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Criminal Minds - Das Leben danach

von

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Mein Leben zurzeit

Schweiß am ganzen Körper. Zittrige Hände. Das Bad. Fahrige Bewegungen. Ein freundlicher Stich. Warme Dunkelheit. Das ist mein Leben. Zurzeit.
 

Das, was da aufwacht, mit einem Ohr auf der Klobrille, Auge in Auge mit dem Toilettenstein, verdient keinen Doktortitel. Es verdient keinen „Spencer“. Nicht einmal den „Reid“. Ich nenne es „Es“. Es hat trockene Augen, einen Geschmack im Mund wie totes Tier, ein Gehirn wie in Watte gepackt, die Finger taub auf dem kalten Fliesenboden. Zwischen Abfluss und Toilette im Dreck. Da, wo es hingehört.
 

Was es verdient: kein Mitleid. Verachtung, maßlose. Ein Frühstück bestehend aus Luft. Ignoriert werden. Mit Füßen getreten werden, dreimal täglich, am besten mit Springerstiefeln.
 

Keine Dusche. Ich gönne sie ihm trotzdem, der Umwelt zuliebe. Keinen Blick in den Spiegel. Der erschreckt mich immer wieder, es sieht furchtbar aus (hohle Wangen, dunkle Augenringe, bleiche Lippen). Vermutlich steht sein Bild im Lexikon unter „Kaputtheit“. Ich sollte nachsehen.
 

Ihr sucht Spencer? – Der ist tot.

Ihr sucht Dr. Reid? – Der ist gestorben.

Einen langen und qualvollen Tod.
 

Ich bin das, was übrig ist. Ich bin Es. Ich bin das, was überlebt, ein Schatten dessen, was war, eine Ahnung dessen, was sein wird, die Hülle, der Platzhalter, die leiblichen Überreste, das klebrige Zeug, was zurückbleibt, wenn ein Mensch verfault.
 

Ich schlafe in Spencers Bett. Ich trage die Kleidung des Doktors. Ich sperre Reids Wohnung ab.

Ich bin ein Betrüger.

Ich bin immer noch hier.

Menschliches Versagen

Zwei Stunden.

Fliegen ist grundsätzlich schlecht. Fliegen bedeutet, dass es länger dauern wird. Dass ich in einem Hotelzimmer schweißgebadet aufwachen werde und vielleicht den Weg ins Bad nicht finde. Dass ich Spencers Kopf am Handtuchhalter aufschlage und wir vielleicht verbluten. Dass der Notvorrat nicht reicht.

Turkey lässt sich nicht so leicht verbergen, wenn man nicht weiß, wann man das nächste Mal unpässlich sein kann, ohne unangenehm aufzufallen.
 

Ich sitze am Fenster, um einen Grund zu haben, die Anderen nicht ansehen zu müssen, wenn ich einmal wieder nichts sage. Es ist wirklich besser so.

Da sind diese vielsagenden Blicke, wenn ich rede, jedes Wort auf der Goldwaage, halten die mich für beschränkt oder blind? Mein IQ beträgt 187, wie soll ich sie nicht bemerken, die nonverbale Kommunikation? Und wenn ich eine Bemerkung darüber fallen lasse, dieses peinliche Schweigen...
 

JJ, die mich erst pseudo-besorgt anstarrt und dann die Akten taxiert.

Morgan, der mich mit diesem forschenden Blick ansieht, der fragt „Wer bist du, und wo ist Reid?“.

Gideon, der die Mundwinkel nach unten zieht und auf einmal die Tischplatte zwischen uns interessant findet.

Prentiss, wie eine Katze, der ich metaphorisch auf den Schwanz getreten bin, mit leicht geöffnetem Mund, sieht erst Morgan an und dann Hotch und dann was auch immer sie in der Hand hält.

Hotch, der leicht links an meinem Kopf vorbeistarrt und dann so tut, als wäre nichts gewesen.
 

Was sie alle betrifft, gibt es meiner Meinung nach folgende Möglichkeiten:
 

1.) Sie wissen es nicht.

2.) Sie wollen es nicht wissen.

3.) Sie wissen es, aber wissen nicht, was zu tun ist.

4.) Sie wissen es, aber wollen nicht wissen, was zu tun ist.

5.) Sie wissen es, wissen auch, was zu tun ist, aber wollen es nicht tun.
 

Ich weiß nicht, welche mir davon am schlimmsten erscheint. Alle Optionen hämmern mir einen Satz in den Kopf, einen Satz, den Spencer ihnen am liebsten in die Stirn gravieren würde, den er hinausschreien möchte, an die Fassaden des F.B.I. schreiben, in großen leuchtenden Buchstaben:
 

Ihr nennt euch Profiler? Ihr habt versagt.
 

Spencers Hände umklammern die Tasche auf seinem Schoß. Sie sehen aus wie unglaublich knochige Taranteln und widern mich an. Ich entspanne sie und bewege sie ganz leicht, um sie zu beleben und ihre bleiche Farbe zu

vertreiben. Das Team tröpfelt langsam herein und ich wünsche einen guten Morgen. Der Jet ist voll besetzt. Eine neue Runde, eine neue Fahrt.

Sieg

Ein heißer und stickiger Windstoß bringt einen Besucher mit herein. Groß, blond, seriös, reif, kostümiert, bürokratisiert: Chief Strauss. Die hat uns gerade noch gefehlt. Als er zu ihr geht, verfinstert sich Hotchs Blick innerhalb von Sekundenbruchteilen und die Anderen tauschen verwunderte Blicke aus.
 

„Chief, was tun Sie hier?“, fragt Hotch in seiner neutralen und unverbindlichen Tonlage.

„Es gibt Beschwerden über die teilweise, nunja, rabiate Vorgehensweise ihres Teams. Bevor ich denen jedoch Glauben schenke, mache ich mir lieber selbst ein Bild.“

Das Team starrt sie ungläubig, und mit ein wenig Abneigung im Blick, an.

„Ich werde Sie alle durch Ihren nächsten Fall hindurch begleiten. Beachten Sie mich gar nicht.“

Sie spielt gut.

„Ich bin überhaupt nicht da.“

Kein Wunder, sie ist ja auch nicht auf den Kopf gefallen.
 

Spencer möchte sich am liebsten ganz klein zusammenrollen und diesmal kann ich ihn wirklich nicht zurück halten. Auch wenn mein Einkugeln am Ende nicht mehr ist als ein wenig tiefer in den Sitz zu rutschen und den Blick zu senken. Du Feigling. Du elender Feigling.
 

Strauss sitzt mir, Überraschung, gegenüber. Damit sind unsere letzten Zweifel vom Tisch. Diese ganze Show hier gilt mir. Ihre Hände sind faltig und ein wenig unbeholfen, als sie den Gurt anlegt. Alle anderen tun es ihr nach und schon bald sind wir in der Luft. Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr.
 

„Agent Jareau, Sie können beginnen“, meint Strauss auffordernd und mit ihrem Befehlsblick. Es sind diese Blicke, die mich die Finger tiefer in die Armlehnen krallen lassen, diese „Gib auf, du hast keine Chance“-Blicke, Blicke, die Menschen wie Strauss besitzen, oder Hotch, oder Gideon, aber nur wenige Leute sonst. Ich kenne insgesamt fünf solcher Menschen. Chief Strauss. Hotch. Gideon. Oprah Winfrey. Tobias Hankell. Oder, halt: Raphael.
 

JJ steht langsam auf und sieht ein wenig unsicher in die Runde. Dann beginnt sie, die Akten herumzugeben.

„Eine Mordserie in Chicago. Ross Leicester, 35, war das dritte Opfer. Die beiden vorhergehenden Opfer, Lindsey Higgins, 27, und Harry Rhymes, 42, wurden, wie Leicester, in einer Seitengasse aufgefunden. Todesursache ist Ersticken, wobei bei Lindsey auch die Halswirbelsäule gebrochen wurde. Die Male an den Hälsen der Opfer lassen darauf schließen, dass sie mit bloßen Händen erwürgt wurden.“
 

„Mir bloßen Händen?“, fragt Prentiss ungläubig, „Herr Gott, er hat ihr das Genick gebrochen!“
 

JJ schweigt kurz und fährt dann fort.

„Die Abstände zwischen den Morden werden kürzer. Zwischen Harry und Lindsey lagen zwei Wochen, Ross starb nach nur weiteren acht Tagen.“

„Signatur?“, fragt Morgan und streicht sich übers Kinn.

„Die Opfer hatten alle einen kleinen weißen Papierzettel in der Hand. Darauf stand jeweils nur ein Begriff geschrieben, mit roter Tinte. Das Papier war jedesmal hochwertig, wahrscheinlich Büttenpapier.“

„Welche Begriffe?“, fragt Gideon, während er mit gerunzelter Stirn die Akten studiert.

„Lügner, Diebin, Schläger“, zählt JJ auf.
 

Dreieinhalb Stunden.

Ich bekomme von Hotch eine Akte in die Hand gedrückt. Ich atme kurz durch und öffne dann den Ordner voll mit Tatort-Fotos. Spencer bekommt Panik. Wie immer sehen wir die gleiche Bildabfolge. Die Glühbirne. Die Kamera. Tobias. Ich runzle die Stirn und räuspere mich dezent.

„Gründe“, stellt Prentiss fest. „Er zeigt ihnen, wofür er sie ermorden will.“

„Ganz klar ein Rächer“, sagt Morgan. „Er hält sich für den Vollstrecker der Moral. Er reinigt die Welt von Menschen, die er für Verbrecher hält. Für ihn erscheinen sie minderwertig.“
 

„Was sagen Sie dazu, Dr. Reid?“

Fünf Köpfe schnellen herum und starren mich an. Dazu noch Strauss, die die Frage an mich gerichtet hat.

Da hat Morgan wohl ein Stichwort gegeben. Ich tippe auf „minderwertig“.

„Was meinen Sie konkret, Chief?“ Meine Stimme ist rau. Mein Ton ist teilnahmslos.

„Denken Sie, es gibt minderwertige Menschen?“

Fast hätte ich geschmunzelt. Denkt sie, dass es so einfach ist?

„Keineswegs. Alle Menschen sind absolut gleichwertig. Das wird Ihnen jeder rational denkende Mensch bestätigen. Wir können aber nicht davon ausgehen, dass der Täter rational denkt. Er befindet sich wahrscheinlich mitten in einer ausgewachsenen Psychose.“

Ich gewinne.

Gideon schmunzelt.

Hotch scheint nichts bemerkt zu haben.

Chief Strauss macht innerlich ein Häkchen.

Ich beiße mir auf die Zunge, bis sie fast blutet.

Leichenschau

„Und jetzt sollten wir Prentiss und Chief Strauss noch aufklären, wen wir zu allererst besuchen werden“, meint Morgan mit einem Lächeln auf den Lippen. Die anderen Teammitglieder schmunzeln. Wie ich diese stumme Überheblichkeit hasse. Wir haben Chicago fast erreicht. Prentiss und Strauss sehen beide hoch.

„Arthur Hepburn“, sagt Gideon.

„Ein Serienkiller, der vor ungefähr vier Jahren in Chicago sein Unwesen trieb. Wir haben ihn entlarvt. Seine Opfer hielten ebenfalls den Zettel mit ihrem Verbrechen in der Hand. Er wurde auf lebenslänglich verurteilt“, erklärt JJ.

„Also ist das hier wohl ein leidenschaftlicher Bewunderer, der das Werk des Meisters vollenden will“, schlägt Prentiss vor.

„Oder ein Nachahmungstäter, der sich durch die Kopie von Hepburns Verbrechen noch mehr Aufmerksamkeit in den Medien erhofft“, meint Gideon.

„Das werden wir noch früh genug herausfinden. Gideon, du gehst zu Hepburn. Nimm Prentiss mit, er kennt sie noch nicht, das wird ihn verunsichern. JJ und ich werden uns dem Sheriff vorstellen. Morgan, Reid, ihr geht in die Pathologie.“

Entweder bin ich auch noch paranoid, oder ich bin wirklich der einzige, den Hotch nicht ansieht.

„Wo möchten Sie mich dabeihaben?“, wirft Chief Strauss mit einem zuckersüßen Lächeln ein. Holla, die alte Wachtel habe ich fast vergessen.

„Da Sie sowieso nicht hier sind“, erklärt Hotch mit leichtem Spott in der Stimme, „Ist das prinzipiell egal. Es wäre mir jedoch recht, wenn Sie Agent Jareau und mich begleiten würden, ich denke, dass Ihre bürokratischen Kompetenzen hier am sinnvollsten aufgehoben wären.“

Strauss lächelt, wenn auch ein etwas totes Lächeln. Besten Dank, Hotch.

Der Jet geht in den Landeanflug.

In Chicago ist es genauso stickig und heiß. Wir warten auf ein Gewitter.
 

Vier Stunden und zehn Minuten.

Ich frage mich, wieso das FBI nur schwarze Wagen fahren darf. Heute vermittelt der SUV nämlich das Fahrgefühl eines Backofens auf Rädern. Morgan und ich verschmelzen langsam mit den Sitzen, während wir den wenig erregenden Geruch unseres Schweißes inhalieren. Meine Ärmel sind ein wenig hochgekrempelt, die Haare hängen mir nass ins Gesicht. Die Stimmung ist genauso bedrückend wie die Hitze.

Ich glaube, Morgan hat mich aufgegeben. Er war der einzige Mensch, der ab und zu ein paar nette Worte für mich hatte, das rechne ich ihm hoch an. Aber seine pseudo-psychologische Tour geht mir wirklich mächtig auf den Geist. Spencer hätte sie vielleicht nützlich gefunden, und wenn nicht nützlich, dann wenigstens nett. Aber ich nicht. Worte können hier nicht helfen. Ich habe Morgan deutlich genug signalisiert, wie wenig ich mir aus seinen Ratschlägen mache, und wir haben uns stumm auf Stillschweigen geeinigt. Nachteil: Autofahrten dauern ohne Unterhaltung unglaublich lange. Ablenkung fehlt.

Von Spencers Tasche löst sich ein Faden. Ich zupfe daran herum und rechne in Gedanken Zweierpotenzen, um mein Gehirn irgendwie zu beschäftigen. Wir erreichen das gerichtsmedizinische Institut bei zwei hoch 54 383.
 

Der Geruch. Desinfektionsmittel und geronnenes Blut. Wenigstens ist es kühl im Keller. Morgan seufzt sogar zufrieden und streckt sich, als wir die Pathologie betreten.

Die drei Leichen sind auf verschiedenen Tischen aufgebahrt und jeweils mit einem Tuch bedeckt. Mein Magen verkrampft sich ein wenig und ich fühle mich schon wieder als Verlierer. Es sind Leichen, herrgott. Die haben Spencer früher auch nichts ausgemacht.

Morgan begrüßt den Doc mit Handschlag. Ich bleibe dezent im Hintergrund und besehe mir die toten Körper, nachdem der Gerichtsmediziner sie abgedeckt hat.

„Harry Rhymes, das erste Opfer. Großflächige Hämatome in Gesicht und Abdominalbereich. Fraktur des Schlüsselbeins und mehrerer Rippen. Magen leer, wie bei den ersten beiden Opfern.“ Die Tonlage des Arztes ist sachlich und so kalt wie seine Kühlfächer. Sie macht mir mehr zu schaffen als der Geruch. Sie macht mir mehr zu schaffen als mir lieb ist.

„Der Schläger“, stellt Morgan fest. „Mit gleicher Münze zurückgezahlt.“

„Kein Mageninhalt?“, frage ich und bemühe mich, meine Stimme ebenso beiläufig klingen zu lassen.

„Nein“, meint der Arzt.

„Er hat sie festgehalten“, schlussfolgert Morgan.

„Das liegt nahe.“
 

„Lindsey Higgins, zweites Opfer, Tod durch Ersticken; Zeichen mehrfacher Vergewaltigung.“

Morgan stutzt. „Was stand auf ihrem Zettel?“

„Diebin“, sage ich und kann mich nicht von ihrem toten Gesicht abwenden.

„Was hat er ihr gestohlen?“, fragt Morgan verständnislos.

Mir ist es klar.

„Ihre Würde.“
 

„Ross Leicester, das dritte Opfer, weißt außer den Würgemalen um den Hals keine Zeichen sonstiger Gewalteinwirkung auf.“

„Er ist der Lügner“, bemerke ich.

Morgan nickt. „Da ist keine Folter möglich.“

„Oder die Folter war eher psychischer Natur“, sage ich und denke an Raphaels Revolver. Versager.

„Das werden wir wohl nie erfahren“, meint Morgan und sieht mich mit seinem Psychiaterblick an. Ich runzle die Stirn und betrachte angestrengt die Würgemale. Schau weg, ich habe alles im Griff.

Bevor wir aus dem Aufzug steigen, klopft Morgan mir auf die Schulter. Ich würde ihm am liebsten die Hand brechen.

Kreuzverhör

Die Rückfahrt dauert eine halbe Stunde, und das obwohl der Weg nicht weit ist. Der Vekehr ist ein Elend. Die Ampelschaltung ist der blanke Hohn. Ich trommle nervös an der Autotür, das Fenster ist ganz heruntergekurbelt, aber herein kommen nur Abgase und die unglaubliche Hitze.

„Fahr doch, verdammt!“, entfährt es mir, als wir an der Ampel stehen und der Fahrer vor uns nicht reagiert. Morgan sieht mich schon wieder so an und ich könnte mich selbst ohrfeigen. Unruhig rutsche ich auf meinem Sitz hin und her und richte den Blick starr geradeaus. Morgan gibt Gas.
 

Auf der Polizeiwache riecht es nach Polizistenschweiß, schlechtem Kaffee und mangelhaft umgewälzter Luft. Die unangenehmen Gerüche scheinen sich in dem kleinen fensterlosen Kabuff, das uns für unsere Arbeit zugewiesen worden ist, zu konzentrieren, mir zumindest bleibt die Luft weg, als ich den Raum betrete. Am Schreibtisch haben sich Hotch, JJ und Chief Strauss installiert. Missmutig starren sie in die Akten und ignorieren ihre Kaffeetassen.
 

Morgan ergreift das Wort und berichtet von unseren Erkenntnissen. Ich trete an das Whiteboard, an das das Leben der Opfer gepinnt, geklebt und vernetzt worden ist, und mir fällt auf, was allen anderen wohl auch schon aufgefallen ist: nichts.
 

„Garcia hat die Opfer nach sämtlichen Aspekten miteinander abgeglichen, aber es gibt keinerlei Übereinstimmungen“, erklärt Hotch, übellaunig. Er hat sein Jackett ausgezogen und über seine Stuhllehne gehängt, ein seltener Anblick. „Überschneidungen weder im Arbeitsleben, noch sozial, noch in Gewohnheiten oder Umfeld; genausowenig wie in Familienverhältnissen oder gesellschaftlicher Position.“

Der Gedanke, in den letzten Stunden kaum vorangekommen zu sein, bereitet ihm sichtlich Unbehagen. Ich setzte mich und bemerke zu spät, dass ich schon wieder Strauss mir gegenüber habe, die mich kritisch beäugt. Ich runzle die Stirn und nehme mir ebenfalls eine Akte vor.
 

Der Sheriff kommt herein; er ist jung, zerstreut, scheint mit der Situation absolut überfordert und von den gigantischen Schweißflecken unter seinen Armen geht ein überwältigender Gestank aus. „Irgendetwas Neues?“. fragt er und sieht von einem zum anderen. Er erinnert mich unwillkürlich an ein Erdmännchen und ich muss lächeln. „Wir kennen uns noch nicht“, meint Morgan, gibt ihm die Hand und stellt uns beide vor. Ich bleibe sitzen und nicke nur als mein Name fällt. Neutral und unverbindlich Der Sheriff nickt zurück und grinst ein dämliches Grinsen, bevor er hinausrauscht. Zwei Sekunden später kommt er zurück.

„Eigentlich bin ich wegen etwas Anderem gekommen“, erinnert er sich und alle sehen ihn an. „Ich konnte Kontakt herstellen zu dem Kommissar, der den Fall Arthur Hepburn damals untersucht hat. Er ist zwar in Pension, aber ich konnte ihn trotzdem ausfindig machen, sein Name ist -“

„Henry Ford“, sagt Hotch, ohne aus den Akten aufzusehen. „Ich denke nicht, dass er eine große Hilfe sein wird.“

Jetzt ist der Sheriff endgültig verwirrt. „Aber – Wieso?“, fragt er, fast ein wenig traurig.

„Henry Ford ist nach diesem Fall in in Pension gegangen“, erkläre ich, „Nachdem wir ihm Datenmanipulation nachweisen konnten.“ Schon wieder sehen mich alle an.

„Datenmanipulation?“, wiederholt der Sheriff.

„Sagen wir so: Der Kommissar wollte damals etwas mehr Ruhm einstreichen, als ihm gebührte. Er hat Hepburn noch ein paar Opfer mehr untergejubelt, und wir sind ihm draufgekommen“, erläutert Morgan freundlich.

„Oh“, sagt der Sheriff und sackt ein bisschen in sich zusammen, „Aber er ist doch schon hier. Er wartet draußen.“

Ich massiere meinen Nasenwurzelknochen und kann es kaum fassen. Geballte Dummheit, in Polizistenform. Auch Hotch schaut endlich auf und sieht genervt aus.

„Er will mit dem FBI sprechen“, meint der Sheriff kleinlaut. Hotch steht auf.

„JJ, geh du zu ihm. Morgan, ruf Gideon an, wir werden ihn brauchen, wenn Ford hier aufschlägt – auf ihn ist er immer noch am besten zu sprechen. Ich werde so lange mit Reid weiter am Opferprofil arbeiten.“

„Wäre es nicht besser“, meldet sich eine herrische Stimme aus der Ecke des Raumes, „Wenn Sie Agent Jareau begleiten, Agent Hotchner?“ Strauss lächelt gewinnend. „Ford wird mit dem Verantwortlichen sprechen wollen.“

Hotch schließt kurz die Augen und atmet einmal tief durch. „Chief, mit Verlaub, auch wenn Sie sicherlich recht haben, würde ich es zu schätzen wissen, wenn Sie nicht andauernd meine Autorität untergraben würden.“

„Keineswegs, Agent Hotchner“, antwortet Strauss, „Ich äußere nur konstruktive Kritik.“

„Möchten Sie uns denn begleiten?“

„Oh nein, das wäre unangebracht“, meint Strauss darauf und faltet die Hände im Schoß. „Ich werde hier warten und ein wenig Einblick in die Arbeit ihres“ – Seitenblick auf mich – „Teams bekommen.“

Hotch sieht nicht nur skeptisch, sondern absolut nicht begeistert aus. Er hält das anscheinend für keine gute Idee. Ich übrigens auch nicht. Ein letzter hilfesuchender – und ignorierter – Blick meinerseits, dann rauscht Hotch, gefolgt von JJ und Morgan, aus dem Zimmer. Ich bleibe zurück, gemeinsam mit der Löwin.
 

Fast fünf Stunden.

Seit geschätzten zehn Minuten sind wir nun alleine. Ich starre in die Akten. Chief Strauss starrt mich an. Spencer traut sich nicht, sich zu bewegen. Dann wische ich mir doch den Schweiß von der Stirn.

„Geht es Ihnen nicht gut, Dr. Reid?“

Das war zu erwarten. Ich räuspere mich und richte mich etwas weiter auf.

„Die Hitze macht mir zu schaffen. Wie“, ich sehe sie kurz an, genug, um Interesse zu heucheln, zu wenig, um mich zu verraten, „uns allen.“

Ich sehe die Zahnräder in ihrem Kopf rattern. Wahrscheinlich hat sie Plan B bis F ausgearbeitet, Pläne, um mich aus der Reserve zu locken. Sie musste nur auf die richtige Gelegenheit warten. Jetzt ist sie da – das Kreuzverhör kann beginnen.

„Wie Ihnen allen, das kann man wohl sagen“, meint Strauss und lehnt sich weiter in ihrem Stuhl zurück. Eine perfekte Überleitung, um auf das Team zu sprechen zu kommen. Ich stehe auf und besehe mir wieder das Whiteboard, in der Hoffnung, doch noch eine Ungereimtheit zu entdecken. Oder zumindest so zu wirken, als ob ich dazu imstande wäre.

„Doktor, ist es nicht manchmal ein wenig schwer für Sie, im Team zu arbeiten? Ihre überdurchschnittliche Intelligenz und Ihre unbestreitbare kriminalistische Kompetenz - sind das nicht Eigenschaften, die nur schwer von Menschen akzeptiert werden?“ Genau. Heucheln wir scheinheilig Interesse.

„Sie schmeicheln mir, Chief.“

„Ich sage nichts als die Wahrheit.“ Genauso wie Jakob, der Lügner.

„Bis jetzt hat sich noch Niemand über mich beklagt“, sage ich und würde mir am liebsten auf die Zunge beißen. Dummer Spencer. Kann nicht einmal seine Selbstachtung herunterschlucken.

„Ist das so“, murmelt Strauss und ich spüre, wie sie meinen Hinterkopf taxiert. Ich übergehe diese Äußerung einfach, trotzdem kann ich nicht leugnen, dass sie mich trifft. Irgendjemand hat gepetzt.

Strauss deutet mein Schweigen wohl als Schwäche, sie steht nämlich auf und tritt neben mich. Wie ich besieht sie sich jetzt die ausgebreiteten Leben auf dem Whiteboard.

„Tagtäglich diese Grausamkeiten“, murmelt sie, „Ich weiß nicht, ob ich damit leben könnte.“

„Man gewöhnt sich daran“, sage ich trocken.

„Man vergisst“, meint Strauss und sieht mich an. Ich spüre ihren Blick. „Die Bilder werden immer schwächer, bis sie irgendwann völlig verblassen.“ Ihre Poetik macht mich krank. „Aber Ihnen fällt das sicher nicht so leicht – man erzählt, Sie hätten ein fotografisches Gedächtnis?“

„Das ist richtig.“

„Dann sagen Sie mir, Doktor, wollen Sie nicht manchmal vor Ihrem eigenen Kopf davonlaufen? Den Bildern entfliehen? Sehnen Sie sich nicht nach... einem Ausweg?“

Mein Kiefer bebt. Um das zu verbergen, beiße ich die Zähne fest zusammen. Muss ich mir wirklich von dieser Frau, die keine Ahnung hat von meinem Leben, die nicht weiß, was in meinem Kopf vorgeht, die noch nie die ganze Nacht wachgelegen hat, aus Angst vor den Träumen, die mit Sicherheit kommen werden, weil man sie einfach physiologisch nicht vergessen kann, verurteilen lassen? Hat sie das Recht, mir zu sagen, dass ich schwach bin? Darf Sie mir unterstellen, dass ich die Sucht vielleicht gar nicht besiegen will?

Anscheinend.

Denn Chief Erin Strauss lächelt nur überlegen und zieht die Augenbrauen hoch, als sie aus dem Zimmer verschwindet, und mich mit meinen Geistern zurücklässt.

Konfrontation

Wut zerfrisst meine Eingeweide. Wie ätzende Säure bahnt sie sich ihren Weg durch mein Innerstes, bis sie genau hinter meinem Brustbein sitzt und darauf wartet, auszubrechen. Ich balle meine rechte Hand zur Faust. Ich hole aus und ramme sie gegen die Wand. Als ob ich ein Ventil geöffnet hätte strömt meine Wut durch meinen Arm und verlässt den Körper an den Knöcheln. Zurück bleibt ein pochender Kopf, eine zuckende Hand und Hoffnungslosigkeit; dazu die Gewissheit, sich wieder rechtfertigen zu müssen, für die aufgeschürften Handknöchel, die man bei dieser Hitze kaum verbergen kann.

Du Idiot. Ich Idiot. Wir Idioten.

Resigniert lasse ich mich auf einen Stuhl fallen und nehme nach kurzer Zeit wieder eine Akte zur Hand. Und da fällt es mir zum ersten Mal auf. Ich nehme mein Handy aus der Tasche und wähle.
 

„Hallo Fremder. Womit kann ich dich beglücken?“

Garcias Stimme klingt vergnügt wie immer.

„Garcia, hier ist Reid; kannst du für mich herausfinden, ob irgendeine Familie der drei Opfer eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat?“

„Schatz, du unterforderst mich“, meint Garcia gelangweilt. Exzessives Tippen, dann ein elektronisches „Pling“.

„Mr Daniel Higgins hat seine Frau als vermisst gemeldet, und Harry Rhymes hat eine 19-jährige Tochter namens Melody, die ebenfalls eine Anzeige aufgegeben hat. Bei Ross Leicester: Nada“, erklärt sie.

„Danke“, meine ich und lege nachdenklich auf.
 

„Was gibt es Neues?“

Ich fahre wie vom Donner gerührt auf meinem Stuhl herum und entdecke Hotch, der anscheinend irgendwann während des Gespräches hereingekommen ist. Ich schließe die Augen und mein Puls verlangsamt sich wieder. Ein wenig.

„Ich habe Garcia nachsehen lassen, ob Vermisstenanzeigen aufgegeben wurden“, erkläre ich. „Keine für Ross Leicester.“

Hotch runzelt die Stirn. „Seltsam.“

„Das finde ich auch“, sage ich schnell und versuche tief zu atmen, um meinen Herzschlag zu beruhigen. Der Schreck sitzt mir immer noch tief in den Knochen.

„Wir sollten mit der Familie des Opfers sprechen, während JJ versucht, Ford abzuwimmeln“, schlägt Hotch vor. „Du und Morgan kommt mit mir. Strauss lassen wir hier. Wir treffen uns in fünf Minuten am Eingang.“

„Geht in Ordnung“, sage ich und stehe auf. Ich verlasse den Raum in Richtung Herrentoilette und habe schon den halben Korridor hinter mir, als Hotch mich ruft.
 

„Reid!“

Ich bleibe stehen und drehe mich um. Hotch kommt auf mich zu und schneidet mir den Weg ab.

„Was wollte Strauss von dir?“, fragt er mich und fixiert mich mit seinem Blick.

„Ein paar Informationen über die Arbeitsweisen des Teams“, behaupte ich und starre Hotch dabei unentwegt an, ohne zu blinzeln. Spencer rebelliert. So lange, bis ich tatsächlich wegsehe. Wir sind ein guter Täuscher, ein guter Verberger und ein guter Heuchler, aber wir sind ein sagenhaft schlechter Lügner. Hotch glaubt mir natürlich kein Wort.

„Reid, wir beide wissen, worum es hier geht“, sagt er und kommt einen Schritt näher.

„Wenn du dich erwischen lässt oder ihr auch nur im Mindesten nachgibst, gefährdest du nicht nur dich und deinen Job, sondern das gesamte Team.“

Wie gerne würde ich ihm sagen, dass mir das egal ist. Wie gerne wäre es mir egal.

„Ich versuche, sie von dir fernzuhalten, aber das funktioniert auf Dauer nicht.“

Ich beschließe, keine Reaktion zu zeigen, ihn zu fragen, was er damit meint, aber. Ich bin nicht dumm. Und deswegen weiß ich, dass auch Hotch nicht dumm ist. Natürlich weiß er, was mit mir los ist. Natürlich ist ihm klar, dass Strauss mich zerstören will. Deswegen nicke ich am Ende doch und glaube sogar, dass mir ein halbwegs überzeugter Gesichtsausdruck gelingt.

Hotchs Blick wird neutraler. Er klopft mir auf die Schulter. Anscheinend bin ich ein Mensch, der einen Botenstoff aussendet, der anderen Menschen signalisiert: „Hey, ich brauche Bestärkung. Klopf mir auf die Schulter.“ Ich bin ein lockungstechnisches Phänomen. Oder es sind einfach die Blässe, der permanent leicht hysterische Blick und die knochigen Schultern. Auch wenn mir die Duftstoffe besser gefallen würden.

„Wir sehen uns draußen.“

Hotch verschwindet wieder im Büro. Ich betrete die Toilette, wasche mein Gesicht und bin mir nun absolut sicher, dass es die Augenringe sind.

Überraschung

Wieder im SUV. Der Himmel ist inzwischen bedeckt. Die Hitze ist nicht mehr stechend, viel eher drückend. Eine Hitze, die aufs Gemüt schlägt.

Hotch fährt und Morgan macht den Beifahrer, ich sitze hinten in der Mitte, während wir uns durch Chicagos Nachmittagsverkehr schlängeln. Ich beuge mich nach vorne, um mich mit den anderen über das Dröhnen der Klimaanlage hinweg unterhalten zu können. Ich bin schon ewig nicht mehr gefahren.

„Warum hat die Familie keine Vermisstenanzeige aufgegeben?“, fragt Hotch in die Runde.

„Aus Angst“, schlage ich vor, „Ein Drohbrief vielleicht.“

„Das würde unseren Wiederholungstäter von Hepburn unterscheiden“, wirft Morgan ein.

„In den Medien wurde nie veröffentlicht, dass es keine Kontaktaufnahme zu den Familien der Opfer gab“, informiert uns Hotch.

„Dann scheiden schon einmal alle Personen aus, die an der Ermittlung des Falles beteiligt waren“, schlussfolgert Morgan.

„Vermutlich“, meint Hotch und biegt in die Einfahrt der Familie Leicester ein. Der SUV wirkt auf dem Parkplatz vor der Garage so fremd, wie nur ein Ufo hätte wirken können. Er zerstört die Idylle der bewachsenen Veranda und des weiß gestrichenen Hauses. Wir klingeln.
 

Mary Leicester trägt einen Pulli und eine Jeans, ihre Haare sind frisiert, ihre Fingernägel manikürt und ihr Make-Up dezent. Ihre Augen sind groß und zerbrochen, wie abgestürzte Goldfischgläser, ihre Unterarme knochig. Sie bewohnt das Haus mit ihren beiden Kindern, der vierjährigen Betty und dem zweijährigen Max. Sie bietet uns Tee an, wir lehnen dankend ab und nehmen im Wohnzimmer Platz, zwischen geschmackvollen Vorhängen und Plasma TV. Mary knetet ihre Hände und dreht an ihrem Ehering, während Hotch und Morgan mit ihr sprechen. Ich beschränke mich auf das Beobachten.

„Mrs Leicester, unser Beileid zum Verlust Ihres Mannes.“ Hotchs Stimme ist ruhig.

„Danke“, sagt sie mit erstickter Stimme und blinzelt ein paar mal hektisch.

„Wir müssen wissen, ob der Täter jemals zu Ihnen Kontakt aufgenommen hat“, erklärt Morgan.

Mit Verwirrung in ihren großen Augen blickt Mary von Morgan zu Hotch zu Morgan.

„Nein“, meint sie. „Hätte er das tun sollen?“

„Nicht zwangsläufig“, erklärt Hotch. „Es erschien uns nur merkwürdig, dass Sie keine Verwisstenanzeige aufgegeben haben.“

Mary versteht.

„War... war das ein Fehler?“

„Mrs Leicester, haben Sie nicht bemerkt, dass Ihr Mann nicht von der Arbeit nach Hause kam? Waren Sie nicht verunsichert?“ Morgan ist verwirrt.

„Selbstverständlich war ich das!“ Fassungslosigkeit in der Stimme.

„Und ich habe auch angebrachte Maßnahmen ergriffen.“ Jetzt Verwirrung, aber auf unserer Seite.

„Könnten Sie das näher erklären?“, fragt Hotch.

„Dazu müsste ich ausholen“, meint Mary verunsichert.

„Wir haben Zeit“, sagt Morgan gönnerhaft.

„Vor ungefähr einem Jahr war Ross“, sie muss schlucken, „auf einmal seltsam verschlossen. Er war ernst, einsilbig, kaum mehr zu Hause... Ich wurde unsicher...“ Sie zerrupft ein Taschentuch, das auf dem Couchtisch vor uns liegt, in den Händen.

„Ich vermutete...“

„Eine Affäre“, ergänzt Morgan und Mary scheint erleichtert, das Wort nicht selbst aussprechen zu müssen.

„Ich habe ihn darauf angesprochen und mein Verdacht hat sich bestätigt. Wir haben uns ausgeprochen, Ross hat versprochen, die Beziehung zu beenden und ich habe versprochen, ihm zu verzeihen. Alles schien wieder in Ordnung zu sein.“

Ihre Unterlippe zittert und sie braucht einige Sekunden, bis sie sich wieder fasst.

Ich denke an den Zettel in Ross Leicesters Hand. „Lügner“.

„Dann eine tote Taube. Sie lag auf der Veranda. Die Woche darauf Teer im Briefkasten. Dann rote Farbe am Haus. Wir bekamen es mit der Angst zu tun und engagierten einen Privatdetektiv. Er war äußerst kompetent und fand bald heraus, dass Ross ehemalige Freundin hinter dem Vandalismus steckte. Wir zeigten sie an und die Attacken hörten auf. Ross hat das jedoch keine Ruhe gelassen. Als er an jenem Abend nicht nach Hause kam... Ich wusste es nicht, vielleicht war er zurück zu ihr gegangen.“

Betretenes Schweigen.

„Also habe ich wieder den Detektiv engagiert. Es ist meine Schuld. Die Polizei hätte ihn vielleicht gefunden.“

Tränen laufen ihr über die Wangen.

„Mrs Leicester, das wissen wir nicht. Das werden wir auch nie mit Bestimmtheit sagen können. Tun Sie sich das nicht an.“ Morgan gelingt es tatsächlich, sie ein wenig zu beruhigen.

„Was ist das für ein Detektiv?“, fragt Hotch. Mary sieht auf und wischt sich die Wangen mit dem Taschentuch ab. Sie überlegt.

„Er erschien uns vertrauenswürdig, weil er selbst Polizist war, früher... Ein älterer Herr. Warten Sie, ich habe seine Karte...“

Sie steht auf und geht an eine Kommode in der Zimmerecke. Sie zieht die oberste Schulblade auf, sieht hinein und für einen Moment habe ich das Gefühl, sie bricht gleich zusammen. Aber sie fängt sich wieder und bringt Hotch die Karte. Er liest den Namen laut vor.

„Henry Ford.“

Wow. Das kommt unerwartet.
 

Sechs Stunden und ein paar Minuten.

Mary Leicester ist verunsichert, weil wir so plötzlich aufbrechen, aber so ist das nun einmal – sobald ein neuer Faktor auftaucht, verändert sich das Ergebnis. Hotch will das Profil des Täters herausgeben. Was wir der Presse verschweigen werden: unseren Tatverdächigen. Morgan telefoniert mit Garcia.

„Hey, Babygirl. Sag mir, ob die Familien der Opfer oder die Opfer selbst jemals Anzeige erstattet haben, wegen Bagatellen.“ Garcias Teil der Unterhaltung bekommen wir nicht mit. Morgan scheint jedoch wenig erfreut.

„Nichts“, sagt er enttäuscht, „Danke, Sonnenschein.“ Er legt auf.

„Das war zu erwarten“, meint Hotch.

„Privatdetektive engagiert man meistens, wenn man etwas lieber für sich behalten möchte. Die Ergebnisse, zu denen sie kommen, werden meistens unter den Beteiligten ausgemacht“, ergänze ich. Ich engagierter Agent.

„Wir werden auch mit den anderen beiden Familien sprechen müssen, vielleicht bildet Ford eine Konstante“, folgert Morgan.

Dann herrscht Schweigen.

„Diese Mary ist unglaublich stark“, meint Morgan auf einmal. „Sie lässt sich nicht unterkriegen.“

„Sie hat ja auch einen Grund zum Weitermachen“, rutscht es mir schnippisch heraus, und diesmal bereue ich es nicht. Soll er es doch wissen. Wenn er nur endlich die Klappe hält.

Es wirkt. Der Rest der Fahrt verläuft in frostiger Stille.

Störfaktor

Gideon und Prentiss sind zurück. Diese hat sich ihres Blazers entledigt und schwitzt nun im T-Shirt vor sich hin. Sie fächert sich mit einem Stapel Tatortfotos Luft zu und sieht alles in allem eher verstört aus. Morgan kann sich einen Kommentar natürlich nicht verkneifen.

„Und? Wie war die Teeparty?“, fragt er grinsend und setzt sich zu ihr an den Tisch. Ich bleibe neben der Tür stehen und stecke die Hände in die Hosentaschen.

„Wie soll es schon gewesen sein“, meint Prentiss in düsterer Tonlage. „Ein Psychopath ist ein Psychopath, aber trotzdem kann ich nicht verstehen, wie man so denken kann. Und reden.“ Sie erschauert sogar ein wenig. Ich muss schmunzeln – was hat sie erwartet?

„Was habt ihr rausgefunden?“, will Morgan wissen.

„Es gibt keine Bewunderer“, sagt Prentiss. „Keine Fans, keinen Kontakt zur Außenwelt. Überhaupt keinen.“

Weitere Ausführungen unserer Kollegin werden übertönt, als Hotch, dicht gefolgt vom Sheriff, das winzige Büro betritt.

„Ich sage es Ihnen doch schon die ganze Zeit, Sheriff, noch sind wir uns dessen überhaupt nicht sicher.“

„Aber Agent Hotchner, bei allem Respekt, wie können Sie das auch nur in Erwägung ziehen?“, fragt der Sheriff mit großen Augen.

„Es ist nur ein Verdacht“, versucht Hotch ihn zu beruhigen, „Und noch haben wir keinen Grund, Ford zum Verhör zu bestellen. Dass er mit dem Fall zu tun hat ist nur eine Möglichkeit, die bestehen könnte. Mir ist klar, dass Ihnen das unangenehm ist, schließlich haben Sie den Kontakt hergestellt und ihn heute schon einmal enttäuschen müssen, aber wir müssen jedes Verdachtsmoment, das sich uns bietet, genauestens untersuchen.“

Der Sheriff widerspricht nicht mehr. Gideon betritt nach ihm das Zimmer.

„Zuerst sollten wir mit den Familien der anderen Opfer sprechen“, schlägt er vor. Hotch sieht in die Runde.

„Morgan, Prentiss, ihr fahrt hin“, befiehlt er dann, „Gideon, Reid und ich geben das Profil heraus.“

Ich frage mich, wo Strauss geblieben ist, seit unserer Ankunft habe ich sie nicht mehr gesehen. Soll mir recht sein. Aber normalerweise weiß ich lieber, wo mein Feind sich gerade aufhält.
 

Unser Wiedersehen findet wenig später statt. Hotch, Gideon und ich stehen wie drei Zirkuspaviane vor einer Horde schwitzender, lustloser Polizisten und versuchen ihnen verständlich zu machen, dass ein Profil tatsächlich hilft, einen Täter aufzuspüren und festzusetzen. Strauss sitzt recht zentral und beäugt uns kritisch, und das seit dem Zeitpunkt, als wir den Fuß aus dem Kabuff herausgesetzt haben.

„Der Täter ist männlich, weiß und 50-55 Jahre alt. Er besitzt einen ausgeprägten Gerechtigskeitssinn – das bedeutet, dass er eventuell einen Beruf im Rechtswesen oder der öffentlichen Sicherheit innehat, vielleicht auch inne hatte...“

Meine Konzentration geht gegen null. Während Hotch und Gideon in ihren Ausführungen versinken, stehe ich nur da und wechsle mein Standbein. Ich muss gähnen, und dabei bin ich nicht einmal müde. Kein gutes Zeichen. Strauss taxiert mich und das verunsichert mich zusätzlich.

Natürlich gibt es Fragen.

„Wollen Sie damit sagen, dass der Täter ein Polizist ist? Einer von uns?“

Hotch und Gideon reden sich um Kopf und Kragen. Niemand sucht gern in den eigenen Reihen nach Mördern, aber das auch noch von Außenstehenden befohlen zu bekommen, geht den Beamten mächtig gegen den Strich. Ich kann es ihnen kaum verdenken.

„Es ist nicht auszuschließen“, vermittelt Hotch diplomatisch.

„Möglich wäre auch ein Beruf in der Rechtsprechung. Protokollschreiber, Gerichtsdiener, Bote, um nur einige Beispiele zu nennen“, erklärt Gideon.

Ein Handy klingelt und alle Blicke werden auf den Sheriff gerichtet. Er entschuldigt sich schnell, hebt dann ab und beschränkt sich auf ein „Ja“ und „Habe verstanden“ am Ende des Gespräches. Hotch zieht die Augenbrauen hoch, sein Blick ist fragend.

„Eine weitere Leiche wurde gefunden“, verkündet der Sheriff mit ernster Stimme. Geraune und leise Gespräche. Hotch ergreift die Initiative.

„Ich möchte Sie alle bitten, nach Personen Ausschau zu halten, die in das gegebene Profil passen. Sollten Sie eine Auffälligkeit oder Ungereimtheit bemerken, bitten wir Sie um sofortige Mitteilung. Agent Gideon, Agent Reid und ich werden den Sheriff zum Fundort begleiten.“

Fast vier Uhr. Und der Tag ist noch lange nicht zu Ende.
 

Hotch macht zwei Anrufe. JJ soll das Profil in einer Pressekonferenz verkünden; Prentiss und Morgan sollen sofort nach der Befragung zum Fundort kommen: Eine Seitengasse, etwa fünf Meilen entfernt. Gideon hetzt den SUV durch die Nachmittagshitze, ohne Gnade, ohne ein offenes Fenster. Wenigstens ist der Weg nicht weit. Ich drücke meine Tasche fest an mich, damit sie nicht bei der nächsten Vollbremsung an der Windschutzscheibe landet. Immer wieder gehe ich in Deckung, wenn wir gefährlich knapp überholen. Spencers Nerven liegen blank, ich habe keine Chance gegen ihn.
 

Die Frauenleiche kann man nur entdecken, wenn man gründlich den Müll in der Seitengasse durchwühlt. Das hat der Obdachlose mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getan. Hotch spricht kurz mit ihm, während Gideon und ich schon einmal die Gasse betreten.

„Was fällt auf?“, fragt Gideon noch bevor wir die Leiche gesehen haben.

„Der Ort“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. „Die vorherigen Leichen waren allesamt in einem Radius von 30 Meilen um den Stadtkern herum verteilt. Diese hier ist jedoch viel näher gelegen als die vorherigen Fundorte.“

Gideon nickt. „Er will uns herausfordern.“

Die Leiche liegt in einem Müllcontainer und ist halb ausgegraben. Wir steigen jeweils auf einen alten Getränkekasten, um sie uns genauer besehen zu können. Die Spurensicherung tut es uns gleich. Wieder bekommen wir Würgemale zu Gesicht, Spuren eines Kampfes, und einen Zettel in der Hand des Opfers: „Mörderin“.

Der Sheriff kommt hinzu und seufzt. „Und jetzt?“, fragt er. Ich kann es kaum glauben. Die Inkompetenz in Person.

„Abgleichen?“, frage ich höhnisch, „Mit Vermisstenanzeigen? Sie könnten es auch mit Ihren Familienfotos versuchen, aber da werden Sie wohl nur wenig Erfolg haben...“

„Reid...“, zischt Gideon, aber ich überhöre ihn.

„Und um Ihre nächste Frage vorweg zu nehmen, am besten versuchen Sie es mit einem Zeitraum von vor zwei Wochen. Dies liegt nahe, da Harry Rhymes zwei Wochen vor dem Fund seiner Leiche vermisst gemeldet wurde, ebenso wie Lindsey Higgins. Und wenn Sie ab und zu Ihr Gehirn befragen würde, wären Sie da sicher selbst draufgekommen, den Kopf haben Sie schließlich nicht nur für die Frisur. Keine Ursache.“ Ich sehe den Sheriff ein letztes Mal abschätzig an, steige von dem Kasten herunter und eile weiter in die Gasse hinein. Währenddessen ziehe ich die Gummihandschuhe aus. Scheiße.
 

„Reid!“

Gideon eilt mir natürlich hinterher.

Rede nur. Erzähl mir etwas Schönes.

„Was zur Hölle ist mit dir los? Kannst du mir erklären, was das soll?“

Gideon schreit nicht; aber er beginnt eine Predigt über Hilfestellung, Kooperation und Diplomatie. Ich sehe nur, wie sich sein Mund bewegt, seine Stimme höre ich nicht, das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich schwitze wie ein Schwein und diese Leiche hat meine gesamte Planung durcheinander geworfen. Jetzt wird eine Nachtschicht fällig, Zeit, die ich verdammt nochmal nicht habe. In fünfundvierzig Minuten sind die acht Stunden vergangen. Acht Stunden, das bedeutet Opioidentzugssyndrom des ersten Grades. Auszuhalten, aber schwer zu verbergen. Zumindest vor Strauss, die die ganze Nacht neben mir sitzen und jeden Schweißtropfen beobachten wird, der sich auf meiner Stirn bildet. Was in weiteren vier Stunden passiert, daran möchte ich überhaupt nicht denken. Ich bin wütend. Ich bin unruhig. Und ich bin, entgegen meiner Vorsätze und derzeitigen Wesensart, panisch. Ich merke, wie Spencer mich auslacht. Angesichts der offensichtlichen Schwäche.

Ich bebe. Merkt Gideon denn nicht, was hier los ist? Oder ist es ihm völlig gleichgültig? Und wenn nicht, was will er damit bezwecken? Wieder ballen sich meine Hände zu Fäusten.

„... und natürlich ist er ein inkompetenter Polizist, aber wir sind ja dazu da, die Situation zu übernehmen.“ Väterlicher Blick seinerseits. Würgereflex meinerseits.

„Entschuldigung“, zische ich nach einer kurzen und unangenehmen Stille. „Es kommt nicht wieder vor.“

„Ich weiß.“ Schiefes Grinsen. Abgang. Einsame Wut in einer Seitengasse von Chicago.

Fachliches Versagen

Ungefähr eine halbe Stunde lang stapfen wir am Fundort herum, bevor Morgan und Prentiss auftauchen. Unsere Erkenntnisse sind weder bahnbrechend, noch vielsagend. Gideon klärt die beiden Neuankömmlinge auf. Ich halte mich im Hintergrund, mir ist gerade nicht nach Gesprächen zu mute. Niemand stört sich daran.

Leider scheint auch niemand zur Eile zu drängen. Das liegt jedoch mitunter an den tropischen Temperaturen, die ganz Chicago an Geist und Körper lähmen, jede Bewegung wird zur unglaublichen Anstrengung und jeder hier ist unglaublich gereizt. Gut für mich, dann falle ich wenigstens nicht auf. Wie ich Galgenhumor hasse.

Morgan und Prentiss haben anscheinend Neuigkeiten, deswegen geselle ich mich doch zurück zum Team. Morgan sieht mich nur kurz an, Prentiss versucht es mit einem Lächeln und scheitert. Wie gesagt, meine Kollegen lieben mich unbändig.

„Harry Rhymes Tochter hat mit uns gesprochen. Sie hat keinen Detektiv engagiert, dafür wurde einer auf Ihren Vater angesetzt. Es gab einen Zwischenfall, in den Rhymes verwickelt war; während einer Protestveranstaltung gegen illegale Einwanderer kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen ihm und einem älteren Mexikaner. Der hatte keine offizielle Aufenthaltsgenehmigung und hat deswegen auf den Detektiv zurückgegriffen, um den Fall verfolgen zu lassen“, erklärt Morgan.

„Ford“, wirft Gideon ein und Prentiss nickt.

„Rhymes ist der ‚Schläger‘“, fügt Morgan hinzu.

„Lindsey Higgins Ehemann hat erzählt, dass Lindsey einen gebrauchten Cadillac gekauft hat, der anscheinend Gegenstand eines Diebstahls war. Sie hat sich gewehrt, ihn zurückzugeben, und ein Anwalt hat sich tatsächlich für sie durchgesetzt. Ford ermittelte auf der gegnerischen Seite, zusätzlich zur Polizeiarbeit.“ Prentiss sieht zufrieden mit sich aus.

„Diebin“, erklärt Morgan.

„Das können alles Zufälle sein“, meint Hotch. „Uns fehlen die Beweise.“

„Zum Verhör bestellen können wir ihn trotzdem“, wirft Morgan ein.

„Das werden wir auch tun“, meint Hotch. „Ich mache einen Anruf.“
 

Ford redet nicht.

Seit einer Viertelstunde versucht Hotch, ein Geständnis oder Verdachtsmomente aus dem Mann herauszulocken; der wartet jedoch auf seinen Anwalt und sagt so lange gar nichts. Konsequent ist er, das muss ich ihm lassen. Hinter dem Spiegelglas stehe ich neben Prentiss auf der einen und Strauss auf der anderen Seite, die Luft fühlt sich an wie statisch aufgeladen und jede Bewegung wird mit bösen Blicken gestraft. Neuerdings läuft mir die Nase – super. Ich krame langsam in meiner Tasche, auf der Suche nach Taschentüchern, und werde abwechselnd von den beiden Damen angestarrt. Die wollen lieber das Schweigen des Lammes genießen und auf eine Regung hoffen, aber er wird nichts sagen. Er wird die paar Stunden, die wir ihn nur festhalten können, geduldig absitzen und dann verschwinden. Ich fühle mich machtlos, aber auch, und das erschreckt mich noch mehr, gleichgültig.

Gideon streckt seinen Kopf zur Tür herein und winkt mich nach draußen. Ich verlasse den Raum, und Strauss dreht sich misstrauisch um, wagt es aber nicht, mir zu folgen. Fast muss ich lächeln.
 

Morgan sitzt am Tisch, JJ auf einer Kommode an der Seite, als wir unsere Basis wieder betreten.

„Ich will alle Fakten, Daten und Informationen, die wir haben, noch einmal durchgehen. Ford werden wir durch Zusehen nicht zum reden bringen. Hier können wir vielleicht noch etwas ausrichten“, erklärt Gideon.

Er nimmt Platz, ich gehe zum Whiteboard, um einen besseren Überblick über die Lage zu haben. Morgan und Gideon sprechen laut durch, was wir sowieso schon wissen. Ich höre ein wenig zu – und bemerke etwas.

„Sind wir uns im Klaren darüber, dass immer am selben Tag, an dem eine Leiche gefunden wurde, wieder eine Person verschwunden ist?“

Gideon und Morgan schauen auf. JJ dreht ihren Kopf zu mir.

„Die Vermisstenanzeigen sind erst später eingegangen“, meint Morgan, wie um uns zu rechtfertigen.

Gideon schließt die Augen und lächelt angestrengt. Er fragt sich, wie wir das übersehen konnten. Er hat Recht – der Gedanke daran, dass wir auf einen so einfachen Zusammenhang nicht aufmerksam geworden sind, hat einen bitteren Beigeschmack.

„Was bedeutet das?“, fragt Gideon nachdenklich.

„Ganz klar, sobald er eines Opfers überdrüssig geworden ist, wird er es los und sucht sich ein neues“, meint Morgan. Gideon ist damit nicht einverstanden. Er schüttelt den Kopf.

„Die Aussagen der Familien der Opfer sprechen da eine andere Sprache. Die Entführungen scheinen völlig geplant zu sein, teilweise wurde das Verschwinden der Personen überhaupt nicht bemerkt – das sieht nicht danach aus, als ob er willkürlich ein neues Opfer gebraucht und es sich auch geholt hätte. Diese Personen wurden gezielt ausgewählt und über längere Zeit beobachtet, bevor er zuschlug.“

„Was heißt das also, wenn er sich einer Person entledigt?“, fragt JJ aus der Ecke heraus.

„Er schafft Platz für die Nächste“, meine ich gleichgültig. Morgan sieht mich warnend an. Gideon sieht lächelnd in die Leere.

„Also haben wir zwei Möglichkeiten. Nummer eins – Wir haben Ford herbestellt, bevor er sich sein nächstes Opfer holen konnte. Nummer zwei – er hat die nächste Person schon in seiner Gewalt. Gut daran ist, dass Ford hier bei uns ist und damit völlig machtlos. Schlecht ist, dass wir nicht wissen, wo er die Opfer festhält.“

Morgan nickt.

„Wir haben drei Stunden Zeit, um herauszufinden, wo Ford die Opfer festhalten könnte. So lange können wir ihn noch befragen.“

„Dann fangen wir besser an zu denken“, meint Gideon.
 

Die drei Stunden verstreichen schneller, als jedem von uns lieb ist. Wobei meine Beweggründe sich wohl stark von denen der anderen unterscheiden – vom Gähnen und der laufenden Nase sind die körperlichen Symptome direkt in Niesen und tränende Augen übergegangen. Der Vorteil daran ist, dass diese leicht als Heuschnupfen getarnt werden können, und bei Allergikern fragt niemand weiter nach. Nicht einmal Strauss, die ab und zu ihren Kopf zur Tür hereinstreckt, während wir fieberhaft nach Unterschlupfmöglichkeiten suchen, die Ford zur Verfügung haben könnte. Das erweist sich jedoch als schwierig – der Detektiv ist noch nicht einmal im Besitz einer einfachen Garage.

Als Hotch das Zimmer schlussendlich betritt, ist das Licht grau: draußen braut sich ein Gewitter zusammen und verspricht Erlösung von der brütenden Hitze. Die Stimmung in der Polizeiwache ist jedoch genauso feindlich, wie der Himmel draußen aussieht. Die Polizisten misstrauen uns offensichtlich, weil wir zuerst einen Mann aus ihren eigenen Reihen verdächtigen und ihn dann trotzdem gehen lassen. Das Team sieht seinen Hauptverdächtigen nur äußerst ungern mit einem hämischen Grinsen im Gesicht aus der Polizeiwache schlendern.

„Und jetzt warten wir“, meint Gideon und lehnt sich zurück.

Die Antwort ist bedrückendes Schweigen.

Wir sitzen hier, schwitzen uns die Seele aus dem Leib und warten auf ein Verschwinden – oder auf eine Leiche. Beides klingt miserabel.

Flucht

Da wir nichts zu tun haben und die Mittagspause ausfallen musste, schlägt Morgan vor, etwas vom Chinesen zu besorgen. Er frägt reihum, wer was bestellen möchte. Ehrlich gesagt habe ich andere Sorgen. Ausgerechnet jetzt, wo die Luft angefangen hat, etwas abzukühlen, beginnen die Hitzen. Ich fühle mich wie gebadet und es geht mir schon jetzt miserabel. (Die Gewissheit, dass mein Zustand innerhalb der nächsten Stunde sich nicht verbessern, sondern vielmehr noch verschlechtern wird, schlägt zusätzlich aufs Gemüt.)

„Reid?“

Morgan reißt mich aus meinen trüben Gedanken.

„Was willst du?“

„Gar nichts“, antworte ich mit rauer Stimme.

„Ein schlechter Zeitpunkt, um eine Diät zu beginnen“, witzelt Morgan. Warum kann ich wohl nicht lachen?

„Red keinen Unsinn, ich bestell einfach was für dich mit.“

„Ich habe keinen Hunger“, erwidere ich, aber Morgan lässt nicht mit sich reden.
 

Ganz ehrlich: Meine Nerven liegen blank.

Strauss beobachtet mich die ganze Zeit und schreibt ominöse Nachrichten in ihr Notizbuch. Normalerweise kann ich mit soetwas umgehen, aber im Moment eher weniger. Ich bin sehr dankbar, als das Essen kommt und sie mehr mit Stäbchen und Hähnchen knusprig beschäftigt ist als mit mir.

Morgan stellt mir einen mittelgroßen Eimer Nudeln vor die Nase und legt die Stäbchen oben drauf. Alle beginnen zu essen – ich spiele mit.

Dummerweise gibt es keine Plastikgabeln, deswegen kämpfe ich zuerst mit den Essstäbchen, die kaum auseinanderzubrechen sind (ich bin kurz schockiert, als Morgan seine einfach packt und mit einem Ruck in der Mitte teilt. Noch mehr zu denken gibt mir die Tatsache, dass JJ und Prentiss ungefähr genauso wenig Probleme mit dem asiatischen Besteck haben wie er).

Ich öffne die Packung und allein der Geruch, der von meinem Abendessen ausströmt, dreht mir den Magen um. Resigniert greife ich zu den Stäbchen und muss prompt und zu meinem Entsetzen feststellen, dass meine Hände zittern. Dieses Symptom hätte ich in frühestens einer halben Stunde erwartet, aber der heutige Tag mit seinem höllischen Wetter scheint mich zusätzlich zu schwächen. Langsam lege ich die Stäbchen zurück, um mich nicht zu verraten, und flüchte mit der Entschuldigung, mir die Hände waschen zu wollen, auf die Toilette.
 

Das Licht ist furchtbar und lässt mit Sicherheit jeden Menschen krank aussehen; trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass der Mann im Spiegel nicht nur so aussieht, sondern auch krank ist.

Tatsächlich: Ich fühle mich nicht nur wie gebadet, ich sehe auch so aus. Das Haar hängt mir in nassen Strähnen platt am Kopf, meine Lippen sind unnatürlich rot und ich werde in einer weiteren Befürchtung bestätigt: Meine Pupillen sind so groß wie Golfbälle. Der Mediziner nennt diesen Zustand Mydriasis – Opioidentzugssymptom, zweiter Grad. Dabei sind die zwölf Stunden längst nicht voll. Was mich jetzt erwartet: Fieber und Schmerzen.

Ich entziehe.

Ich muss hier weg.
 

Zurück von der Toilette setze ich mich wieder auf meinen Platz, zu meinen verlassenen Nudeln und warte, bis alle ihr Abendessen verputzt haben und jetzt zumindest nicht mehr unterzuckert und überreizt sind, sondern einigermaßen ansprechbar. Ich räuspere mich.

„Hotch, wir haben hier nichts zu tun. Wäre es in Ordnung, wenn ich ins Hotel fahre, mich dusche und dann wiederkomme?“

Hotch sieht von seiner Ente auf und taxiert mich kurz mit seinem Blick. Er wird solange von Strauss angestarrt. Ich merke, wie mir der Schweiß den Rücken hinabläuft. Das Schweigen dauert unendlich lange und ich kann Hotchs Gedanken lesen: Kann ich einen Junkie während der Dienstzeit gehen lassen, damit er sich eine Dosis verpassen kann?

„Der SUV bleibt hier, dein Handy angeschaltet, du kommst sofort wieder, wenn ich anrufe.“

Irgendjemand hat wohl Gnade mit mir. Ich stehe auf und verlasse den Raum so schnell, dass nicht einmal Strauss mir etwas hinterherrufen kann. Meine Tasche drücke ich fest an meine Seite. Grimmige Freude durchströmt mich.

Panik

Der Bus fährt nicht schnell genug, hält zu oft und hat zu viele Passagiere. Ich kaue an meinen Fingernägeln und mache vierstellige Multiplikationen um mich abzulenken. Die zehn Minuten bis zum Hotel ziehen sich ewig lang und ich kann es kaum glauben, als ich endlich aussteigen und zur Rezeption eilen kann.
 

Ich schließe meine Zimmertür hinter mir und lehne mich gegen das warme Holz. Mein Atem geht schnell, aber das müsste an meiner Hast liegen. Ich schließe die Augen und versinke ein letztes Mal im Elend meines Körpers, um die Erlösung umso intensiver zu erleben. Behutsam gehe ich zum Tisch, stelle meine Tasche darauf ab und öffne sie langsam. Ich stecke meine Hand tief hinein und suche tastend nach meinem Notvorrat.
 

Drei Fakten über mich:
 

1.) Mein Herz setzt für einen Schlag aus, wenn eine Videokamera auf mich gerichtet ist.

2.) Ich vergesse kurz zu atmen, wenn ich verbrannten Fisch rieche.

3.) Mein Herz setzt aus und ich vergesse zu atmen, wenn meine Reiseration an Schmerzmitteln nicht aufzufinden ist.
 

Ich packe die Tasche an beiden Seiten, drehe sie um und leere ihren Inhalt auf den Tisch, von dem sofort der Großteil auf den Boden rutscht. Mein Handy prallt hart auf und Schale und Akku springen in verschiedene Richtungen davon. Die Akten und Bücher, die ich herumschleppe, zerknittern, knicken um und segeln dann sanft auf den Teppich. Mein Geldbeutel und meine Marke plumpsen schwer auf die Tischplatte und bewegen sich keinen Zentimeter. Das einzige, was irgendwie mit Drogenkonsum in Verbindung gebracht werden kann, ist ein einsamer Kanülendeckel, der über den Tisch rollt und dann geräuschlos auf dem Boden landet. Ich gehe in die Knie, meine Wange gräbt sich in den Teppich und die Panik droht mich zu übermannen. Ich bin verloren.
 

Nachdem die erste Welle der Hysterie überwunden ist, nehme ich meine Tasche nochmals unter die Lupe und mache eine Bestandsaufnahme. Es fehlen:
 

- 2 kleine Flaschen mit lebensnotwendigem Inhalt

- ein kleiner Vorrat (5-6) 2 ml-Spritzen inklusive Kanülen

- eine kleine Flasche Desinfektionsmittel
 

Ich schließe die Augen und denke nach. Ich hatte meine Tasche nur in zwei Fällen nicht dabei. Das erste Mal heute morgen, nach meinem intensiven Gespräch mit Strauss, nach dem mich Hotch abgefangen hat. Die Tasche stand unbeaufsichtigt im Büro. Das zweite Mal gerade eben, als ich beim Händewaschen war – da hatte jedoch das gesamte Team sie im Blick.

Ich verdächtige Strauss. Ich könnte schwören, dass sie alles genommen hat, nur um mir zu zeigen, dass sie Bescheid weiß. Wut kocht in mir hoch und droht mich zu verschlingen, ich zwinge mich jedoch zur Ruhe. Ich lasse mich wieder auf den Boden nieder und suche die Einzelteile meines Handys. Nachdem ich es wieder zusammengesetzt habe, wäre mein erster Impuls, Hotch anzurufen, der Gedanke erscheint mir jedoch so abwegig, dass ich ihn sofort wieder verwerfe.

Hoffnungslos lehne ich mich an einen Sessel und versuche, nachzudenken – woher kann ich Dilaudid bekommen? Aus meiner Verzweiflung heraus scrolle ich durch die Nummern, die im Handy eingespeichert sind. Insgesamt 19 Ärzte, bei denen ich zur „Schmerzbehandlung“ bin. Seit einem unglaublich bösen Trip glaube ich nicht mehr an Straßen-Dilaudid, ich brauche die saubere Variante. Ich brauche sie. Ich brauche sie jetzt.

Da mir keiner der Ärzte übers Telefon Schmerzmittel verschreiben kann, bleiben mir nur zwei Möglichkeiten: entweder, ich suche in Chicagos Seitengassen nach Junkies, die mir irgendwelche Dealer vermitteln können. Oder ich komme aufgrund "schlimmster Schmerzen" in die Notaufnahme – wobei niemand einfacher und schneller Drogensuchverhalten entlarvt als ein Notfallmediziner in einer Großstadt.

Fakt ist, dass ich dieses Hotelzimmer verlassen muss, ob ich nun will oder nicht. Ich nehme den Waffengurt ab und werfe ihn auf das Sofa. Ich suche meine Jacke. Es hat zu regnen begonnen.

Gideon

Es dauert keine zwei Minuten bis ich bis auf die Knochen durchnässt bin. Ich zittere, aber ich weiß nicht ob vor Kälte oder aus anderen naheliegenden Gründen. Inzwischen bin ich aber auch so weit, dass es mir egal ist. Fakt ist, dass ich alleine durch das abendliche Chicago laufe und der Tag noch nicht daran denkt, zu Ende zu gehen. Die Straßen sind wie ausgestorben, bis auf die vereinzelten Autos, die nahe an mir vorbeirauschen und mich zusätzlich nass spritzen.

Ich bin am Boden. Manchmal frage ich mich, ob es nicht einfacher wäre, einem dieser Autos in den Weg zu springen, um das ganze Elend zu beenden. Wenn ich über mein Leben nachdenke, dann sehe ich nur zwei Zustände, in denen ich mich befinden kann: High sein und darauf warten, high zu werden. Diese grimmige Routine zieht sich durch meinen gesamten Alltag: Ich stehe auf und versetze mir die erste Dosis. Ich bringe meinen Arbeitstag mehr schlecht als recht hinter mich, in Gedanken an die nächste Dosis. Zuhause kommt der zweite Schuss, gefolgt von tiefer Ohnmacht und Halluzination – dann bin ich wach, die Nacht hindurch, bis zum Morgen, bis zur nächsten Dosis. Wo liegt darin der Sinn?

Abgesehen davon, die völlige Isolation – meine Kollegen hassen mich, bei meiner Mutter habe ich mich seit Monaten nicht gemeldet. Die Einsamkeit frisst mich auf.

Und in solchen Momenten, wenn mich die Bilder nicht loslassen, wenn da niemand ist, mit dem ich reden kann, wenn ich um vier Uhr nachts alleine in meiner Küche sitze und die Maserung des Tisches anstarre, dann gibt es nur eine Sache, die diese Schmerzen beruhigt, und die kommt in flüssiger Form durch eine Spritze.

Ganz ehrlich, ich habe kein Problem mit Dilaudid. Nur ohne.
 

Das Krankenhaus baut sich grau und bedrohlich vor mir auf, es hebt sich kaum vom dunklen Himmel ab und die erleuchteten Fenster sehen aus wie Fremdkörper. Ich gehe in Richtung Notaufnahme, hoffnungslos und im Bewusstsein dessen, dass ich bestenfalls wieder hinausbefördert werde und mir gesagt wird, ich solle mich nie wieder blicken lassen. Ich zögere kurz, mit der Hand am Öffnungsknopf der Glastüre, und höre in mich. Aber der beginnende Schmerz in den Beinen bringt mich dazu, hineinzugehen.

Es herrscht Hochbetrieb. Bei diesem Wetter drehen die Menschen durch und es gibt am Tag in einer Großstadt im Durchschnitt 30 Autounfälle. Dazu kommen die Stürze, Wespenstiche, Hitzschläge und Dehydrierungen, die der Sommer mit sich bringt. Kein Wunder also, dass ich auf einem Plastikschalenstuhl Platz nehmen muss, bis einer der Behandlungsräume frei wird. Rechts neben mir drückt eine Latino-Frau einem kleinen Kind ein blutiges Stück Stoff an den Kopf, das Kind schreit und wimmert laut. Links neben mir beschwert sich ein älterer Herr lautstark über die lange Wartezeit. Mir gegenüber liest jemand Zeitung und raschelt beim Umblättern. Es ist so laut. Ich drehe fast durch.

Ich stütze meine Hände auf meine Knie und sehe zu, wie es aus meinen Haaren und meiner Kleidung zu Boden tropft. Ich rattere hunderte von Schmerz-Rechtfertigungen im Kopf herunter, keine einzige davon ist glaubwürdig. Hin- und hergerissen zwischen Entzug und Angst hoffe ich, schnell an der Reihe zu sein und noch möglichst lange warten zu müssen. Mein Kiefer zittert.
 

„Der Stress in diesen Krankenhäusern ist wirklich unerträglich“, meint Gideon und faltet seine Zeitung zusammen. Ich sehe überrascht auf.

„Hallo Spencer“, sagt der Mann, der mir seelenruhig gegenüber sitzt, die Beine überschlagen, und lächelt.

Was soll ich darauf antworten. Am besten sage ich gar nichts. Gideon übernimmt zum Glück das Reden.

„Und das Wetter hat ja auch ziemlich schnell umgeschlagen“, meint er mit einem kurzen und leicht amüsierten Blick auf meinen Pudelzustand.

„Gehen wir ein Stück.“

Gideon steht auf und nach einem „Du hast keine andere Wahl“-Blick seinerseits, tue ich es ihm gleich. Ich frage gar nicht erst, woher er wusste, dass ich hier bin. Ich frage auch nicht, warum es ihn interessiert, was ich mache. Ich trotte einfach geistesabwesend hinter ihm her und tropfe.
 

Entgegen meiner Befürchtungen müssen wir keinen romantischen Spaziergang im Regen machen, sondern steigen in den SUV, in dem Gideon gekommen ist. Ich lasse mich auf den Beifahrersitz fallen und starre trübselig aus dem Fenster. Ich zittere schon wieder, oder immer noch?

Gideon startet den Motor und fährt los. Die Gegend um das Krankenhaus herum ist schäbig, und das weiß er auch. Wahrscheinlich steuert er deswegen keineswegs die Polizeiwache an, oder das Hotel, sondern fährt mit mir im Kreis. Immer an den gleichen Gassen und Straßen vorbei. Immer an den gleichen heruntergekommenen Leuten, die da draußen versuchen, sich vor dem Regen zu schützen.

„Ich bin wirklich froh, dass sich wenigstens diese Hitze verzogen hat“, plaudert er heiter vor sich hin.

„Hotch war ja wirklich unausstehlich. Das ist das Problem, wenn man immer nur in Anzug und Krawatte herumläuft: man schwitzt wie ein Tier.“

Ich sehe weiterhin nur aus dem Fenster. Gideon fährt so langsam, dass man das Elend da draußen nicht übersehen kann – Penner und Nutten und, wer hätts gedacht, Junkies. Als ich seine Absicht erkenne, verdüstern sich mein Blick und meine Gedanken und ich sehe auf meine Oberschenkel.

„Eigentlich ist diese Hitze hier in Chicago wirklich seltsam, man möchte meinen, dass es hier kühler ist, aber da haben wir uns wohl getäuscht.“

Wir. Gruppensprache. Ist ja wirklich nett.

„Vielleicht war das sogar der heißeste Tag des Jahres, wundern würde mich das ja nicht.“

Sein heiterer Plauderton macht mich rasend. Am liebsten würde ich ihm sein freundliches Lächeln einschlagen, aber dafür fühle ich mich zu schwach. Ich pople an den Dreckspritzern auf meiner Hose herum und versuche, den aufsteigenden Schmerz in den Beinen zu ignorieren. Ich habe keine Zeit für sowas.

„An solchen Tagen bin ich immer froh, etwas außerhalb der Stadt zu wohnen. Im Ernst, die Hitze staut sich zwischen den Hochhäusern sehr stark.“

Ich bin kurz davor zu schreien, als Gideon anhält. Ich sehe auf und wir stehen vor dem Hotel. Überrascht sehe ich Gideon an und noch überraschter bin ich, als ich sehe, dass er eine aufgezogene 2ml-Spritze in der Hand hält.

„Du bist nicht so“, sagt er abschließend.

Ich sage darauf gar nichts und frage auch nicht nach. Ich nehme ihm die Spritze aus der Hand, öffne die Tür und steige aus. Der Regen prasselt schwer auf meine Schultern und ich will mich plötzlich bedanken, aber Gideon sieht nicht zu mir her. Ich werfe die Autotüre zu und ohne ein weiteres Wort fährt er los. Spencer versteht die Welt nicht mehr.

Botschaft

Den Weg zum Fahrstuhl und auf mein Zimmer bringe ich schnell hinter mich. Dort angekommen merke ich erst, wie schwer ich atme und wie laut und durchdringend mein Herz klopft. Die Spritze ist sicher in meiner Hand verborgen, seit Gideon sie mir gegeben hat, habe ich sie nicht wieder losgelassen. Natürlich werden in meinem Kopf langsam Fragen laut – woher hat Gideon das Zeug? Warum gibt er es mir? Wenn er davon weiß, wer noch? Aber ehrlich gesagt möchte ich mir darüber erst Gedanken machen, wenn ich aus dem leisen Dämmerschlaf wieder aufwache, der einer Injektion folgt.

Ich gehe schnell zum Tisch und kremple meinen Hemdärmel hoch. Wie immer, wenn ich die kleinen Einstiche auf meinem Arm sehe, macht Spencer einen Aufstand. Aber ich kann gerade nicht auf ihn hören und verbanne ihn ganz weit weg, in die Ecke unseres Bewusstseins. Mit meinem Gürtel staue ich das Blut, bis ich die Adern hervortreten sehe, dann ziehe ich mit dem Mund den Deckel von der Kanüle ab. Ich setze die Spritze gerade an, als ich stutzig werde. Auf dem Schreibtisch liegt ein Stück Papier, das bestimmt nicht ich dort hingelegt habe. Verdutzt nehme ich es in die Hand und lese, was darauf steht.
 

„Die Kette reißt immer am schwächsten Glied. Was nun, Agent Hotch?“
 

Bevor ich jedoch realisieren kann, was das bedeutet, explodiert in meinem Hinterkopf ein durchdringender Schmerz und die Welt versinkt in Dunkelheit.

Kontrollverlust

Aus einer Schmerzmittel-Ohnmacht aufzutauchen, soll angeblich so sein, wie aus dem Koma zu erwachen; ganz sanft und ruhig kommen immer mehr Eindrücke dazu, erst Farben, dann Geräusche, vielleicht dann auch Gerüche, bis man ganz da ist und nur noch die Fingerspitzen schlafen.

Ganz anders ist es, wenn man aus einer k.o.-Schlag-Ohnmacht aufwacht, da wird man einfach mit voller Wucht zurück ins Leben geworfen; es fängt an mit den Kopfschmerzen und dann kommt der restliche Schmerz von einer Sekunde auf die andere dazu.
 

Als ich damals in Hankells Scheune aufwachte, war ich panisch, verstört und mein Körper floss über vor Adrenalin; heute bekomme ich kaum Luft. Es kommt mir vor, als würde ein schweres Gewicht auf meinem Brustkorb liegen und ich sauge die Luft ein wie ein Ertrinkender, ein Fisch auf dem Trockenen. Erst, als ich wieder einigermaßen bei Atem bin, bemerke ich, wie mein ganzer Körper zittert. Ich rolle mich zu einer Kugel zusammen, um mich aufzuwärmen, aber meine Zähne klappern laut und ich werde so stark durchgeschüttelt, dass ich diese Position kaum halten kann. An meinem Körper klebt kalter Schweiß, durch den ich noch mehr Wärme verliere.
 

Langsam nehme ich meine Umwelt wahr. Meine Hände sind mit einem Kabelbinder verschnürt, wachsweiß und gefühllos – vermutlich schneidet mir das Plastik die Blutzufuhr ab. Ich bewege meine Finger ein wenig und stromschlagartiger Schmerz durchzuckt meine Arme. Kein Vergleich zu dem in meiner gesamten unteren Körperhälfte, aber den versuche ich zu ignorieren. Schließlich weiß ich auch, woher der kommt.

Die Wände sind weiß und feucht und Wasser läuft in Rinnsalen daran herab; ich sehe sie im kalten Licht der Neonröhre hinten an der Decke. Ein kleines Fenster, weit oben, zeigt mir, dass es draußen stockdunkel ist. Das heißt, dass ich entweder kurz, oder sehr lange bewusstlos war. Meinen Symptomen nach zu urteilen eher kurz, wobei ich noch nie weiter im Entzug forgeschritten war als jetzt gerade. Ich verschwende jedoch keinen weiteren Gedanken daran, was mich wohl noch erwartet.
 

Wo könnte ich sein? Langsam kommt mir die Botschaft auf meinem Tisch wieder ins Gedächtnis. Die Kette reißt immer am schwächsten Glied. Das wäre dann wohl ich. Die Kette – das Team. Hotch. Agent Hotchner. Der Entführer weiß, dass nur wir ihn Hotch nennen. Er kennt uns. Er war dabei.
 

Erneut überkommt mich eine Welle des Schüttelfrostes. Ich klappere wild mit den Zähnen und beruhige mich dann wieder. In meinem Kopf regiert grauer Nebel. Wie in Trance fasse ich an meine Stirn – sie glüht. Hohes Fieber. Der rasende Schmerz im Kopf bringt mich um den Verstand, ich habe nicht mehr viel Zeit, bis das Erbrechen anfängt.
 

Er adressiert Hotch, geht das Ganze also gegen ihn? Oder doch das gesamte Team? War es der Täter, was könnte er gegen uns haben, will er Aufmerksamkeit, war es... Ford? Rache? Wahrscheinlich. Wo bin ich? Wo?

Ich brauche mein Handy. Und ich brauche Gideons Spritze.
 

Durch eine Reihe beinahe akrobatischer Verrenkungen beginne ich die hoffnungslose Suche nach dem Mobiltelefon. In meinen Hosentaschen ist es nicht, genausowenig wie ich irgendwo sonst in dem Kellerraum die aufgezogene Spritze finde.

Moment. Kellerraum. Ford hat keinen Keller. Aber anscheinend einen Komplizen –
 

Mir wird so unglaublich übel. Ich muss die Augen schließen und mich konzentrieren, meinen Mageninhalt bei mir behalten, denn hat das Kotzen einmal angefangen, hört es nicht mehr auf. Ich lehne mit der Wange an der Wand, um mir etwas Kühlung zu verschaffen, ich zittere vor Hitze, Schweiß ertränkt die Gänsehaut, ich kann kaum denken –
 

Wer? Wer ist sein Komplize? Ich hieve mich irgendwie zum Fenster und spähe hinaus, nur kurz, bevor meine Beine wieder unter mir nachgeben, was habe ich gesehen? Was habe ich – Ich schließe die Augen und Bilder schießen in meinen Kopf, der Zettel auf meinem Tisch, der Kanülendeckel, Strauss mit ihrem süffisanten Lächeln, das Abendessen, Gideon mit der Zeitung, die weinende Mary, eine bekieste Auffahrt, die Leiche im Container, grüner Rasen, Prentiss mit betroffener Miene, mein Spiegelbild, die Augenringe, ich, oder wir?
 

Ich merke, wie der Körper anfängt zu schluchzen und dann übernimmt Spencer die Kontrolle und beginnt zu jammern: „Warum? Warum immer ich?“ und ich kann ihn nicht davon abhalten, die Auffahrt, wo ist diese Auffahrt, wo ist sie? Die Schmerzen betäuben uns beide, ich wünschte, ich hätte keine Beine, ist es Chicago, oder Quantico, oder eine andere der tausend Städte, die wir dieses Jahr schon bereist haben? Spencer schlägt unseren Kopf gegen die Wand, das hilft nicht, es hilft gar nicht, mir ist so übel, wir können nicht mehr lange, und da ist ein Moment der Klarheit, und in unserem Kopf hallt die Erkenntnis:
 

„Es ist Mary Leicesters Rasen – wir sind unter ihrer Garage.“
 

Doch bevor wir begreifen, was das bedeutet, muss sich der Körper übergeben und alles, alles, alles wird hinweggespült.
 

Wir sind ja so verloren.

Erlösung

Es riecht säuerlich und ich kann nicht mehr. Ich liege am Boden, in meinem eigenen Dreck, meine Lider flattern. Meine Hände sind inzwischen bestimmt tot, ich spüre sie schon seit einigen Minuten nicht mehr (oder Stunden? oder Tagen?). Die Zeit ist wie Luft, nicht greifbar, sie entwischt mir immer wieder; vielleicht weil ich immer wieder in eine leichte Bewusstlosigkeit abdrifte, eine Schutzmaßnahme, der Körper will mich vor den Schmerzen schützen, die jeden Gedanken abtöten. Es kommt mir vor, als würden meine Knochen brennen, und wahrscheinlich tun sie das auch.
 

Die Hoffnung auf Rettung – die habe ich, glaube ich, auch schon aufgegeben; wenn ich um mich sehe, dann kann ich nur an ein Wort denken, und das lautet „Elektrolytentgleißung“. Zu wenig Salz und Wasser im Körper, das kann ein Pferd töten. Einmal habe ich versucht, ein wenig Wasser von der Wand zu trinken, doch das hat nur in mehr Erbrechen geendet. Mein Körper ist völlig geschwächt. Selbst wenn die Kellertüre offenstünde, ich könnte nicht hinaus, weil ich nicht wüsste, wie ich aufstehen soll.
 

Ich würde über mein Leben nachdenken, wenn ich denken könnte. Das Genie kann sein Gehirn nicht gebrauchen, denn wahrscheinlich ist es durch das Fieber schon flüssig. Welche Ironie. Unsere einzige Waffe. Vielleicht zieht deswegen mein Leben nicht wie ein Film an meinem inneren Auge vorbei. Mein Körper ist gebrochen, mein Geist nutzlos – nichts ist von uns übrig.
 

Mir wird warm, und wenn man meinen Zustand betrachtet, verheißt das nichts Gutes.

„Es geht zu Ende“, flüstere ich, und Spencer gibt den Körper zurück, verzieht sich in seine Ecke und weint. Ich starre die Decke an und habe mich nie lebendiger gefühlt.
 

Ich schließe meine Augen und warme Dunkelheit umschließt mich, ich verlasse meinen Körper, sehe von oben darauf hinab und merke, wie es mich weiter weg zieht – dazu kommt es nie. Auch wenn ich vielleicht kurz davor bin, sterbe ich nicht, denn es ist gerade rechtzeitig, als die Kellertüre aufgestoßen wird und eine einzelne Person hereinstürzt.
 

Es ist Hotch.

Ich sehe nur verschwommen, aber ich erkenne ihn, als er direkt neben mir kniet.

In der Hand hält er sein Handy, das er zu Boden legt, als er mich an den Schultern packt und schüttelt. Ich zwinge meine Augen, offen zu bleiben und sehe in sein entsetztes Gesicht. An seiner Krawatte klebt mein Erbrochenes. Er redet energisch (und bestimmt auch laut) auf mich ein, aber seine Stimme ist zu weit weg, ich kann ihn nicht hören; ich sehe jedoch, wie er in seine Hosentasche fasst. Ich folge seinen Bewegungen mit den Augen und Überraschung und Dankbarkeit durchfluten mich, als er eine weitere Spritze hervorzieht. Ich versuche zu sprechen, aber ich schaffe es nicht. Hotch rammt die Nadel irgendwo in meinen Arm, für mich ist nicht aufspürbar, wo, er beobachtet mich genau und wartet ab, was passiert.

Hinter ihm richtet sich eine Gestalt auf, die mit etwas Großem ausholt; ich will Hotch warnen, doch das Schmerzmittel wirkt zu schnell. Welche Ironie. Ich zwinge mich, wach zu bleiben, doch wieder umschließt mich Dunkelheit; diesmal die bekannte, warme.
 

Hotch wird am Hinterkopf mit der Schaufel getroffen und geht zu Boden.

Ich. Falle. Und. Falle.

Showdown

Glockenschläge in meinem Kopf, die nicht in die Scheinwelt passen, die das Dilaudid ausgelöst hat. Ich bin heiter-verdutzt und warte, was passiert. Langsam erlange ich mein Bewusstsein zurück und merke, woher das Läuten stammt: mein Kopf wird immer wieder mit Wucht an die Wand gedonnert. Ich höre jedoch nur das Geräusch und spüre die Schmerzen nicht, da das Mittel noch wirkt.
 

Ich drehe meinen Kopf ein wenig und blicke in das hämische Grinsen von Henry Ford. Er spricht, ich höre ihn von weit entfernt, und dann ist es, als ob ich aus dem Wasser auftauchen würde. Ich bin wieder voll da.
 

Ford hat mich an den Haaren gepackt, rammt mich ein letztes Mal gegen die Wand und lässt dann los. Ich schlage mit dem Kopf hart auf dem Boden auf und bleibe dann erst einmal liegen; ich fühle mich herrlich leicht.
 

„Reid, bist du ok?“, fragt Hotch panisch und ich versuche, seine Stimme zu lokalisieren. Er sitzt an die Wand rechts von mir angelehnt und sieht furchtbar aus. Sein Hemdkragen ist blutig, sein Gesicht verquollen, seine Hände ebenfalls mit Kabelbinder umwickelt.

„Dem Doktor geht es gut“, meint Ford verstimmt. „Schließlich hast du ihm die nötige Dröhnung verpasst, Hotch.“ Das letzte Wort trieft vor Verachtung. Ford geht zu Hotch, zieht ihn an der Krawatte in den Stand und beginnt, auf sein Gesicht einzuschlagen. Hotch gibt kein Geräusch von sich, bis er wieder zu Boden rauscht.

„Wie du vielleicht bemerkt hast, habe ich dir nie ganz verziehen, dass du mir alles genommen hast“, erklärt Ford. Er wendet Hotch den Rücken zu und ich sehe, wie er die Ringe an seinen Fingern wieder in die richtige Stellung bringt.

„Meinen Job. Dann meine Familie. Meine Glaubhaftigkeit. Meine Würde.“ Er beginnt, ihn zu treten.

„Du und dein Team, ihr seid selbst schuld. Ihr hättet über meine Fehler hinwegsehen können, aber nein.“

„Das ist nicht unsere Aufgabe, über Fehler hinwegzusehen“, meint Hotch schwach. Er blutet aus dem Mund.

Ford grinst, geht zu ihm hinüber und prügelt erneut auf ihn ein.

Ich nutze die Zeit für einen Versuch, meine Hände aus der Plastikschlinge zu befreien, aber sie sitzt fest wie eh und je. Dazu kommt, dass meine Bewegungen viel zu unkontrolliert sind, um sie sinnvoll einzusetzen.
 

Hotch stöhnt auf, ich sehe es als Zeichen, dass Ford aufgehört hat. Ich spüre seine schweren Schritte in meine Richtung kommen. Er packt mich am Schopf und zieht mich hoch, bis ich sitze.
 

„Warum, Ford? Warum mussten diese Menschen sterben?“

Ford schließt die Augen und schüttelt den Kopf ein wenig.

„Agent Hotchner, du enttäuschst mich. Stell dich nicht dumm. Du weißt, warum. Erst einmal brauchte ich einen direkten Draht zu eurem Team. Dann natürlich der symbolische Charakter – den Fall zu imitieren, der mich alles gekostet hat, lag doch so nahe! Und schlussendlich verdient doch jeder Mensch den Tod.“

„So redet nur ein kranker Psychopath“, meint Hotch, schwer atmend. Ford lacht amüsiert.

„Und nichts anderes bin ich doch in deinen Augen! Sieh dir die Menschen doch an. Sie alle sind schlecht. Er hier ist doch das beste Beispiel.“ Er zeigt auf mich. Ich werde von einem Psychopathen denunziert. Ganz toll.

„Ein armseliger Junkie. Kommt nicht von den Drogen los, ordnet sein Leben der Sucht unter, und das macht ihn zu einem miserablen Agent.“ Er kommt wieder auf mich zu.

„Und wer braucht miserable Agents?“ Er holt zum Schlag aus. Spencer wimmert.
 

„Und Sie, Ford? Sind Sie kein schlechter Mensch?“

Ford gefriert in der Bewegung und dreht sich wieder zu Hotch um. Wir atmen auf.

„Ganz ehrlich, bei mir sind Hopfen und Malz verloren. Ich war schon immer schlecht. Ganz anders“, an dieser Stelle wird sein Grinsen hämisch und böse; in seinen Augen flackert Triumph, „bist du. Hotch, eigentlich versuchst du doch, ein guter Mensch zu sein, ich meine, du rettest Leben, du bist ein Teamleader der guten Sorte, blablabla. Was denkst du, was dein Doktor sagen wird, wenn ich ihm erzähle, wer an seiner Misere schuld ist?“

Na klar. Psychopathen sind nie selbst schuld, Hotch hat ihn provoziert und so weiter. Nichts, was wir nicht schon gehört hätten. Hotch jedoch sieht Ford auf eine sehr – merkwürdige Art an. Wenn ich sie beschreiben müsste, würde ich sagen: warnend. Das erscheint mir allerdings merkwürdig.

„Mein ganzer Zorn hat sich von vorneherein gegen den Kopf des Teams gewandt, so viel ist klar.“ Er holt weit aus und will uns damit wahrscheinlich sein Innerstes näherbringen. Super.

„Aber natürlich brauchte ich ein Druckmittel. Als erstes kam mir, natürlich, eine Frau in den Sinn; Männer reagieren ja in Bezug auf weibliche Teammitglieder äußerst allergisch. Niemand will eine Frau leiden sehen. Aber dann, als ich Reid wieder sah...“ Er lacht ein wenig trocken und sieht mich mitleidig an, ich möchte brechen.

„Ich musste ihn nur einmal ansehen, um festzustellen, dass er das geeignetere Ziel war. Überhaupt hast du es mir recht einfach gemacht!“, meint er, zu mir gewandt. Vielen Dank. Die Kopfschmerzen kommen zurück.

„Sonderst dich vom Team ab, bist schwach, körperlich und geistig, und dann brauchte ich keinen Finger zu krümmen, um dich zu brechen – das hat dein Körper selbst erledigt. Und dann auch noch die Tatsache, dass...“
 

„Und der Sheriff? Und Mary? Wie haben Sie die auf ihre Seite gezogen?“, fährt Hotch gereizt dazwischen. Ford grinst; nimmt aber die Herausforderung an.

„Mary war ein Kinderspiel – sie war die Einzige der Angehörigen meiner Opfer, die ich wirklich unter Druck setzen konnte. Mein Gott, wie nützlich doch Kinder sind. Sag der Mami, dass du den Kleinen die Augen ausstechen wirst, und sie räumt dir die gesamte Garage frei, wenn du möchtest. Der Sheriff – naja, der ist einfach nicht besonders helle.“ Ford stutzt. „Aber wo war ich?“ Er überlegt kurz.

„Ach ja, Spencer. Ich wollte dir ja noch erzählen, welch tragende Rolle dein Boss für meinen Plan und schlussendlich auch für deine Misere hier gespielt hat.“ Er sieht mich herausfordernd an.

„Was?“, frage ich verwirrt. Spätestens jetzt bin ich ausgestiegen. Hilfesuchend sehe ich Hotch an, aber der meidet meinen Blick – was zur Hölle?

Ford kostet den Moment voll aus und lacht.

„Oh Gott, wie ich mich auf diesen Moment gefreut habe“, meint er grinsend. „Dich wird sicher interessieren, dass...“
 

Weiter kommt Ford nicht. Hotch ist aufgesprungen und wirft sich gegen den „Detektiv“. Der stolpert, fängt sich aber wieder und geht mit einem Wutschrei auf Hotch los. Dieser kann ihm, trotz gefesselter Hände, ausweichen und attackiert Ford von hinten: er stößt ihn mit voller Wucht auf die Betontreppe. Der alte Mann schlägt mit dem Kopf auf und bewegt sich nicht mehr.
 

Völlig verwirrt starre ich Hotch an, der vollkommen entkräftet zu Boden sinkt; gerade will ich fragen, was Ford gemeint hat, als die Kellertüre aufschlägt und ein SWAT-Team, allen voran Morgan, hereinplatzt. Der Trubel ist so groß, dass ich Hotch aus den Augen verliere. Ich werde von einem Medi-Team umlagert, meine Augen werden beleuchtet, mein Kopf angetatscht und ich lasse alles über mich ergehen; jetzt erst merke ich, wie unglaublich müde ich bin. Irgendwann schlafe ich ein.

Fragen

Die Kassette hat ein wenig Vorlauf. Ich nutze die Zeit und vergewissere mich ein weiteres Mal, ob ich wirklich unbeobachtet bin. Die Jalousien habe ich zugezogen und spähe nur kurz hindurch. Die Zentrale liegt völlig verlassen da und nur das Sicherheitslicht beleuchtet den großen Raum spärlich. Ich trommle nervös mit den Fingern, obwohl ich eigentlich unentdeckt bleiben müsste. Dennoch sitzt man in Hotchs Büro immer auf dem Präsentierteller. Ich habe keinerlei Befugnis, hier zu sein, schon gar nicht in der Nacht, aber nachdem Hotch es geschafft hat, mir seit meiner Rettung konsequent aus dem Weg zu gehen, suche ich mir meine Antworten eben selbst.
 

Das Band knackst. Es geht los.
 

„Erste Befragung zum Fall ‚Ford, Henry‘, Aktenzeichen C14f. Durchgeführt von Section Chief Erin Strauss. Geben Sie Ihren Namen und Dienstgrad zu Protokoll.“

„Supervisory Special Agent Aaron Hotchner.“

„Agent Hotchner, Ihnen und Ihrem Team wurden die Ermittlungen im Fall Leicester/Higgins/Rhymes übertragen. Ist das richtig?“

„Ja, ist es.“

„Sie waren der leitende Ermittler?“

„Das ist der Fall.“

„Wer war an den Ermittlungen beteiligt?“

„Unmittelbar beteiligt waren die SSAs Gideon, Morgan, Prentiss, Dr. Reid, sowie Agent Jareau. Beteiligt war auch Penelope Garcia, technische Assistentin, sie wurde jedoch nur im Laufe der Ermittlungen kontaktiert.“

„Wie war Ihr Vorgehen im Fall Leicester?“

„Unser Vorgehen unterschied sich nicht vom Normalfall; wir erstellten ein Täter- und Opferprofil und gaben dies den Ermittlungskräften vor Ort bekannt. So schlossen wir auch bald auf den Tatverdächtigen.“

„Mit diesem kamen Sie schon während den Ermittlungen in Kontakt.“

„Das ist richtig.“

„Wie und warum?“

„Der Sheriff des Departments stellte den Kontakt her, da Ford schon vorher mit einem ähnlichen Fall zu tun hatte. Er war der Meinung, dass er eine große Hilfe sein könnte.“

„Besagter Fall war der Grund für Henry Fords Suspendierung vom Dienst im Jahre 2002?“

„Auch das ist richtig.“

„Wie kam es zu jener Situation im Keller von Ross Leicesters Ehefrau, Mary Leicester?“
 

Aha. Jetzt wird es interessant. Ich setze mich auf den Tisch, neben den Kassettenspieler.
 

„Ich bekam einen Anruf von Henry Ford. Er habe ein Teammitglied, SSA Dr. Spencer Reid, in seiner Gewalt.“

„Wie konnte es dazu kommen?“

„Die Ermittlungen in diesem Fall waren ungewohnt kräfteraubend, das gesamte Team schien erschöpft. Dr. Reid bat um Erlaubnis, zum Hotel zurückzukehren.“

„Die Sie erteilten.“

„In der Tat.“

„Warum?“

„Es gab nichts zu tun. Wir waren auf einen weiteren Schritt des Täters angewiesen. Ich dachte, es würde nicht schaden, wenn mein Agent, etwas erholt, später zu den weiteren Ermittlungen dazustoßen würde.“

„Was geschah dann?“

„Wie erwartet, konnten wir nichts tun. Wir sprachen erneut über Täter und Opfer, ließen auch die Aussagen der Familienmitglieder der Opfer mit einfließen, kamen aber zu keinerlei neuen Erkenntnissen.“

„Wann bemerkten Sie Dr. Reids Verschwinden?“

„Nach zwei Stunden wurde ich unruhig; SSA Morgan versuchte, Reid zu kontaktieren, doch dieser ging nicht an sein Mobiltelefon. Nach einer weiteren halben Stunde schickte ich Morgan ins Hotel, um nach dem Rechten zu sehen.“

„Wieso haben Sie eine weitere halbe Stunde gewartet?“
 

Hotch schweigt kurz. Mein Herz klopft.
 

„Ich hielt es nicht für nötig, ihn früher herzubestellen. Es gab nichts zu tun.“

„Sie hielten es nicht für nötig? Kein Lebenszeichen von Ihrem Agent, und Sie halten es nicht für nötig?“

„Ich konnte nicht ahnen, was geschehen ist. Vielleicht hatte er sich kurz hingelegt und war eingeschlafen.“

„Halten Sie das nicht für grob fahrlässig?“

„Einzuschlafen?“

„Agent Hotchner.“

„Ich verstehe Ihr Problem nicht ganz, Chief. Es war ein langer und entbehrungsreicher Tag. Warum sollte ich meinem Agent keine zwei Stunden Ruhe gönnen?“

„Hier geht es nicht um Gunst oder Missgunst. Hier geht es darum, dass Ihr Agent am helllichten Tage von einem Psychopathen verschleppt wurde, und das nur, weil Sie ihn unbegleitet ins Hotel gehen ließen.“

„Chief. Ich sehe es ein, ich habe einen Fehler gemacht. Aber ich habe mir wirklich nichts weiter dabei gedacht. Ich war genauso erschöpft wie der Rest des Teams. Menschen machen Fehler.“

„Die andere Menschen fast das Leben kosten.“

„Unter Umständen, ja.“

„Ich sehe schon, das führt zu nichts. Was geschah, nachdem Agent Morgan zum Hotel gefahren war?“

„Wir erhielten seinen Anruf, dass Dr. Reid nicht aufzufinden sei. Er informierte uns auch über die Nachricht, die der Täter hinterlassen hatte.“

„Die Nachricht lautete: ‚Die Kette reißt immer am schwächsten Glied. Was nun, Agent Hotch?‘ Ist das richtig?“

„Ja. Daraufhin fuhren wir zum Hotel.“

„Wir?“

„Das restliche Team, der Sheriff, und eine kleine Gruppe Polizisten.“

„Wie war die Situation im Hotel?“

„Wir besahen uns den Tatort und schlossen darauf, dass SSA Reid wohl aus dem Hinterhalt überrumpelt wurde. Wir fanden Blutspuren auf dem Boden und an einem Glasaschenbecher und vermuteten, dass er damit niedergeschlagen wurde.“

„Was fanden Sie außerdem?“

„Sein Handy. Seine Dienstwaffe. Seine Tasche, deren Inhalt im Zimmer verstreut lag. Wir vermuteten einen Kampf.“

„Noch etwas?“

„Nichts Außergewöhnliches.“

„Wie kam es zu dem Anruf?“

„Der Sheriff überreichte mir ein Mobiltelefon und meinte, dass Ford mich sprechen möchte.“

„War der Sheriff ein Komplize?“

„Nein, es stellte sich heraus, dass Ford ihm das Telefon gegeben hatte, um mit ihm in Kontakt bleiben zu können und auf dem neuesten Stand der Entwicklungen zu sein.“

„Und der Sheriff wurde nicht stutzig?“

„Er scheint Ford als sein Vorbild zu sehen. Er nahm es ohne Fragen hin.“

„Was teilte Ford Ihnen am Telefon mit?“

„Er sagte: ‚Hotch, ich will dich nicht hetzen, aber dein Agent stirbt.‘“

„Was war Ihre Reaktion?“

„Ich fragte, was ich tun soll.“

„Und?“

„Er stellte Bedingungen: Ich solle allein und unbewaffnet in den SUV steigen. Er würde mich zum Ort des Geschehens lotsen. Wenn mir jemand folgen sollte, würde er Dr. Reid sofort töten.“

„Und da entschieden Sie sich, einfach loszufahren.“

„Natürlich nicht. Ich besprach mich mit meinem Team, doch wir sahen keinen anderen Weg. Wir versuchten, das Handy, das ich vom Sheriff erhalten hatte, zu orten, doch das war nicht möglich. Ich wollte das Team anrufen, sobald ich am Ziel war; so lange sollten sie mir in einem angemessenen Abstand und in zivil folgen. Andere Möglichkeiten gab es nicht.“

„Ford lotste Sie in Mary Leicesters Keller, wo Sie Dr. Reid auffanden.“

„Das ist richtig. Er befand sich in desolatem Zustand.“

„Inwiefern?“

„Er war bewusstlos. Vermutlich aufgrund der schweren Kopfverletzungen, die Ford ihm zugefügt hatte.“

„Was geschah dann?“

„Ich war geschockt, meinen Agent so aufzufinden, und deswegen unaufmerksam. Ford konnte mich überwältigen.“

„Konnten Sie sein Motiv herausfinden?“

„Ja, Sie können Details dazu meinem ausführlichen Bericht entnehmen.“

„Dann?“

„Ich versuchte, Fords Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, da Dr. Reid mehr Verletzungen kaum stand gehalten hätte. Es gelang. Als ich meine letzten Kräfte mobilisiert hatte, attackierte ich Ford, indem ich ihn gegen die Wand stieß; es gelang mir dann, die Oberhand zu gewinnen. Ich stieß ihn erneut und er fiel auf die Betontreppe. Dann bewegte er sich nicht mehr.“

„Er bewegte sich nicht mehr.“

„Nein.“

„Und Sie haben nicht nach ihm gesehen.“

„Nein, da das SWAT-Team kurz darauf den Keller stürmte.

„Also würden Sie Fords Tod als einen Unfall bezeichnen.“

„In der Tat.“

„Und Sie sind sicher, dass Ihre Reaktion auf seine Attacke angemessen war.“

„Chief, mein Agent lag blutend in einer Ecke. Ich war körperlich geschwächt. Ich habe einfach reagiert.“

„Gut, das reicht mir. Danke, Agent Hotchner.“
 

Das Band knackst erneut. Und ehrlich gesagt hat es mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, ich bin jetzt endgültig verwirrt. Ich sitze auf dem Tisch und sinniere noch ein wenig darüber, was ich gerade gehört habe, als sich die Türe öffnet. Ich fahre herum.

Antworten

„Reid.“

Natürlich ist es Hotch, der sein Büro betritt. In der Hand hält er eine Kaffeetasse und ich frage mich, ob er immer noch oder schon wieder hier ist. Seine Äußerung ist, meiner Meinung nach, jedoch recht interessant. Sein Tonfall sagt: „Ah, du bist endlich hier, Reid.“ Sein Gesichtsausdruck sagt: „Oh fuck, du bist wirklich und wahrhaftig hier, was willst du, Reid?!“

Ich antworte erst einmal nicht und bleibe auf dem Tisch sitzen. Das Einzige, was ich tue, ist, mich in seine Richtung zu drehen, während Hotch an ein Regal geht und einen Schwung Akten hineinlegt.
 

„Was tust du hier?“

Ich spiele 17 verschiedene Antwortmöglichkeiten durch und lande bei der Wahrheit.

„Nachdem du mir die letzten zwei Wochen sehr geschickt aus dem Weg gegangen bist, wollte ich mir meine Antworten selbst suchen.“ Ich lächle sogar ein wenig, mit hochgezogenen Augenbrauen, was sehr herausfordernd aussehen muss.

„Naja, ich brauchte nicht viel Talent, um dir aus dem Weg zu gehen. Du bist krank geschrieben.“

Ich lächle weiter und werde mich auch in der nächsten halben Stunde nicht vom Thema ablenken lassen. Hotch seufzt.

„Und? Hast du deine Antworten gefunden?“

„Ehrlich gesagt, nein“, sage ich und stütze mich mit den Ellenbogen auf die Oberschenkel. „Ehrlich gesagt, wurden sogar noch ein paar Fragen mehr aufgeworfen.“

Hotch sieht sich um und schaut auf den Kassettenspieler.

„Dann hast du wohl das Band angehört.“

„Leider konnte ich nirgends finden, was Ford mir über dich erzählen wollte“, erkläre ich heiter.

„Nun, prinzipiell kann ich auch nur vermuten, was es war.“

„Vermutungen sind schon nicht schlecht.“

Hotch kämpft mit sich.

„Vermutlich wollte er dir mitteilen, dass ich dein Dilaudid gestohlen habe.“

Bumm. Das hat gesessen.
 

„Ähm“, sage ich, aber mehr kommt nicht dabei heraus. Ich runzle die Stirn und versuche, einen Sinn dahinter zu erkennen.

„Warum?“

Hotch mustert mich. Oder starrt mich vielmehr an. Es kommt mir vor, als würde er direkt in mein Gehirn sehen, um meine Gedanken zu lesen. Viel gibt es da nicht zu sehen, nur ein großes Fragezeichen.

„Ist es Strauss?“, frage ich. „Dachtest du, du müsstest mich vor ihr schützen?“

Hotch schweigt.

„Denkst du, dass das klug war? Wenn ich mein Mittel gehabt hätte, dann wäre nichts passiert. Ich hätte mir den Schuss gesetzt und wäre zurückgekommen. Strauss wäre niemals dahinter gekommen. Ich hätte nicht nach draußen gemusst, ich hätte mich nicht noch länger quälen müssen, es wäre alles glatt gelaufen.“ Ich kann es nicht fassen. Wie beschränkt ist Hotch? Und warum muss er immer die Welt verbessern?

„Siehst du nicht, wie sinnlos und gefährlich das war? Siehst du denn nicht, dass ich fast am Entzug krepiert wäre? Ford hat mich eiskalt erwischt. Ich hatte keine Chance. Und jetzt rate, warum.“

„Das wollte ich nicht“, wirft Hotch ein.

„Das wolltest du nicht? Was wolltest du denn dann? Mir eine Lektion erteilen, mir zeigen, wie leicht ich auffliegen kann, vor Strauss? War das dein Gedanke?“ Mein ganzer Körper bebt. Ich kann es nicht fassen.

Hotch schweigt. Das war der wunde Punkt.

„Vielen Dank! Ich weiß selbst, dass die Sache nicht ungefährlich ist. Das wusste ich auch ohne deine kleine Scharade. Das einzige, was diese Aktion gebracht hat, waren einige Stunden der Todesangst. Vielen Dank auch. Nur Gideon hatte Verständnis für mich – wahrscheinlich war er von deinem Vorhaben alles andere als begeistert. Er ist der gute Mensch, Hotch.“

Er erwidert immer noch nichts. Ich will ihn schütteln. Ich will ihn betteln sehen. Um Verzeihung, vor mir.

„Wenn du mir schon eins reinwürgen willst, warum erzählst du Strauss nicht einfach davon? Warum deckst du mich?“
 

„Du meinst: Warum decken WIR dich.“
 

Was soll das wieder heißen?

„Du und das Team“, stelle ich fest, oder frage ich nach?

„Ja, die auch.“

„Wer noch?“ Ich verstehe nichts mehr.

„Strauss.“

„Wie. Strauss. Ich-“ Was zur Hölle?

„Also wirklich“, meint Hotch verächtlich, „Hast du so eine Befragung schon einmal erlebt? Diese hier ist ein Witz. Wenn das nicht Strauss wäre, die da interviewt, würde das ganze Theater sofort angezweifelt werden – sie geht kaum in die Details. Sie will nichts Konkretes über den Vorfall im Keller wissen. Sie kratzt ein wenig pro forma an der Oberfläche, und das wars.“

„Sie weiß davon?“, frage ich geschockt und sehe mich schon meinen Tisch räumen.

„Und wie sie davon weiß“, schnaubt Hotch. „Jeder weiß es. Ich, Gideon, das gesamte Team, Garcia weiß es, wahrscheinlich wissen es sogar der Bote und die Putzfrau. Mein Gott, Reid.“

Wenn ich mich nicht täusche, wird Hotch gerade wütend. Ich höre auf, nachzudenken. Ich komme längst nicht mehr mit.

„Warum hat niemand was getan?“, frage ich verwirrt. Ich fühle mich in die Ecke gedrängt.

„Warum hat niemand was getan“, wiederholt Hotch. Er setzt sich in seinen Bürostuhl und schüttelt den Kopf.
 

„Dass du ein Drogenproblem hast, wussten wir beinahe sofort. Alle. Und wir dachten, dass sich das von selbst einpendelt – leider hat es das auch, in eine völlig falsche Richtung. Du hast anscheinend nichts dagegen unternommen. Du warst dauernd voller Hass, auf die Welt und auf dich selbst, und von der Leistung her weit, weit unter deinen Standards. Deine Ausfälle haben die Atmosphäre im Team verpestet, und das hat Strauss auf den Plan gerufen. Ich konnte sie nicht lange belügen, sie ist nicht auf den Kopf gefallen. Sie hat mir daraufhin mitgeteilt, dass sie gezwungen sein wird, dir zu kündigen, wenn du deine Situation nicht in den Griff bekommst. Ich habe dir eine Frist gesetzt. Es hat sich nichts geändert. Rein gar nichts, und das, obwohl wir immer wieder versucht haben, auf dich einzuwirken.“

Morgans Therapiegespräche. Hotchs Warnungen. Ich Idiot.

„Also haben wir uns zu diesem radikalen Schritt entschlossen. Strauss würde das Team überwachen. Ich würde dir die Drogen stehlen. Gideon würde dir die Dosis zurückgeben. Es war von vorneherein riskant, und mit Ford konnte niemand rechnen. Was geschehen ist, ist unverzeihlich – jedoch ein Resultat von mehreren Zufällen, die zusammenkamen. Einige davon haben wir verursacht. Wenn du jetzt wütend bist, ist das also berechtigt.“
 

Ich kann kaum atmen. Das Einzige, was mich tröstet, ist Hotchs Gesichtsausdruck – voller Reue.

Diese Erkenntnis.

Strauss, die mich unter Druck setzt. Hotch, der mich ans Messer liefert. Gideon, der mir meinen eigenen Wert vermitteln soll. Ich glaube es nicht.

„Und damit wolltet ihr mir eine Lektion erteilen. So subtil, dass ich eure Verschwörung nicht erkenne“, sage ich und meine Stimme klingt hohl.
 

„Nein!“, ruft Hotch und schlägt mir der Faust auf den Tisch. Ich zucke ein wenig zusammen.

„Nein, du hast es immer noch nicht verstanden! Die ganze ‚Verschwörung‘, wie du sie nennst, war dazu gemacht, um von dir aufgedeckt zu werden! Das Problem ist, dass du es nicht getan hast!“

„Was? Ich-“ Was zur Hölle will er von mir?

Hotch atmet schwer und starrt mich fassungslos an.

„Die Sache ist die. Doktor Spencer Reid hätte den Hinterhalt sofort bemerkt. Denn seine Denkleistung ist die stärkste, die es innerhalb des FBI gibt. Der Dr. Reid, den wir kennen, hätte sich niemals so aufs Kreuz legen lassen.“
 

Ich. Verstehe.
 

„Reid. Hör auf, dich zu zerstören. Du richtest dich zu Grunde.“

Ich sitze wie gelähmt da, zu Boden geschmettert von der Erkenntnis, die sich gerade breit macht. Ich habe auf ganzer Linie versagt. Und Hotch hat recht. Dr. Reid wäre dahinter gekommen. Alles erscheint mir jetzt so offensichtlich. Strauss, die das Flugzeug betritt und haltlose Behauptungen verstreut. Das Team, das sich ihrem Willen einfach fügt. Hotch, der mir auf dem Weg zur Männertoilette begegnet, um dann alleine in das Büro zurückzukehren, in dem meine Tasche steht. Gideon, dem ich rein zufällig im Krankenhaus begegne. Es war so offensichtlich. Ich habe es nicht entdeckt – weil es mich einfach nicht interessiert hat.
 

„Niemand in der Chefetage wird etwas erfahren, das war von vorneherein eine Abmachung zwischen Strauss und dem Team. Die Sache existiert nicht. Nimm dir frei und mach eine Therapie. Und komm dann wieder.“
 

Hotch lässt mich mit seiner Kaffeetasse allein.

Ich klammere mich an die Tischkante.

Spencer weint Freudentränen.



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Kommentare zu dieser Fanfic (23)
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Von:  Yumi_Lucifer
2013-04-06T15:15:39+00:00 06.04.2013 17:15
Diese Geschihcte ist echt der Hammer sie hat mich echt gefesselt
und ich finde es super das es in der Ich erzählung geschrieben ist
vorallem in der von reid.
ich mag ihn einfach
echt spitze weiter so
* daumen hoch*

Von:  Casino
2012-10-08T13:41:25+00:00 08.10.2012 15:41
Ich habe deine Geschichte gestern Abend angefangen zu lesen. Von kurzem Schlaf unterbrochen, habe ich sie dann heute morgen endlich fertig bekommen und ich bin beeindruckt. Ich war erst skeptisch, wie eine Criminal minds Fanfiction wohl an die einzelnen Folgen herankommen würde, aber ich finde du hast es sehr gut getroffen.
Ich schließe mich einigen Vorrednern an, dass es verdammt traurig ist, wie einfach Reids Drogensucht abgetan wurde. Man hätte es mit einer oder zwei Folgen mehr etwas ausschlachten können. Allgemein finde ich, dass einige Probleme der Protagonisten zu wenig rangenommen wurden. Naja...das ist ein anderes Thema.
Ich würde mich freuen noch mehr von dir zu lesen :D
Von: abgemeldet
2011-05-28T11:52:49+00:00 28.05.2011 13:52
Wow... also ehrlich gesagt.... ja das hier wird das kürzeste Kommentar werden. Denn ich bin einfach sprachlos. Super aufgebaut, es war praktisch perfekt. So ja wie gesagt man kanns nicht beschreiben wie toll.

Die Geschichte war für mich wie die Spritze für Spencer ;) (das wollte ich schon seit Kapitel 5 schreiben) jeden Tag 3 Kapitel und heute damit durchgekommen.

Danke für das Leseerlebnis.
Von:  Nachtwandler
2011-05-15T08:27:49+00:00 15.05.2011 10:27
Richtig spannend geschrieben. :) Eigentlich wollte ich die Geschichte erst gar nicht zu Ende lesen, weil ich die Serie nicht kannte, aber da hatte "ES" mich schon gepackt und ich konnte nicht mehr anders als weiter zu lesen.
Leider kenne ich ebendiese Serie, der diese Charaktere entstammen, einfach zu wenig, um zu beurteilen, wie gut sie hier umgesetzt wurden und musste mir einiges erst einmal selbst zusammenreimen - nichts desto trotz gefällt mir die Art, wie sich die Geschichte um den Protagonisten herum aufbaut, wie auch der Leser durch diese Perspektive in ihn hinein versetzt wird und die Welt ebenso wahrnimmt wie er und gleichwohl die Ungereimtheiten wahrnimmt. Und dann das Ende - hätte ich als Leser vorher nicht viel zu sehr in Reids Perspektive und seiner von Entzug und Nicht-Entzug geprägten Weltsicht gesteckt, hätte ich die Geschichte, dass seine Freunde, das Team, ihm helfen wollten und das auf diese Art und Weise wohl arg konstruiert gefunden. So fielen mir nur wieder diese Seltsamkeiten auf - und auch, dass Dr. Reid eigentlich die ganze Zeit wusste, dass die anderen es irgendwie wissen mussten - und am Ende wie Schuppen von den Augen, was es damit auf sich hatte. Und das war richtig toll.
Und dann die atmosphärischen Beschreibungen - des Wetters, Dr. Reids Zustandes, etc. - ich könnte mir das ganze gut als eine Folge einer Serie vorstellen, weil es auch geschrieben ist, wie ein Film, die ganzen kurzen Sätze, die kurzen Kapitel, wie Schnitte zwischen einzelnen Bildern, Szenen und Drehorten, auch, wenn dort nur halb so viel rüberkommen würde, von dem, was ES denkt, geschweige denn Dr. Reid.
Die ganze Geschichte ist ein Krimi, aber das rückt eigentlich eher in den Hintergrund, denn gleichzeitig ist es auch ein Psychothriller, bei dem sich der Leser die ganze Zeit fragt, wie lange der Doktor seinen Zustand noch aufrecht erhalten kann - auch, bevor irgendetwas passiert - bis zum Ende.
Aber zum Glück geht es ja dann doch gut aus.
Von:  Caralein
2011-05-09T17:52:29+00:00 09.05.2011 19:52
Irgendwie seltsam... dass man diesen wichtigen Teil der Serie einfach so tot geschwiegen hat, nicht wahr? Es wird mit zwei drei Sätzen abgetan, auch wenn man später wieder kurz davon hört, aber wie... hat er das nur durchgestanden und wie haben ihm die anderen geholfen? Ja, die Frage hat mich genauso beschäftigt und deine Lösung gefällt mir ganz gut.
Deswegen wohl hast du das auch geschrieben?^^ Oh und weil es keien Kategorie zu dieser genialen Serie gibt, die wie ich finde doch auch von den Charakteren liebt. Reid und Garcia sind mir da besonders lieb geworden^^
Na ja ich war eigentlich recht erstaunt die Worte Criminal Minds zu lesen, so dass ich hinschauen musste und ich wurde nicht enttäuscht.

Ich könnte jetzt tiefenpsychologisch werden und über die gewählte Erzählerform reden, aber ich werde mich etwas kürzer fassen müssen..

Erst einmal ein Lob, dass du die Charaktere so gut rüber gebracht hast. Dann ist dir der Handlungsbogen recht schön gelungen mit dem Schwerpunkt auf Reids Psyche und ja sagen wir "ES". ES hat manchmal wirklich einen grässlichen Humor, aber ich musste grinsen, weil manche der Gedanken wirklich sehr absurd für einen Doktor Spencer Reid waren. Aber in diesem Zustand... nun durchaus möglich. Ausserdem kann man es insofern sagen, dass es nicht Spencer ist sondern ES, das so gehässige Dinge denkt, obwohl er eigentlich wissen sollte, dass er sich auf seine Freunde verlassen kann, was sie durchaus darstellen.
Natürlich mag ich den Zynismus auch weil in mir ein kleiner Zyniker steckt, der hin und wieder gefallen an sowas findet ^.~
Strauss in der Rolle der Bösewichtin kommt dem Leser gerade Recht. Aber auch das wird mit der Zeit unklar, so dass die Handlung doch noch etwas mysteriös bleibt obwohl recht schnell zumindest der Schuldige im Fall gefunden ist, aber nicht im sagen wir menschlichen Drama, das sie auch noch ereignet hat.

So das war es von mir und ich hoffe es folgen viele weitere Kommentare zu dieser Geschichte, denn das wäre mehr als verdient...

Gruss
Caralein^^
Von:  Dayce
2010-09-27T09:23:49+00:00 27.09.2010 11:23
Oh, jetzt ist es schon zu Ende,was eigentlich sehr schade ist.
Das Ende war, nun ja wie soll ich es sagen? Äußerst Interessant.
Wo ich ganz am Anfang gedacht habe das Strauss, Dr. Reid "vernichten" will, wurde es doch von Kapitel zu Kapitel total anders. Irgendwie wurde sie mir trotz allem irgendwie sympatisch, und ich war der Meinung das sie wenn sie es gewohlt hätte, Reid schon lange verpetzt hätte, was ihm so seinen Job kosten würde. Und das Team was die ganze Zeit bescheid wusste. Spence war geschockt, wie du schon sagtest wenn es der alte gewessen wäre, hätte er diese ganze Spiel durchschaut.

Alles in allem war diese eine sehr tolle FF. Das Thema/Serie gibt es hier auf Mexx nicht wirklich, deshalb habe ich mich auch so über diese hier gefreut. Dein Schreibstill ist einfach nur super schön.Du hast es geschafft am Anfang ein schlechtes Bild auf das Monster Strauss zu werfen, doch mit jedem Kapitel zweifelte man mehr daran ob sie wirklich so böse ist. Gut in die Irre geführt.
Selbst wenn manche Kapitel von dir sehr kurz waren, hatte man doch in diesen mehr rauslesen können als in manch anderen langen FF. Auch das ist toll.
Ich persönlich finde es schade das diese tolle FF schon zu Ende ist. Ich habe sie gern gelesen und ich freu mich, das du mir immer auch von dir ein Feedback gegeben hast.
Falls du mal wieder Lust hast so was spannendes zu schreiben, dann würde ich mich freuen von dir zu hören.
Hoffe bis bald mal!
Tschaui Dayce
Von:  Dayce
2010-09-27T08:58:46+00:00 27.09.2010 10:58
Ein guter Bericht. Hotch lässt alles belastende weg, was Reid schaden könnte. Da dürften sich keine Fragen einstellen sondern nur die Erkenntnis das sein Team nie gegen ihn war.Ich hoffe das ihm das jetzt hilft.
Tschaui Dayce
Von:  Dayce
2010-09-27T08:52:23+00:00 27.09.2010 10:52
Nicht doch! Nicht an dieser stelle aufhören! Ich wollte auch wissen was der Typ sagen wollte, was er heraus gefunden hatte. Oh ich weiß nicht was ich sagen soll, deshalb ist der Kommi auch so kurz und verwirrend, den ich will wissen wie es weiter geht. Ich fass das dann später alles nochmal zusammen, aber jetzt muss ich erstmal schnell zum nächsten.
Tschaui Dayce
Von:  Dayce
2010-09-27T08:37:29+00:00 27.09.2010 10:37
Die Spannung steigt? Wieso hat er ihm die Spritze in den Arm gestochen? Bestimmt weil er wusste das Spence jetzt in diesem Moment anders nicht zu brauchen wäre. Und jetzt bin ich mir sicher das das Team die ganze Zeit für Spence da war, auch wenn er es durch die Ersatzdrogen nicht gemerkt hat. Oder dachte das sich alle gegen ihn gestellt haben. Die Spannung kannst du sehr leicht halten, das ist echt super.
Tschaui Dayce
Von:  Dayce
2010-09-27T08:18:22+00:00 27.09.2010 10:18
Oh man das ist ja, wie soll ich es ausdrücken. Nun ja es hat mich voll gefesselt. Und echt ich wollte auch sehen was Spencer draußen gesehen hat. Es war so spannend bis er darauf gekommen ist wo er ist. Und nun? wie soll er da jetzt bloß rauskommen. Vorallem jetzt da die Syptome des Entzuges voll eingesetzt haben. Ich bin gespannt.
Tschaui Dayce


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