Sie ist ein liebes Mädchen. Gewesen.
Sie ist ein liebes Mädchen, das nicht klagt.
Das bei Tische sitzt und artig zuhört. Ohne selbst zu sprechen.
Sie hat nichts zu sagen.
Alle reden, über sich. Nie von ihr.
Sie ist ein liebes Mädchen, das für alle ganz selbstverständlich da ist.
Das bedient und schweigt, nickt und bestärkt.
Sie hat nichts zu sagen zu haben.
Alle reden, über sich. Nie von ihr.
Ihr Geburtstag ist wie eine Party, für die es keinen konkreten Anlass gibt. Die sich aber wunderbar dafür eignet, die eigenen Pläne breitzutreten.
Sie ist ein liebes Mädchen, dem die Worte der anderen das Profil vom Gesicht wischen. Jeden Tag ein wenig mehr.
Bis die Seele blank liegt, und das weiße Seelentuch reißt.
Sie hat nichts zu sagen.
Nie etwas erlebt, was für jemanden erwähnenswert wäre.
Alle reden, über sie. Als sie eines Tages nicht mehr anwesend sein kann.
Er ist ein guter Junge. Gewesen.
Er ist ein guter Junge, der sich nicht beschwert.
Der bei Tische sitzt und artig berichtet. Ohne je zu rebellieren.
Er hat nicht zu enttäuschen.
Alle reden darüber, was er so wunderbar kann. Nie davon, was er eigentlich will.
Er ist ein guter Junge, der seinen Eltern aufs Wort gehorcht.
Der tut, wie ihm geheißen, stets mit Bestleistung und Auszeichnung.
Er hat nicht den Mut jemals aufzumucken.
Alle reden darüber, was er so wunderbar kann. Nie davon, was er eigentlich will.
Sein Geburtstag ist wie eine Ausstellung, auf der er als Kunstwerk enthüllt wird. Die sich jedes Jahr wieder hervorragend dafür eignet, ihn, den Musterknaben, auf einen Sockel zu stellen und anzubeten.
Er ist ein guter Junge, dem die Wunschvorstellungen und Anforderungen der anderen das Profil ins Gesicht gemeißelt haben. Jeden Tag ein wenig mehr.
Bis selbst seine Seele splitterte, und der Staub sein weißes Seelentuch formte.
Er hat nicht zu enttäuschen.
Nie etwas machen dürfen, was nicht ins für ihn vorgesehene Konzept passte.
Alle schweigen über ihn. Als er eines Tages tut, worüber er nie zu reden wagte.
