ahnung, wer sich das ausgedacht. Bestimmt irgend so ein Typ aus Hollywood.“

„Und was ist mit Knoblauch“, wollte ich von ihm wissen.

„Alles, wirklich alles, was die Menschen über Vampire aus Filmen und Büchern und diesem ganzen Mist kennen, ist totaler Schwachsinn.“

„Also gibt es euch wirklich. Du bist wirklich echt?“

Ich streckte zögerlich meine Hand nach ihm aus und berührte sein Gesicht. Ich fühlte kaum etwas, weil meine Hand bereits völlig eingefroren war und schmerzte, genau wie meine Füße, die ich schon längst nicht mehr spüren konnte.

Ich konnte Victor anfassen, also war er folglich auch kein Traumgebilde. Ich stand wirklich hier mit ihm in diesem Wald, und das mitten in der Nacht. Der Vollmond schien hell über unseren Köpfen. Ich konnte das vermodernde Laub auf dem Waldboden riechen, und die eiskalte Nachtluft duftete nach Schnee.

„Wenn du willst werde ich dir zeigen wie echt ich wirklich bin.“

Er drehte mich wieder um, so dass ich mit dem Rücken zu ihm stand. Dies tat er so abrupt, dass der Stoff meines Kleides um meine Beine flog. Eine von Victors Händen lag auf meinem Kopf und streichelte kaum spürbar mein Haar. Die andere lag oberhalb meiner Brust und hielt mich in einem festen Griff. Vielleicht hätte ich mich daraus befreien können, wenn ich gewollt hätte. Oder wenn ich dazu fähig gewesen wäre mich auch nur ein winziges kleines Stück zu bewegen. Aber ich stand einfach nur da. Mein Blut rauschte mir in den Ohren. Irgendwo rief schon wieder ein Vogel. Mein Blick war stumpf und starr mitten auf die Schwärze des Waldes vor mir gerichtet. Ich dachte nicht mehr nach, ich war nur noch. Ich war und wartete auf das, was Victor mit mir tun würde.

Hatte er vor mich zu beißen? Würde er mich damit töten? Trotz dieser Gedanken verspürte ich nicht das geringste bisschen Angst.

„Du musst dich nicht vor mir fürchten, Stella, solange du mein Geheimnis für dich bewahrst. Tust du es aber nicht, dann....“

Ich konnte mir sehr gut vorstellen, was Victor mit diesem Satz andeuten wollte. Wenn ich ihn verriet, dann würde ich sicherlich nicht mehr lange leben.

Instinktiv wusste ich, was nun geschehen würde. Ich sah wie zunächst nur eine Schneeflocke vor meinen Augen vorbei tanzte, dann noch eine und schließlich immer mehr. Es schneite, zum ersten mal in diesem Winter.

Victor senkte seinen Mund auf meinen Hals und ich zuckte zusammen, als ich den stechenden Schmerz spürte, den seine Zähne verursachten, als sie meine Haut durchdrangen.

Für einen kurzen Moment erschien alles um mich absolut klar und rein. Ich hatte das Gefühl alles sehen zu können, jede einzelne Kleinigkeit, die von der Dunkelheit eigentlich verschluckt wurde. Ich hörte die Geräusche des Waldes sehr viel intensiver. Es war ein faszinierendes Gefühl. Ich hatte keine Angst mehr, ich fühlte mich, als ob ich in einen Rauschzustand geraten wäre. Willenlos überließ ich mich voll und ganz Victor.

Dann wurde mir schwarz vor Augen.
 

In dieser Nacht hatte ich den ersten von vielen merkwürdigen Träumen....

Someday we will find it, the rainbow connection

Ein junges Paar saß auf einem mit Gras bewachsenen Hügel und blickte dem Sonnenaufgang entgegen, der zu ihren Füßen weit hinten am Horizont statt fand. Das Mädchen hatte ihren Kopf an die Schulter des jungen Mannes gelehnt, und lächelte zufrieden.

„Es ist wunderschön mit dir“, sagte sie.

Das Mädchen nannte sich Sapphyre Rainbow. Natürlich war das nicht ihr richtiger Name, eigentlich hieß sie Ophelia Jane Hucklesbury, aber dieser Name passte absolut nicht zu ihrer Lebensart. Es war 1971, und Sappyhre Rainbow gehörte zu einer örtlichen Gruppe Hippies. Dementsprechend sah sie auch aus. Ihr haselnuss farbenes braunes Haar hatte sie sich bis zum Hintern wachsen lassen und trug es am liebsten offen. Der einzige Schmuck auf ihrem Kopf war ein Kranz aus Wildblumen, die sie 2 Stunden zuvor auf einer der Wiesen im Park gepflückt hatte.

Sie trug einen braunen Rock aus einem Wollstoff, Stiefel aus weichem Leder, eine bunte Bluse, deren Designer wohl zu viel LSD konsumiert hatte, und darüber eine Lederweste mit Fransen, wie man sie aus den gängigen Cowboyfilmen kannte. Ihre Handgelenke schmückten unzählige Armreifen aus den verschiedensten Materialien. Plastik, Garn, Metalle... Auch an ihren Ohrläppchen baumelten riesige Ohrringe mit einem ethnischen Design.

Ihr Begleiter hieß Nayte. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie sich während einer Demonstration gegen den Krieg in der Menge am Knöchel verletzt hatte. Nayte war ihr zur Seite geeilt und hatte sie an einen Ort gebracht, an dem es etwas ruhiger war, und Sapphyre Rainbow sich ein wenig ausruhen konnte.

Sie waren beide ins Gespräch gekommen, und Nayte hatte zugegeben, dass er das Mädchen schon ein wenig öfter gesehen hatte und sie interessant fand.

Ein paar Verabredungen und Sit-ins später waren sie ein Paar geworden.
 

Und nun saßen sie dort oben auf dem Hügel. Sie hatten die Nacht durch getanzt und Spaß gehabt. Sie hatten das Leben gefeiert. Und in dieser Nacht hatte Nayte ihr gestanden, dass er kein Mensch war.

„Das macht nichts“, hatte Sapphyre gesagt. „Es gibt mehr unter diesem schönen Himmel als nur das, was wir tagtäglich sehen.“

Sie hatte keine Angst gehabt, sie hatte es einfach akzeptiert.
 

Nayte legte einen arm um seine Freundin und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe.“

„Ich bin auch sehr froh, dass du mich gefunden hast“, antwortete Sapphyre Rainbow und strich ihm Liebsten liebevoll über den Arm, bevor sie sich zu ihm hinüber beugte und ihn küsste.

„Ich habe schon sehr lange nach dir gesucht. Ich habe dich hunderte male gesucht und hunderte male verloren. Ich will nicht, dass das noch einmal passiert.“

„Aber du wirst mich doch nicht verlieren. Mein Herz, mein Körper, mein ganzes sein gehört nur dir, bis ich sterbe.“

Nayte wirkte nicht glücklich bei diesem Satz.

„Das ist ja leider das Problem...“

Sapphyre Rainbow verstand nicht so recht, was der junge Mann damit meinte.

„Willst du mich etwa nicht so lange?“

„Nein.“ Nayte seufzte schwermütig. „Es ist nur, dass... Ich weiß nicht ob du das verstehen kannst. Ich weiß ja, dass du an Dinge glaubst, die nicht so einfach zu erklären sind. Aber das hier...“

Er wusste nicht wie er es ihr am besten erklären sollte.

Er kam auch gar nicht erst dazu, denn Sapphyre Rainbow legte ihm einen Finger auf die Lippen und brachte ihn damit zum Schweigen.

„Mach dir nicht zu viele Gedanken“, sagte sie. „Sie erschweren dir nur unnötig das Herz. Denk nicht an Morgen, denn das ist noch weit von uns entfernt. Genieße den Augenblick, solange wir ihn haben, und vergifte ihn nicht mit Sorgen über Dinge, die noch in ferner Zukunft liegen.“

Sie küsste ihn liebevoll.

Nayte ergab sich in sein Schicksal, gegen die Dickköpfigkeit seiner Freundin kam er nicht an. Er wollte es auch gar nicht erst versuchen. Auf ihre Weise hatte sie ja schließlich recht, aber dennoch hatte er große Angst sie wieder zu verlieren, so wie es schon so oft geschehen war. Er wollte nicht, dass sich das wiederholte. Und damit es dieses mal nicht so kam,musste er... Aber konnte er ihr das denn wirklich antun, nur aus reinem Egoismus, aus seiner Liebe zu ihr heraus? Aus einer Liebe heraus, die über jegliche Grenzen des Vorstellbaren ging.

„Woran denkst du, mein Stern“, wollte Spahhyre Rainbow wissen.

Sie lehnte gedankenverloren und mit sich und der Welt völlig zufrieden in Naytes starken Armen.

„Ich denke daran, dass ich dich niemals verlieren möchte.“

„Ich sagte dir doch schon, das wirst du nicht.“

Das Mädchen pflückte ein Gänseblümchen von der Wiese aus dem hohen Gras und drehte es zwischen ihren Fingern hin und her. Ihre nackten Füße hatte sie im Gras vergraben, das herrlich kühl war an diesem wunderschönen Morgen mitten im Sommer.

„Ich möchte nicht, dass der Tod zwischen uns tritt, dass er dich von mir nimmt. Das würde ich nicht ertragen können.“

„Aber Nayte...“

Die Grünäugige richtete sich auf und blickte ihrem Liebsten nun direkt ins Gesicht.

Sie ist wunderschön, dachte Nayte. So, wie das helle Morgenrot auf ihr Gesicht scheint. Sie könnte beinahe ein Engel sein. Sein wunderschöner Engel. Und doch würde es keine gemeinsame Zukunft für sie beide geben.

Sapphyre Rainbow fuhr fort: „Der Tod gehört zum Leben dazu. Das eine kann ohne das andere nicht existieren, und so werde ich eines Tages gehen müssen, auch wenn ich es nicht möchte. Aber ich weiß, dass es sein muss, und wenn ich mein ganzes Leben mit dir in Liebe verbracht habe, dann werde ich auch guten Gewissens gehen können mit dem Wissen, dass ich das getan habe, was mein Herz mir befohlen hat. Es wird richtig so sein, und es wird gut sein. Deswegen habe ich keine angst davor zu sterben, denn ich werde jeden einzelnen Moment davon gründlich auskosten, und das mit dir an meiner Seite. Denn ich liebe dich von ganzem Herzen, und ich werde dich niemals, nie in meinem Leben, alleine lassen.“

Das junge Paar fiel sich in die Arme und küsste sich innig, während über ihnen die letzten Vögel ihr morgendliches Gesangskonzert beendeten, um zu ihrem üblichen Tagesablauf überzugehen.

„Und wenn du für immer leben könntest...?“

Nayte fragte vorsichtig. Er wusste ganz genau, was das für eine unerhörte Frage war, dass er sie seiner Freundin eigentlich gar nicht stellen durfte, und dass er dies trotzdem wagte, das war einfach furchtbar, verzweifelt. Und schrecklich egoistisch. Aber er konnte einfach nicht anders, er musste es tun.

„Wie meinst du das, für immer leben?“

Nayte schluckte. Er war so nervös, dass er seine Hände verkrampfte. Sapphyre Rainbow streichelte ihm sanft über die Arme und wirkte völlig ruhig, aber trotzdem neugierig. Sie hatte keine Ahnung, worauf ihr Freund eigentlich hinaus wollte.

„Ich könnte dich“, begann er zögerlich, und sprach erst weiter, als das Mädchen ihn aufmunternd anstuppste. „Ich könnte dich zu einer von uns machen, zu einem Vampir. Du würdest dann niemals sterben. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich dich verlieren würde. Aber wenn du das nicht willst... ich werde dich nicht zu einer bestimmten Entscheidung zwingen. Es ist dein Leben, und du musst entscheiden, wie du es leben willst.“

Auch wenn es ihm wirklich das Herz brechen würde, wenn das Mädchen sich weigern würde auf seinen Vorschlag einzugehen.

„Das ist lieb von dir, dass du das so siehst. Du bist wirklich verständnisvoll, das schätze ich so an dir.“

„Und... wie siehst du das nun? Was möchtest du tun, nachdem ich dir diesen Vorschlag gemacht habe?“

Unruhig rutschte Nayte auf seinem Platz hin und her. Für ihn stand sehr viel auf dem Spiel bei dieser Sache. Wenn Sapphyre Rainbow nur wüsste wie viel es in Wirklichkeit war! Sie hatte ja keine Ahnung, denn er hatte ihr immer noch nicht alles aus seiner Vergangenheit erzählt. Aber er würde es tun, das wollte er wirklich. Nayte wollte, dass sein Freundin ihn verstand. Das tat sie sowieso, aber er wollte auch, dass sie wirklich nachvollziehen konnte warum er solche Gefühle für dieses Mädchen hatte. Und er wollte, dass sie wusste, warum er so handelte wie er es tat. Er wollte, dass sie alles wusste, jedes einzelne Detail. Und er wollte, dass sie sich erinnerte.

„Nayte, ich liebe dich über alles. Ich liebe dich so sehr wie ein mensch in seinem begrenzten Bewusstsein nur fähig sein kann zu lieben. Ich hatte dir gesagt, dass ich mit dem, was ich mit dir haben würde, zufrieden sein könne. Das stimmt so natürlich auch, aber du kennst das ja bestimmt. Von dem, was man liebt, kann man einfach nie genug bekommen, niemals. Und so kann auch ich nie von dir genug bekommen. Ich möchte alles von dir, was die Welt bereit ist mir zu geben. Und wenn ich die Ewigkeit mit dir verbringen kann, dann müsste ich ein absoluter Narr sein diese Gelegenheit auszuschlagen.“

Naytes Herz setzte für einen Moment lang aus. Er musste erst einmal realisieren, was die Worte von Sapphyre Rainbow für ihn nun eigentlich genau bedeuteten.

„Das heißt also... dass du....“

Sapphyre Rainbow umfasste Naytes Gesicht mit beiden Händen und gab ihm einen langen Kuss. Er schmeckte nach Sommer, nach Sonne und Erdbeeren. Und nach Sapphyre Rainbow. Nach ewiger Liebe und nach Glück.

„Ja, das heißt es, Nayte. Ich möchte so werden wie du, und ich möchte die Ewigkeit mit dir verbringen. Nichts, absolut gar nichts soll uns jemals trennen.“

Überglücklich schloss Nayte das Mädchen mit den strahlend grünen Augen, tief wie die raue See, in die Arme. Kristallklare Tränen rannen über sein Gesicht.

„Du musst nicht weinen“, sagte Sapphyre Rainbow sanft und wischte ihm die salzigen Tränen mit ihrem Handrücken von den Wangen. „Es ist alles gut. Ich bin bei dir, und ich werde nie wieder gehen, ich verspreche es dir. Du musst niemals mehr alleine sein, und du wirst niemals mehr einen Grund haben weinen zu müssen.“

Eng miteinander verschlungen saßen die beiden ganz ruhig und zufrieden auf dem mit Gras bewachsenen Hügel und sahen zu wie die Sonne an diesem warmen Sommermorgen immer höher stieg. Sie schwiegen sich an, aber es war einer dieser angenehmen ruhigen Momente, in denen alles absolut stimmig ist, in dem nur das kleinste Wort die traute Zweisamkeit zwischen den beiden gestört hätte.
 

Sie schienen eine ganze Ewigkeit dort zu sitzen, ein halbes Leben lang, aber irgendwann erhob sich Sapphyre Rainbow.

„Ich sollte langsam nach Hause gehen, sonst machen meine Eltern sich noch sorgen um mich. Bitte versprich mir, dass du heute Nacht wieder zu mir kommst. Ich möchte wie du werden, ich möchte eins mit dir sein und dein Leben teilen, bis in die Ewigkeit. Komm heute Nacht zu mir, bitte.“

Nayte nickte ernst, aber auch auch mehr als erleichtert.

„Ich werde zu dir kommen, und dann wirst du mein werden. Ich verspreche es. Dann soll uns niemals mehr etwas trennen können.“

Sapphyre Rainbow umarmte ihren Liebsten noch einmal, dann sprang sie leichtfüßig den Hügel hinunter, die wärmende Sonne im Rücken.

Nayte sah ihr nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte und dachte sich, dass er dieses mal endlich Glück gehabt hatte. Dieses Mal würde er nicht zu spät kommen und seine große Liebe nicht verlieren.

Er blickte neben sich ins Gras und bemerkte, dass das Mädchen seine Sandalen dort hatte liegen lassen. Aber das war nicht sonderlich tragisch, die würde er ihr nach bringen.

Voller Stolz dachte er daran, dass Sapphyre Rainbow nun endlich sein Mädchen war, und niemand konnte sie ihm mehr wegnehmen. Sie war ein wirklich wundervoller Mensch, und er konnte sich mehr als glücklich schätzen, dass sie sich dazu bereit erklärt hatte ihr ewiges Leben mit ihm zu teilen.

Nayte hätte vor Glück platzen können, aber noch wusste er auch noch nicht, wie übel ihm das Schicksal noch mitspielen würde.
 

Es war bereits Nacht, als Nayte sich zu Fuß auf den Weg durch die Straßen von San Francisco machte, um zum Hause von Sapphyre Rainbow zu gelangen. Er würde sie sich holen und zu einem Vampir machen. Er konnte es kaum noch erwarten. Den ganzen Tag über hatte er sich ausgemalt wie es wohl sein würde. Er würde sie endlich haben, den Menschen seiner Begierde, seine einzig wahre große Liebe. Wie wundervoll würde es werden!
 

Doch als er das Haus der Familie Hucklesbury erreichte bot sich ihm dort ein grausiger Anblick.

Überall standen Polizeiautos und noch mehr Polizisten herum. Das ganze Haus war abgesperrt. Er sah gerade noch wie ein mit einem Tuch verdeckter Körper in einen Krankenwagen gehievt wurde. Schnell lief er zu einem der Polizisten. Es rann ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, und Nayte befürchtete das Schlimmste.

„Was ist hier passiert? Was ist los“, wollte er wissen und hätte den Polizisten am liebsten gepackt und geschüttelt.

„Bleiben Sie bitte vom Haus weg, das ist ein Tatort.“

„Um Himmels willen, was ist hier geschehen?“

„Wer sind Sie? Ein Angehöriger?“

Nayte entschloss sich dazu zu lügen.

„Ja, das bin ich. Ich bin der Neffe der Eheleute.“

Er erhoffte sich so eine Auskunft, die er als einfacher Zivilist wahrscheinlich sonst nicht bekommen hätte, und er hatte Glück, der Polizist war gesprächig.

„Jemand ist hier eingebrochen, vermutlich ein Räuber. Er hat alle, die in diesem Haus waren, im Schlaf umgebracht.“

„Er hat...was....“

Wäre Nayte nicht schon von Natur aus so blass gewesen, sein Gesicht hätte nun vermutlich die Farbe von Kalk angenommen. Ihm wurde ganz übel.

„Zuerst ist er in das Elternschlafzimmer und hat die beiden Eltern mit einer Axt erschlagen. Das Schlafzimmer sieht grässlich aus, kann ich Ihnen sagen. Das ist wirklich kein schöner Anblick.“

„Und die Kinder? Die Tochter... Was ist mit ihr? Nun reden Sie schon endlich!“

Nayte wusste, dass Sapphyre Rainbow noch einen jüngeren Bruder hatte, den sie über alles liebte. Der kleine Jackson...

„Die beiden Kinder hat er mit einem Messer ziemlich übel zugerichtet. Und dann hat er das ganze Haus nach Wertsachen durchwühlt. Ein Jammer, sage ich Ihnen. Alle haben schon geschlafen, als er in das Haus eingedrungen ist. Nur das Mädchen scheint aufgewacht zu sein. Die beiden müssen sich einen ordentlichen Kampf geliefert haben, so wie ihr Zimmer aussieht. Es hat ein paar der Möbelstücke ziemlich übel erwischt, wissen Sie. Es ist wirklich schade um die Familie.“

Der Polizist schüttelte bedauernd den Kopf.

„Aber nun gehen Sie bitte wieder zur Seite, damit wir hier unsere Arbeit machen können.“

Nayte konnte es nicht fassen. Das durfte doch nicht wahr sein! Das war nicht geschehen, das war nicht real... Er hatte Sapphyre Rainbow doch noch an diesem Morgen gesehen. Er hatte die Nacht mit ihr verbracht, sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn über alles liebe.

Nayte war am Boden zerstört. Vor ein paar Stunden hatte seine geliebte Sapphyre doch noch gelebt... Er war zu spät gekommen. Er war wieder einmal zu spät gekommen! Das Schicksal hatte sich einmal mehr zwischen ihn und seine große Liebe gestellt.

Er musste sich erst einmal hinsetzen und das verdauen, was er soeben von dem Polizisten gehört hatte. Sapphyre Rainbow war einen schrecklichen Tod gestorben. Genau so wie der Rest ihrer Familie, aber zu den anderen Familienmitgliedern hatte Nayte nun keinen persönlichen Bezug. Ihm ging es nur um das wunderschöne grünäugige Mädchen, das immer so wundervoll gelacht hatte. Das es geschafft hatte ihm allen Schmerz zu nehmen, der schon viel zu lange auf ihm lastete.

Warum, verdammt noch einmal, gönnte ihm das Schicksal nicht endlich glücklich zu werden?

Seine gesamte Körperspannung war auf einmal weg, und Nayte ließ sich auf den Rasen vor dem Haus der Hucklesburys fallen. In diesem Moment wurde eine weitere Trage vorbei geschoben. Eines der Räder fuhr über eine Kante eines der Pflastersteine, der nicht eben lag. Durch die plötzliche Erschütterung rutschte eine Hand unter dem Tuch hervor. Am dem Handgelenk baumelten unzählige bunte Armreifen. Die ganze Haut war mit Blut verschmiert.

Nun konnte Nayte seine Tränen wirklich nicht mehr zurückhalten, er brauch in ungebrochenes Schluchzen aus. Was er gesehen hatte war einfach zu schlimm, und wie all die anderen schrecklichen Szenen, die er schon gesehen hatte, brannte sich auch diese unauslöschlich in sein gedächtnis ein und hinterließ eine weitere tiefe Wunde in seinem ohnehin schon schlimm geschundenen Herzen.

„Wieso, verdammt nochmal“, brüllte er wütend mit Tränen in den Augen, und hieb mit seinen Fäusten wütend auf die Erde ein.

„Warum nur...?“

Schluchzen erstickte nach und nach seine Stimme. Niemand, der an diesem Ort anwesend war, kümmerte sich um ihn, Nayte war ganz alleine mit seinem ganzen Schmerz. In diesem Moment hätte er sterben mögen, wenn er es denn nur gekonnt hätte. Er wollte nicht ohne seine Sapphyre Rainbow leben, wie konnte er auch? Sie war sein Ein und Alles gewesen, sein Stern, seine Sonne, sein ganzes Leben...

es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er über ihren Verlust hinweg kommen würde. Vielleicht ein paar Jahre, vielleicht auch länger. Nayte war endgültig bereit aufzugeben. Er war es endgültig müde gegen das Schicksal anzukämpfen. Es hatte ihm wieder einmal einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht, und er fragte sich, ob das bis in alle Ewigkeit so weitergehen würde. Dass er alles, was er jemals geliebt hatte, verlieren würde. Für ihn gab es anscheinend kein Glück auf dieser Welt.

Mit Freunden Spass haben und Showdown auf der Kneipentoilette

An diesem Morgen war ich ein wenig durcheinander, als ich zur Schule ging. Ich hatte merkwürdig geschlafen, und mir fehlte die Erinnerung an die letzte Nacht.

An diesem Morgen war ich aufgewacht und hatte mich gewundert wie ich in mein Bett gekommen war. Das letzte, an das ich mich erinnern konnte, war, dass ich mit Victor Blackraven auf dem Winterball in der Schule gewesen war. Was war nur geschehen?

An diesem Tag hatte Victor mich nicht abgeholt um mich zu der Schule zu bringen. Er hatte sich per SMS bei mir entschuldigt, also musste ich an diesem Tag alleine gehen. Das war aber auch nicht schlimm, so hatte ich ein paar Minuten Zeit um nachzudenken. Wieso wollte mir einfach nicht einfallen, was ich gestern Abend noch getan hatte? Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl in meinem Bauch, aber ich konnte mir nicht erklären woher das kam. Und dann diese komische Wunde an meinem Hals... Ich beschloss Victor zu fragen, was an dem Abend noch alles passiert war, sicherlich würde er mehr wissen, ich war mir dessen völlig sicher.

Aber ich bekam Victor erst in der ersten großen Pause zu sehen. Ich hätte zwischendurch auch noch sehr gerne mit Lilly gesprochen, aber sie war heute krank. Zumindest hatte sie mir das geschrieben, als ich ihr eine SMS geschickt hatte um zu fragen wo sie denn bliebe. Vermutlich hatte sie einfach nur zu viel gefeiert gestern.
 

In der Pause entdeckte ich Victor auf dem großen Gang. Wie üblich war er von seinen Bewunderern umgeben, darunter auch die zickige Crystal Summers, die immer noch nicht eingesehen hatte, dass Victor Blackraven schon längst vergeben war, und zwar an mich!

„Victor, kann ich bitte mal mit dir sprechen“, bat ich ihn laut, so dass alle es hören konnten. Ich ging geradewegs auf ihn zu und gab ihm demonstrativ einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Was willst du denn von ihm“, wollte die dumme Thusnelda Namens Crystal in einem ätzenden Ton wissen.

Schnippisch erwiderte ich: „Das geht dich überhaupt nichts an, also verzieh dich.“

„Pah!“

Eingeschnappt verschränkte Crystal die Arme vor ihrer Brust und verzog ihre glänzend rosa geschminkten Lippen zu einem verächtlichen Ausdruck.

Ich packte Victor an seinem Arm und zog ihn ein wenig von den anderen fort. Ich wollte ganz in Ruhe mit ihm reden können.

„Hey, Babe. Ist alles ok mit dir? Was ist denn los?“

Victor sprach ziemlich ruhig, überhaupt nicht so als würde er sich wundern, warum ich mich heute so komisch benahm. Dabei war ich doch ziemlich durcheinander, und das musste man mir doch eigentlich ansehen.

Ich zögerte nicht lange und sagte meinem Schatz, was ich auf dem Herzen hatte.

„Gestern Abend... Ich weiß nicht mehr was passiert ist. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern wie ich nach Hause gekommen bin. Als ich heute morgen aufgewacht bin hatte ich ganz dreckige Füße, als wäre ich durch Schlamm gelaufen. Und mein schönes Ballkleid war völlig zerknittert.“

Ich blickte Victor fragend an.

„Und dann hatte ich plötzlich auch diese komische Wunde am Hals. Schau her...“

Ich hatte mir einen Schal um den Hals gewickelt, denn immerhin war es ja verdammt kalt draußen, jetzt im Winter. Zum Vorschein kamen zwei Wunden, die geblutet haben mussten. Vorsichtig rieb ich mit meinen Fingern darüber. Es tat immer noch ein wenig weh.

„Was zum Teufel habe ich da gemacht?“

„Du kannst dich nicht daran erinnern?“

Victor zog fragend eine Augenbraue hoch.

„Nein, sonst würde ich dich ja wohl kaum danach fragen, oder, Herr Schlaumeier?“

„Da hast du wohl recht.“

„Also, was ist mir da passiert? Weißt du das vielleicht?“

„Und ob ich das weiß.“

Er zog mich näher an sich.

„Und was, bitte? Na los, sag es mir schon!“

„Wir beide hatten letzte Nacht eine Begegnung im Wald.“

„Im Wald? Was haben wir denn da bitte gemacht“, wollte ich wissen, denn ich konnte mir nicht erklären, warum ich mitten in der Nacht in den Wald hätte laufen sollen.

„Du willst dich wirklich daran erinnern? Bist du dir da ganz sicher?“

Ich nickte. Wollte er mir etwa irgend etwas Wichtiges verheimlichen? Was zum Teufel hatten wir beide in der letzten Nacht im Wald getrieben? Ich konnte meine Neugierde kaum noch zügeln.

„Vielleicht wirst du dich ja jetzt daran erinnern...“, sagte Victor, senkte seinen Kopf und küsste mich auf die Stelle, an der ich diese merkwürdige Wunde hatte. Nein, er küsste mich nicht richtig, er tat da irgend etwas anderes. Er..... biss mich?!?

Und in diesem Augenblick kehrte die Erinnerung an die letzte Nacht zurück. Sie kam so heftig, dass es mir schien, als würde ich gegen eine harte Mauer prallen.

Ich riss mich von Victor los und taumelte ein paar Schritte zurück.

„Das ist nicht wahr“, flüsterte ich. „Das ist doch alles vollkommen verrückt.“

„Und trotzdem ist es wahr. Ich bin ein Vampir. Ich existiere wirklich, auch wenn du das im Leben nicht für möglich gehalten hättest.“

Ich hob meine Hand an meine Stirn und rieb sie, denn ich bekam plötzlich Kopfschmerzen, weil die Tatsache, dass Victor Blackraven tatsächlich ein Vampir war, und dass er mich gebissen hatte, dass ich all das, was ich soeben in meinem Kopf gesehen hatte, wirklich passiert war, mich völlig niederschmetterte.

„Du hättest mich töten können“, sagte ich leise.

Victor nickte und sah mich dabei ernst, aber auch mit einem leichten wohlmeinenden Lächeln in den Mundwinkeln, an. Seine saphirblauen Augen blitzten im Licht der Sonne.

„Das hätte ich, aber ich habe es nicht getan, wie du siehst.“

„Wieso denn nicht? Es wäre für dich doch sicherlich überhaupt kein Problem gewesen, oder?“

„Nein, das wäre es wirklich nicht gewesen. Wieso fragst du mich das, Stella? Willst du etwa sterben? Willst du, dass ich dich töte?“

Ich bekam plötzlich Angst, und in meinem Magen bildete sich ein dicker Knoten. Hektisch schüttelte ich mit dem Kopf.

„Nein, ich will nicht sterben, wirklich nicht.“

„Sehr gut, ich hatte auch nichts anderes von dir erwartet. Und ich will dich auch gar nicht töten, keine Sorge. Dafür bist du mir viel zu wichtig.“

Bei diesen Worten schloss Victor mich in seine Arme und streichelte mir liebevoll über den Rücken. Ich war dadurch sehr erleichtert und fühlte mich gleich besser. Zuerst hatte ich gedacht, dass Victor mich bedrohen wolle, aber anscheinend hatte er das doch nicht vor. Er hatte überhaupt nicht vor mir gefährlich zu werden, und das freute mich wirklich sehr.

„Du bist mir auch sehr wichtig“, sagte ich mit dem Gesicht an seiner Brust, und atmete tief seinen Duft ein. „Ich liebe dich, Victor. Ich liebe dich sehr.“

„Du darfst mich aber trotzdem nicht verraten. Versprich es mir, Stella. Versprich es!“

Bei diesen Worten wurde sein Griff fester, und ich beeilte mich ihm zu versichern, dass ich das niemals im Leben tun würde.

„Wie könnte ich dir das denn auch antun, wo ich dich doch so sehr liebe?“

„ich wollte nur ganz sicher gehen... Ich habe schon viele Dinge in meinem langen Leben erlebt. Schon genug Menschen, oder sagen wir besser Personen, die mir einmal gute Freunde gewesen waren, sind mir in den Rücken gefallen. Wenn du so lange gelebt hast wie ich, dann hast du auch schon eine ganze Menge gesehen auf der Welt, ob es dir gefällt oder nicht.“

„Wie alt bist du denn, Victor“, wollte ich von ihm wissen. Jetzt war ich ganz neugierig. Aber eine Antwort bekam ich nicht.

„Man fragt niemanden nach seinem Alter“, erwiderte er grinsend.

In diesem Moment klingelte die Schulglocke zur nächsten Unterrichtsstunde. Ich hatte jetzt eine andere Klasse als Victor, also musste ich mich vorerst von ihm verabschieden.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, denn heute hatte ich ausnahmsweise einmal flache Schuhe an. Eigentlich war ich zu hochhackigen Pumps übergegangen, weil die einfach schöner aussahen, aber es hatte über Nacht so stark geschneit, dass ich mit meinen hohen Hacken keinen Meter weit gekommen wäre ohne mich auf den Hintern zu setzen.

„Sehe ich dich nachher noch? Ich würde sehr gerne noch ein bisschen mehr Zeit mit dir verbringen. Ach bitte, sag schon ja!“

Ich bettelte regelrecht danach noch viel mehr Zeit als sonst schon mit Victor zu verbringen.

„Wenn du willst können Jason und ich dich nach der Schule nach Hause bringen, dann musst du den Weg nicht laufen. Jetzt bei dem ganzen Schnee ist das doch blöd.“

Ich strahlte über das ganze Gesicht.

„Ja, das wäre sehr schön!“

Ich küsste meinen Freund noch einmal, dann verabschiedete ich mich vorerst von ihm.

„Viel Spaß im Unterricht“, wünschte ich ihm. „Wir sehen uns dann nachher.“
 

Als die Schule zu Ende war lief ich die Stufen vor dem Gebäude hinunter zum Parkplatz. Dort warteten bereits Victor und Jason auf mich, um mich mit Jasons schwarzen Wagen nach hause zu bringen. Victors Motorrad stand den Winter über in der Garage, bei dem ganzen Schnee war es für ihn viel zu gefährlich damit zu fahren. Also wurde er nun, solange das Wetter so schlecht war jeden Tag von seinem Bruder Jason mitgenommen.

„Da bist du ja endlich“, sagte Victor erfreut und nahm mir meine Schultasche ab. Er öffnete die hintere Wagentür und warf sie auf den Rücksitz. „Können wir dann los?“

Ich nickte.

Jason hatte wie üblich nichts anderes als „Hallo“ zu mir gesagt. Ich erinnerte mich daran, wie er am Abend zuvor gewesen war, und es schauderte mich für einen kurzen Augenblick, aber dann war wieder alles vorbei. Ich lächelte ihn stattdessen an und begrüßte ihn ebenfalls.

Wenn ich mit Victor zusammen sein wollte, dann musste ich auch ein gutes Verhältnis zu Jason haben, denn immerhin waren die beiden Brüder und bedeuteten sich einander sehr viel, wie das bei Zwillingen eben nun mal so war.

Zwillinge... Moment mal! Wenn die beiden Zwillinge waren, und wenn Victor ein Vampir war, dann bedeutete das doch... Ja, Jason musste wohl auch ein Vampir sein! Es konnte gar nicht anders sein. Der Typ wurde mir langsam immer unheimlicher. Und dabei sah er eigentlich ganz gut aus.

Aber ich sollte mich am besten nicht weiter darum kümmern.

Victor ließ mich zuerst in das Auto steigen, dann stieg er zu mir auf die Rückbank. Jason setzte sich hinter das Steuer und ließ den Motor an. Augenblicklich ertönte aus den Boxen laute Rockmusik. Ich mochte diese Musik zwar immer noch nicht so richtig, aber ich gewöhnte mich langsam an sie. Ich wusste, dass Victor so etwas sehr gerne hörte, und ich versuchte Interesse für das zu entwickeln, was er mochte. Also fragte ich hin und wieder, wie dieses Lied hieß oder wer jenes sang, wenn ich es einigermaßen mochte.

Heute dauerte die Fahrt ein wenig länger wegen dem ganzen Schnee, der die komplette Straße in eine einzige riesige Rutschbahn verwandelt hatte. Das kam mir sogar sehr gelegen, denn ich nutzte die fahrt um hinten in dem Auto mit Victor rum zu knutschen. Ich liebte es einfach ihn zu küssen, und er machte das auch mehr als gut, wie ich fand. Nur Jason schien davon nicht sehr begeistert zu sein.

„Muss das wirklich sein“, rief er genervt nach hinten und funkelte uns durch den Rückspiegel mit seinen blaugen Augen, die genau so wie die von Victors aussahen, als wären sie strahlende Saphire, wütend an.

„Ich kann doch nichts dafür, dass du dir bisher keine Freundin gesucht hast. Dann lass mir doch wenigstens meinen Spaß.“

Das, was Victor zu seinem Bruder sagte, klang zwar irgendwie ziemlich gemein, aber ich wusste, dass er es nicht ganz ernst meinte und Jason nur ärgern und nicht mit seinen Worten verletzen wollte. Der schwarzhaarige Junge aber schien das nicht so aufzufassen, sagte aber trotzdem nichts mehr.

„Mag er mich nicht“, fragte ich Victor so leise, dass Jason mich hoffentlich nicht hören konnte, aber immerhin noch laut genug, so dass mein Schatz mich über die laute Musik hinweg noch verstehen konnte.

Victor lachte und drückte mich fest, bevor er mir einen weiteren Kuss mit seinen wundervollen weichen Lippen auf die meinen gab. Ich hatte mich mittlerweile schon längst daran gewöhnt, dass Victor so eine niedrige Körpertemperatur hatte, und nun wusste ich ja auch wieso das so war, und es störte mich nicht sehr. Ich dachte mir scherzhaft, dass das im Sommer ganz angenehm sein müsse. War mir einmal viel zu warm, so dass ich schwitzte, brauchte ich mich nur für eine Weile in seine Arme zu kuscheln und mich so abkühlen zu lassen.

„Nein, nein, keine Angst. Er mag dich schon, so ist es ja nicht. Er kann es nur nicht wirklich gut zeigen. So ist er halt, er ist immer ein bisschen schroff und harsch. Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen darüber, es ist alles gut.“

Und ich glaubte ihm das.
 

Als die beiden mich bei mir zuhause vor der Tür absetzten blieben wir noch für eine Weile in dem Auto sitzen. Ich wollte noch nicht aussteigen und hinaus in die Kälte gehen, auch wenn es bis zu meinem Haus nun wirklich nicht weit war. Es waren nicht einmal 100 Meter. Aber ich genoss es bei Victor zu sein. Und irgendwie mochte ich es auch, wenn sein Bruder Jason bei uns war. Es war schon irgendwie komisch, wo der schweigsamere der beiden Brüder ziemlich unheimlich auf mich wirkte. Aber die beiden gehörten halt untrennbar zusammen, und ich war schon längst daran gewöhnt, dass Jason so gut wie immer bei uns war. Es war schon beinahe so, als würden wir eine Beziehung zu dritt führen. Es klang wirklich komisch, aber das traf es wohl noch am besten.

Victor und ich küssten uns noch eine Weile, und zwischendurch unterhielten wir uns ein wenig. Meistens redeten wir über die schule, und hin und wieder trug sogar Jason etwas zu unserer Unterhaltung bei.

Es war wirklich sehr schön und gemütlich. Es war eigentlich so kalt, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn mein Atem kleine dampfende Wölkchen in dem Auto gebildet hätte, aber das tat er nicht. Draußen auf der Straße war alles weiß von Schnee.

„Erstaunlich, dass das alles heute Nacht gefallen ist. Das muss ja furchtbar geschneit haben. Schade, dass ich es nicht mitbekommen habe.“

„Ja, das ist wirklich sehr schade“, pflichtete Victor mir bei. „Aber du hast stattdessen tief und fest geschlafen.“

„Und ich habe etwas sehr merkwürdiges geträumt.“

Ja, stimmte, da war doch etwas gewesen... erst jetzt erinnerte ich mich an den Traum, den ich gehabt hatte, und erzählte meinen beiden Jungs davon.

Jason, der auf dem Fahrersitz saß, wirkte immer verbissener und biss sich zwischendurch auf die Unterlippe. Er sagte kein einziges Wort, aber sein Blick wurde zunehmend immer finsterer. Vitor hingegen schien recht zufrieden mit meiner Schilderung meines Traumes zu sein.

„Hat das etwa etwas zu bedeuten“, wollte ich von ihm wissen.

Seine Antwort war nicht ganz eindeutig und ließ mich immer noch im Unklaren.

„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wenn du Glück hast wird es sich vielleicht noch herausstellen. Aber vielleicht war es auch einfach nur ein ganz normaler Traum.“

„Aber er hat sich so echt angefühlt...“

Ich konnte immer noch fühlen, wie sich Nayte und Sapphyre Rainbow gefühlt hatten, als wäre ich selbst dort gewesen und hätte das alles selber erlebt.

„Aber es war nur ein Traum, nichts worüber du dir jetzt groß Gedanken machen müsstest“, wiegelte Victor ab. „Vielleicht solltest du auch langsam mal nach Hause gehen, bevor dein Dad aus der Werkstatt kommt und sieht, dass du ganz alleine bei zwei jungen und verdammt gutaussehenden Kerlen in einem Auto sitzt. Und mit einem von ihnen sogar noch rum knutscht. Nicht, dass dein Vater einen Herzinfarkt bekommst oder du Hausarrest. Das wäre wirklich schade.“

Ich kicherte belustigt und versuchte mir das bildlich vorzustellen, was Victor da gerade erzählte, aber in der Wirklichkeit musste ich dann da nicht haben, wirklich nicht. Also griff ich schweren Herzens nach meiner Schultasche und machte mich daran auszusteigen. Aber ich musste Victor doch noch einen Kuss geben. Oder vielleicht auch zwei. Hach, ich konnte mich immer nur so schwer von ihm losreißen. Aber irgendwann schaffte ich es doch.

Als ich schon auf dem halben Weg zu meinem Haus war rief Victor mir durch das geöffnete Autofenster noch etwas zu.

„Jason und ich und noch ein paar andere Leute wollen heute Abend feiern gehen. Hast du Lust mitzukommen? Ich würde mich sehr freuen.“

Natürlich musste ich bei dem Angebot gar nicht erst lange überlegen. Sofort sagte ich zu!

„Aber natürlich! Wann treffen wir uns denn? Und wo?“

„Wir holen dich heute Abend um 10 ab, geht das in Ordnung.“

Das war ganz schön spät, so spät war ich normalerweise gar nicht mehr unterwegs, weil mein Dad ja immer wollte, dass ich um diese Uhrzeit immer zuhause war und am besten schon in meinem Bett lag. Dabei fühlte ich mich immer wie ein kleines Kind, dabei war ich doch schließlich schon 16 Jahre alt!

„Und was soll ich anziehen? Wo gehen wir denn hin?“

„In Cedar Creek gibt es eine gemütliche Kneipe, in die wir wollten. Du musst dich also nicht besonders schick machen. Zieh dir an was du magst.“

Ich nickte.

„Ist gut. Dann bis heute Abend also.“

„Bis heute Abend, Stella.“

Wir winkten uns beide zu, als Jason seinen Wagen die Straße hinunter manövrierte.
 

Das würde bestimmt furchtbar spannend werden heute Abend, dachte ich mir. Ich hatte meinem Dad erzählt, dass ich abends noch zu meiner Freundin Lilly gehen würde um bei ihr zu übernachten. Er blickte mich zwar komisch an, weil das ja eine ungewöhnliche Uhrzeit war um noch wegzugehen, aber ich behauptete einfach, dass Lilly vorher noch bei Verwandten war und erst spät heim komme. Damit gab mein Dad sich erst einmal zufrieden.

In meinem Zimmer hatte ich unzählige Stunden damit zugebracht mir genau zu überlegen was ich denn an diesem Abend anziehen sollte. Meine Sammlung an Klamotten war in den letzten Wochen beträchtlich gewachsen, und so hatte ich viel mehr Auswahl als früher. Dabei trug ich die Sachen, die ich früher immer angezogen hatte, eigentlich gar nicht mehr. Sie entsprachen nicht mehr meinem Typ, ich hatte mich ja durch Victor Blackraven sehr stark in meiner Persönlichkeit verändert. Ich fand das auch absolut in Ordnung, ich fühlte mich mehr als wohl damit. Ich war endlich anerkannt, ich war nicht mehr das dumme und hässliche Mauerblümchen von früher. Lilly behauptete zwar hin und wieder, dass sie mich manchmal gar nicht wiedererkennen würde, aber ich fasste das einfach mal als Kompliment auf. Ich war dem tristen und grauen Alltag meiner Vergangenheit endlich entronnen und wollte niemals wieder dorthin zurück.

Ich hatte wirklich sehr lange überlegt was ich mir anziehen wolle. Nachdem ich hunderte von verschiedenen Outfits anprobiert und dann wieder verworfen hatte, lag nun endlich das auf meinem Bett ausgebreitet, das ich nun endgültig anziehen würde. Ein schwarzes Tank Top mit dem Aufdruck einer der Bands, die Victor so gerne hörte, aber mit der ich selber überhaupt nichts anfange konnte leider. Das machte aber nichts, das Shirt sah trotzdem verdammt cool aus. Darunter trug ich einen dunklen Rock aus Jeansstoff, und damit ich mir die frisch rasierten Beine nicht ganz blau fror hatte ich für darunter noch eine dicke Strumpfhose mit einem lila farbenen Leomuster drauf. Die Farbe passte sehr gut zu meinen lila farbenen Strähnen, die ich ja schon seit einer ganzen Weile hatte. Und weil nur das Tank Top viel zu kalt wäre, denn immerhin hatten wir ja Dezember, trug ich darüber noch einen schwarzen Shrug mit einem Lochmuster. Zum Abschluss würde ich noch meine kurze Lederjacke anziehen. Um meine Füße zu bedecken entschied ich mich für kniehohe schwarze Lederstiefel mit einem hohen Absatz. Nun würde ich mich nicht mehr ständig auf die Zehenspitzen stellen und mich strecken müssen, wenn ich Victor küssen wollte.

Ich trug vorsichtig lila farbenen Lidschatten auf und dann natürlich noch Kajal und Wimperntusche. Bei dem Lipgloss hielt ich es heute ein wenig dezenter, er war einfach leicht rosa gefärbt, so dass meine Lippen, abgesehen von dem starken Glanz, alles in allem noch ziemlich natürlich aussahen. Meine Haare hatte ich einfach zu einem gewollt unordentlichen Pferdeschwanz gebunden.

Nachdem ich fertig geschminkt und angezogen war betrachtete ich mich selbst wohlwollend in meinem großen Spiegel, der an der einen Tür meines Kleiderschranks angebracht war, und in dem ich mich komplett sehen konnte. Ich war wirklich mehr als zufrieden mit mir selbst. Manchmal konnte ich selbst kaum fassen was für eine weitreichende Wandlung ich eigentlich durchgemacht hatte, und wie ich in der Schulhierarchie rasend schnell aufgestiegen war. Ich hoffte und betete, dass dieser Traum, den ich momentan lebte, niemals enden würde.

Und dann blieb mir vorerst nichts anderes übrig als mich auf mein Bett zu setzen und zu warten, dass ich von Victor und Jason abgeholt wurde. Und ich wartete. Und wartete. Und wartete. Jede Minute warf ich einen unruhigen Blick auf meinen kleinen Wecker, der rechts von mir auf meinem Nachttischchen stand, gleich neben einem Foto von mir und Victor, das vor ein paar Wochen gemacht worden war. Wir hielten uns beide in den Armen und ich lachte glücklich in die Kamera, während Victor mal wieder den Coolen vom Dienst gab und lässig lächelte. Victor Blackraven war einfach ein absoluter Traumtyp und ich konnte mich wirklich glücklich schätzen, dass ich seine feste Freundin sein durfte. Ich hoffte, dass das mit uns für immer halten würde. Vielleicht würden wir auch eines Tages heiraten, Kinder kriegen und bis an unser Lebensende miteinander glücklich sein. Aber Moment mal, stimmt, da war doch etwas. Ich lachte und schüttelte meiner eigenen Dummheit wegen den Kopf. Victor würde niemals sterben, schließlich war er ein Vampir. Na gut, dachte ich. Dann würde ich eben ganz besonders großzügig sein und ihm erlauben sich ein anderes Mädchen suchen zu dürfen, wenn ich dann irgendwann einmal im hohen Alter verstorben sein würde.

Ich malte mir allerlei Dinge aus, wie meine Zukunft zusammen mit Victor wohl aussehen könne, und achtete darüber dann gar nicht mehr auf die Uhr, bis ich vor meinem Fenster, das ich geöffnet gelassen hatte, ein Auto hupen hörte. Da waren sie ja endlich! Eine halbe Stunde zu spät, wie ich feststellte, als ich noch einen schnellen Blick auf meinen Wecker warf, mir hastig meine Lederjacke überzog und schnell wie der Wind die Treppe hinunter raste, um ja keine unnötige Zeit zu verlieren.

„Ich wünsche dir viel Spaß bei Lilly, Stella“, rief mein Dad mit aus dem Wohnzimmer nach. Er saß dort in seinem Sessel, den er sich zurück geklappt hatte, und schaute sich irgendein Football-Spiel auf einem der vielen Sportsender an.

„Danke“, rief ich noch. „Bis morgen!“

„Bios morgen, und mach keinen Blödsinn!“

Doch seine letzte Bemerkung hörte ich schon gar nicht mehr, weil ich bereits die Tür hinter mir in das Schloss geworfen hatte und mit schnellen Schritten auf das schwarze Auto, das für mich immer noch wie ein deprimierender Bestattungswagen aussah, zuging. Ich konnte schon von weitem das Wummern der Musik aus den Boxen hören. Das gehörte einfach zu Fahrten in diesem Auto dazu, Rockmusik, die für meinen Geschmack immer ein wenig zu laut war. Aber ich dachte, dass ich irgendwann einmal in vielen vielen Jahren sicherlich wehmütig an diese Zeit jetzt zurückdenken würde und mir denken würde, wie schön diese Wochen und Monate damals doch waren.

Das Auto war bereits voll besetzt. Vorne auf dem Fahrersitz saß, es war nicht anders zu vermuten, Jason Blackraven. Ich war mir ziemlich sicher, dass er sich hundert mal lieber einen Pflock durch sein Herz gejagt hätte als jemanden hinter das Steuer seines heißgeliebten Autos zu lassen. Und Victor hielt es mit seinem Motorrad ja ganz genau so.

Victor saß also vorne neben seinem Bruder auf dem Beifahrersitz. Hinten saßen dicht gedrängt zwei von Victors und Jasons besten Freunden, Freddy und Dan. Beide hatten jeweils ein Mädchen dabei. Das eine Mädchen kannte ich überhaupt nicht, was mir komisch vorkam. Sie hatte lange dunkle glatte Haare, war schick angezogen und machte eigentlich so erst einmal einen ganz netten Eindruck. Auf der anderen Seite, ganz am Fenster hinter dem Fahrersitz saß.... Oh mein Gott, es war Crystal Summers! Was machte DIE denn bitte her? Wer hatte sie denn eingeladen? Crystal funkelte mich böse an und flüsterte Dan, dessen Begleitung sie heute offensichtlich war, irgend etwas in sein Ohr, worauf er ein wenig verstimmt etwas zu ihr sagte, aber ich konnte von beiden kein einziges Wort verstehen.

Victor öffnete die Fahrertür auf seiner Seite und rief mir zu: „Hey, Baby. Du siehst toll aus heute!“

Ich fühlte mich geschmeichelt und eine leichte Röte überzog meine Wangen.

„Danke“, hauchte ich. „Das Auto ist aber ganz schön voll. Wo soll ich denn sitzen?“

„Ja, das tut mir furchtbar leid. Aber du kannst froh sein, dass Jason hier nicht auch noch ein Date hat, sonst würde es ja noch viel schlimmer sein.“

„Ja, das stimmt“, lachte ich. „Aber wie machen wir das denn jetzt?“

Victor klopfte sich auf sein Bein, grinste mich an und sagte: „Ich befürchte die Dame muss wohl leider leider auf meinem Schoß Platz nehmen. Ich hoffe das stört dich nicht.“

„Aber ist das nicht gefährlich“, antwortete ich zögernd. Ich erinnerte mich an die schrecklichen Autounfälle, die es manchmal bis in die Abendnachrichten schafften. „Das kann ich nicht machen, das geht doch nicht.“

„Nur keine Angst, Jason ist ein sehr guter Fahrer.“

Und ein zügiger noch dazu, dachte ich bei mir. Jason hatte normalerweise immer ein irrwitziges Tempo drauf. Na ja, ihm konnte es ja eigentlich auch egal sein, schließlich würde er wohl kaum bei einem schlimmen Autounfall sein Leben verlieren können, wenn sich ihm nicht gerade irgendetwas in die Brust bohrte, und das war ja nun ziemlich unwahrscheinlich.

„Jetzt steig schon ein, ich fahre auch vorsichtig“, warf Jason dann selbst in die Unterhaltung ein.

Hinten auf den Rücksitzen machte Crystal schon wieder eine bissige Bemerkung und lachte mich aus, weil ich so ein feiges Hühnchen war. Pah, diese blöde Kuh! Der würde ich es schon noch zeigen!

Zu allem entschlossen stieg ich dann schließlich doch zu Victor und Jason nach vorne. Ich brauchte eine kleine Weile, bis ich endlich so saß, dass es für uns beide, für Victor und mich, zumindest so halbwegs bequem war. Aber toll war es definitiv nicht, wenn man einmal davon absah, dass ich ihm so dann doch sehr nahe sein konnte. Victor hatte seine Arme um meinen Körper geschlungen und hielt mich gut fest.

„Du kannst wahrscheinlich jetzt gar nicht aus dem Fenster sehen, oder?“

„Nein“, gab er zu. „Aber das macht nichts. Ich habe auch so eine ziemlich gute Aussicht.“

„Ach, du“, kicherte ich.
 

Die Fahrt dauerte ein wenig länger, denn Cedar Creek lag etwas weit entfernt. Wir waren eine gute halbe Stunde unterwegs, und ich hoffte voller Inbrunst, dass wir unterwegs keinem Polizisten begegneten, der uns an der Weiterfahrt mit so vielen Leuten im Auto hindern würde.

Wir hatten Glück und kamen schließlich ganz unbehelligt in Cedar Creek an. Jason suchte in einer Straße einen Parkplatz, und dann mussten wir noch gute 5 Minuten laufen.

„Wo genau gehen wir denn hin“, fragte ich meinen Schatz.

„In unsere Lieblingskneipe, The Smith's. Da gehen Jason und ich sehr gerne hin um einen zu trinken oder einfach nur einen netten Abend zu verbringen. Das kann man dort nämlich sehr gut.“

Ich war ganz aufgeregt, ich hatte noch nie eine Kneipe von innen gesehen. Aber dann fiel mir etwas ein.

„Aber wir können doch noch gar keinen Alkohol trinken, wir sind alle noch nicht volljährig.“

„Das stimmt schon“, sagte Victor. „Aber wir kennen den Besitzer sehr gut, und er lässt uns und unsere Freunde immer was trinken, egal wie alt wir sind.“

Und etwas leiser, so dass nur ich ihn hören konnte, fügte er noch hinzu: „Jason und ich sind ja eigentlich schon alt genug, und das weiß unser Freund auch.“

Ich war erstaunt. Ich hielt meine Stimme eben so gesenkt, so dass niemand verstehen konnte, was ich sagte, der es nicht hören sollte.

„Er gehört also auch... zu euch?“

Victor nickte.

„So ist es.“

„Na dann...“

Nun war ich aber gespannt auf diesen anderen Vampir, den ich hoffentlich bald kennenlernen würde.
 

Die Kneipe The Smith's war wirklich sehr gemütlich. Wir kamen durch die Eingangstür, die aus schwerem Holz und leuchtend rot bemalt war. Innen schlug uns sofort stickig warme Luft entgegen, die stark nach Alkohol roch, hauptsächlich Bier. Es wurde Musik gespielt, aber in einer so angenehmen Lautstärke, dass man sich noch ohne jegliche Probleme miteinander unterhalten konnte. Die ganze Einrichtung bestand aus dunklen Möbeln aus Holz, die alle klar lackiert und völlig blank gescheuert waren. Selbst der Fußboden war aus Holz. An den Wänden hingen überall so altmodische Werbeschilder aus Metall, wie man sie heute eigentlich nur noch zu Sammlerzwecken kaufen konnte.

Ich fühlte mich sofort sehr wohl hier, es war alles irgendwie sehr gemütlich auf seine eigene Art und Weise.

Victor führte unsere kleine Gruppe zu einem großen Holztisch, der ganz hinten in einer Ecke stand. Ich setzte mich mit dem anderen Mädchen, von dem ich mittlerweile herausgefunden hatte, dass es Melissa Huntington hieß, auf die schwere Bank, die in der Ecke stand. Neben Melissa setzte sich Freddy hin. Die beiden hatten sich bei irgendeinem Sportverein, dem sie beide angehörten, kennengelernt und waren erst seit ein paar Tagen ein festes Paar. Dementsprechend verliebt turtelten die beiden auch rum, fast genau so wie ich es noch mit Victor zu tun pflegte. Meine erste Verliebtheit für ihn hatte sich immer noch nicht gelegt, ich war so sehr in ihn verliebt wie am allerersten Tag. Neben Freddy wollte Dan sitzen, aber dieser machte sich mit Victor und Jason auf den Weg zu der Bar, wo sie alle erst einmal den Mann hinter der Theke herzlich begrüßten und sich ein wenig unterhielten.

Crystal hatte sich mit ein wenig Abstand neben Freddy gesetzt und versuchte Melissa in ein Gespräch zu verwickeln, was sie denn so in ihrer Freizeit mache und wie es an ihrer Schule sei. Denn Melissa lebte nicht, wir wie alle anderen, in Moores Mill, sondern in Franklyn, was aber ziemlich nahe an Moores Mill lag.

Ich versuchte der Unterhaltung zu folgen um mehr über Melissa herauszufinden. Vielleicht würde sie nun etwas öfter mit uns herumhängen, denn schließlich war Freddy ein fester Bestandteil unserer kleinen Gruppe. Nur das mit Crystal, ich hoffte wirklich, dass es mit ihr und Dan nichts ernsthaftes war, und ich sie bald wieder los wäre. Mit mir unterhielt sich Crystal im Übrigen überhaupt nicht, ich wurde von ihr komplett ignoriert.

Victor, Jason und Dan kamen nach 10 Minuten endlich zu uns zurück, jeder hielt zwei Gläser in seinen Händen. Dan musste noch einmal laufen, um das letzte Getränk noch zu holen, denn drei Gläser hätte niemand von ihnen auf einmal tragen können. Die Jungs hatten sich und Freddy alle je ein Bier geholt, und uns Mädchen hatten sie Bier mit Cola besorgt. Mädchen hatten es ja nicht unbedingt so sehr mit purem Bier, und auch ich mochte dieses Mischgetränk sehr viel lieber, weil es so süß schmeckte und überhaupt nicht bitter war, so wie es die Eigenschaft von Bier war.

Ich bedankte mich brav bei meinem Freund und gab ihm einen Kuss auf die Wange, nachdem er sich neben mich gesetzt hatte.

„Auf einen tollen Abend“, rief Freddy und hielt sein Glas Bier in die Höhe. Nacheinander stießen wir alle an und tranken jeder einen Schluck. Ich fühlte mich wirklich gut. Ich hatte meinen liebsten bei mir, ich war unter sehr guten Freunden, wenn man einmal von Crystal Summers absah, der ich am liebsten mein Bier in ihr dämlich selbstgefällig grinsendes Gesicht gekippt hätte. Aber ich beschloss einen wirklich schönen Abend zu verbringen, er konnte ja eigentlich kaum nicht schön werden, da war ich mir ganz sicher.
 

Wir unterhielten uns sehr viel, und die Jungs sorgten nacheinander immer wieder dafür, dass nie ein leeres Glas auf unserem Tisch stand und wir alle ausreichend zu trinken hatten.

Irgendwann stellte ich plötzlich fest, dass sich alles um mich herum drehte. Herrjeh, da hatte ich wohl ein wenig zu tief in mein Glas geschaut. Aber das machte absolut nichts, mir ging es gut, und ich hatte wirklich die allerbeste Laune. Allen anderen ging es ganz genau so. Nur bei Victor stellte ich einmal mehr fest, dass ihm der Alkohol absolut nichts anzuhaben schien.

„Wie kommt das“, fragte ich ihn. Meine Zunge war ganz schwer, und ich merkte wie schwer es mir fiel noch klar und deutlich zu sprechen.

„Meine kleine Schnapsdrossel“, neckte Victor mich. „Du bist echt süß, wenn du betrunken bist.“

„Ich bin nicht betrunken“, versuchte ich mich zu wehren, aber ich musste einsehen, dass Victor recht hatte. „Aber wieso bist du es nicht?“ Ich wollte nicht so schnell aufgeben.

„Das liegt daran, dass ich einfach eine ganze Menge vertrage. Wer weiß, vielleicht habe ich ja irisches Blut in mir.“

Ich lachte.

„Erzähl mir doch nicht so einen Blödsinn, Victor Blackraven!“

Victor lachte ebenfalls.

„Nun ja, manche Leute können Alkohol eben sehr viel besser vertragen als andere Menschen. Ich schätze, dass ich einfach eine natürliche Resistenz gegen die Wirkung von Alkohol habe. Ich habe den großen Vorteil, dass ich am nächsten Morgen niemals einen Kater haben werde.“

„Da hast du aber Glück.“

Endlich verstand ich das, was Victor mir hatte sagen wollen. Anscheinend hatte absolut absolut überhaupt keine Wirkung auf Vampire. Und dass er niemals einen Kater haben würde, das hörte sich einfach toll an. Ich selber hatte zwar auch noch nie einen gehabt. Wie denn auch, wenn ich nie sehr viel trank, und überhaupt nur sehr wenig Gelegenheit dazu bekommen hatte bisher etwas zu trinken. Aber das, was einem das Fernsehen in Filmen und so immer suggerierte, demzufolge musste ein Kater wirklich etwas furchtbar Schlimmes sein, und ich wollte niemals einen bekommen. Allerdings war ich gerade auf dem besten Wege alles dafür zu tun, dass morgen früh das Gegenteil eintreffen könnte.
 

Wenn ein besonders gutes Lied aus den Boxen, die überall an der Decke in den Ecken angebracht waren, kam, dann sangen wir alle mit. Na ja, fast alle. Jason schunkelte zwar gemeinsam mit uns im Takt dazu, aber ansonsten hielt er sich ziemlich zurück. Und trotzdem trank er ein Bier nach dem anderen, und zu fortgeschrittener Stunde gingen Victor, Jason, Dan und Freddy dazu über sich an die härteren Getränke wie Vodka und Whiskey zu halten. Ich hätte eigentlich bei meinem Bier-Cola-Mix bleiben sollen, aber ich war furchtbar neugierig auf all die anderen Getränke, die ich bisher ja nur vom Hörensagen her kannte. Und so probierte ich den ein oder anderen Kurzen und nippte stets bei Victor an seinem Getränk, wenn er sich etwas neues geholt hatte. So war es wohl überhaupt kein Wunder, dass ich bereits um Mitternacht mehr als betrunken war, aber da war ich Gott sei dank nicht die einzige. Freddy, Dan, Melissa und Crystal ging es auch nicht sehr viel besser als mir selbst. Der Höhepunkt an diesem Abend, auf den ich eigentlich mehr als gut hätte verzichten können (und ich vermute mal stark, dass viele andere der Gäste des Smith's genau so dachten wie ich), als Crystal zu einem Lied, das ihr besonders gefiel, auf unseren Tisch kletterte, was an sich schon sehr komisch aussah, weil sie schon so stark schwankte, und dann schaffte sie es doch mit Hilfe von Dan nach oben und begann zu tanzen. Zuerst feuerten wir sie alle auch noch an, sogar ich, denn ich war mittlerweile so betrunken, dass mir die Feindschaft mit ihr relativ egal war, ich hatte es bis in mein Unterbewusstsein geschoben und für den Moment völlig vergessen. Aber dann machte Crystal Anstalten sich ihr Top über den Kopf zu ziehen, und Jason besaß genügend Geistesgegenwart sie sofort von dem Tisch herunter zu holen, bevor wir alle noch etwas zu sehen bekamen, das uns für den Rest unseres Lebens traumatisiert hätte. Dass er Crystal damit vor ziemlich bösem Geläster in der Schule bewahrt hatte, war mir eigentlich so etwas von egal wie ein Sack Reis, der in China umfiel. Oder es auch nicht tat. Wie auch immer. Wie ich schon sagte, es war mir völlig egal.

Wir lachten sehr viel, weil wir uns viele spaßige Dinge erzählten. Freddy hatte eine ganze Menge wirklich schlechter Witze auf Lager.

„Ich hab gestern den DJ angerufen“, begann er.

„Und? Was hat er gesagt?“

„Er hat aufgelegt.“

Wir lachten alle herzlichst, obwohl der Witz wirklich unterirdisch schlecht war. Aber wenn man betrunken war, dann fand man eben alles irgendwie komisch.
 

Irgendwann musste ich dann mal auf das Klo, denn das Bier trieb unheimlich. Die Ruhe, die dieser Raum ausstrahlte, war absolut himmlisch.

Ich stand gerade am Waschbecken und wusch mir schön brav die Hände, als sich hinter mir die Tür öffnete und Crystal zu mir hinein trat. Lässig lehnte sie sich neben mir an die Wand, verschränkte ihre Arme vor der Brust und betrachte mich abschätzig von oben bis unten.

„Was ist“, wollte ich von dir wissen. „Hab ich etwa ein Kotelette im Gesicht?“

„Ach, halt doch die Klappe“, wies mich Crystal schroff zurecht. „Mal ganz ehrlich, unter uns Mädchen gesprochen. Das mit dir und Victor Blackraven ist doch nichts weiter als ein absoluter Witz. Was bildest du dir eigentlich ein? Du bist ein Nichts, ein absoluter Niemand. Und du hast es gewagt ihn mir wegzunehmen!“

„Wenn er dich total scheiße findet und mich dir vorzieht kann ich da doch auch nichts für. Mir an deiner Stelle würde das ja ordentlich zu denken geben, Crystal.“

„Ach, halt doch die Klappe, Stella Deer.“

Sie sprach meinen Namen aus, als wäre es ein besonders ekelhaftes Wort.

„Du hast doch einfach keine Ahnung. Du bist immer noch nichts weiter als eine kleine graue Maus, die nur Freunde hat, weil sie plötzlich die Freundin von einem beliebten und gutaussehenden Typen ist. Ich weiß zwar nicht wie du das angestellt hast, aber so mit ganz rechten Dingen kann das ja nicht zugegangen sein, davon ich ich ganz fest überzeugt.“

„Das stimmt doch alles überhaupt gar nicht!“

Ich wurde langsam wirklich wütend.

Crystal beugte sich zu mir hinüber und sagte mit drohender Stimme zu mir: „Ich rate dir, lass deine verdammten Finger von meinem Victor. Er gehört zu mir, er gehört mir ganz allein, hast du das endlich kapiert?“

„Aber er ist immer noch mein Freund, Crystal, sieh das doch endlich ein. Und glaube nicht, dass ich ihn so leicht aufgeben werde!“

Crystal stampfte wütend mit ihrem Fuß auf den Boden. Sie drehte den Wasserhahn auf und spritzte mich ordentlich nass.

„Hey, was soll das“, schrie ich. „Hast du sie noch alle?!?“

Crystal war kurz davor nun endgültig auf mich loszugehen. Ich meiner Not wusste ich mir nicht anders zu helfen als den kleinen Seifenspender zu nehmen, der auf dem Waschbecken stand. Es war einer von denen, die man überall für den normalen Haushalt kaufen konnte. Ich richtete die Flasche auf Crystal und drückte ab, so dass sie eine ordentliche Portion Seife in ihr Gesicht bekam.

„Was zum.... Verdammt nochmal! Stella, du verdammtes Miststück“, schrie sie mich wütend an, aber noch bevor sie irgendwie anders reagieren konnte war ich schon aus der Toilette geflüchtet und sah zu, dass ich eilig wieder zu Victor kam.

Crystal kam mir Gott sei Dank nicht nachgelaufen, ich vermutete, dass sie nun erst einmal damit beschäftigt war ihr ach so tolles Make-up zu retten und sich die ganze Seife aus dem Gesicht und den Haaren zu waschen. Bei dem Gedanken daran, wie sie jetzt vermutlich schimpfend über dem Waschbecken hing, konnte ich nicht anders als zu kichern.

Crystal tauchte erst nach vielen Minuten wieder auf.

„Das kriegst du wieder“, zischte sie mir zu, verhielt sich ansonsten aber für den Rest des Abends ruhig mir gegenüber. Nur ihre gute Laune war an diesem Abend endgültig dahin. Mir hingegen ging es jedoch sehr viel besser, denn ich hatte endlich einmal einen Sieg gegen diese dumme Pute gelandet.

Out of reach

Dusk ging langsam die Straße entlang. Er war gerade von der Arbeit gekommen und freute sich darauf endlich nach Hause zu kommen, sich in seinem Zimmer zu verkriechen und Ruhe zu haben. Vielleicht noch eine schöne kühle Limonade trinken, das wäre es jetzt.

Er stand an einer Ampel, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er sie. Sein Herz hörte für einen Moment lang auf zu schlagen. Sie war es. Es gab keinen Zweifel daran, SIE war es! Dusk stockte der Atem. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sie hier war. Er hatte nicht nach ihr gesucht, aber sie war ihm über den Weg gelaufen, ganz zufällig. Das war so unwahrscheinlich, denn schließlich hätte sie an jedem beliebigen Ort auf der erde sein können, aber nein, sie befand sich hier, in Chicago im Jahre 1956.

Sie trug einen rosa farbenen Petticoat und hatte ihr hellbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Sie trug ein paar Bücher unter ihrem Arm und wirkte sehr zufrieden in diesem Moment.

Die Ampel sprang für die Fußgänger auf grün, und sie kam ihm entgegen. Dusk war nicht in der Lage sich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Er hatte es ja eigentlich schon beinahe aufgegeben, er hatte sich dieses mal bewusst dazu entschlossen sie nicht zu suchen, aber sie war zu ihm gekommen und hatte sich von ihm ganz zufällig finden lassen.

Sie lief an ihm vorbei und bedachte ihn keines Blickes. Dusk sah ihr hinterher, und aus einem Impuls heraus folgte er ihr. Er konnte einfach nicht anders.

Während er ihr folgte fiel ein zettel aus einem ihrer Bücher, und Dusk hob ihn auf. Es war ein Büchereiausweis, der ausgestellt war auf eine Allyson Enma Damphey. So hieß sie also....

Dusk wollte ihr den Ausweis unbedingt zurückgeben. Er wollte mit ihr sprechen, er wollte sie unbedingt berühren.

Er hatte ziemlich große Mühe Allyson zu folgen, denn sie hatte einen flotten Schritt drauf. Als sie gerade über eine weitere Straßenkreuzung ging hatte er sie fast erreicht.

„Allyson“, rief er laut, doch sie hörte ihn nicht.

„Allyson!“

Diesmal rief er lauter, und das Mädchen hörte ihn. Verwundert drehte sie sich mitten auf der Straße um, um zu sehen, wer denn da ihren Namen gerufen hatte. Sie erblickte einen sehr gutaussehenden jungen Mann, der etwas Kleines in der Hand hielt und ihr zuwinkte. Irgend etwas wollte er anscheinend von ihr...

Gerade wollte sie auf ihn zugehen, da kam ein Taxi über die Straße gebrettert, ohne darauf zu achten wo es hin fuhr. Dusk erlebte diese schrecklichen Sekunden wie in Zeitlupe. Er wusste plötzlich ganz genau, was geschehen würde, und vielleicht hätte Allyson noch irgendwie zur Seite springen können, aber sie stand da wie ein Reh vor einem Autoscheinwerfer und war völlig unfähig sich auch nur das winzigste Stück zu bewegen. Sie beide, Dusk und Allyson, wussten, was geschehen würde, und trotzdem hatte keiner von ihnen die Macht etwas daran zu ändern.

Das Auto erfasste das junge und hübsche Mädchen.

„Verdammt, nein“, brüllte Dusk. „Nicht schon wieder....“

Dabei hatte er sie doch gerade erst gefunden. Wieso hasste ihn das Schicksal so sehr? Schon bevor er den reglosen Körper, der blutend mitten auf der Straße lag, erreicht hatte, wusste er, dass das Mädchen bereits tot war.

„Wieso“, fragte er immer wieder leise, während er Allyson in seinen Armen hielt. „Wieso können wir denn nicht endlich miteinander glücklich werden?“

Und dieses Mal hatte er noch nicht einmal Gelegenheit dazu gehabt sie richtig kennenzulernen und zumindest ein klein wenig Glück mit ihr zu teilen.

In diesem Moment wünschte Dusk sich sehnlichst, dass er hätte sterben können.

Zuhause gibt es Ärger

Es vergingen weitere Wochen, die ich mehr als glücklich mit meinem Victor verbrachte. Ich liebte diese Zeit, in der ich so furchtbar viel Spaß hatte und endlich damit begann zu leben.

Nur hatte mein Dad langsam Verdacht geschöpft. Ich blieb immer öfter viel zu lange weg, zumindest sofern es nach seiner Meinung ging. Ich hatte keine Lust mehr mich ganz alleine um den Haushalt zu kümmern. Ich mochte nicht mehr für ihn kochen und seine dreckige Wäsche waschen. Ich hatte keine Lust mehr dazu jedes noch so kleine Staubfusselchen aus jeder Ecke des Hauses zu saugen. Langsam wurde mir immer mehr bewusst, dass ich mich bei mir Zuhause einfach nur wie ein Dienstmädchen vorkam. Oder beinahe so wie ein Ersatz für eine Ehefrau, zumindest was die Versorgung des Mannes und des Haushaltes anging. Alles andere wäre ja auch... wirklich merkwürdig gewesen. Brrrrr.

Ich ließ meine Hausarbeit also mit der Zeit immer mehr schleifen, weil ich mehr Zeit mit Victor verbrachte und mit ihm, Jason und anderen Freunden unterwegs war. Mir fiel überhaupt nicht auf, dass ich eigentlich niemals mit Victor alleine gewesen war, immer war jemand dabei gewesen bisher. Aber das hatte mich auch nie gestört. Viele Jahre lang war ich völlig einsam gewesen und hatte eigentlich so gut wie keine Freunde gehabt. Jetzt genoss ich das richtig, dass immer jemand um mich herum war, und dass ich Freunde hatte, mit denen ich meine Zeit verbringen konnte.

Mit Lilly traf ich mich nicht mehr sehr oft, und wenn sie mich dann einmal erwischte, sagte sie immer, dass sie das sehr schade fand, und dass sie gerne wissen würde, was denn mit mir passiert sei. Dabei hatte sich doch gar nicht viel verändert, fand ich. Ich hatte nur endlich zu mir selbst gefunden. Ich hatte herausgefunden dass ich auch jemand anders sein konnte als dieses graue und unscheinbare Mädchen, das ständig nur zuhause rum hockte und völlig einsam war. Sie war zwar meine allerbeste Freundin auf der ganzen Welt, aber manchmal hatte ich doch schon das Gefühl, dass sie mich einfach nicht verstehen konnte. Lilly hatte sich schließlich nie so gefühlt wie ich und konnte deswegen auf einfach gar nicht verstehen wie toll es für mich war plötzlich beliebt zu sein bei anderen Jugendlichen in meinem Alter. Ich hatte eine gewisse Anerkennung, und das wollte ich nie wieder in meinem Leben hergeben müssen.
 

Eines Abends saß ich in meinem Zimmer auf meinem Bett und hatte meinen Laptop vor mir auf der Decke liegen. Ich surfte im Internet und schaute bei Facebook nach was meine Freunde gerade so taten. Jetzt, da ich viel mehr Freunde in meiner Liste hatte, war das auch gleich viel interessanter, und andere Freunde zeigten auch endlich Interesse an den Dingen, die ich so postete. Früher, in der Zeit vor meiner Beziehung mit Victor Blackraven, war selbst Facebook für mich immer eine mehr als einsame Sache gewesen.

Ich hörte wie unsere Haustür aufgeschlossen wurde, und schwere Schritte im Flur verrieten mir, dass mein Dad von seiner Arbeit in der Werkstatt nach Hause gekommen war. Er war heute ein bisschen später dran als sonst, es war bereits nach 11 Uhr abends. Normalerweise war er spätestens um 10 Uhr abends daheim und wollte etwas Warmes essen.

Das Essen hatte ich schon, wie üblich, vor gekocht. Ich kam ja schon immer viel früher aus der Schule und hatte dann schließlich auch Hunger, also kochte ich meistens schon immer am Nachmittag und ließ meinem Dad dann etwas übrig, das er sich dann am Abend in der Mikrowelle noch einmal aufwärmen konnte. Für heute gab es nur eine Erbsensuppe aus der Dose, weil ich einfach keine große Lust gehabt hatte zu kochen. Dafür hatte es gestern Schnitzel mit Kartoffelecken und Salat gegeben. Ich fand, wenn ich mich am Tag zuvor mit dem Essen wirklich Mühe gegeben hatte, dann durfte es auch mal zwischendurch ein Fertiggericht geben.

„Stella? Bist du Zuhause?“

Mein Dad rief nach mir, und ich antwortete ihm. Ich öffnete die Tür meines Zimmers und schaute nach wo er gerade war.

Mein Dad stand in der Küche vor dem Herd und blickte seufzend in den Topf, der ungefähr zur Hälfte mit dieser dicken grünen Pampe namens Erbsensuppe gefüllt war.

„Hey, Dad. Was gibt es? Was möchtest du von mir?“

Mein Dad drehte sich zu mir um. Er sah müde aus, aber in seinen Augen funkelte irgend etwas. Oh oh... Das bedeutete wirklich nichts Gutes.

„Setz dich bitte hin, Stella“, sagte er und wies mit seiner Hand auf einen der zwei Küchenstühle, die an unserem winzig kleinen Esstisch standen.

Nachdem meine Mutter uns verlassen hatte waren wir von einem Haus, das meinen Eltern gehört hatte, ich diese Wohnung hier gezogen, die nur auf zwei Bewohner ausgelegt war.

Ich setzte mich und ahnte nichts Gutes. Irgend etwas stimmte da doch nicht...

„Ich muss mal ein ernstes Wort mit dir reden.“

Da hatten wir es ja, jetzt war es amtlich, ich würde Ärger bekommen. Aber wofür nur? Fieberhaft dachte ich darüber nach was ich womöglich angestellt haben könnte, aber mir wollte einfach nichts einfallen. Ich hatte doch alles richtig gemacht, oder etwa nicht? In der Schule benahm ich mich so gut und brav wie immer, und auch meine Noten hätten nicht besser sein können. Ich war eben ein kleiner Streber, ich war schon immer gut in der Schule. Das hatte mich bisher leider schon oft dem Spott meiner Mitschüler ausgesetzt. Ich wusste wirklich nicht, warum man immer auf jemandem herum hacken musste, nur weil er gut in der Schule war und wirklich sehr gute Noten mit nach Hause brachte.

Also um meine schulischen Leistungen konnte es hier nicht gehen, so viel war schon einmal klar. Aber was war es denn dann? Was hatte ich denn bitte getan, dass so schlimm sein konnte, dass mein Dad „ein ernstes Wort“ mit mir reden musste?

Ich sollte es schon sehr bald erfahren, ob es mir nun lieb war oder nicht.

Mein Dad setzte sich auf den anderen der beiden Küchenstühle, nachdem ich dort Platz genommen hatte, und blickte mich ernst an.

„Ich habe heute mit Hank gesprochen“, begann er.

Hank Johnson war einer von Dads besten und ältesten Freunden. Er arbeitete in dem Gemischtwarenladen in Moores Mill, und die beiden trafen sich ziemlich oft, vor allem wenn mein Dad zwei mal in der Woche die Einkäufe für uns erledigte.

„Und“, wollte ich von ihm wissen.

„er meinte, er hätte dich mit einem Jungen gesehen.“

„Wirklich?“

Ich versuchte so zu tun als wäre ich ganz cool, aber in Wirklichkeit bekam ich Panik, dass mein Dad das mit Victor und mir herausfinden würde. Das wäre absolut furchtbar!

„Stella, hast du einen Freund?“

Ich druckste herum, als mein Dad mich so direkt auf die Sache ansprach. Ich hatte ihm Victor jetzt schon mehrere Monate lang verheimlicht, und ich wusste, dass mein Dad es wirklich nicht mochte, wenn ich mit anderen Jungs zusammen war. Da könnte ja sonst etwas passieren, meinte er immer.

„Bevor du irgendetwas sagst, Stella: Lüg mich bitte nicht an.“

Ich seufzte tief. Ich steckte in einer ganz schön schlimmen Zwickmühle. So viel Anstand und Ehrgefühl hatte ich dann doch noch, dass ich meinen Dad wirklich nicht belügen wollte. Aber ich wollte auch mein Glück mit Victor auf's Spiel setzen, das wollte ich wirklich nicht.

„Also? Ich höre. Und keine Ausreden.“

Ich schwieg zunächst und versuchte noch so lange es ging meine Antwort hinauszuzögern. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Ticken der Küchenuhr über der Spüle. Tik tak, tik, tak, tik tak.... Dieses Geräusch in der Stille machte mich noch ganz wahnsinnig! Also platzte ich schließlich mit der Wahrheit heraus.

„Ja! Ja, es stimmt, ich habe einen Freund. Und ich liebe ihn wirklich sehr!“

Dad erhob seine Stimme und wurde ziemlich laut.

„Es ist mir egal wie sehr du ihn liebst, du weißt ganz genau, was ich davon halte, dass du einen Freund hast, nämlich absolut und überhaupt nichts! Du bist noch viel zu jung um einen Freund zu haben!“

„Aber ich bin doch schon 16 Jahre alt, Dad! Ich bin doch kein kleines Baby mehr! Soll ich etwa als alte Jungfer enden? Soll ich etwa Nonne werden? Willst du das für mich, Dad?“

Auch ich konnte nicht mehr ruhig bleiben. Bisher hatte mein Dad immer über mein Leben bestimmt, aber ich wollte das nicht mehr!

„Ich will nicht, dass du diesen Jungen noch einmal wiedersiehst“, verlangte er hartnäckig. „Er könnte sonst wer sein und wer weiß was mit dir anstellen.“

„Ach Dad, was soll denn schon groß passieren?“

„Was passieren soll? Siehst du denn kein Fernsehen? Zum Beispiel könntest du schwanger werden, und wie willst du das mit deinen 16 Jahren anstellen ein Kind großzuziehen, willst du mir das mal bitte verraten?“

„Aber Dad, da brauchst du dir wirklich überhaupt keine Sorgen drum zu machen!“

„Nichts aber! Ich verbiete dir ihn je wieder zu sehen! Und die nächsten 3 Wochen hast du Hausarrest! Es reicht mir langsam, dass du immer erst spät mitten in der Nacht nach hause kommst. Du hast schule, Stella! Du hast hier Aufgaben zu erledigen, du kannst dich nicht dauernd draußen mit wer weiß wem herumtreiben! Das hat jetzt ein ende, ein für alle mal!“

„Dad!“

„Nichts da mit 'Dad'! Du hast jetzt Hausarrest und fertig ist die Sache!“

„Du bist so gemein“, brüllte ich und stand so abrupt auf, dass mein Stuhl nach hinten kippte und mit einem lauten Schlag auf dem Küchenfußboden landete. Wutentbrannt rannte ich in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir so fest zu wie ich es nur konnte.

Ich konnte nicht mehr, heiße Tränen brannten mir in den Augen und liefen mir über das Gesicht. Das war so gemein! Ich wollte doch nur endlich glücklich sein! Ich wollte frei sein und leben wie jeder andere Teenager auch. Das war einfach nicht fair!
 

An diesem Abend weinte ich mich in den Schlaf.

My heart will go on

Vanity Phebe Hutchcome stand auf der Bühne und sang in das Mikrofon. Sie hatte ihr blondiertes Haar aufgesteckt und trug ein leuchtend rotes trägerloses Kleid mit dazu passenden Seidenhandschuhen. Ihre vollen Lippen strahlten in einem ebensolchen Rot wie ihr Kleid. An diesem Abend sah sie einfach perfekt aus, und sie wollte eine perfekte Show bieten.

Sie hatte Glück gehabt und das Engagement ihres Lebens bekommen. Sie durfte als Sängerin auf der Titanic mitfahren. Vielleicht würde das sogar ihren endgültigen Durchbruch bedeuten.

Hinter ihr auf der Bühne stand die Band, die sie begleitete. Die Mitglieder waren alles Männer, und mit einem von ihnen war sie sogar verlobt. Vanity konnte es manchmal immer noch kaum glauben, dass sie so früh schon jmanden gefunden hatte, mit dem sie den Rest ihres noch jungen Lebens teilen wollte.

Sie sang voller Inbrunst ein Lied nach dem anderen und tauchte völlig in ihre eigene Welt ein. In den Pausen zwischen den Liedern blickte sie immer wieder in das Publikum um zu sehen, was für Leute so gekommen waren um ihr heute zuzuhören. Es waren viele Paare dabei, die zu ihren Liedern tanzten, einige saßen an ihren Tischen und unterhielten sich mit irgendwem. Aber relativ nahe an der Bühne saß ein junger Mann, der vielleicht in ihrem Alter sein mochte. Er sah unverschämt gut aus, und wäre Vanity Phebe nicht schon verlobt gewesen, sie hätte sich sicherlich dazu hinreißen können... Nein, der Mann sah wirklich verdammt gut aus. Seine Gesichtszüge waren völlig ebenmäßig und so klassisch, als wäre er geradewegs von einer alten römischen Münze gesprungen. Er trug sein Haar streng zurück gekämmt und hatte einen gut sitzenden dunkelgrauen Anzug an. An seinem Tisch saßen noch weitere Personen, eine Frau, die sich laut lachend mit einem älteren Mann unterhielt, und ein weiterer junger Mann, den Vanity allerdings nur von hinten sehen konnte. Vielleicht war das seine Familie?

Die ganze Zeit über während sie ihr Programm abspulte ließ Vanity diesen jungen Mann nicht mehr aus den Augen. Was ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hatte war die Tatsache, dass er sie ebenfalls die ganze Zeit beobachtete. Nicht eine Sekunde lang nahm er seinen Blick von ihr. Vanity konnte selbst aus der Entfernung erkennen, dass er wunderschön strahlende blaue Augen hatte.

Nachdem sie alle Lieder gesungen hatte, die sie an diesem Abend vorhatte zu singen, verbeugte sie sich zusammen mit den Mitgliedern ihrer Band vor dem Publikum und verließ dann die Bühne.

In der Garderobe zog sie sich ihre Schuhe aus.

„Diese Schuhe bringen mich irgendwann noch um“, murmelte sie, während sie sich ihre Fußsohlen massierte. Sie war mehr als froh darüber, dass sie eine Umkleide ganz für sich alleine bekommen hatte, nach ihren Auftritten brauchte Vanity immer ihre Ruhe.

Während sie noch mit ihren sehr stark schmerzenden Füßen beschäftigt war hörte sie wie hinter ihrem Rücken die Tür ihrer Umkleidekabine in das Schloss fiel. Abrupt richtete sie sich auf und drehte sich um, denn sie hatte gar nicht gehört, dass die Tür geöffnet worden war. Hinter ihr stand der junge Mann, den sie während ihres Auftrittes die ganze Zeit beobachtete hatte. Oder er hatte sie beobachtet. Nein, eigentlich hatten sie sich beide gegenseitig beobachtet.

„Was wollen Sie hier“, fragte Vanity ihn erschrocken.

Es war eine furchtbare Ungehörigkeit einfach so ungebeten in die Räume einer Dame einzutreten, vor allem wenn sie gerade im Begriff war sich zu entkleiden. Vanity musste einfach aus diesem Kleid heraus. So schön es auch war, sie sehnte sich nach etwas, das etwas bequemer war.

„Ich habe Sie auf der Bühne gesehen“, begann der junge Mann und blickte sie unverwandt an. Sein stechender eisblauer Blick schien sie förmlich zu durchbohren, und es fröstelte Vanity ganz plötzlich. Aber auf der anderen Seite hatte dieser Kerl etwas an sich, dass sie unheimlich anzog.

„Ich verfolge Ihre Karriere schon eine geraume Zeit, ich bin ein großer Fan von Ihnen.“

„So, sind sie das?“

Nun war Vanity voll bei der Sache. Ein Fan war das also...

„Ja, das bin ich in der Tat. Ich finde, dass Sie eine wunderschöne Stimme haben, und ihre Ausstrahlung ist einfach...“

Er Schluckte.

„Verzeihen Sie bitte, dass ich mich Ihnen nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Everard Grimshaw.“

Vanity reichte ihm die Hand.

„Sehr erfreut. Und ich bin Vanity....“

„Vanity Phebe Hutchcome“, beendete Everard ihren Satz. „Ich weiß wie Sie heißen.“

Vanity wurde ganz rot und blickte verlegen auf den Boden. Aber das konnte sie nicht lange, denn das Gesicht von Everard zog ihren Blick magisch an.

Für einen Moment herrschte Schweigen in der kleinen Kabine, aber beide, Everard und Vanity spürten eine starke Anspannung, und plötzlich lagen sie sich in den Armen und küssten sich.

Warum sie das plötzlich tat wusste sie gar nicht. Was trieb sie denn dazu einen ihr völlig fremden Mann zu küssen, wobei sie doch eigentlich sogar noch einen Verlobten hatte! Aber Vanity schob ihr schlechtes gewissen, dass unaufhörlich gegen die Tür, hinter der es verschlossen worden war, pochte, sehr erfolgreich zurück in das Unbewusste. Sie tat einfach, was ihre Eingebung ihr vorgab.

Und auch Everard genoss diesen Moment sehr. Er hätte wirklich nicht gedacht, dass er seine große Liebe hier finden würde. Die Welt war so groß, und sie hätte wirklich überall sein können. Aber nein, er hatte sehr sehr großes Glück gehabt und sie ganz zufällig gefunden. Zumindest damals, als er durch die Straßen Londons gegangen war und in einer der vielen schäbigen Seitengassen ein Plakat von ihr gesehen hatte. Dieses Plakat hatte angekündigt, dass Vanity Phebe Hutchcome am 13. 8.1911 im Drunken Donkey auftreten würde. Es war wirklich nicht der beste Schuppen, in dem ein Künstler hätte auftreten können, aber Vanity war schließlich auch noch ganz am Anfang ihrer jungen Karriere gewesen.

Everard hatte sein Glück kaum fassen können, als er dieses Platak entdeckt hatte. Wäre nicht ein Bild von der jungen Vanity Hutchcome darauf abgebildet gewesen, er wäre mit absoluter Sicherheit einfach daran vorbei spaziert und hätte sie niemals gefunden, zumindest nicht in diesem Leben, vermutete er. Aber er hatte dieses Plakat gesehen und war zu ihrem Auftritt gekommen. Und auch zu jedem anderen, von dem er hatte in Erfahrung bringen können, was es stattfinden würde.Er hatte sie stets beobachtet und war immer in ihrer Nähe gewesen, ohne jedoch sich ihr weiter anzunähern. Er hatte einfach viel zu viel Angst davor gehabt. Schließlich wusste er ja, wie es bisher sonst immer gelaufen war. Stets war irgend etwas schief gegangen, und das wollte er nicht noch einmal so leicht riskieren. Dass er später dazu übergehen würde seine Strategie zu ändern und sich zu beeilen, um nicht unnötig Zeit zu verschwenden, das wusste er noch nicht, aber er würde es schon bald beschließen.

Aber jetzt standen die beiden einfach in Vanitys Umkleidekabine und küssten sich leidenschaftlich, bis sie Everard endlich von sich schob und ihn atemlos aus ihren großen smaragd grünen und dick mit Kajal umrandeten Augen anblickte. Erschrocken hielt sie sich ihre Finger an die Lippen. Sie konnte immer noch seinen Mund dort spüren und das leicht wunde Gefühl seines beginnenden Stoppelbartes auf ihrer porzellan zarten Haut.

„Was machen wir da eigentlich“, hauchte sie atemlos. „Das geht nicht, ich kenne Sie ja überhaupt nicht!“

„Aber ich kenne dich, Vanity. Ich kenne dich schon so lange, ein ganzes Leben lang und noch viel mehr.“

Vanity machte einen Schritt zurück und stieß mit ihrem Hintern gegen die Ablage ihres kleinen Schminktischchens.

„Verfolgen Sie mich etwa?“

Da hatte sie eigentlich nicht ganz Unrecht, dachte Everard. Aber er musste diese Sache hier ganz vorsichtig angehen, sonst würde sie vielleicht vor ihm flüchten, weil sie ihn zu aufdringlich fand.

„Nein. Doch. Ach, ich weiß es nicht, es ist alles so kompliziert....“

Verzweifelt rieb er sich mit der Hand über die Stirn und brachte seine strenge Frisur, die vor Pomade nur so glänzte, ganz durcheinander. Er musste es riskieren, er musste es ganz einfach!

„Vanity“, sagte er, „Ich liebe dich. Ich habe dich schon immer geliebt, und ich möchte dich nicht verlieren. Ich möchte, dass wir zusammen sind.“

Vanity war nun völlig verwirrt. In ihrem Inneren tobte ein heftiger Aufruhr. Immerhin hatte sie ja schließlich einen Verlobten! Aber dieser junge Mann hier, dieser Everard, übte eine so dermaßen starke Anziehungskraft auf sie aus, dass sie eigentlich gar nicht anders konnte.

„Du kommst mir so bekannt vor“, sagte sie langsam und vorsichtig und bemerkte erst jetzt, dass es wirklich stimmte. Dabei wusste sie gar nicht wo dieser Satz eigentlich hergekommen war.

„Aber wir können nicht zusammen sein, so gern ich das auch wollte, wirklich. Oh Everard, es tut mir so leid...“

Mit einem traurigen Blick legte sie eine Hand an Everards Wange und stellte fest, dass sie sich sehr kühl anfühlte. Es hätte sie eigentlich wundern müssen, vielleicht sogar erschrecken, aber das tat es nicht.

Eigentlich hatte Vanity gedacht, dass sie mit ihrem Verlobten mehr als glücklich war, denn er war alles für sie, ihre ganze Welt. Und nun stand dieser Everard Grimshaw hier vor ihr und gestand ihr seine Liebe. Und tief in ihrem Inneren fühlte Vanity eine ebenso starke Liebe zu ihm erwachsen, wie sie sie für ihren Verlobten niemals gespürt hatte. Trotzdem konnte sie die Verlobung doch nicht so einfach lösen, es ging einfach nicht!

„Everard, ich möchte wirklich gerne mit dir zusammen sein. Lass uns Zeit miteinander verbringen solange wir nur können. Denn ich weiß ganz genau, dass ich es mein Leben lang bereuen würde, wenn ich diese Gelegenheit verstreichen lassen würde und dich ziehen lassen würde, ohne dass ich es wahrgenommen hätte dich zu lieben.“

Everard schloss die blonde Vanity in seine starken Arme. Zärtlich strich er ihr über die Locken, die sich sanft um ihr Gesicht kringelten.

„Aber ich will auf ewig mit dir zusammen sein“, sagte er leise an ihrem Ohr.

„Everard“, sagte sie, „das geht wirklich nicht. Aber ich möchte die Zeit, die ich mit dir hier auf diesem Schiff habe, nutzen. Und wenn wir von Bord gehen, dann wird alles vorbei sein, denn ich werde mit meinem Verlobten nach Wyoming gehen, er hat dort einige verwandte. Und dann werden er und ich heiraten. Aber ich werde ein wenig Zeit mit dir haben, und die werde ich nutzen so gut es nur geht.“

Everard gab sich vorerst geschlagen, er hatte vor noch zu versuchen sie von sich zu überzeugen und sie ihrem Verlobten auszuspannen. Er konnte es nicht fassen, dass er zu spät gekommen war, dass Vanity schon in anderen Händen war. Dabei hatte er gedacht, dass ihre Liebe zueinander ewig war und sämtliche Grenzen überschritt. Er hatte sich nie ein anderes Mädchen gesucht, warum hatte sie das dann getan? Warum hatte sie einen Verlobten? Aber er war sich sicher, dass es mit den beiden nicht wirklich etwas Ernstes sein konnte, denn sie liebte nur ihn, Everard Grimshaw. Sie konnte niemand anderen lieben.

„Dann werden wir es so machen“, sagte er, meinte es aber nicht ernst.

 

Die beiden, Everard und Vanity Phebe, verbrachten einige schöne Tage miteinander. Sie trafen sich immer an geheimen Orten, wo weder Vanitys Verlobter noch irgend jemand anderes aus ihrer Band sie finden konnten. Am besten ging es unten im Lagerraum des größten Passagierschiffes, das jemals die Meere befahren hat. Einmal hatten sie Pech und erwischten ein anderes Paar dabei, wie es sich in einem der dort unten geparkten Autos liebte.

„Das wird Flecken auf den Autoscheiben geben“, bemerkte Vanity als sie sah, wie die Scheibe mit Handabdrücken beschmiert worden war.

 

Und dann kam jene schicksalhafte Nacht, in der das Schiff unterging. Vanity hatte in dem ganzen Chaos absolut keine Chance gehabt Everard zu finden, und auch Everard war die ganze Zeit über verzweifelt auf der suche nach seiner Liebsten gewesen. Erst sehr viel später, als das Schiff gesunken war und der kalte Nachthimmel über dem Meer stand, fand er sie. Sie war eine von vielen erfrorenen Toten, die auf der Wasseroberfläche trieben.

Er war wieder einmal zu spät gekommen... Aber dieses Mal war Everard einfach zu erschöpft um groß zu trauern. Es war kalt, er schwamm mitten auf dem Meer. Er wusste ganz genau, dass seine Familie, seine Mutter, sein Vater und sein Bruder, noch in eines der wenigen Rettungsbote gekommen waren und somit überlebt haben mussten. Er selbst hatte sich geweigert dort mit einzusteigen, er wollte viel lieber nach Vanity Hutchcome suchen und sie retten. Aber er war zu spät gekommen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Anwysitna
2015-11-27T20:24:43+00:00 27.11.2015 21:24
Süße Story, mag Twilight allgemein, da ists schön, wenn jemand etwas ähnliches schreibt^^
Hab die Story noch nicht ganz fertiggelesen, deshalb wird dieses Kommi noch nicht so lang.

Kann mich sehr gut in deine Stella hineinversetzen, ich mag auch ihre Naivität irgendwie.
Auch sehr gut aufgebaut ist die Geschichte^^(also vom Inhalt her...man wird gut in die Geschichte eingeführt und neugierig.)

Freu mich, dass du eine gute Rachtschreibung hast und logisch schreibst, die Geschichte ist flüssig erzählt und gut zu lesen^^
(Da macht Lesen Spaß)

Beim groben Durchlesen sind mir ein wenig deine kurzen Sätze aufgefallen. Verwendest du die bewusst so oder eher unabsichtlich? Ich würd teilweise aber noch ein wenig längere Sätze schreiben, um den Lesefluss zu verbessern. (Besonders am Anfang der Geschichte sind einige kurze Sätze, die du zusammenhängen kannst:)

Wenn ich nochmal gründich gelesen hab, versuch ich noch näher auf die einzelnen Kapitel einzugehen (Betaleser wenn du magst^^) Brauch wieder Lesestoff xD und fürs selber schreiben lerne ich auch einiges dazu:)
LG Angy

PS:Freu mich schon aufs lesen.
Antwort von:  Anwysitna
27.11.2015 21:28
PS Nr2...warum konnte ich das Vergessen:O
Victor is richtig toll in deiner Geschichte^^
Von:  kiwy456
2012-11-08T08:13:20+00:00 08.11.2012 09:13
die geschichte finde ich echt gut

ich bin mal gespannt was das gemeinnis ist

mach bitte weiter

gruss kiwy456 =)


Zurück