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Bis(s) in den Tod

von

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Tage, an denen man nicht aufstehen sollte

Wie beginnt man normalerweise ein Märchen? Ach ja richtig. Mit „Es war einmal...“ Normalerweise! Doch dies hier ist sicher kein Märchen. Nein. Für Märchen sind die Gebrüder Grimm zuständig. Ich will keine Märchen erzählen. Ich möchte eine Geschichte erzählen. Sie handelt leider nicht von Prinzen, Prinzessinnen oder bösen Hexen. Doch lest selbst welche Geschichte das Schicksal für Shana niedergeschrieben hat...
 

Man kennt den gewöhnlichen Ablauf, morgens, in einem jeden gewöhnlichen Haushalt. Die Mutter macht das Frühstück, der Vater ist meist schon auf der Arbeit und das Kind tummelt sich noch in den Kissen. Eigentlich nichts Besonderes. Derselbe Trott, wie fast jeden Tag. Doch kein Tag ist wie jeder andere. Und auch Shana sollte dies heute bewusst werden.

Shana lag noch im Bett und schlief den Schlaf der Gerechten, als ihre Mutter von unten laut ihren Namen rief und sie dazu nötigte endlich aufzustehen. Und wenn ihre Mutter einmal ihre Stimme erhob, war an Schlaf gar nicht mehr zu denken. Müde rieb sie sich den Schlaf aus den Augen und richtete sich langsam auf. Da ihre Mutter immer noch ihren Namen rief, schrie Shana zurück, dass sie wach wäre. Das musste reichen. Am liebsten hätte sie sich wieder ins Land der Träume geflüchtet, aber Schule war Schule. Ob sie nun wollte oder nicht. Sie musste hin.

Nach ausgiebigen Strecken und Gähnen stand sie dann auch endlich auf. Ungefähr zwanzig Minuten später stand sie gestriegelt und gebürstet in ihrer Schuluniform im Matrosenlook in der Küche und setzte sich an den Tisch. Eher mühselig, als wirklich willig aß sie ihren Toast. Ihrer Mutter entging das Verhalten ihrer Tochter natürlich nicht.

„Shana!“, begann sie. „Nimm ein bisschen mehr Haltung an. Du bist kein kleines Kind mehr. Du bist schon 17 Jahre alt und besuchst bereits die Oberschule. Ich hatte nie das Glück so einen Weg gehen zu dürfen. Als ich in deinem Alter war...“

Shana schaltete auf Durchzug. Sie kannte diese Predigten schon auswendig. Wenn wunderte das auch? Dieses Geseier hatte sie schließlich gepachtet. Ein Privileg als schwarzes Schaf der Familie. Da hatte ihr Bruder Ken weitaus mehr Glück. Und das nur, weil er ein Mann war. Aber so war es nun mal gesellschaftlich festgelegt. Nur Männer konnten erben und auch nur sie waren etwas Wert. Warum also sollte Shana dann zur Schule gehen? Sie durfte doch eh nur niedrige Arbeiten ausüben. Und als Hausfrau brauchte man keine schulische Bildung. Sah man ja an ihrer Mutter.

Doch solche Gedanken waren ihr nicht gestattet. Und aussprechen durfte sie das erst recht nicht. Wahrscheinlich hätte ihre Mutter ihr den Mund mit Seife ausgewaschen, wenn sie auch nur ansatzweise das eben gedachte geäußert hätte. Ja Gleichberechtigung war schon was für den hohlen Zahn gewesen.

Shana aß ihren Toast zu Ende und hörte dann auch ihrer Mutter wieder zu. Sie war eh zum Ende gekommen.

„...verstehst du? So geht das einfach nicht.“

„Tut mir leid, dass ich dir, Vater und Ken solchen Kummer bereite.“

„Zumindest siehst du es ein.“

„Danke für das Essen.“

Shana stand auf und wollte nur noch weg, aus der Anstalt, die sich „zu Hause“ nannte. Schule war zwar auch Mist, aber immer noch besser, als diese Familie, der sie ja angeblich nur Schande bereitete.

„Ich gehe dann jetzt Mutter.“

„Gut. Mach der Familie keine Schande. Du weißt, dass es wichtig für Ken ist, dass du dich benimmst.“

„Ich weiß Mutter. Firmen nehmen nur Bewerber, dessen Ruf nicht beschmutzt ist.“

„Schön, dass du das verstanden hast. Und nun geh.“

„Bis später dann.“

Kaum das Shana aus der Tür war, ließ sie dieses aufgesetzte Lächeln fallen und ersetzte es durch einen gelangweilten Gesichtsausdruck. Diese morgendlichen Unterhaltungen gingen ihr einfach nur auf die Nerven. Jeden Morgen derselbe Blödsinn.

Aber sie hatte auch keine Zeit mehr sich weiter mit den Sorgen ihrer Mutter auseinander zu setzen. Zumindest nicht, wenn sie noch ihre Bahn kriegen wollte. Sie schaffte es. So gerade eben noch.
 

Es verging keine halbe Stunde, da saß Shana auch schon auf ihrem Platz in der Klasse. Sie wollte noch ein wenig dösen, bis der Lehrer kam, aber an diesem Morgen wollte nichts so recht klappen. Kaum saß sie auf ihrem Platz, kam auch schon ihre beste Freundin Mika zu ihr und redete drauf los ohne Luft zu holen. Dass Shana noch nicht aufnahmefähig war, störte Mika nicht im Geringsten. Shana bekam nur Wortfetzen mit. Sie betrachtete Mika wie sie da so stand und über Gott und die Welt redete.

Ihre beste Freundin war ein süßes Mädchen gewesen. Kurzes, hellblau gefärbtes Haar, braune Augen und ein niedliches Gesicht. Der Männertraum schlechthin. Wenn Shana sich da so ansah. Sie war gewöhnlich. Schwarzes, langes Haar und blaue Augen. Fast jeder sah so aus. Und von niedlich konnte bei ihr auch nicht die Rede sein. Sie war stinknormal. Da kam doch glatt mal Neid auf.

„Shana! Sag mal hörst du mir überhaupt zu?“

„Eh... was?“

„Ich hab dich gefragt, ob das mit heute Abend noch steht.“

„Heute Abend?“ Sie strengte sich wirklich an, aber es wollte ihr einfach nicht einfallen. „Man. Wir wollen heute Abend mit ein paar Leuten aus der Klasse zum Karaoke gehen. Du weißt schon. Meinen Geburtstag nachfeiern. Hast du das etwa schon wieder vergessen?“

„Ach ja richtig. Jetzt wo du es sagst.“

„Du Trantüte.“, maulte Mika.

Das war heute? Ich sollte wirklich mal zuhören, wenn Mika was sagt. Eigentlich hab ich ja keine Lust, aber sie ist meine beste Freundin. Super!, dachte Shana.

Mika konnte anscheinend Gedanken lesen. Na ja. Man brauchte nur in das Gesicht von Shana zu sehen um zu wissen, was in ihrem Kopf vorging. Empört knuffte sie Shana in die Seite.

„Du kommst! Wenn nicht, rede ich nie wieder ein Wort mit dir!“

„Wer sagt denn, dass ich nicht komme?“

„Schau mal in den Spiegel. Dein Gesichtsausdruck spricht Bände.“

„Okay, okay. Ich komme ja. Außerdem wolltest du mir ja noch deinen neuen Freund vorstellen.“

Mika wurde sofort rot und bekam vor Verlegenheit keinen Ton mehr raus. Ablenkung gelungen. Sprach man Mika auf ihren Freund an, wurde sie augenblicklich still. Gewusst wie.

Doch weitere Gespräche mussten auf die Pause verlegt werden, da der Lehrer kam.

Während des Unterrichts ließ Shana ihren Blick gelangweilt durch die Klasse schweifen. Der Lernstoff interessierte sie nicht so wirklich. Na ja. Ihre Klassenkameraden interessierten sie zwar auch nicht, aber wenn man aus dem Fenster sah, blickte man nur auf den grauen Nebenkomplex. Und das hatte auch nicht wirklich was für sich gehabt. Also beobachtete sie mal wieder ihre Mitschüler. Im Grunde hatten sie für Shana nichts übrig gehabt. Sie nahmen Shana nicht zur Kenntnis. Doch das beruhte auch auf Gegenseitigkeit. Verständlich, wenn man ihre besondere Lage kannte. Shana war eigentlich ein gewöhnliches, 17-jähriges Mädchen gewesen. Sah man mal von der Tatsache ab, dass sie stärker war, als die meisten Menschen.

Sie erinnerte sich noch genau. Sie hatten im Sportunterricht Völkerball gespielt. In ihrer Euphorie hatte Shana den Ball ziemlich doll geworfen und einer ihrer Mitschüler hatte diesen Ball mitten ins Gesicht bekommen.

Heute sah man zwar nicht mehr, dass zwei seiner vorderen Zähne unecht waren und auch die gebrochene Nase war wieder gerade, aber keiner hatte das je vergessen. Jeder hatte Angst vor Shana gehabt. Jeder, bis auf Mika. Sie störte es nicht, dass ihre Freundin außergewöhnlich stark war. Sie nutze es zu ihrem Vorteil und ließ Shana immer die schweren Sachen tragen. Deswegen war Shana auch, was Männer betraf, noch grün hinter den Ohren. Wer wollte auch schon ein Mädchen zur Freundin haben, das stärker war, als man selbst? Da kam nicht so wirklich Beschützerinstinkt auf.

Wie oft musste sie wegen dieser ungewöhnlichen Stärke schon zum Arzt gehen? Doch keiner konnte sich erklären, woher das rührte. Es brachte zwar gewisse Vorteile anders zu sein, aber die Nachteile überwiegten bei weitem.
 

Shana hing noch ziemlich lange ihren Gedanken nach, bis es dann auch endlich zur Pause klingelte. Während sie dann ihr Frühstück verputzte, brabbelte Mika fröhlich vor sich hin.

So ging das den ganzen restlichen Schultag. Shana war einfach den ganzen Tag nicht bei der Sache gewesen. Woran das lag, wusste sie nicht. Na ja. Sie war zwar nie das gewesen, was man interessiert und aufmerksam nannte, aber so neben der Spur war sie schon lange nicht mehr gewesen.

Nach der Schule verabschiedete sie sich von Mika, die ihr mindestens dreimal die Uhrzeit und den Standort der Karaokebar erklärt hatte und ging dann nach Hause. Dort angekommen ging sie auch gleich in die Küche. Ihr Vater arbeitete noch. Ihre Mutter saß zusammen mit ihrem Bruder Ken am Esstisch und aß zu Abend. Es war ja auch schon halb sechs gewesen. Shana setzte sich dazu.

„Wie war die Schule?“

„Gut Mutter. Ich habe viel gelernt.“ Glatt gelogen.

„Hast du der Familie auch keine Schande bereitet?“

„Natürlich nicht. Immerhin geht es ja um Ken’s Zukunft.“

„So ist es recht mein Kind.“ Mit solch einfachen Worten konnte man ein Lächeln auf das Gesicht ihrer Mutter zaubern. Natürlich war das auch gelogen. Und das wusste auch Ken.

„Immerhin bin ich Stammhalter der Familie.“, begann er zu sticheln. „Also wäre es da nicht angebracht, mich Ken-sama zu nennen?“

„Was?“ Shana blieb der Reis im Hals stecken und sie musste stark husten. Sie hatte sich doch wohl gerade verhört. „Ken-sama? Wir sind heute auf keinem Höhenflug oder?“

„Nein. Nur du, als meine Schwester solltest mir Respekt zollen.“

„Ich glaub ich spinne. Hast du sie noch alle?“

„Wie denkst du darüber Mutter?“ War natürlich fies ihre Mutter ins Spiel zu bringen. Die hielt eh zu Ken. Er sah lächelnd zu ihr. Sie überlegte kurz und strahlte dann übers ganze Gesicht. „Das ist eine wunderbare Idee. Ich meine, weil du Shana, deinem Bruder wirklich kaum Respekt entgegen bringst. Immerhin sichert er deine Zukunft. Also nenn ihn von nun an Ken-sama.“

„Vergiss es. Ich werde das sicher nicht tun. Er ist mein Bruder und keinen Deut besser als ich. Ihr macht ihn doch zu diesem aufgeblasenen Großkotz, der er jetzt ist. Ihr könnt ihn ja gerne anhimmeln, ich tue das sicher nicht.“

„Was fällt dir ein du undankbares Biest!“ Ihre Mutter war aufgesprungen und hatte die Hand bereits erhoben, doch Ken hielt ihr Handgelenk fest.

„Lass gut sein Mutter. Ich kann Shana-chan schon verstehen. Sie fühlt sich schlecht, weil sie nicht als Mann geboren wurde. Zwar hat sie das Verhalten, aber bei weitem nicht das Aussehen.“

Sie ließ ihre Hand wieder sinken. „Aber trotzdem hat sie Strafe verdient.“ Ihre Mutter sagte das mit ernster Miene. Man konnte sehen, dass sie immer noch den Drang verspürte, ihrer Tochter eine Ohrfeige zu geben. Wäre ja schließlich nicht das erste Mal gewesen.

„Da gebe ich dir natürlich Recht Mutter, aber ich bin ja ein netter Bruder. Sag mal Shana-chan. Wolltest du heute Abend nicht ausgehen?”

„Was? Was hast du vor?“

„Ich denke du willst heute Abend gerne weg. Sag Ken-sama zu mir und wir vergessen das ganze. Sagst du es nicht, würde ich als Erziehungsmaßnahme vorschlagen, ihr heute Hausarrest zu geben.“

„Das lässt du doch nicht zu Mutter?!“ Die Frage war eigentlich überflüssig gewesen. Shana wusste, wie manipulativ ihr Bruder gewesen war. Obwohl ihre Mutter ihm auch so aus der Hand fraß. Er war ja so was wie heilig für sie gewesen.

„Doch. Ken hat recht.“

„Natürlich. Ken hat ja immer recht.“

„Ah, ah. Ich wäre vorsichtig mit dem was du sagst Shana-chan.“

Shana kochte. Am liebsten hätte sie Ken eine rein gehauen, aber dann hätte ihre Mutter sie wahrscheinlich aus dem Haus geworfen. Und Mika bedeutete es sehr viel, dass sie heute Abend da aufkreuzte. Sie seufzte und resignierte.

„Verzeih mir Ken-sama. Ich habe meine Worte nicht mit bedacht gewählt. Und auch dich möchte ich um Verzeihung bitten, Mutter.“

„Es geht doch.“, freute sich Ken. Auch ihre Mutter schien besänftigt. „Pass in Zukunft auf was du sagst. Aber Strafe muss trotzdem sein. Du bekommst diesen Monat kein Taschengeld.“

„Ja Mutter.“ Shana stand auf. „Danke für das Essen.“
 

So schnell die konnte lief sie hoch in ihr Zimmer. Sie nahm sich ein Kissen und drückte es ins Gesicht. Dann schrie sie so lange, bis ihr der Atem fehlte. Ihr Gesicht war rot vor Zorn. Am liebsten hätte sie Ken wieder und wieder dieses schleimige Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Für diesen Wahnsinn empfand sie nur Hass. Es war aber zeitgleich frustrierend, wie einfach man sie doch demütigen konnte. Hatte sie das wirklich verdient? Was hatte sie nur getan, dass sie so bestraft wurde. Niedergeschlagen setzte sie sich an ihren Schreibtisch und machte Hausaufgaben. Irgendwie musste Shana sich ablenken.
 

Es war bereits 19:30 Uhr gewesen, als Shana das Haus verließ. Während sie zur Bahnstation ging, rieb sie sich ständig die Hände warm. Es war bereits Herbst gewesen und dementsprechend waren auch die Außentemperaturen. Sie hatte zwar einen warmen Pullover an, aber eine Jacke wäre noch besser gewesen. Aber was man vergisst, vergisst man eben. Zurück nach Hause gehen um eine zu holen, wollte sie dann auch nicht mehr.

Langsam zogen sich dunkle Wolken über dem Himmel zusammen, was sie allerdings nicht bemerkte.

Pünktlich um 20:00 Uhr stand sie vor der Karaokebar auf der Matte. Mika hatte schon auf die gewartet. Sie zog ihre beste Freundin auch gleich mit rein und redete schon wieder drauf los. Mika eben.

Es wurde ein relativ lustiger Abend. Mika hatte zwar ihre Mühe, konnte Shana aber doch dazu überreden auch ein Lied zu singen. Als man sie hatte singen hören, war man froh, dass sie kein weiteres Stück zum Besten geben wollte. Shana hatte mehrmals gesagt, dass sie nicht singen konnte, aber hörte mal jemand auf sie? Selbst Schuld.

Und sie lernte auch endlich den Freund von Mika kennen. Er hieß Sho und war schon 23 Jahre alt. Er war nett und man sah Mika an, wie verknallt sie war.
 

Um 23:00 Uhr endete die Feier endlich. Drei Stunden Karaoke reichten auch. Sho bot Shana an, sie nach Hause zu fahren, aber sie lehnte ab. Er hatte ein Motorrad gehabt. Die Dinger mochte Shana nicht. Außerdem hätte er Mika dann alleine lassen müssen, denn auf diesem Monster auf zwei Rädern, war nur Platz für Zwei gewesen. Und sie hatte es auch nicht wirklich eilig nach Hause zu kommen.

Sie verabschiedeten sich und jeder ging oder fuhr seiner Wege. Shana war noch nicht mal fünf Minuten unterwegs, da entluden sich auch schon die dunklen Wolken und schickten einen Regenschauer zur Erde, der sich gewaschen hatte. Da sie von diesem plötzlichen Platzregen von einer Sekunde auf die andere eh schon durchnässt war, lohnte sich ein Unterstellen auch nicht wirklich. Also lief sie durch den Regen. Der Tag war eh schon beschissen gewesen, also machte das auch nichts mehr. Es war das Tüpfelchen auf dem i gewesen.

Als sie schon fast zu Hause war, wurde der Regen weniger und es nieselte nur noch leicht.

„Das ist doch ein Witz oder?“, sprach sie zum Himmel. Konnte es noch schlimmer werden? Es konnte. Wenn einem das Schicksal mal ans Bein pisste, dann richtig.

Sie bog um die nächste Ecke und lag dann auch schon auf der nassen Straße. Irgendwas hatte sie umgeworfen. Um es deutlicher zu sagen, stieß sie mit jemand zusammen und die Wucht des Zusammenstoßes warf sie zu Boden. Aber man muss es ja nicht immer so genau nehmen oder?

Langsam richtete sie sich wieder auf und zuckte zusammen. Sie hatte sich ihre Hand verletzt. Es blutete. Das reichte. Man konnte im Leben ja viel ertragen, aber das brachte das Fass zum überlaufen.

Schnell kam Shana wieder auf die Beine und funkelte den Typ, mit dem sie zusammengestoßen war, böse an. Der beachtete sie gar nicht. Blickte nur ständig hinter sich und war dann auch schon im Begriff weiter zu gehen, als sie ihn an der Schulter packte und zu sich umdrehte.

„Sag mal spinnst du? Kannst du dich nicht mal entschuldigen? Oder ist das unter deiner Würde dich bei einer Frau zu entschuldigen?“

„Lass mich los du Göre. Ich hab es eilig.“

„Nein!“ Sie musste aufpassen, dass sie nicht schrie.

Der Typ warf die nassen, schwarzen Strähnen, die ihm ins Gesicht gefallen waren, zurück und blickte Shana zum ersten Mal an. Auge um Auge. Böses Funkeln um böses Funkeln.

Shana starrte in seine Augen. War sie jetzt komplett verrückt geworden? Sie konnte schwören, dass seine Augenfarbe golden war. Aber das kam sicher nur von dem schwachen Licht der Straßenlaternen.

„Ich sag’s noch mal. Lass mich los.“ Nun war seine Stimme etwas bedrohlicher. Aber Shana war bekannt dafür, Dinge zu ignorieren.

„Ich denke ja nicht dran! Wegen dir ist meine Hand verletzt!“ Sonst war sie natürlich nicht so kleinlich, aber heute war ja auch nicht sonst. Um ihre Aussage zu bekräftigen, hob sie ihre verletzte Hand auf seine Augenhöhe an.

„Heul doch.“, war das Einzige, was ihm dazu einfiel.

„Werde ich sicher nicht. Entschuldige dich gefälligst!“ Wenn Shana trotzig war, dann richtig.

„Argh. Blöde Kuh! Selbst schuld!“

Was war denn das für eine Entschuldigung gewesen? Shana wollte gerade zu einer weiteren verbalen Attacke ansetzen, als der Typ etwas Komisches machte. Er holte etwas aus seiner Manteltasche und hängte es ihr um den Hals. Eine Kette. Diese Kette, samt Anhänger ließ er unter ihren Pullover rutschen, so dass man nichts sah.

Shana war empört und holte zum Schlag aus. Er duckte sich darunter weg und schnappte sich ihre verletzte Hand. Er führte seinen Mund zu der geschundenen Stelle und leckte über die blutende Wunde.

„Du hast besonderes Blut.“, nuschelte er. Der Typ sah ihr in die Augen. „Pass gut auf das auf, was ich dir eben gegeben habe. Ich werde es mir schon bald zurückholen.“

Er ließ von ihr ab und rannte davon. Wie erstarrt blickte sie dem Fremden nach. Ohne es zu merken und zu wollen, wurde sie rot im Gesicht. Das hatte irgendwie etwas Verbotenes an sich gehabt. Ihr Herz pochte wild gegen die Brust. Noch ein, zwei Augenblicke lang stand sie dort wie zur Salzsäule erstarrt und setzte sich dann in Bewegung. Beinahe wäre sie wieder über den Haufen gerannt worden, denn fünf Männer kamen um dieselbe Ecke gebogen. Sie beachteten Shana aber nicht und liefen einfach an ihr vorbei.

Sie rümpfte die Nase. Die Kerle stanken bestialisch. Seife war wohl auch nur eine Modeerscheinung für sie gewesen. Und die gingen ganz klar nicht mit der Mode. Wurde der Typ vielleicht von diesen Kerlen verfolgt? Unbehagen machte sich bei ihr breit. Sie schaute um die Ecke um nicht noch mal mit jemanden zusammen zu stoßen und rannte dann los. Sie war noch nie so froh gewesen, zu Hause zu sein.

Im Haus war alles dunkel. Die anderen schliefen schon. Sie zog ihre Schuhe aus und ging nach oben. Shana holte sich noch ihren Schlafanzug aus ihrem Zimmer und ging dann ins Bad. Als sie sich entkleidet hatte, sah sie, was ihr da um den Hals gehängt wurde. Um ihren Hals an der Kette hing ein Schlüssel. Ein ziemlich alter Schlüssel. Wurden Schlösser, in die solch ein Schlüssel passte, überhaupt noch hergestellt? Sie hob den Schlüssel an der Kette an um ihn besser betrachten zu können. Es war rostig, lang und hatte einen kurzen Bart. Waren diese Kerle, wenn sie hinter dem Typ her waren, hinter dem Schlüssel her? Shana konnte es sich fast nicht vorstellen.

Sie dachte auch nicht weiter darüber nach und ging duschen. Danach schlüpfte sie in ihren Schlafanzug und ging ins Bett. Der Tag war nervenaufreibend gewesen und sie war einfach nur fertig.

Bevor Shana endgültig ins Land der Träume einging, erschien ein Bild in ihrem Kopf. Goldene Augen. Sie leuchteten auf unnatürliche Weise.

Dann war sie weg.
 

And that’s all?
 

Vorerst. Die Kapitel erscheinen monatlich. So immer am Ende des Monats. Kann dann aber auch passieren, dass es erst der Anfang nächsten Monats wird. Freue mich über Kommentare.

Bis denn dann
 

BabyG

Der Perversling und die blöde Kuh

Menschen haben die Eigenschaft Dinge zu sehen und zu fühlen, die eigentlich gar nicht da sind. Welche Eltern kennen das nicht? Die Frau liegt qualvoll in den Presswehen und kann vor Schmerzen nur noch Schreie von sich geben, aber der Mann, der eigentlich nur dumm daneben steht, hat meist mehr Schmerzen, als die Frau. Reine Kopfsache würde der Experte jetzt sagen. Aber der Mensch ist in seinem Denken und Handeln eben einzigartig. Und immerhin hätten wir dann nicht so viele Spinner auf der Welt.

Shana sollte es weitaus schlimmer ergehen. Es gibt eben Dinge, die sind einfach da. Ob man nun will oder nicht.
 

Als Shana an diesem Morgen erwachte, brummte ihr der Schädel. Fast so wie bei einem Kater. Natürlich konnte sie das nicht wirklich beurteilen, da sie noch nie Alkohol getrunken hatte, aber so ungefähr musste sich das anfühlen. Doch wenn es nicht Alkohol war, der ihr solche unerträgliche Kopfschmerzen bereitete, was war es dann? Vielleicht lag es ja an den Vögeln. Die zwitscherten in so einer Intensität, dass eine Heavy-Metal-Band nicht dagegen war. Der Bandname der Vögel wäre dann so etwas wie „The Kill Birds“ oder so gewesen.

In der Vorstellung vielleicht komisch, aber übertrieben war es auf jeden Fall. Zumal es nur Vorstellung war. Und Shana lebte in der Wirklichkeit und nicht in irgendeiner Traumwelt. Das dachte sie zumindest heute Morgen noch.

Ihr Blick fiel auf die Uhr. Zeit zum Aufstehen. Welcher Idiot kam eigentlich auf die brillante Idee Unterricht auf einen Samstag stattfinden zu lassen? Den hätte sie zu gerne mal getroffen. Wahrscheinlich war sie da nicht die Einzige gewesen.

Schon als sie ihre nackten Füße auf den flauschigen Teppichboden gesetzt hatte, wusste Shana, dass heute kein guter Tag werden würde. Sie gehörte zwar nicht zu den Leuten, die in die Zukunft blicken konnten, aber auf das bisschen weibliche Intuition was sie noch hatte, konnte sie sich verlassen. Na ja. Wenn man schon das Gefühl hatte, dass jemand in seinem Kopf Samba tanzte, war das ja auch logisch, dass sie dachte, dass kein guter Tag werden würde. Aber ab und zu kann man wesentliche Dinge ignorieren und sich übernatürlich fühlen. Viele Freuden hatte man im Leben ja auch nicht mehr.
 

Wie ein Geist wandelte sie ins Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel war erschreckend und ernüchternd zugleich. Ihre Haare widersetzten sich den Gesetzten der Physik und standen in allen Richtungen wild ab. Wie ein Überraschungsei. Jeden Morgen eine andere Frisur. Sie war blass im Gesicht und die Augenringe sahen wirklich übel aus. Shana befühlte ihre Stirn. Fühlte sich normal an. Mist! Auch als sie ihre Zunge rausstreckte, blieb das gewünschte Ergebnis aus. Sie war weder belegt, noch glänzte sie in unnatürlichen Farben. Sie war so, wie sie sein sollte. Rosig. Damit konnte Shana nicht auf krank machen.

Grummelnd zog sie sich aus und begann sich zu waschen. Erst jetzt viel ihr die Kette auf. Und wie auf Knopfdruck schossen alle Erlebnisse von gestern durch ihren Kopf. All die Sachen, die sie eigentlich vergessen wollte. Ihr Blick fiel auf ihre Hand. Ein Kratzer zierte ihre Haut. Und natürlich kam passend zu dem Kratzer die dazugehörige Erinnerung. Der Zusammenstoß, der Typ und wie er die Wunde geleckt hatte. Wie schnell man doch wieder eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen konnte.

Shana schüttelte den Kopf. Perverse Gedanken am Morgen vertrieben keinen Kummer und auch keine Sorgen. Am besten warf sie den Schlüssel in den Müll und zog einen Schlussstrich unter die ganze Sache.

Sie umfasste den Schlüssel, zog ihre Hand aber schnell wieder zurück. Da verpasste dieses rostige Ding ihr doch glatt einen Schlag. Auch ein weiterer Versuch endete ähnlich. Es war, als fühlte sich der Schlüssel recht wohl zwischen ihrem Busen. War der Schlüssel vielleicht so pervers wie sein Besitzer? Shana kam schon wieder auf recht dumme Gedanken. Als ob der Schlüssel ein Eigenleben hatte. Das war lächerlich. Wahrscheinlich hatte er sich nur statisch aufgeladen. Aber darum konnte sie sich auch später noch kümmern. Sie musste zur Schule.
 

In Windeseile hatte sie sich fertig gemacht und stand auch schon in der Küche. Wie immer saß nur ihre Mutter am Esstisch und wartete auf ihre Tochter. Shana setzte sich dazu und begann die wichtigste Mahlzeit des Tages.

„Guten Morgen Mutter.“, brachte sie zwischen zwei Bissen heraus. „Guten Morgen.“, erwiderte ihre Mutter.

War heute ein Feiertag? Normalerweise hielt sich ihre Mutter nicht mit so profanen Floskeln auf und ging sonst immer gleich zu ihren üblichen Predigten über.

„Also Shana.“, begann sie. Wäre ja auch zu schön gewesen. „Ich hoffe du benimmst dich heute Abend!“

Heute Abend? Was war da? „Hm? Was ist heute Abend?“

Ihre Mutter seufzte theatralisch. „Dir muss man auch alles mehrmals sagen, bevor du es verstehst.“

Das war ja so nun auch nicht richtig. Sie hörte nur nie zu. Das war alles. Aber das hier hörte sich interessant an.

„Verzeih Mutter. Was ist denn heute Abend?“

„Du bist heute Abend alleine zu Hause. Vater ist bis morgen auf Geschäftsreise, Ken übernachtet bei einem Klassenkamerad und ich besuche eine Freundin.“

Für Unwissende hörte sich das ganz normal an, aber Shana wusste es besser. Ihr Vater war nicht auf Geschäftsreise. Der verbrachte seine Zeit mit seiner Geliebten. Bei der Ehefrau hätte Shana das anstelle ihres Vaters auch gemacht. Ihre Mutter würde man nur freiwillig heiraten, wenn man Masochist war. Sie glaubte auch nicht wirklich, dass ihre Eltern aus Liebe geheiratet hatten. Das war nur eine Zweckehe. Nur welchen Zweck das erfüllen sollte, wusste sie nicht.

Ihr Bruder Ken übernachtete wahrscheinlich wirklich bei einem Klassenkameraden. Einer dieser Speichellecker, die Ken huldigten. Irgendwas erhofften sie sich durch die Freundschaft zu ihm. Nur was, war Shana noch nicht so ganz klar.

Bei ihrer Mutter war sie sich nicht sicher. Entweder hatte sie einen kleinen Masochisten, den sie Geliebten nannte oder sie fuhr wirklich zu einer Freundin. Das würde Shana aber noch rausbekommen.

Zumindest war ihre Familie, was das Wahren des Scheins anging, Meister aller Klassen. Sie würde alle Geheimnisse aufdecken und dann ein Buch darüber schreiben. Irgendwie musste man sich ja für deren Freundlichkeit der letzten Jahre über bedanken. Aber das hatte ja auch noch Zeit.

Doch viel wichtiger waren nicht die Gründe warum ihre Familie heute Abend nicht da war, sondern das, sie heute Abend nicht da waren.

Während ihre Mutter die üblichen Hausregeln, wie keinen Fremden die Tür öffnen, keine Partys feiern und so weiter herunterbetete, überlegte Shana, was sie heute Abend machen würde. Es gab so vieles. Wahrscheinlich würde sie sich etwas zu Essen holen, Filme gucken und dann entspannt bei ihrer Lieblingsmusik ein heißes Bad nehmen.
 

Fast überglücklich bedankte Shana sich für das Essen und machte sich vom Acker. Beinahe hätte sie angefangen zu singen und zu tanzen, als sie zu ihrer Bahnstation ging, weil sie sich so freute. Wie schnell man doch gute Laune bekommen konnte. Sagenhaft. Ihre Freude ging sogar soweit, dass sie Mika zuhörte, als diese zu Shana´s Platz kam und zu reden anfing. Mika war darüber so verblüfft, dass sie fast keinen Ton rausbrachte. Und um dem ganzen noch einen drauf zu setzen, beteiligte Shana sich sogar am Unterricht. Das war nun wirklich nicht ihre Art gewesen. Die Lehrer fragten sich schon ob eine Sonnenfinsternis bevorstand oder die Planeten sich verschoben hatten. Anders konnten sie sich die Anteilnahme von Shana am Unterricht nicht erklären. Shana fand das sogar niedlich, aber was konnte sie denn dafür? Gute Laune war eben gute Laune. Die sollten sich einfach damit zufrieden geben.
 

Die Schule verging wie im Flug. Das konnte aber auch daran liegen, da sie keinen Nachtmittagsunterricht hatten. Da Shana noch Zeit hatte, bis wirklich das letzte Mitglied ihrer Familie das Feld geräumt hatte, schlug sie Mika vor, bummeln zu gehen. Diese Frage kam für Mika so überraschend, dass sie fast vom Stuhl fiel. Sie befühlte die Stirn ihrer besten Freundin.

„Bist du krank?“, fragte Mika fürsorglich.

„Wieso glaubt heute eigentlich jeder, dass mit mir etwas nicht stimmt?“

„Weil du dich nicht wie sonst benimmst. Du hörst mir zu wenn ich was sage und jetzt willst du auch noch mit mir bummeln gehen.“

„Freu dich doch.“, sagte Shana darauf nur, nahm Mika bei der Hand und schleifte sie aus dem Schulgebäude. Man musste dort nicht mehr Zeit als notwendig verbringen. Vor allem Shana nicht.
 

Also gingen die besten Freundeinen bummeln. Sie schleiften sich gegenseitig durch die verschiedensten Geschäfte. Shana besorgte sich noch Tütenessen und ein paar Filme. Sie freute sich schon richtig auf den Abend in Einsamkeit.

Als sie sich dann auch bald von Mika verabschiedet und nach Hause gegangen war, umgab eine angenehme Stille das Haus. Kein desinteressierter Vater. Kein arroganter Bruder. Keine nervende Mutter. Niemand. Nur sie in dem leeren Haus. Träume konnten also doch wahr werden. Alpträume auch, aber dazu später.

Shana genehmigte sich erst mal ein heißes Bad zu Entspannung. Mit einem guten Buch und ihrer Lieblingsmusik war das doch gleich viel angenehmer. Irgendwann aber legte sie ihr Buch weg und wiegte sich in der sanften Musik. Mit Entspannung kam auch Kraft. Vielleicht keine Lehre von Konfuzius, aber wen interessierte das schon? Shana hatte ihre eigenen Lehren. Und immerhin brauchte sie auch Kraft. Kraft um ihre Familie ertragen zu können und die Schule zu überstehen.

Plötzlich wurde etwas heiß auf ihrer Brust. Shana zuckte hoch und schaute nach unten. Der Schlüssel, der immer noch um ihren Hals hing, war auf einmal rot. Entweder war er in dieser kurzen Zeit noch rostiger geworden oder das Teil hatte sich so mit der Hitze vom Badewasser aufgeladen, dass er jetzt rot wurde. Aber konnte das möglich sein? Sie war zwar in Chemie keine Leuchte gewesen, aber dass der Schlüssel so reagierte, war sicher nicht normal gewesen. Das bestärkte nur ihren Wunsch diesen Schlüssel so schnell wie möglich loszuwerden.

In der Theorie ja schön und gut, aber praktisch wollte es nicht so ganz. Als sie anfasste, versetzte der Schlüssel ihr wieder einen Schlag. Was war das nur für ein Schlüssel gewesen? Vielleicht ein Scherzartikel oder so? Na jedenfalls war der Ehrgeiz von Shana nun geweckt. Das bedeutete Krieg!
 

Schnell stieg sie aus der Wanne, trocknete sich ab und zog sich was an. „Jetzt geht es dir an den Kragen!“, drohte sie dem Schlüssel. Hatten Schlüssel überhaupt einen Kragen? Einen Bart, ja, aber sicher keinen Kragen. Aber das war doch auch belanglos gewesen. Außerdem war so eine Drohung überflüssig gewesen, da der Schlüssel ein toter Gegenstand war. Aber was interessierte Shana das?

Zuerst versuchte die den Schlüssel an der Kette von ihrem Hals zu bekommen. Doch diese Idee verwarf sie ganz schnell wieder, als selbst die Kette ihr einen Schlag verpasste. Shana probierte alles nur Erdenkliche aus. Mit Topflappen, Handtuch, Zange und auch mit einer Schere. Nichts half. Selbst mit einer Gartenschere konnte sie dieses blöde Ding nicht zerschneiden.

Was war das nur gewesen? Immer wenn sie den Schlüssel oder die Kette mit der Hand berührte, bekam sie einen Schlag. Aber wenn er zwischen ihren Brüsten hing, passierte gar nichts. Sogar die nicht leitenden Dinge, wie die Topflappen, schützten sie nicht vor einem Schlag. Also doch ein perverser Schlüssel.
 

Nach einer halben Stunde sank Shana kraftlos auf die Couch. Der Schlüssel hing immer noch um ihren Hals. „Blödes Ding!“, fluchte sie. Nun gut. Sie beschloss sich etwas abzulenken. Sie machte sich etwas zu Essen und schaute sich einen der gekauften Filme an. Der Schlüssel war schnell wieder vergessen.
 

Nach zwei weiteren Filmen war es auch schon nach Mitternacht gewesen. Schlafenszeit, beschloss Shana. Den ganzen Tag hatte die Luft schon gestanden und es war stickig in ihrem Zimmer gewesen. Sie riss ihr Fenster weit auf und atmete die Luft, die durch den eben eingesetzten Regen frisch war, ein. Shana schaltete noch das Licht aus und kroch dann unter die kuschelige Bettdecke. Sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Nur heute wollte es wohl nicht so recht klappen mit dem Schlafen. Normalerweise war Shana ein Schlaftalent. Sie konnte überall schlafen und in Sekundenschnelle einschlafen.

Sie wälzte sich eine Weile hin und her. Der Regen draußen wurde stärker und es donnerte und blitzte in unregelmäßigen Abständen.

Dann endlich, nach ungefähr einer halben Stunde, war sie fast soweit ins Reich der Träume einherzugehen, als sie plötzlich ein Geräusch vernahm. Etwas fiel um. Shana schreckte auf und blickte sich um. Es war ziemlich finster, da die dunklen Wolken jegliches Licht schluckten. Sie sah nichts. Und da sie sich kannte und wusste, dass sie erst wieder schlafen konnte, wenn sie wusste was da umgefallen war, stand sie auf. Dann wieder ein Geräusch. Diesmal ein Knacken. Sie hatte zwar null Orientierungssinn, konnte aber bestimmen, dass das Geräusch vom Fenster kam.

Shana drehte sich langsam um. Irgendwas war da. Ein großer Schatten hockte auf dem Fenstersims. Für eine Katze war der Schatten viel zu groß. Gerade als sie zum Lichtschalter hechten wollte, durchzog ein Blitzstrang die dunkle Wolkendecke und brachte Licht ins Dunkle.

„Uah!“, schrie Shana. Da saß ein Mensch. Ein echter Mensch. Wie konnte das sein? Immerhin war das hier der erste Stock gewesen. Selbst als sie damals immer von zu Hause abhauen wollte, konnte sie nicht einfach aus dem Fenster steigen. Es war viel zu hoch und da stand weder ein Baum oder sonst eine Möglichkeit um hoch oder runter zu klettern. Wie also kam diese Person da hoch? War es vielleicht Superman der zu ihr geflogen kam?

Wie viel einem doch im Angesicht der Angst durch den Kopf schoss. Vor allem wie viel Schwachsinn. Moment mal! Shana war nicht der Typ, der Angst hatte.

Entschlossen ging sie zur Tür. Sie brauchte Licht um effektiver kämpfen zu können.

„Warte!“, kam es vom Fenster. Und das, kurz bevor die den Lichtschalter betätigen konnte. Sie drehte sich zu dem Fremden um. Ihre Hand schwebte über dem Lichtschalter. Warum zögerte sie überhaupt? Warum tat sie das, was der Fremde von ihr wollte?

„Wer bist du? Was willst du? Wie bist du hier raufgekommen? Warum soll ich das Licht nicht anmachen?“ Sie hielt sich wenigstens nicht mit Kleinigkeiten auf und stellte gleich die richtigen Fragen. Das musste man ihr schon lassen. Eigentlich wollte sie ihn noch fragen ob er Superman war, aber das verkniff sie sich einfach mal. Sind wir nicht alle kleine Spinner?

Ein genervtes Murren kam vom Fenster.

„Das ist keine Antwort.“ Ihre Hand bewegte sich weiter zum Lichtschalter. „Lass das Licht aus, blöde Kuh!“

Blöde Kuh? Das kam ihr bekannt vor. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Da ging sie hin, die schöne Superman- Theorie.

„Du? Was willst du? Verschwinde!“

„Es ist deine Schuld, dass ich jetzt hier bin. Also gib mir zurück, was ich dir gegeben habe!“

Das war jawohl die Höhe gewesen. Er hatte ihr dieses Ding doch förmlich aufgedrängt. Na ja. Was heißt förmlich? Er hatte es ihr aufgedrängt. Und dann stellte er auch noch Forderungen. Und was für einen Ton er anschlug.

„Ich gebe es dir nicht zurück!“, sagte sie dann trotzig. Hätte sie ja auch nicht können, selbst wenn sie gewollt hätte, weil der Schlüssel sich ziemlich wohl bei ihr fühlte.

Das hätte sie wohl besser nicht gesagt, denn der Typ sprang vom Fenstersims in ihr Zimmer rein. Das ging dann doch jetzt zu weit. Sie wollte gerade den Lichtschalter betätigen, , als der Typ auch schon die Hand am Schalter gepackt hatte und sie gegen die Wand drückte. Es war zwar dunkel, aber sie wusste, dass sein Gesicht ganz nah an ihrem war. Sein warmer Atem schlug ihr ins Gesicht. Wie schnell er gewesen war. Nun gut. Ihr Zimmer war nicht sehr groß, aber er musste immerhin noch ihr Bett überwinden um an sie zu gelangen. Sein Körper presste sich an ihren.

„Gib mir den Schlüssel zurück!“, flüsterte er bedrohlich an ihrem Ohr. Shana erstarrte. Ihr Puls beschleunigte sich. Das ging jetzt definitiv zu weit.

„Nein!“, sagte sie bestimmt und schubste ihn von sich weg.

Das Licht ging an.

Der Typ zog scharf die Luft ein und hielt seinen Arm schützend über die Augen. Da mochte wohl jemand das Licht nicht.

„Mach das Licht aus, blöde Kuh!“

„Nein!“

„Sofort!“

„Was willst du eigentlich, du Perverser? Du bist hier immerhin eingebrochen. Also hast du auch kein Recht etwas zu fordern.“

„Ich will nur den Schlüssel!“ Der Typ kam langsam wieder auf sie zu. Als ob es um ihr Leben ging, blieb Shana vor dem Lichtschalter stehen. Das war das Einzige, was sie schütze. Und vielleicht ging es ja auch um ihr Leben. Wusste sie das?

Er ging weiter auf sie zu. Langsam nahm er seinen Arm runter. Anscheinend gewöhnte er sich an das Licht. Nachteil für Shana. Sie hatte nichts mehr gegen ihn in der Hand. Nicht gut. Gar nicht gut.

Er blinzelte leicht. Wieder diese goldenen Augen. Einerseits faszinierten sie diese Augen, andererseits machten ihr diese Augen auch Angst. Der Typ war sauer. Seine Hand schnellte hervor und drückte ihr die Kehle zu. Jetzt wurde es ernst.

„Rück den Schlüssel raus oder ich muss Gewalt anwenden. Ich habe kein Problem damit dich zu töten!“

Das erste Mal, dass der Typ mehr als nur einen Satz sprach. Und dann kam so was dabei heraus. Aber sie hatte keine Zeit sich darüber zu freuen, denn Shana war sich sicher, dass er seine Drohung wahrmachen würde. Sie spürte wie sich seine Hand enger um ihre Kehle legte. Jetzt hatte sie noch weniger Luft zum atmen.

„Das geht nicht.“, presste sie hervor. Bloß nicht mehr Luft verbrauchen, als notwendig. „Warum?“

Wollte er das ernsthaft wissen? Shana überlegte ihre Wortwahl. Je mehr Sätze, desto weniger

Luft. „Er will nicht.“

„Wer?“

„Der Schlüssel!“ Tat der Typ nur so oder war er wirklich so begriffsstutzig gewesen? Himmelarsch noch mal. Aber es war ja auch kaum vorstellbar gewesen, dass der Schlüssel sich weigerte, seinen jetzigen Besitzer zu verlassen. Der Typ drückte etwas fester zu.

„Verarschen kann ich mich auch alleine!“

„Ich mich auch!“ Shana hatte ein Talent dafür, selbst in gefährlichen Situationen patzig zu sein. Ein Talent, was eher Nach- als Vorteile brachte. Der Typ ließ sich davon reizen. Der Druck an ihrer Kehle wurde noch stärker.

„Legst du es drauf an zu sterben?“

Natürlich tat sie das nicht, aber was sollte sie auch tun? Da sie nicht antwortete, wurde der Typ ungehaltener. „Na los! Rück den Schlüssel raus!“

Die Luft wurde weniger. Shana war schon blau und grün im Gesicht. Okay. Das reichte jetzt. Das letzte bisschen Kraft das Shana noch hatte, tat sie auf und trat dem Typ gegen sein Schienbein. Weichteile wären natürlich effektiver gewesen, aber da er so dicht an ihr stand, kam sie da nicht ran. Aber das brauchte sie auch nicht. Der Tritt gegen sein Schienbein reichte völlig aus. Der Griff um ihre Kehle lockerte sich und Shana konnte ihn von sich wegschubsen.

„Spinnst du jetzt völlig?“ Der Tritt tat wohl doch nicht so weh. Schade eigentlich. Sie hatte sich mehr erhofft. Aber in so einer Situation konnte man auch nicht wählerisch sein. Shana atmete ein paar Mal tief ein und aus um ihre Lugen wieder mit Sauerstoff zu füllen, ehe sie zu einer Antwort ansetzte.

„Das könnte ich dich fragen! Noch mal für den ganz Dummen hier! Ich krieg den Schlüssel nicht ab!“ Sie wollte ihn eigentlich anschreien, aber so ganz wollte ihre Lunge und ihre Stimme dann doch nicht. Aber es reichte um ihren Standpunkt klar zu machen.

„Was ist denn das für eine billige Ausrede?“

„Das ist keine Ausrede du Perversling!“

„Blöde Kuh!“

Damit waren die Standpunkte hinsichtlich der Namensgebung geklärt, aber das brachte sie auch nicht weiter. Er glaubte ihr wirklich nicht. Wäre sie in seiner Lage gewesen, hätte sie das aber vermutlich auch nicht. War ja auch sehr unwirklich gewesen.

Der Typ hatte die Schnauze gestrichen voll. Verübeln konnte man es ihm auch nicht. Shana war eben nervig gewesen. Sie war ja auch ein Mädchen und er hatte einen sehr kurzen Geduldsfaden. Er ging wieder auf sie zu. Bei Shana angekommen griff er einfach nach dem Kragen von ihrem Shirt und zog daran. Es ratschte, der Stoff gab nach und zerriss. Jetzt war nicht nur der Schlüssel zu sehen, sondern auch ihre linke Brust lag ihm völlig offen.

Na super.

Bevor Shana empört sein oder ihre Entblößung verdecken konnte, hatte der Typ auch schon den Schlüssel gesichtet und umfasste ihn. Sofort aber ließ er ihn wieder los und schaute auf seine Handinnenfläche. Ein roter Abdruck des Schlüssels zierte seine blasse Haut. Tätowierung mal anders. Und um seinen Schmerzen noch einen drauf zu setzten, verpasste Shana ihm eine saftige Ohrfeige. Als Frau durfte man sich ja auch nicht alles gefallen lassen. Ihre Ehre war also wieder hergestellt und die Emanzipation wäre stolz auf sie gewesen.

Ihn interessierte aber nicht so sehr die Ohrfeige, sondern der Schlüsselabdruck auf seiner Handinnenfläche. Das brachte ihn anscheinend komplett aus der Fassung. Er erhob seinen Blick langsam wieder und richtete ihn auf Shana. Sie wich etwas zurück. Es lag Verachtung, Verwunderung und Wut darin. Was war denn jetzt wieder nicht in Ordnung? Also so doll war die Ohrfeige nun auch nicht gewesen. Er sollte sich bloß nicht so anstellen.

„Wa.. Was?“, stammelte Shana.

„Du darfst es nicht sein!“

„Was darf ich nicht sein?“

„Das ist lächerlich!“

„Was ist lächerlich?“

„Hör auf mir alles nachzuplappern, blöde Kuh!“

„Dann sag mir was das Ganze hier soll!“

„Hmpf!“

Shana seufzte. Der Typ war einfach unerträglich. „Aber jetzt siehst du, dass der Schlüssel nicht abgeht. Also verschwinde und komm nicht wieder.“

Endlich hatte sie mal ein Machtwort gesprochen. Und selbst er musste doch jetzt einsehen, dass es für ihn hier nichts mehr zu holen gab. Doch er machte keine Anstalten zu gehen. Musste sie ihn jetzt auch noch rauswerfen? Am besten sollte sie die Polizei rufen. Gedanklich schlug sie sich für diesen Gedanken. Warum kam ihr diese Idee eigentlich nicht schon früher? Wahrscheinlich Selbstüberschätzung. Einfach nur Selbstüberschätzung.

Er sah sie immer noch so merkwürdig an. Dieser Blick bereitete ihr wirklich Unbehagen. Dann plötzlich seufzte er, resignierte anscheinend und machte es sich auf ihrem Bett gemütlich. Das ging jetzt aber wirklich zu weit. Zumal seine Klamotten durch den Regen ganz nass waren. Ihr Bettzeug war so gut wie ruiniert. Super. Dabei war das ihr Lieblingsbettzeug.

„Ey! Ich hab gesagt, dass du verschwinden sollst!“

„Geh mir nicht auf die Nerven! Du und Wächterin! Das ist lächerlich.“

„Was soll das jetzt schon wieder heißen?“

„Ganz einfach. Ich bin ein Vampir und du bist die Wächterin von mir und unserem Clan.“
 

Shana schaute dumm aus der Wäsche. Vampir? Clan? Wächterin? Wie der Typ doch gerade sagte. Das war lächerlich gewesen.
 

And that’s all?
 

Und schon wieder am Ende angelangt. Ich hoffe, ihr hattet Spaß an dem Teil. Bis zum nächsten Kapitel.

Bis denn dann
 

BabyG

Märchenstunde

Märchen sind Gesichten, die Menschen unterhalten sollen. Sie können lustig, traurig, gruselig oder spannend sein. Für jeden ist etwas dabei. Sie entführen uns in eine Welt der Fantasie. Wie gerne kuschelt man sich an einem kaltem Wintertag in die Bettdecke und liest ein Buch? Doch es sind nur Märchen. Sie entsprechen meist nicht der Realität. Doch was macht man, wenn Märchen keine Fiktion mehr sind? Was tut man, wenn sie wahr werden? Es einfach ignorieren?

Shana sollte merken, dass es etwas mehr als nur Ignoranz brauchte, um Gewisse Ding als unwahr anzusehen.
 

Vampire. Vampire? Vampire! Egal wie oft Shana dieses Wort in ihrem Kopf wiederhallen ließ. Es klang einfach nur lächerlich und ergab keinen Sinn.

Da saß ein Typ vor ihr auf ihrem Bett, ruinierte durch seine nasse Kleidung gerade ihr Bettzeug und erzählte ihr etwas über Vampire. Ging’s noch? Wie alt war sie denn? Fünf?

„Vampire? Na sicher doch. Ich ruf mal eben in der Anstalt an und frage nach ob sie jemanden vermissen.“

Dafür erntete sie einen bösen Blick. Nicht, dass er nicht schon die ganze Zeit böse drein schaute, aber gerade wurde sein Gesichtsausdruck um eine Nuance dunkler. Ja was konnte sie denn dafür, dass sie an so einen Quatsch nicht glaubte? Man konnte es auch übertreiben.

„Ich kann dich ja beißen. Vielleicht reicht dir das ja als Beweis.“

„Sicher nicht.“

„Ich bin ein Vampir“, sagte er ernst.

„Und ich bin die Kaiserin von China.“, gab sie trotzig zurück.

„So siehst du aber nicht aus.“

Wahnsinn. Der Typ besaß Humor. Also entweder das oder er glaubte wirklich was sie sagte. Konnte man das wissen?

„Eben. So wie du mir nicht glaubst, dass ich die Kaiserin von China bin, so glaube ich dir auch nicht, dass du ein Vampir bist. Ich bin kein kleines Mädchen mehr das an Märchen glaubt.“

Warum diskutierte sie da überhaupt drüber? Der Typ war eindeutig verrückt. Reif für die Anstalt. Was war aus dem Vorhaben geworden ihn rauszuschmeißen?

Der Typ stand auf. Wollte er vielleicht endlich gehen? Aber bei ihrem heutigen Glück? Er ging, ja, aber nicht nach draußen, sondern auch sie zu. Shana wich etwas zurück. Ihre Arme hatte sie immer noch an das zerrissene Oberteil gedrückt. Was hatte er jetzt schon wieder vor? Er ging weiter auf sie zu. Ein kaltes Grinsen zierte seinen Mund. Spitze Zähne blitzten hervor. Shana’s Herz setzte einen Schlag aus. Hatte sie nicht heute erst einen Horrorfilm mit Vampiren gesehen? Was war das hier? Versteckte Kamera? Wenn ja, dann sollten die Leute bald mal rauskommen. Das hier war echt nicht komisch gewesen.

„Stop!“, schrie sie, doch der Typ machte keine Anstalten dem Folge zu leisten. Langsam wurde es unheimlich. Er hatte sie erreicht. Sie sah ihm genau in seine goldenen Augen. Seine Hände legten sich auf ihre Schultern. Shana erstarrte. Sie spürte seine kalten Hände durch den Stoff ihres Fetzens, den sie mal Shirt genannt hatte. Er neigte seinen Kopf zu ihrem Hals. Sein warmer Atem strich über ihre Haut. Unter anderen Umständen wäre das sicher erregend gewesen, doch hier war es einfach nur beängstigend. Shana zitterte leicht und bekam eine Gänsehaut. Der Typ bemerkte es.

„Aber, aber…“, flüsterte er. „Es wird dir gefallen.“

„Nein!“, presste sie hervor. Diese Nähe nahm ihr die Gabe der Sprache fast gänzlich.

„Willst du nicht die Freuden der Ewigkeit erlangen? Ich verhelfe dir zu einem schönen Traum.“

Diese Stimme war betörend. Sie hatte das Gefühl betrunken zu werden. Fast hätte sie sich dem hingegeben. Dem Verlangen die Augen zu schließen und in einen schönen Traum zu fallen. Aber auch nur fast. Denn hier an dieser Stelle meldete sich mal wieder ihr Dickkopf. Und der war nicht damit einverstanden sich dieser Stimme hinzugeben.
 

Shana handelte aus Reflex. Sie schubste den Typ von sich. „Spinnst du? Du Perversling! Hau endlich ab! Verschwinde! Geh anderen kleinen Mädchen die Geschichte von Vampiren erzählen!“

Der Dickkopf in ihr schwenkte die Shana- Fahne. Er war stolz auf sie gewesen.

„Denkst du wirklich, dass du es ignorieren kannst? Ich bin ein Vampir und du bist die Wächterin. Ob du nun willst oder nicht. Warum sonst kannst du dich mir verwähren?“

„Ich will davon nichts wissen!“

„Der Schlüssel beweist es. Oder was könnte sonst der Grund sein, warum du ihn nicht ablegen kannst?“

„Sei still!“

„Es ist der Schlüssel der Wächterin.“

„Hör auf!“

„Nur bei einer wahren Wächterin wird der Schlüssel rot.“

„Lass das!“ Sie hielt sich die Ohren zu, doch er sprach weiter.

„Deine Aufgabe ist es uns im Kampf anzuführen.“

„Nein!“

„Doch! Du beschützt die Wesen der Nacht, die sich von Blut ernähren.“

Shana sank auf die Knie und zitterte stark. Warum nur reagierte sie so auf seine Worte? Das Gefühl von Übelkeit übermannte sie. Doch es war nicht nur Übelkeit. Für einen kurzen Augenblick spürte sie etwas anderes in sich. Etwas, was da nicht hätte sein dürfen. Und dieses etwas reagierte auf die Worte des Typen. Es brachte ihr Blut in Wallung. Shana wollte einfach nur, dass er aufhörte. Das es aufhörte.

Entweder hatte er Mitleid oder es gingen ihm die Sprüche aus. Was auch immer der Grund war- Er hörte auf. Sie keuchte. Die Übelkeit wurde schlimmer.

„Glaubst du mir nun?“ Er sah auf sie herab, da sie immer noch auf dem Boden kauerte.

„Wa… was war das?“

„Vermutliche die Seele.“

„Die Seele?“

„Die Seele der Wächterin.“

„Ich verstehe kein Wort.“

„Wundert mich nicht. Das hat doch im Moment auch nicht zu interessieren. Sieh einfach ein, dass du die neue Wächterin bist. Mir passt es zwar auch nicht so eine blöde Kuh als Wächterin zu haben, aber es gibt eben Dinge, die man nicht ändern kann. Was soll’s?“ Er zuckte mit den Schultern. Shana sah zu ihm auf. Ihre Blicke trafen sich. Er gleichgültig und sie unwissend und ängstlich. Plötzlich schlug sie sich die Hand auf den Mund und rannte aus dem Zimmer.
 

Da ging es hin, ihr schönes Abendessen. Der menschliche Körper war schon erstaunlich. Da aß man wirklich ansehnliches Essen und sobald es im Magen gelandet war, war es nur noch eine ekelhafte Pampe. Da bekam man doch richtig Lust das Essen aufzugeben.

Shana fühlte sich elendig. Und das lag sicher nicht nur daran, dass sie sich gerade übergeben hatte. Was war das nur für ein Gefühl gewesen?

Sie wusch sich das Gesicht und blickte in den Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Sie war blass. „Das ist doch alles nur ein böser Traum.“, murmelte sie gegen ihr Spiegelbild. Wie gerne wäre sie jetzt aufgewacht, doch manche Wünsche blieben unerfüllt.

Sie holte noch einmal tief Luft und ging dann wieder in ihr Zimmer zurück. Der Typ stand an ihrer Kommode und sah sich die Bilder an, die darauf standen. Da endlich schlug ihr die Wahrheit mitten ins Gesicht. Über der Kommode hing ein Spiegel. Er spiegelte alles wieder, nur den Typ nicht.

Es war also wahr.

Ihre Beine beschlossen aufgrund dieser Erkenntnis ihren Geist aufzugeben und sie sackte zu Boden. Der Vampir drehte sich zu ihr um.

„Ah.. Anscheinend glaubst du mir.“, spottete er.

„Du.. du hast… kein… Spiegelbild…“, stammelte sie.

„Ein Nachteil als Vampir. Ich kann damit leben.“

„Sag das nicht so gelassen. Verdammt! Wie kann das sein? Vampire sind doch nur erfunden. Es gibt sie nicht wirklich!“

„Sehe ich erfunden aus?“

Shana schloss die Augen. Seine dummen Kommentare konnte er sich wirklich schenken. Das waren einfach zu viele Informationen auf einmal. Ihr Gehirn überschlug sich fast. Es versuchte die Wahrheit zu ignorieren und durch andere Dinge zu ersetzen. Durch schöne Dinge. Deswegen sah Shana auch Blumenwiesen und ihr Lieblings- Ramen- Restaurant. Sie versuchte einfach an angenehme Dinge zu denken. Doch soviel Wahrheit konnte selbst ihr Gehirn nicht verdrängen. Und bevor sie sabbernd auf dem Boden lag und irgendwas Unverständliches vor sich hinbrabbelte, weil ihr Gehirn einen Kurzschluss erlitt, machte sie sich einfach frei von allem. Und das tat sie mit Schreien.

Sie schrie so laut, dass beinahe die Wände gewackelt hätten. Ungefähr eine Minute ging das so, bis ihr die Luft zum weitermachen fehlte. Ihr Keuchen ging laut durch den nun wieder stillen Raum.

„Das tat gut.“ Ein Lächeln zierte ihre Lippen, als sie wieder vom Boden aufstand. Dort hatte sie für ihre Verhältnisse heute schon zu oft gehockt. Sie schaute zu dem Typ. Diesmal war ihr Blick fest und entschlossen. Was ein Schrei doch nicht alles bewirken konnte.

Der Typ selbst schien etwas überrascht. Zu Recht, denn solch einen Wandel hatte er schon lange nicht mehr gesehen.

„Wie heißt du?“, fragte Shana mit fester Stimme.

„Das geht dich nichts an!“, wehrte er ab.

„Ich denke schon, wenn ich deine Wächterin oder was auch immer sein soll.“

„Du hast dich ja schnell damit abgefunden.“ Er zog fragend die linke Augenbraue in die Höhe.

„Noch nicht so ganz, aber das wird schon. Also? Dein Name! Ich kann dich auch weiter Perversling nennen, wenn dir das lieber ist.“

Ein leises Knurren war von ihm zu vernehmen. Na ja. Hunde mochte sie nun nicht besonders.

„Ethan.“

Der Name war ausländisch. Englisch? Amerikanisch? So gut kannte sie sich damit nicht aus. Aber jetzt ergab es zumindest Sinn. Sein Japanisch war gut, aber er hatte einen leichten Akzent.

„Ethan also. Hast du auch einen Nachnamen?“

„Geht dich nichts an.“

„Komm schon.“

„Orwell.“, knurrte er vor sich hin.

„Geht doch. Ethan Orwell. Freut mich. Ich heiße Shana. Shana Minabe.“

„Blöde Kuh.“

„Nein! Shana. Nicht blöde Kuh!“

„Halt die Klappe!“

Na das konnte ja heiter werden.

„Ich denke wir sollten uns mal eingehender über die Situation unterhalten. Am besten gehst du nach unten ins Wohnzimmer und ich ziehe mich eben um.“

Ethan schaute sie etwas verdutzt an, zuckte dann aber mit den Schultern und schlurfte aus ihrem Zimmer.
 

Shana hatte sich schnell umgezogen und folgte ihm dann. Er saß in völliger Dunkelheit auf der Couch. Sie wollte das Licht anschalten, aber er knurrte dazu nur. Okay. Dann eben kein Licht. Sie fragte sich, wie er es überhaupt sehen konnte, dass sie das Licht anschalten wollte. Shana selbst konnte noch nicht mal die Hand vor Augen sehen.

Aber in völliger Dunkelheit wollte sie nun auch nicht sitzen. Deswegen zündete sie ein paar Kerzen an. Das schien ihm angenehmer.

Shana setzte sich neben ihn auf die Couch. Gerade als sie ihn mit Fragen löchern wollte, klingelte es. Es war nicht die Haustür und auch nicht das Telefon. Die Klingeltöne hörten sich anders an. Vor allem war der Klingelton irgendein Oldie aus den 70-igern. Das kam eindeutig von Ethan. Ehe sie sich versah, holte er ein Handy aus seiner Manteltasche. Ein Vampir mit Handy. Das war so komisch, dass Shana zwar ein Lachen unterdrücken konnte, aber ein breites Grinsen nicht. Er ging ran.

„Was?!? Was willst du… Wo ich bin? Bei dieser blöden Kuh!… Nein! Sie ist es…“

Aus heiterem Himmel war ein Schrei aus dem Handy zu hören. Hörte sich wie ein Freudenschrei an. Ethan hielt das Handy von seinem Ohr weg. Als der Schrei verstummte, brüllte er ins Telefon: „Spinnst du? … Ist ja schön, dass du dich so freust, aber deswegen müssen meine Ohren nicht leiden… Nein. Ich denke das ist noch zu früh. Ja. Ja doch. Bis nachher!“

Er legte auf und seufzte genervt. Und als er dann auch noch das Grinsen in dem Gesicht von Shana sah, hätte er ihr am liebsten das Telefon an den Kopf geschmissen.

„Was?“, blaffte er sie an.

„Ein Vampir mit Handy?“, versuchte sie so ernst wie möglich zu sagen.

„Was dagegen?“

„Natürlich nicht.“ Ihr Grinsen sagte aber was ganz anderes.

„Also was willst du wissen, blöde Kuh?“

„Shana!“

„Mir doch egal.“

„Und du bist wirklich ein Vampir?“

„Ja doch.“

„Wieso?“

„Was wieso?“

„Wie kommt es, dass du ein Vampir bist?“

„Das geht dich nichts an!“

„Aber wenn ich deine Wächterin sein soll, muss ich das doch auch wissen.“

Das musst du nicht wissen.“

„Na toll.“ Ein bisschen war sie beleidigt.

„Was willst du noch wissen?“

„Was ist eine Wächterin?“

„Habe ich doch schon gesagt. Du führst die Vampire im Kampf an.“

„Was für ein Kampf? Kampf gegen Menschen?“

„Nein du Idiot! Ein Kampf gegen Lykantropen.“

„Ly- was?“

„Werwölfe.“

Shana entglitten sämtliche Gesichtszüge. Erst Vampire, jetzt Werwölfe. War sie hier bei irgendeiner Märchenstunde gelandet? Shana im Wunderland oder so? „Werwölfe. Ja klar.“

„Glaub es oder nicht, aber es ist Tatsache.“

„Erst erzählst du mir etwas über Vampire und jetzt über Werwölfe. Und das soll ich dir glauben?“

„Ja.“ Das sagte er mit so einer Ernsthaftigkeit, dass sie nicht anders konnte, als lachen. Ethan fand das weniger komisch. Und da er es nicht mochte ausgelacht zu werden, legte er seine Hand blitzschnell um ihre Kehle und drückte zu.

Memo an Shana. Er hatte keinen Sinn für Humor. Aber so was von keinen Sinn.

Shana röchelte. Er war nicht gerade sanft gewesen. Sie verlor schon etwas an gesunder Gesichtsfarbe, als er endlich bemerkte, dass er im Begriff war sie zu erwürgen. Sein Griff wurde locker und er ließ von ihr ab. Shana quittierte das mit starkem Husten. Erst als sie wieder genug Sauerstoffzufuhr hatte, fing sie wieder an zu sprechen.

„Kannst du vielleicht mal aufhören, mich ständig zu erwürgen? Ich denke, tot nütze ich dir als Wächterin wenig.“

Als Antwort bekam sie nur ein Knurren. Sie stellte sich Ethan gerade mit Halsband und Leine vor. Das grenzdebile Grinsen erschien wieder auf ihrem Gesicht.

„Blöde Kuh“

„Fällt dir nichts Besseres ein?“ So langsam fand sie seine Argumente langweilig und einfallslos.

„Geh mir nicht auf die Nerven!“

„Flip doch nicht gleich aus.“

„Kannst du nicht wieder wie ein Nervenbündel auf dem Boden kauern? Da hast du mir wesentlich besser gefallen.“

„Tut mir ja leid, aber meinen Bedarf dafür habe ich bereits gedeckt.“

„Sonst noch Fragen?“

„War das mit den Werwölfen wirklich ernst gemeint?“

„Ja doch! Wie oft denn noch?“

„Ich glaube dir nicht.“

„Ist mir doch egal was du machst. Aber komm nachher nicht bei mir an, wenn dich einer anknabbert.“

„Das ist ein Witz.“ Sie hoffe, dass es einer war.

„Sehe ich so aus, als ob ich Witze mache?“

„Nein.“

Sah er wirklich nicht. Wenn Shana es recht bedachte, sah er richtig gut aus. Okay, er war blass, aber seine schwarzen Haare passten zu der hellen Haut. Und diese Augen waren zum anschmachten gewesen. Zumindest hatte sie jetzt den Trick mit den Augen durchschaut. Wenn er gelassen und entspannt war, waren seine Augen braun. Das heißt, wenn er überhaupt entspannt sein konnte. Wenn er aber böse wurde, was seit sie ihn kannte Normalzustand war, wurden seine Augen golden. Wirklich faszinierend.

Aber was tat sie da eigentlich? Sie hatte besseres zu tun, als ihn anzuschmachten. Und immerhin war er ein Vampir. Eine Beziehung zu einem Vampir. Beziehung? Ihre Gedanken nahmen merkwürdige Auswüchse an.

„Also was jetzt noch?“, unterbrach Ethan galant ihre Gedankengänge.

„Kannst du mir vielleicht mal etwas erzählen, was nicht an den Haaren herbeigezogen ist? Das du ein Vampir bist, konnte ich ja unschwer erkennen, aber Werwölfe sind doch ur Hirngespinste.“ Sie wollte sich wirklich nicht an die Vorstellung gewöhnen, dass es jetzt auch noch Werwölfe geben sollte.

Obwohl es ja gar nicht so abwegig war. Wenn es schon Vampire gab, warum auch nicht Werwölfe?
 

Ethan stand auf. Hatte sie ihn jetzt beleidigt? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das überhaupt möglich war. Aber irgendwas hatte sie ausgelöst, denn seine Augen blitzten wieder golden auf.

Mit einem Mal und ohne jede Vorwarnung packte er ihr Handgelenk und zog sie hoch. Shana zuckte zusammen. Der Typ war kalt. Und das nicht nur in einer Hinsicht. Sie sah ihn fragend an und wollte sich beschweren, aber da lief er auch schon los. Und seine Hand hatte sich wie ein Schraubstock um ihr Handgelenk gelegt. Resultat war, dass er sie mit sich schliff. Natürlich versuchte Shana sich dagegen zu stemmen aber er hatte einfach zuviel Kraft. Und verbale Einwände brachten erst recht nichts. Als er die Treppe hoch lief, hätte sie sich fast die Beine gebrochen, weil sie mit seiner Geschwindigkeit nicht mithalten konnte.

Er verließ mit ihr das Haus. Leider nicht wie jeder Normale durch die Tür, sondern durch ihr Zimmerfenster. Bevor er raussprang, drückte er Shana an sich und legte einen Arm um sie. Shana blieb das Herz stehen. Im Nachhinein wusste sie nicht ob es an dem Körperkontakt oder dem Sprung lag. Vermutlich beides, aber das wollte sie sich nicht eingestehen. Zumindest im Moment noch nicht.

Aber er sprang auch nicht runter, sondern hoch. Er hatte eine ungewöhnliche Sprungkraft in den Beinen. Er sprang locker zehn Meter weit auf das nächstgelegene Dach. Shana krallte sich an ihn. Der war doch verrückt! Nicht mehr ganz dicht!

Wie ein Hase auf Höhenflug sprang Ethan von einem Dach zum nächsten. Shana gab merkwürdige Geräusche von sich. Zum Schreien war sie sich zu stolz gewesen, deswegen gab sie so eine Art von Fiepen von sich. War zwar auch nicht besser, aber besser als Schreien in jedem Fall. Nur wo wollte er mit ihr hin? Wollte er sie vielleicht zu dem Typ am Telefon bringen? Zwar unwahrscheinlich, aber durchaus möglich. Oder aber in eine menschenleere Gasse. Und da wollte er ihr vielleicht das Leben aussaugen.

Shana lachte innerlich auf. Du bist nicht in einem Horrorfilm oder Kitschroman, dachte sie.
 

Es dauerte zum Glück nicht mehr lange und die Hüpfreise endete auf einem Flachdach. Sie war froh, dass der Regen von vorher aufgehört hatte. Nasse Kleidung wollte sie nicht haben. Als Ethan sie absetzte, fühlten sich ihre Beine wie Wackelpudding an. Sie mochte ja schon Achterbahnfahren nicht, also würde sie so eine Fortbewegung sicher nicht lieben. Nur was wollten sie hier?

Ethan, kein Mann langer Worte und Reden, deutete einfach nach unten. Und Shana kam seiner Deutung nach. Und es lag sicher nicht daran, dass er sie böse ansah. Das versuchte sie sich zumindest einzureden. Sie sah eine menschenleere Gasse.

Haha… Sehr komisch. Sie sollte sich mal angewöhnen ihre Gedanken nicht ständig zu verspotten. Sie sah wieder zu Ethan. Bleckte er schon die Zähne? Kam jetzt die ultimative Bissattacke? Nichts dergleichen war der Fall. Er stand einfach nur da und schien zu warten.

„Was soll das?“, platzte es plötzlich aus Shana heraus. Verarschen konnte sie sich auch alleine. Und auf Sightseeingtouren zu menschenleeren Gassen in der Stadt hatte sie auch keine Lust. Vor allem nicht um zwei Uhr nachts. Ethan schwieg weiter.

„Hör mal!“, begann Shana. „Es ist spät. Ich will nach Hause.“

Er reagierte nicht.

„Hörst du schlecht?“

Schweigen.

„Ethan! Bring mich nach Hause!“

Er bewegte sich. Aber nicht so, wie sie es sich gewünscht hätte. Er hockte sich hin und blickte nach unten. Irgendwie hatte Shana das Gefühl, dass sie erst hier wegkam, wenn sie da wieder runter sah. Sagte zumindest ihre Intuition. Und zur Abwechslung sollte sie darauf mal hören. Also hockte sie sich neben ihn und sah ebenfalls nach unten.

Es hatte sich inzwischen etwas getan. Die Gasse war nicht mehr menschenleer gewesen. Ein Pärchen durchschritt sie. Wollte Ethan ihr vielleicht demonstrieren, wie er seine Beute erlegte? So was musste sie nicht sehen. Sie glaubte ihm doch, dass er ein Vampir war. Na ja. So halbwegs. Ein Teil in ihr glaubte es, der andere verdrängte die ganze Sache noch. Dämliche Ignoranz.

Plötzlich zuckte Shana zusammen. Da unten war noch etwas. Etwas Böses. Aber seit wann konnte sie so etwas? Woher sollte sie wissen, dass da unten etwas Böses war? Hatte sie plötzlich Superkräfte bekommen? Oder vielleicht lag es auch an dieser Wächtersache. Langsam zweifelte Shana an ihrem Geisteszustand. Aber sie ließ sich wieder viel zu leicht ablenken. Sie konzentrierte sich wieder auf das Geschehen unter ihr.

Das Pärchen drehte sich gerade schreckhaft um, weil eine Mülltonne umgefallen war. Sie waren erleichtert, als sie dort nichts sahen und wollten ihren Weg fortsetzten, als aus heiterem Himmel zwei Typen vor ihnen standen. Selbst Shana hatte sie nicht kommen sehen. Vielleicht Schläger? Ihr Gefühl sagte ihr aber was anderes.

Das Pärchen wollte vorbei, aber die Typen ließen sie nicht. Der Mann wollte vor seiner Freundin anscheinend den Beschützer mimen und baute sich vor den Fremden auf. Böser Fehler, wie sich herausstellen sollte.

Die Typen lachten. Etwas an ihnen veränderte sich. Zwar waren Shana und Ethan mindestens zehn Meter über ihnen, aber man konnte es trotzdem genau erkennen.

Die Muskeln spannten sich unter der Kleidung, bis der Stoff nachließ und zerriss. Ihre Gesichter deformierten sich und sie nahmen an Körpergröße zu. Sie verwandelten sich in das, was Shana für unmöglich gehalten hatte. Werwölfe. Sie waren jetzt bestimmt über zwei Meter groß. Das Gesicht glich dem eines Wolfes. Eine Schnauze und lange Fangzähne blitzten hervor. Ihr Körper war mit Fell überzogen. Dank der Gassenbeleuchtung konnte sie sehen, dass der eine graues und der andere schwarzes Fell hatte.

Shana hielt den Atem an. Es waren tatsächlich Werwölfe gewesen. Und sie sahen nicht so aus, als ob sie eine Runde Tee trinken wollten. Die Frau schrie auf und der Mann blickte die Wesen, die eigentlich Fabelwesen sein sollten, starr vor Schreck an. Die Werwölfe fackelten nicht lange und griffen an.

Der Schwarze nahm sich die Frau vor. Seine lange Pranke ging durch den Bauch der Frau, wie ein Messer durch weiche Butter. Blut spritzte heraus und ihre Schreie verstummten. Der Werwolf hob sie durch den Arm, der in ihr steckte, hoch und biss ihr in den Hals.

Der Graue machte sich gar nicht so einen Umstand. Er biss dem Typ einfach den Kopf ab. Shana konnte das Knacken und Krachen der Knochen hören. Ihr wurde übel und sie wandte den Blick ab. Mehr musste sie wirklich nicht sehen. Doch Ethan war damit nicht einverstanden. Er packte sie am Schopf, so dass sie wieder nach unten sehen musste.

„Sie dir das an!“, befahl er im Flüsterton.

Shana wollte die Augen schließen, doch sie konnte einfach nicht. Eigentlich war sie ja nicht so zartbeseelt gewesen, aber wie Tiere Menschen fraßen, war dann doch nichts für sie gewesen. Laute Schluckgeräusche konnte sie nicht vermeiden. Obwohl, was sollte sie noch groß ausspucken? Sie hatte sich doch schon übergeben.

Ethan sah unberührt aus. Na ja. Er tötete auch Menschen. Aber warum wurde Shana das jetzt erst bewusst? Vielleicht tötete er auch so? War er wirklich so blutrünstig?

Bevor Shana sich wirklich noch übergeben musste, wandte sie sich ab. Das war zuviel gewesen. Sie rang schwer nach Luft.

„Werwölfe gibt es also nicht?“ Ethan konnte sich seinen Sarkasmus wirklich schenken.

„Bring mich wieder zurück!“, befahl sie. Aber er nahm anscheinend von ihr keine Befehle entgegen.

Plötzlich war ein lautes Jaulen zu vernehmen. Shana blickte zu Ethan. Dieser Ton ging ihr durch Mark und Bein.

„Sie haben ihr Mahl beendet.“, bemerkte er trocken.

„Tu nicht so, als ob es das Normalste der Welt wäre.“

„Vielleicht merkst du jetzt, dass es kein Märchen ist! Es gibt Vampire und es gibt Werwölfe. Find dich damit ab!“

„Ich soll mich damit abfinden? Spinnst du? Das ist doch alles nur ein böser Traum. Ich wache gleich in meinem Bett auf und alles ist wieder normal.“

Ethan lachte verächtlich. „Du glaubst das ist ein Traum? Wie naiv bist du? Was für Beweise brauchst du noch?“

„Ich brauche keine Beweise. Ich will nur nach Hause.“ Sie wollte sich nicht mehr streiten. Ihr war eher zum heulen zumute. Ethan schien es zu bemerken.

Er schnaubte verächtlich, packte sie und warf sie über die Schulter. Dann sprang los. Shana verhielt sich diesmal ruhig. Sie hatte mit ganz anderen Dingen zu kämpfen.
 

Der Regen hatte bereits wieder eingesetzt, als Ethan durch ihr Fenster kletterte und sie auf ihr Bett warf. Sie lag da wie traumatisiert. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie gerade gesehen hatte. Ethan schien verärgert, doch das bemerkte sie gar nicht.

„Ich komme nächste Nacht wieder.“

„Was?“

„Ich komme wieder und dann lernst du deinen Clan kennen.“

„Meinen Clan?“ Sie richtete sich auf und ihre Blicke trafen sich.

„Deinen Clan.“, wiederholte er. Er dachte, dass sie ihn nicht verstanden hätte, doch das hatte sie. Sehr gut sogar.

„Wieso meinen Clan?“

Er seufzte genervt. Ihr musste man wirklich alles fünfmal erzählen. „Noch mal. Du bist die Wächterin und hast einen Clan.“

„Das will ich aber nicht.“

„Ich will dich auch nicht als meine Wächterin, aber es ist eben so. Wehe dir du bist morgen Nacht nicht hier. Du kannst dich nicht verstecken. Ich finde dich!“

Mit dieser Drohung, die eher nach einem Versprechen klang, verschwand er in den Tiefen der Nacht.

Shana sah ihm nach. Endlich konnte sie Schwäche zeigen. Die ganze Zeit über hatte sie sich zusammengerissen, doch jetzt konnte sie einfach nicht mehr. Ihr Gehirn war mit den ganzen Informationen so überlastet, dass sie einem Kurzschluss erlag und bewusstlos zusammenbrach.
 

And that's all?
 

Gewidmet ist dieses Kapitel -Riku-, weil sie diese Geschichte zu mögen scheint. Danke für deinen Kommentar. Das baut auf.

Bis denn dann
 

BabyG

Blöder Ethan!

Der Mensch gestaltet sein Leben so, wie er es will. Manche machen Karriere, andere gründen eine Familie. Fast jeder wächst in einem angenehmen Umfeld auf. In einem wohlbehüteten zu Hause unter der Wärme der Familie. Jedoch ist nicht vielen dieses Glück vergönnt. Viele leiden ihr Leben lang. Doch eines haben alle gemeinsam. Sie haben einen Vater und sie haben eine Mutter. Das ist von der Natur so vorgesehen. Doch was tut man, wenn man eine neue Familie bekommt?

Shana kam schon mit ihrer jetzigen nicht zurecht. Doch mit ihrer neuen Familie sollte es weitaus schlimmer werden.
 

„The Kill- Birds“ gaben mal wieder einen ihrer Stücke zum Besten. Shana zog sich die Bettdecke über den Kopf, doch das Zwitschern wollte und wollte nicht aufhören. Genervt richtete sie sich auf. Ihr Blick fiel auf ihren Wecker. Er zeigte eine Zeit von 8.00 Uhr morgens an. Zum Teufel, es war Sonntag gewesen. Sie hatte keine Schule und dann konnte sie noch nicht mal ausschlafen. Irgendwann würde sie diesen Vögeln noch mal die Hälse umdrehen. Das war versprochen. Und da diese Vögel keine Anstalten machten aufzuhören, stand Shana auf.

Als sie dann ihr Bett machen wollte, fiel ihr auf wie dreckig es war. Sie sah an sich herunter. Ihre Kleidung sah nicht besser aus. Und als sie das weit geöffnete Fenster sah, kamen ihre Erinnerungen zurück. Diese saßen tief. Ethan, der Vampir, sie, die Wächterin und Werwölfe. Als sie an die Werwölfe dachte, wurde ihr schlagartig übel. Wie sie dieses Paar zerfleischt hatten, war einfach nur widerlich gewesen. Die letzten Worte von Ethan kamen ihr wieder in den Sinn. Er würde heute Nacht kommen und sie holen. Ein weiterer Schauer durchlief ihren Körper. Sie wollte doch nicht. Das hatte sie sich alles doch nur eingebildet. Sie hoffte zumindest, dass es so war
 

Nachdem sie sich dann angezogen hatte, ging sie runter in die Küche. Zu ihrer Überraschung saß dort ihre Mutter.

„Guten morgen Mutter.“, sagte sie höfflich. Ihre Mutter blickte von ihrem Tee auf und sah ihre Tochter an. „Auch schon wach?“

„Ich konnte nicht mehr schlafen.“ Eigentlich war die Frage von ihrer Mutter sarkastisch gemeint und Shana wusste das auch, ging jedoch nicht drauf ein. Sie setzte sich. Da ihre Mutter eingefleischte Hausfrau war, stand auch schon Frühstück auf dem Tisch. Shana nahm sich etwas Reis und fing an zu essen.

„Wenn du fertig mit Essen bist, verlässt du das Haus.“, bemerkte ihre Mutter so nebenbei. Shana verschluckte sich an ihrem Reis und hustete. Sie hörte wohl nicht richtig. Ihre Mutter schmiss sie raus? Was hatte sie denn getan? Ihre Mutter mochte sie zwar nicht, aber deswegen gleich rauswerfen?

„Warum? Was habe ich getan?“

„Deine Anwesenheit ist heute hier nicht erwünscht.“ Als ob ihre Anwesenheit nur heute nicht erwünscht war.

„Bitte drücke dich deutlicher aus.“

„Ken kommt heute mit Freunden nach Hause. Was sollen sie denken, wenn sie dich Schandfleck sehen?“

Das war deutlich gewesen. Shana hörte auf zu essen. Es tat weh, so etwas von seiner eigenen Mutter zu hören, aber sie konnte sich nicht dagegen auflehnen. Sie wollte ihren Schlafplatz nicht komplett verlieren. „Ich habe verstanden, Mutter.“

Sie stand auf, ging hoch in ihr Zimmer, packte ein paar Sachen und verließ dann das Haus. Sie ging zur Bahnstation. Die Klaue der Trauer legte sich fest um ihr Herz. Es tat wirklich weh so missachtet zu werden.

Als sie in der Bahn saß, holte sie ihr Handy aus der Tasche und rief Mika an. Diese freute sich richtig von Shana zu hören. Und natürlich stimmte sie zu, als Shana sie fragte, ob sie zu ihr kommen könne. Sie wollte ihre beste Freundin sogar abholen, aber Shana lehnte ab. Sie brauchte noch etwas Zeit für sich alleine.
 

Es war immer wieder erstaunlich, wie fasziniert Shana war, wenn sie vor dem Haus von Mika stand. Haus war hier wohl das falsche Wort gewesen. Es war eine richtige Villa. Dreistöckig und riesengroß. Aber wen wunderte es auch? Der Vater von Mika hatte ein Autoimperium und gehörte zu einen der reichsten Männer in der Stadt.

Immer wenn sie an diese Familie dachte, fiel ihr ihre Mutter ein. Wie sehr sie sich doch immer freute, wenn Shana Mika zu Besuch nach Hause brachte. Und sie fragte sich dann immer wieder, wie ihre Tochter nur eine so angesehene Freundin wie Mika haben konnte. Zumal Mika eigentlich auf eine Privatschule gehörte und nicht auf so eine einfache, staatliche Schule. Doch Mika war normal und wollte auch unter normalen Bedingungen leben. Die feine Gesellschaft war ein Nebeneffekt, weil ihr Vater reich war, aber für Mika hatte es keinen Wert gehabt. Man merkte ihr wirklich nicht an, aus was für einem gutem Hause sie kam.

Die Tore wurden geöffnet und Shana ging die lange Auffahrt hinauf. Sie war schon etwas außer Atem gewesen, als sie endlich die Villa erreicht hatte. Blöde Auffahrt!

Vor der Tür brauchte sie aber zum Glück nicht klingeln, denn der Butler hatte sie bereits geöffnet und bat Shana herein. Sie verneigte sich leicht und kam der Bitte nach. Der Butler brachte sie in den Empfangssaal und entschuldigte sich dann. Sie setzte sich. Wie sich das schon anhörte. Empfangssaal. Bei Shana zu Hause gab es nur einen einfachen Flur. Man merkte, was für Welten die beiden Mädchen doch trennte. Wie verschieden sie doch waren.

Es dauerte auch nicht lange und die Tür öffnete sich. Doch es war nicht wie erwartet Mika gewesen, die den Empfangssaal betrat, sondern ihr Vater, Herr Kusuragi. Shana stand auf und verneigte sich tief.

„Nicht doch, nicht doch. Du brauchst dich doch nicht zu verneigen.“

„Guten Tag, Kusuragi-sama.“ Sie richtete sich auf und sah in sein lächelndes Gesicht.

„Wie oft soll ich es dir noch sagen Shana-kun? Nenn mich Hiroshi.“

„Vielen Dank für die Freundlichkeit, aber meine Mutter würde mir die Zunge abschneiden, wenn ich respektlos ihnen gegenüber bin.“ Und das war nicht einfach nur eine Metapher gewesen. Shana meinte das ernst.

„Aber sie erfährt es doch nicht.“

„Es tut mir Leid, Kusuragi-sama.“

„Schade. Ich hoffe, dass du uns in Zukunft öfters besuchen kommst. Du weißt doch, wie schön ich es finde, wenn du hier bist.“

„Das ist zuviel der Ehre.“

„Aber du bleibst zum Essen.“

„Zum Essen?“

„Ja. Als Mika erzählt hatte, dass du heute vorbeikommst, habe ich dem Koch aufgetragen, etwas Besonderes für dich zu kochen.“

„Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.“

„Natürlich. Du bist ein besonderer Gast.“

Shana lächelte. Sie mochte den Vater von Mika wirklich sehr. Er war immer freundlich zu ihr gewesen und zeigte Interesse an ihr. Nicht so wie ihr eigener Vater.

Dann kam auch endlich Mika und schleifte Shana in ihr Zimmer. Herr Kusuragi war traurig. Er hätte gerne noch länger mit Shana geredet. Sie gingen die breite Marmortreppe hoch, direkt in das Zimmer von Mika.

Shana bekam immer glänzende Augen, wenn sie das Zimmer sah. Es war bestimmt fünfmal so groß wie ihr eigenes. Hier gab es wirklich alles. Drei große Fenster, ein Himmelbett, in dem mindestens vier Leute schlafen konnten, eine Studierecke mit Schreibtisch und zwei Bücherregalen und eine Sitzecke mit weißer Ledercouch und einer modernen Unterhaltungsanlage. Der Fernseher war fast so groß wie das Bett von Shana.

Sie stand etwas verloren in dem Zimmer. Traute sich nicht auch nur einen Fuß auf den weißen Teppich zu setzen. Mika pflanzte sich auf die Couch und bat ihre Freundin dasselbe zu tun. Ziemlich steif stolzierte sie auf die Sitzecke zu und setzte sich. Mika lachte, weil Shana dort ziemlich verkrampft saß.

„Mach es dir doch gemütlich.“, schlug sie vor.

„Und was, wenn ich etwas kaputt mache? Das könnte ich mit meinem Taschengeld, was ja kaum für Kaugummis reicht, niemals bezahlen.“

Mika kicherte. „Sonst bist du bockig, vorlaut und sarkastisch. Kaum bist du hier, benimmst du dich wie ein schüchternes, kleines Kind.“

„Das ist nicht komisch!“, protestierte Shana.

„Schon gut. Also. Was ist los?“

„Was soll schon los sein?“

„Ich bitte dich. Du kommst mich besuchen? Und das freiwillig? Einfach so? Irgendwas stimmt doch nicht.“

„Es ist nichts. Ehrlich.“

„Shana!“

„Okay, okay. Du hast gewonnen.“

Also begann Shana zu erzählen. Da für sie der Streit mit ihrer Mutter Vorrang hatte, erzählte sie Mika von diesem Problem. Die Geschichte mit Ethan ließ sie bewusst aus. Mika hätte ihr das wahrscheinlich eh nicht geglaubt. Shana glaubte es ja selbst kaum.
 

Mika hörte ihr zu ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen. Das gehörte sich für eine beste Freundin ja auch.

Als Shana dann fertig war, sah Mika ihre Freundin mitleidig an.

„Lass das!“

„Was denn?“

„Dieser Blick. Ich brauche kein Mitleid.“

„Aber es ist schlimm, wie sie dich zu Hause behandeln. Warum ziehst du nicht zu mir? Hier würde es dir an nichts fehlen.“

„Ich habe es dir schon so oft gesagt. Ich werde nicht ausziehen. Ich ziehe das durch.“

„Aber-“

„Nein!“ unterbrach Shana sie barsch. Mika wusste von den Problemen, die ihre beste Freundin zu Hause hatte. Jedes Mal bot sie ihr an, in dieser Villa zu leben und jedes Mal lehnte Shana es ab. Mika konnte das einfach nicht verstehen, doch das verlangte Shana auch nicht. Es reichte ihr schon, dass sie ihr zuhörte. Mehr brauchte Shana nicht. Wirklich nicht.

„Also Mika. Was hat so jemand Reiches wie du zu bieten?“

„Bitte?“

„Na wollen wir Tennis spielen oder uns einen Film in eurem Heimkino anschauen?“

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Na ich habe dir meine Probleme erzählt. Jetzt ist es deine Aufgabe mich aufzuheitern.“

Mika sah sie erst verblüfft an, lächelte dann aber. „Okay. Dann lass uns im Pool schwimmen.“

„Gut.“

Beide lachten und gingen nach unten. Mika gab Shana einen Bikini. Als sie aber nach einem Badeanzug fragte, lachte Mika nur und zog sich um.

Als beide umgezogen waren, gingen sie zum Pool. Shana sah ihre beste Freundin an. Sie hatte wirklich keinen Gramm Fett zu viel an ihrem Körper. Dieser Bikini schmeichelte ihr wirklich. Sie hatte eine Traumfigur. Shana sah an sich herunter. Sie war das genaue Gegenteil. Okay, sie war nicht dick, aber so wirklich schlank war sie nun auch nicht. Der berühmte Babyspeck war schuld. Die Süßigkeiten, die Shana des öfteren aß, verschwieg sie bei der Sache einfach mal. Es war einfach nur Babyspeck gewesen. Und es war ja nicht nur das. Sie hätte ein ganzes Buch darüber schreiben können, was an ihr nicht ganz optimal war. Sei es nun die Oberschenkel oder ihr Hintern.

„Komm schon!“, rief Mika und sprang ins Wasser. Shana sah ihr nach. Warum auch nicht? Bekanntlich schwamm Fett ja oben. Also würde sie zumindest nicht ertrinken. Alle Sorgen vergessend sprang sie hinterher.

Sie alberten ein wenig im Wasser herum und hatten ihren Spaß gehabt.
 

Während Mika sich auf der Liege ausruhte, trieb Shana mit geschlossenen Augen im Wasser. Es war angenehm, wie das Wasser sie so herumtrieb. Sie beschloss, nie wieder etwas gegen Fett zu sagen.

Doch mit der Ruhe fing sie auch an nachzudenken. Natürlich dachte sie an die vergangene Nacht. Ob sie sich wohl jemals mit Ethan verstehen würde? Vermutlich nicht. Sie waren wie Feuer und Wasser. Er mochte sie nicht und sie mochte ihn nicht. Obwohl er ja schon gut aussah. Doch minder die Beziehung mit Ethan machte ihr Sorgen. Sie sollte diese Nacht den Clan kennen lernen. Ihren Clan, wie er sagte. Was das wohl für Leute waren? Auf jeden Fall waren es Vampire. Soviel stand schon mal fest. Doch waren sie alle so drauf wie Ethan? So schweigsam und brutal? Wenn ja, dann sah Shana für ihre weitere Karriere als Wächterin schwarz. Sie war sich wirklich nicht sicher ob sie das alles so wollte. Die ganze Sache behagte ihr wirklich nicht. Warum eigentlich gerade sie? Hätte es nicht wen anders treffen können? War sie nicht schon genug mit ihrem Leben bestraft?
 

Dann war es auch bald Zeit für das Mittagessen. Die Mädchen zogen sich um und setzten sich an die lange Tafel. Als auch die Eltern von Mika sich zu ihnen gesellten, begann das Essen. Die Eltern unterhielten sich angeregt mit Shana, was Mika ein wenig eifersüchtig machte. Immerhin war es ihre beste Freundin, die ihre Eltern da einnahmen. Doch sie sah es ihnen nach. Sie mochten Shana und sie war wirklich selten da.

Nach dem Essen verabschiedete sich Shana jedoch. Alle in der Familie Kusuragi waren traurig darüber, doch Shana konnte diese Gastfreundschaft nicht weiter in Anspruch nehmen. Sie waren wahrscheinlich die Einzigen, die sich über die Anwesenheit von Shana freuten. Wenn sie da so an ihre Leute dachte. Immerhin hatte ihre Mutter sie rausgeschmissen. Na ja. Des Hauses verwiesen, aber was machte das schon für einen Unterschied? Außerdem hatte sie noch etwas zu erledigen. Sonst wäre sie natürlich gerne länger geblieben. Immerhin fühlte sie sich in diesem warmen Haus von Mika wohl. Doch man sollte ja schließlich aufhören, wenn es am schönsten war.
 

Nachdem sie das Anwesen verlassen hatte, fuhr sie mit dem Bus in die Stadt. Als sie aus dem Bus stieg, stand sie direkt vor den Toren der hiesigen Bibliothek und betrat diese auch schnell. Sie ging zielstrebig an einen der Computer. Sie wusste, dass dieses Wunderwerk der Technik ihr Auskunft geben würde. Normalerweise wäre der letzte Ort, an dem Shana zu finden wäre, eine Bibliothek gewesen, aber Ausnahmen bestätigten die Regel.

Sie gab das Wort ´Vampire´ in den Computer ein. Eine lange Liste von Literatur erschien auf dem Bildschirm. Vieles hatte mit Fantasy- Romanen zu tun. Doch dann fand sie Fachliteratur, merkte sich Stockwerk und die Nummer des Bücherregals und gab dann noch ´Werwölfe` ein. Nachdem sie benötigte Auskunft erhalten hatte, ging sie in den dritten Stock. Ein ganzes Regal stand voll von Büchern.

„Na wunderbar“, murmelte sie und begab sich dann auf sie Suche. Am Ende balancierte sie zehn Bücher an einen der freistehenden Tische. Schlauerweise hatte sie sich einen Notizblock eingepackt und machte sich dann über die Bücher her.
 

Es war bereits 18:00 Uhr gewesen, als sie in der Bahn gen Heimat saß. Sie hatte eine Menge herausgefunden. Vieles empfand sie als Fantasie der Autoren, aber das Meiste war brauchbar. Nur über die Wächterin fand sie nichts. Es gab zwar Wächterinnen für Tempel oder Schreine, aber sie fand nichts in Bezug auf Vampire. Hatte Ethan sie vielleicht angelogen oder war eine Wächterin etwas so außergewöhnliches? Aber irgendwo musste es doch verzeichnet sein. Würde man sich so was einfach nur ausdenken? Wie sonst sollte sie ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie im Grunde doch nichts darüber wusste. Mit der Aussage, dass sie die Vampire im Kampf gegen die Werwölfe anführen sollte, konnte sie nicht viel anfangen. Es ärgerte sie. Warum konnte dieser Perversling auch nicht näher ins Detail gehen? Blöder Ethan!

Ihn in Gedanken verfluchend schloss sie die Haustür auf. Sie wollte nur noch zwei Sachen. Was essen und dann ins Bett. Seit sie auf dem Heimweg war, knurrte ihr schon der Magen und die Recherche hatte sie müde gemacht. Das und die Tatsache, dass sie kaum Schlaf hatte. Ethan war ihr inzwischen egal. Sollte er nur kommen. Sie würde ihn nicht reinlassen. Sollte er doch bleiben wo der Pfeffer wuchs!

Sie tauschte ihre Straßenschuhe gegen Hauspantoffeln und ging nach oben in ihr Zimmer. Sie öffnete das Fenster einen Spalt, da die Luft in ihrem Zimmer doch ziemlich abgestanden war. Lag vielleicht auch daran, dass sie keine Pflanzen im Zimmer hatte. Warum? Mika nannte sie liebevoll Pflanzenkiller. Musste man mehr sagen? Sie kramte ihre Notizen aus ihrer Tasche und legte sie auf den Tisch. Nach dem Essen wollte sie sich alles noch mal durchlesen um einen genauen Überblick zu bekommen.

Dann ging sie wieder nach unten. Shana wollte gerade die Tür zur Küche aufschieben, als sich die Tür vom Wohnzimmer aufschob und ihre Mutter in den Flur trat. Als sie ihre Tochter sah, zog sie hastig die Schiebetür wieder zu. Sie war richtig in Panik gewesen.

„Was machst du hier?“, zischte sie. Shana sah sie verdutzt an. Ja was machte sie wohl hier? Vielleicht war es ihrer Mutter noch nicht aufgefallen, aber Shana wohnte hier. Noch zumindest.

Sie musterte ihre Mutter. Sie trug ihren edelsten Kimono und hatte ihre Haare wie bei einer Geisha zusammengebunden. Sie sah wirklich hübsch aus. Man konnte fast nicht denken, dass sich hinter so einer hübschen Frau so ein ekelhaftes Weib befand.

Ihre Mutter sah sie immer noch böse an und wartete auf eine Antwort. „Ich wohne doch hier.“, versuchte Shana es auf die Sanfte.

„Raus!“

„Was?“

„Verschwinde hier!“

Shana hatte gar keine Zeit mehr darauf zu reagieren, denn ihre Mutter hatte sie auch schon gepackt und schob sie Richtung Haustür. Dann ging alles ziemlich schnell. Tür auf, Shana raus, Straßenschuhe und Jacke hinterher geschmissen, Tür wieder zu. Shana schaute gegen die verschlossene Tür. Jetzt hatte ihre Mutter sie wortwörtlich vor die Tür gesetzt. Sie wollte wieder rein, doch die Tür war fest verschlossen.

„Mutter. Bitte lass mich rein!“ Doch auch eine Bitte änderte nichts. Shana fluchte innerlich, zog sich ihre Jacke an und tauschte ihre Schuhe.

Rausgeschmissen. Von ihrer eigenen Mutter. Was für ein scheiß Tag.

„Ich hasse dich!“, fluchte sie gegen die Tür. Damit war ihre Mutter gemeint, aber das hörte sie natürlich nicht. Was nun? Die Tür war zu und Shana würde so schnell nicht wieder ins Haus kommen. Erst jetzt fiel ihr ein, dass noch einige fremde Schuhe im Flur standen. Also waren die bescheuerten Speichellecker von Ken immer noch da. Und so lange dieser Zustand herrschen würde, konnte Shana auch sicher nicht erwarten wieder ins Haus gelassen zu werden. Zu allem Überfluss meldete sich ihr Magen wieder. Laut wie ein Löwe brüllte er aus ihrem Bauch heraus. Genervt knirschte sie mit den Zähnen.

Doch plötzlich kam ihr ein Geistesblitz. Schnell durchwühlte sie alle ihre Taschen und fand tatsächlich noch etwas Geld. Ein Gefühl von Freude bahnte sich an. Endlich ein Lichtblick. Dieser Tag würde sich also doch noch zu ihren Gunsten wenden.

Sie kehrte diesem Höllenhaus den Rücken zu und rannte die Straße herunter. Noch einmal um die Kurve gebogen und schon stand sie vor ihrem Heiligtum. Ihr persönlicher Tempel. Sie öffnete die Schiebetür und sog den Duft von Ramen tief ein. Es war eigentlich nur der Ramen- Laden um die Ecke, aber für Shana war es das Non plus Ultra. Seit sie Geld hatte, verprasste sie es in diesem Laden. Er war klein, fein und hatte den Stoff, den Shana brauchte. Ramen.

Ihr lief schon fast der Sabber aus dem Mund, als sie sich zum Tresen durchgekämpft hatte. Es war Feierabend gewesen und viele saßen hier, tranken Sake oder aßen zu Abend. Ein Mann hinter der Theke kam auf Shana zu. Sie kannte ihn nicht. Bestimmt war er ein Neuer oder eine Aushilfe.

„Ja?“, kam es ziemlich unfreundlich von ihm. Verständlich, dass er genervt war, denn der Laden war wirklich voll gewesen. Und Shana war auch viel zu glücklich, um sich über diese Unfreundlichkeit zu beschweren.

„Ramen.“, sagte sie mit hochjauchzender Stimme. Der Typ hinter der Theke sah sie an und wartete, doch es kam nichts. „Was für Ramen?“

Shana erwachte langsam aus ihren Ramen- Träumen und sah ihn verständnislos an. Diese Frage hatte er doch nicht gerade wirklich gestellt oder? Was war das überhaupt für eine dumme Frage gewesen?

Im selben Moment kam aus dem hinteren Teil der Küche ein Mann, so um die fünfzig rum.

„Suoshi-san!“, brüllte Shana über den Restaurantlärm hinweg, als sie besagten Suoshi erblickte. Der Angesprochene reagierte und erblickte Shana. Er ließ alles stehen und liegen du drängelte sich durch seine Mitarbeiter zu ihr durch.

„Shana.“, rief er erfreut, als er sie endlich erreicht hatte. „Endlich bist du wieder da.“

„Essen.“, war das Einzige, was Shana noch zustande brachte. Sie war einfach zu hungrig. Ein Wunder, dass ihr Magenknurren den Lärm nicht schon übertönt hatte. Suoshi sah zu dem unfreundlichen Mitarbeiter, der Shana dumme Fragen stellte.

„Was stehst du hier noch rum? Mach sofort ein Shana- Spezial!“

„Was soll das sein?“, fragte er nur verständnislos. Davon hatte er ja noch nie gehört. Suoshi sah ihn wütend an. „Hast du in deiner Lehre denn gar nichts gelernt?“

„Suoshi-san. Essen.“, flehte Shana nur. Ganze Sätze wären in ihrem Zustand auch zuviel verlangt gewesen. Er lächelte ihr zu, schubste seinen Auszubildenden beiseite und machte es dann selbst. Shana wurde langsam ungeduldig und hüpfte auf der Stelle. Suoshi beeilte sich und hatte seine eigene Bestzeit nebenbei noch übertroffen. Ein Shana- Spezial stand vor der Namensgeberin. Eigentlich war es nur eine extra große Portion Ramen gewesen, aber das tat ja auch nichts zu Sache. Den Namen bekam dieses Gericht aus diesem Grund, weil Shana reinhaute, wenn es um Ramen ging. Suoshi ließ eine extra große Schüssel anfertigen, damit auch alles reinpasste. Und bisher war Shana die Einzige gewesen, die diese Mengen auch verzehren konnte. Es waren schon andere da und hatten es versucht, doch gegen eine Shana kam keiner an. Ob man sich darauf was einbilden sollte, sei dahin gestellt. Damit erübrigte sich auch die Sache mit dem Babyspeck.

Shana sah die große Schüssel mit Ramen an. Sie nahm die zusammengeklebten Stäbchen, riss sie auseinander, brachte sie in die richtige Handhaltung und ergriff damit die Ramen. Kurz ließ sie die Nudeln in der Luft hängen, damit sie ein wenig abkühlten. Dann führte sie die leckere Köstlichkeit zu ihrem bereits geöffneten Mund.

Doch die Ramen erreichten ihr Ziel nicht, denn sie wurde plötzlich gepackt und aus dem Laden gezogen. Vor Schreck ließ sie die Stäbchen fallen und sie landeten auf dem Boden. Während Shana weiter ihrem Essen nachsah und Suoshi komisch schaute, wurde sie weiter aus dem Laden gezerrt. Als sie dann draußen war, wollte sie wieder zurück, aber sie wurde weiter festgehalten. Die Person, die sie rausgeschleift hatte, drehte Shana zu sich um.

„Was habe ich dir gesagt? Du sollst zu Hause sein, wenn ich dich hole, blöde Kuh!“ Ethan starrte sie zornig und mit stechend goldenen Augen an. Doch das realisierte sie gar nicht. Ignoranz war mal wieder auf ihrer Seite. Sie wollte nur eins. Wieder zurück in den Laden und ihre Ramen essen. Als Ethan merkte, dass sie ihm gar nicht zuhörte, wurde er noch wütender. Kurzerhand schulterte er sie und sprang auf das nächste Dach. Sie entfernten sich immer weiter von dem kleinen Laden. Shana schrie und streckte ihre Hand aus, doch es war vergebens. Ihr Traum war erst so nah und jetzt war er unerreichbar geworden. Bald, als der Laden nicht mehr zu sehen war, erwachte Shana aus ihrer Ramen- Trance.

„Ethan!“, schrie sie und hämmerte mit ihren Fäusten gegen seinen Rücken. „Lass mich runter!“, befahl sie, doch er hörte nicht. Zu allem Überfluss waren ihre Schläge auch noch recht kraftlos gewesen. Verständlich, denn sie hatte Hunger gehabt.

Die ganze Zeit über schrie sie ihm wüste Beschimpfungen an den Kopf, doch er ignorierte sie. Shana war schon richtig heiser, als er sie endlich absetzte. Sie war wütend und hungrig und ging einfach trotzig los, als sie den Boden unter ihren Füßen spürte. Ihr war es egal. Selbst wenn er sie nach Spanien verschleppt hätte- Sie wäre wieder zu ihrem Ramen- Laden gelaufen. Als Ethan das sah, ging er ihr nach, packte ihr Handgelenk und schleifte sie in eine andere Richtung. Shana wollte wieder schreien und sich wehren, verstummte aber, als den Ort erkannte, an dem sie jetzt war.

Ethan schob das große Eisentor auf und sie fanden sich mitten auf dem Friedhof wieder. Dieser war außerhalb der Stadt. Wind zog plötzlich auf und ließ die Bäume rascheln. Die gefallenen Herbstblätter fegten über den Gehweg. Es fröstelte Shana. Es war unheimlich, vor allem, weil es schon dunkel war. Sie trat näher an Ethan heran. Stumm passierten sie einige Grabsteine, bis sie vor einem stehen blieben.

„Nobuki Kyoshima“, las Shana vor. Was hatte das zu bedeuten? Warum brachte er sie gerade hierher? Wer war diese Frau, die hier begraben lag? Vielleicht die alte Wächterin? Sollte das eine Andacht werden? Aber sie sollte doch heute den Clan kennen lernen. Shana war verwirrt.

Ethan streckte die Hand aus und bewegte das Schriftzeichen für Kyo in Kyoshima. Der Grabstein schob sich nach links weg und sie blickten in ein dunkles Loch. Ethan ging die Treppe herunter, die in das Loch führte, doch Shana blieb stehen. Sie wollte da nicht runter. Wer war sie denn, dass sie in irgendwelche unterirdischen Gänge unter Gräbern kroch?

Als er merkte, dass sie nicht wollte, ging er wieder hoch, packte er sie mal wieder und zog sie einfach. Dass sie die Treppe mehr herunterstolperte, als dass sie wirklich lief und sich auch noch fast dabei die Beine brach, interessierte ihn natürlich nicht.

Blöder Ethan!

Als sie dann unten angekommen waren, drückte Ethan auf einen Knopf und das Grab schloss sich.

Na super. Jetzt saß sie in der Falle. Shana stellte sich schon vor, wie sie Würmerfraß wurde.

Ethan öffnete eine Tür, die anscheinend vor ihnen war, die Shana aber wegen der Finsternis nicht sah, ging mit ihr rein und schloss sie wieder. Dann passierten sie einen kleinen Flur und er öffnete wieder eine Tür. Nachdem sie hindurch waren und Ethan die Tür wieder geschlossen hatte, standen sie in einem Wohnzimmer. Shana konnte es nicht fassen. Ein Wohnzimmer unter einem Grab. Links von ihnen war eine riesige Couch mit einem Tisch. Rechts stand eine Anlage mit Fernseher, DVD- Player und einer Musikabspielanlage. Daneben war ein Schrank der vor DVD’s und CDs fast platzte. Jemand saß auf der Couch und sah fern. Shana konnte ihn aber nicht genau mustern, da der Raum nur durch das Licht des Fernsehbildschirms erhellt wurde. Außerdem hatte Ethan gar nicht vor im Wohnzimmer zu bleiben und trat mit Shana durch eine weitere Tür, die in einen weiteren Flur führte, nachdem sie das Wohnzimmer durchschritten hatten.

Es war so dunkel gewesen, dass sie nicht mal die Hand vor Augen sah. Ethan hatte anscheinend vorsorglich ihr Handgelenk nicht losgelassen und ging weiter. Wie zielsicher er ging. Er kannte sich nicht nur gut aus hier unten, sondern er sah in dieser schwarzen Dunkelheit. Sie bogen einmal ab, gingen dann noch ein Stück, bis dann stehen blieben. Ethan klopfte an irgendwas. Vermutlich eine Tür.

„Ja?“, kam es gedämpft von irgendwoher. Ethan öffnete dann wie vermutet eine Tür und sie traten ein. Shana sah nur Bücher. Überall an den Wänden waren Bücherregale und auf dem Boden lagen auch so einige Bücher. In der Mitte stand ein Schreibtisch, rechts neben der Tür ein Bett. Am Schreibtisch saß jemand. Shana war froh, dass dieses Zimmer zumindest mit Kerzen beleuchtet war, so dass sie wenigstens etwas sah.

„Hier ist sie.“, bemerkte Ethan trocken. Die Person am Schreibtisch sprang auf. Es war ein Mann gewesen. Vielleicht so um die 28 Jahre alt. Er hatte lange, blonde Haare, die er locker zu einem Zopf gebunden hatte. Dadurch fielen ein paar Strähnen aus dem Zopf und er sah leicht wirr auf dem Kopf aus. Hinter seiner Brille versteckte er blaue Augen. Er ging auf sie zu.

„Meine Verehrung werte Lady.“

„Was?“, fragte Shana. Er war auch Ausländer. Nur sein Akzent war bei weitem schlimmer, als der von Ethan. Sprach er jetzt japanisch oder englisch? Oder vielleicht beides?

„Ihr seit unsere Wächterin?“, fragte er dann. Das hatte Shana dann nun doch verstanden.

„Ja.“ Sie zeigte auf Ethan. „Zumindest behauptet er das.“

„Vortrefflich.“ Shana konnte das Leuchten in den Augen dieses jungen Mannes sehen. Er freute sich wirklich sie zu sehen. So was war ihr fremd, denn kaum einer freute sich über ihre Anwesenheit. Doch etwas in seinem Blick bereitete ihr Unbehagen. Sie sah sich schon auf dem Seziertisch und der Blonde in Kittel und einem Skalpell. Shana sah ihn immer noch leicht fragend an. Er fing diesen Blick auf und lächelte dann verlegen und ein bisschen vertrottelt.

„Verzeiht meine Unhöfflichkeit. Mein Name ist Rowen. Rowen Hayford.“

„Ähm… Ich heiße Shana Minabe.“, entgegnete sie lächelnd und schüttelte seine ausgestreckte Hand.

„Es freut mich wirklich dich kennen zu lernen, Shana-chan.“

Mit einem Mal zog Shana ihre Hand zurück und sah ihn finster an. Rowen war so eingeschüchtert, dass er etwas zurückwich.

„Habe ich etwas Falsches gesagt? War mein Japanisch nicht deutlich genug?“

Erst jetzt bemerkte Shana, dass sie aus Reflex gehandelt hatte. Es tat ihr sofort leid. Er konnte es ja nicht wissen.

„Entschuldige bitte, Rowen-san? Ich mag es nicht, wenn man mich Shana-chan nennt.“

„Verzeih. Das wusste ich nicht. Ich wollte nur höfflich sein und die japanische Redewendung gebrauchen.“

„Macht ja nichts. Du konntest es nicht wissen.“

Beide lächelten sich an. Sie hatten Sympathie für einander. Das konnte man spüren.

„War’s das?“, unterbrach Ethan sie.

„Du willst gehen? Ich meine die Wächterin steht neben dir. Willst du nichts über sie erfahren?“

„Die blöde Kuh interessiert mich nicht!“

„Aber Ethan.“

„Ich habe sie hergebracht. Jetzt ist sie dein Problem.“ Dafür erntete er einen Seitenhieb von Shana. Sie bekam im Gegenzug einen bösen Blick. „Wag dich das noch mal, blöde Kuh und du warst die längste Zeit lebendig.“

„Hör auf mich ständig zu beleidigen. Und schreib es dir hinter die Ohren. Ich heiße Shana und nicht blöde Kuh, du Perversling!“

„Willst du Ärger?“

„Vielleicht?“

„Gerne. Kannst du haben.“

Seine Hand schnellte hervor und wollte sich um ihren Hals legen, doch Rowen ging dazwischen und packte die Hand von Ethan. „Es reicht.“

„Lass meine Hand los oder du bereust es!“ Ethan sprach mit so kalter Stimme, dass Shana zusammenzuckte. Rowen ließ die Hand von Ethan langsam los, hielt dem bösen Blick aber stand.

„Ruf die anderen zusammen.“

„Nein!“

„Ethan!“

„Ich habe sie dir gebracht. Kümmere dich um den Rest gefälligst selbst.“

Damit wandte Ethan sich ab und verließ den Raum. Shana sah ihm nach, was Rowen natürlich nicht entging.

„Mach dir keine Sorgen.“, versuchte er sie zu beruhigen.

„Warum sollte ich mir Sorgen machen? Ich kann ihn nicht leiden.“

„Sag so was nicht. Er ist zwar der typische Einzelgänger und erscheint nach Außen hin wie ein harter Kerl, aber er ist gewiss anderer Natur.“

Shana sah ihn verständnislos an. Warum erzählte er ihr so was? Sie wollte ihn fragen, doch da setzte Rowen sich wieder an seinen Schreibtisch und bot ihr einen Platz davor an. „Setz dich doch bitte. Ich würde gerne mehr über dich erfahren.“ Er lächelte und Shana war dem nicht abgeneigt. Und irgendwie musste sie sich ja ablenken, damit sie nicht ständig an ihren knurrenden Magen denken musste. Es war sowieso bemerkenswert, dass sie noch so freundlich sein konnte. Na ja. Zumindest zu Rowen. Ethan war da ja mal wieder etwas anderes gewesen. Blöder Ethan!
 

Es vergingen drei Stunden, in denen Rowen Fragen an Shana stellte. Noch hatte jemand sie so ausgefragt. Er war auch nicht zu indiskret gewesen und Shana mochte ihn wirklich. Er zeigte reges Interesse an ihr und es machte sie glücklich. Doch ihr Gespräch wurde jäh unterbrochen, als es an der Tür klopfte. Rowen bat um Eintritt und die Tür öffnete sich. Es traten einige Leute herein. Ein Mädchen, drei Männer und Ethan. Rowen lächelte. Ethan hatte seiner Bitte doch Folge geleistet. Shana und Rowen standen auf.

„Also Shana-cha-“ Er stoppte, als er ihren bösen Blick vernahm. „Shana-kun.“, verbesserte er sich schnell. „Darf ich dir deinen Clan vorstellen?“ Er war aufgeregt gewesen. Shana blickte die Neuankömmlinge an. Rowen ging zu einem der Jungs. Dieser hatte wirres, hellbraunes längeres Haar und grüne Augen. Er war vom Körper her sportlich. Sie schätze ihn auf 16 Jahre.

„Das ist Hawk. Hawk Adams.“

„Freut mich.“

Hawk jedoch erwiderte nichts. Er blickte sie einfach nur stumm an.

„Oh verzeih. Hawk redet nicht.“

„Er redet nicht?“

„Wir wissen auch nicht warum, denn er sagt es uns nicht.“ Rowen hatte versucht einen Witz zu machen, aber Shana konnte irgendwie nicht darüber lachen. Auch Rowen bemerkte, dass sein Humor ihr nicht zusagte und er ging zum nächsten über. „Der Junge daneben ist Jay. Er ist der Bruder von Hawk.“

Stimmt. Eine gewisse Ähnlichkeit bestand. Nur Jay war etwas kleiner als Hawk, aber sie hatten die gleiche Haar- und Augenfarbe. Auch der Gesichtsausdruck ähnelte dem von Hawk. Jay lächelte. „Hey.“, sagte er freundlich.

„Hey.“, erwiderte sie. Na zumindest konnte er sprechen.

„Das Mädchen daneben ist Chris. Die Freundin von Jay.“, kommentierte Rowen weiter. Shana musterte sie. Sie war vielleicht 14 Jahre. Sie trug ein chinesisches Kleid und ihre braunen Haare, die sicher gebleicht waren, waren zu zwei Haarknoten links und rechts an ihrem Kopf befestigt. Dass es unter Vampiren auch Liebesbeziehungen gab? Das war irgendwie merkwürdig. Aber warum auch nicht? Sie liefen ja auch mit Handys rum. „Chris?“, fragte Shana.

Sie lächelte. „Eigentlich heiße ich Cheng Xiaofan, aber das kann sich keiner merken und auch nicht aussprechen. Deswegen Chris.“

„Ach so. Freut mich.“

„Und mich erst. Endlich ein Mädchen mehr. Es ist ganz schön öde mit den ganzen Männern hier. Endlich habe ich jemanden zum quatschen.“

Shana wusste nicht ob sie das gut oder schlecht fand und ob Jay ihr Leid tun musste. Chris erinnerte sie ein bisschen an Mika. Die redete auch so viel. Trotzdem schien sie sehr nett zu sein.

„Nun.“, machte Rowen weiter. „Der junge Mann neben Chris heißt Hunter. Hunter Duncan.“

Er war groß. Bestimmt 1,90 m und sah aus wie 25 Jahre. Er hatte kurzes, braunes Haar war in der Mitte zu einem Scheitel gezogen und fiel ihm glatt vom Kopf. Seine blauen Augen musterten Shana abschätzig. „Gör.“, bemerkte er trocken.

„Kerl.“, konterte Shana.

„Willst du Ärger?“

„Kommt drauf an ob du meiner würdig bist.“

„Wächterin oder nicht. Du fängst dir gleich welche!“

„Komm doch. Dich verputze ich zum Frühstück.“

Bevor sie wirklich aufeinander losgehen konnten, stellte Rowen sich dazwischen. „Nun beruhigt euch. Und Ethan kennst du ja bereits.“, sagte Rowen beschwichtigend.

„Notgedrungen.“ Die Bekanntschaft mit Ethan schätze sie nicht wirklich.

„Deine Bekanntschaft ist auch nicht gerade eine Bereicherung.“, gab Ethan zurück.

Rowen lächelte schwach. Na das konnte ja heiter werden. „Na jedenfalls“, begann er wieder. „Das hier ist Shana. Sie ist unsere Wächterin.“

Also ob das was brachte. Und als ob die anderen das nicht schon längst gewusst hatten. Hunter murmelte etwas von „Gör“ und verließ dann das Zimmer. Hawk folgte ihm. Jay und Chris verabschiedeten sich wenigstens, bevor auch sie gingen. Ethan wollte sich auch aus dem Staub machen, doch Shana hielt ihn fest.

„Bring mich nach Hause!“, befahl sie.

„Ich denke ja nicht dran!“ Mit Befehlen von ihr hatte er es anscheinend nicht so.

„Du hast mich hergeschleift, also bringst du mich gefälligst nach Hause.“

„Rowen wollte, dass ich dich herbringe.“

„Das stimmt“, warf Rowen ein. „Aber du weißt wo sie wohnt. Außerdem dürfen meine Nachforschungen nicht ruhen.“

„Das ist eine faule Ausrede!“

„Komm schon Ethan. Für mich ist das zu anstrengend. Ich gehe doch nur raus, wenn es notwenig ist.“

„Du schuldest mir was.“, knurrte er und Rowen lächelte nur. Dann ging er raus. Shana verneigte sich und folgte Ethan dann. Ohne ihn würde sie hier sicher nicht rausfinden. Vor allem, weil sie den Orientierungssinn von einem Huhn hatte.

Als sie dann wieder das Wohnzimmer durchquerten, saßen dort die anderen und sahen fern. Vampire die fernsahen. Daran würde sie sich wohl nie gewöhnen. Als nächstes hatten sie noch einen Computer mit Internetanschluss oder eine Spielkonsole. Sie verabschiedete sich im Gehen von den anderen und folgte Ethan dann auf dem Fuße, raus aus der Gruft.

Sie nahm einen tiefen Atemzug von der kühlen Nachtluft in ihre Lugen auf. Da unten war es wirklich stickig gewesen. Als Ethan Anstalten machte, sie wieder zu schultern, wehrte Shana das entschieden ab. Sie wollte nicht wieder wie ein nasser Sack rumhängen. Stattdessen legte sie ihre Arme um seinen Hals und drückte sich an ihn. Ethan seufzte schwer genervt, legte dann aber doch einen Arm um sie und sprang los.
 

Es war bereits 2 Uhr morgens gewesen, als Ethan das Zimmer von Shana durch ihr Fenster betrat. Sie war bereits in seinen Armen eingeschlafen und er legte sie einfach aufs Bett. Ihm fielen die Zettel auf, die durch den Wind des halb geöffneten Fenster überall auf dem Boden verteilt lagen. Er hob einen auf und überflog ihn. Ethan schüttelte über den Inhalt nur den Kopf.

„Blöde Kuh!“, murmelte er.
 

And that's all?
 

Ich entschuldige mich, für die Verspätung. Um ehrlich zu sein, ich hab es einfach vergessen. Jaah… Schule und so. Einige kennen das sicherlich. Ich gelobe Besserung.

Bis denn dann
 

BabyG

Teatime

Von der Geburt bis zum Tod lernt der Mensch immer neue Sachen. Am Anfang wird er von seinen Eltern angeleitet. Sie geben ihm Sprache. Im weiteren Verlauf vermittelt Schule dem Menschen Wissen. Manche Sachen braucht man im späteren Leben zwar nicht, aber die Lehrer empfinden es als wichtig. Nach der Schule lernen sie durch den Beruf, je nachdem welches Handwerk sie erlernen. Im Ruhestand lernen sie meist durch Fernsehen oder durch Enkelkinder. Es heißt, ein Mensch lernt bis zu zwölf neue Wörter pro Tag. Shana lernt keine zwölf neuen Wörter oder etwas über Etikette oder Wissenschaften. Sie lernt etwas, dass es eigentlich nicht geben dürfte.
 

Shana lag noch im Tiefschlaf. Sie hörte weder die nervtötenden Vögel, noch ihren Wecker, der seit geschlagenen fünfzehn Minuten unerträgliche Laute von sich gab. Wenn sie schlief, schlief sie. Pech für die Schule. Würde sie eben zu spät kommen, es interessierte sie nicht.

Doch sie hatte die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht, diese teilte die Ansicht von Shana nicht im Geringsten.

Als ihre Tochter nicht auf ihre Rufe reagierte, ging sie wütend nach oben. Als sie vor dem Bett stand, konnte sie kaum fassen, dass Shana immer noch schlief. Sie riss der noch in den Träumen liegenden die Bettdecke weg und rüttelte an ihr.

„Shana! Wach sofort auf!“, bellte sie in ihrer üblichen Tonlage.

Shana merkte, dass etwas Warmes von ihr gezogen wurde und ein kalter Luftzug ihren Körper streifte. Wie ein Igel rollte sie sich zusammen und drehte sich auf die Seite. Das Rufen ihrer Mutter überhörte sie einfach.

Ihre Mutter war von dieser Unverfrorenheit so erbost, dass sie ihre Tochter kurzerhand aus dem Bett warf. Wortwörtlich. Das konnte selbst Shana nicht ignorieren und sie wachte auf. Das Öffnen ihrer Augen erwies sich als nicht gerade leicht.

„Wa…was?“, wisperte sie. Ihre Kehle war trocken und sie fühlte sich noch nicht wirklich in der Lage zu sprechen.

„Steh gefälligst auf! Ich werde nicht erlauben, dass du zu spät zum Unterricht erscheinst! Was bildest du dir überhaupt ein, du undankbares Kind?!“ Es drangen leider nur Wortfetzen zu Shana durch, da sie schon wieder halb schlief. Das reichte ihrer Mutter endgültig.

Sie ergriff fest den Oberarm von Shana und schleifte sie ins Badezimmer. Diese Frau war eigentlich eine zierliche Person, aber wenn es darum ging den Ruf der Familie zu wahren, konnte sie Bärenkräfte entwickeln. Sie warf Shana regelrecht in die Dusche und stellte das kalte Wasser an. Shana schrie auf, jetzt war sie wach.

„Mach dich gefälligst fertig! In zehn Minuten fährt deine Bahn.“ Ihre Mutter verließ das Badezimmer.
 

Shana schaffte es gerade noch ihre Bahn zu erwischen. Sie hatte nicht mal Zeit zum frühstücken, ihr Magen knurrte. Er verlangte ja schließlich schon seit gestern nach Nahrung. Doch Shana konnte diesem Bedürfnis nicht nachgehen. Sie hatte ja schon Mühe in der Bahn nicht einzuschlafen.

Als sie dann das Schultor durchschritten hatte, schlurfte sie zu ihrem Klassenzimmer. Auch noch zu verlangen, dass sie die Füße hob, wäre wirklich zu viel des Guten. Sie war blass und hatte ihre Augen nur so gerade eben auf. Ein Wunder, dass sie mit niemand zusammenstieß. Als sie ihren Sitzplatz in der Klasse erreicht hatte, fiel ihr Kopf auch schon auf die Tischplatte und ihre Augenlider widersetzten sich auch der Schwerkraft nicht mehr. Das Mika wie jeden Tag zu ihr kam um mit ihr zu reden, bemerkte Shana schon gar nicht mehr. Auch als der Lehrer die Klasse betrat und die Schüler sich erhoben um dieser Respektsperson einen guten Morgen zu wünschen, blieb Shana sitzen und schlief selig weiter. Man konnte Shana wirklich alles nehmen, bis auf zwei Sachen: Nahrung und Schlaf. Fehlte ihr beides, konnte man sie vergessen.

Die erste Stunde Mathe verlief ohne Probleme. Der Lehrer schrieb Formeln an die Tafel und bemerkte noch nicht mal, dass Shana schlief. Lehrer und die Gabe jedem einzelnen Schüler Aufmerksamkeit zu schenken. Das ewige, leidige Thema.

Doch die zweite Stunde sollte die Wendung bringen, sie hatten Japanisch. Das war noch nie Shana’s Fach gewesen. Sie und die Lehrerin mochten sich gegenseitig nicht besonders. Und dass Shana dann auch noch schlief, war die Höhe gewesen. Doch der Gipfel der Frechheit war, als die Lehrerin Shana wecken wollte und diese nur unverständliches Zeugs im Schlaf vor sich hin brabbelte.

„Minabe-san!“

„Noch ein Stück Kuchen bitte.“ Allgemeines Gelächter in der Klasse.

„Minabe-san! Wach auf!“

„Von dem Erdbeerkuchen nehme ich auch noch ein Stück.“

Die Wutader der Lehrerin fing an zu pulsieren. Diese Ader war ganz alleine Shana gewidmet. Manche nannten sie auch scherzhaft Shana-Ader.

Sie rüttelte an Shana, bis diese endlich mal die Augen aufschlug. „Huh?“

„Raus!“

„Kuchen?“

„Raus Minabe-san! SOFORT!“

Shana sah ihre Lehrerin leicht irritiert an. Stimmt ja! Sie saß in der Schule. Doch irgendwie hatte sie den Befehl noch nicht realisiert. „VOR DIE TÜR MINABE!“

Okay. Das hatte selbst Shana jetzt verstanden. Sie erhob sich und ging aus der Klasse.

Als es dann zur Pause klingelte, durfte Shana wieder in die Klasse und sich eine gehörige Standpauke anhören. Zur Hölle mit diesem Tag.

Sie ging nach draußen um ein bisschen frische Luft zu schnappen. Vielleicht würde sie die Kälte ein wenig munter machen. Ihr Magen knurrte unentwegt. Wach wurde sie von der frischen Luft auch nicht. Sie fror fürchterlich.

Scheiß Tag. Anders konnte sie es nicht beschreiben. Sie setzte sich draußen auf eine der Bänke, weil sie nicht das Gefühl hatte, lange aufrecht stehen zu können.

Während sie innerlich ihre Situation verfluchte, fiel Schatten auf sie. Shana schaute von ihrer Demutshaltung hoch und wollte die Person gerade runtermachen, die ihr da so frech die Sonne stahl, als sie Mika erkannte, die ein riesiges Bento in der Hand hielt. Man sah, wie Shana langsam der Speichel aus dem Mundwinkel floss. Das Bento war zwar noch zu, aber sie roch trotzdem Reis, Garnelen, eingelegtes Gemüse und Sushi. Ihrer Nase konnte man einfach nichts vormachen. Mika bemerkte die gierigen Blicke ihrer Freundin und drückte Shana das Bento in die Hand.

„Vater hatte sich so gefreut, dass du gestern bei uns warst, dass er mir gesagt hat, dass ich dir dieses Bento geben soll.“

Der Körper von Shana fing an zu zittern. Endlich etwas zu essen. Sie riss den Deckel ab, nahm die darin befindlichen Stäbchen und schaufelte das Essen in sich hinein. Mika stand geduldig da und wartete, bis ihre Freundin gegessen hatte. In Rekordzeit war das Essen verschlungen und Shana lehnte sich zufrieden zurück. Endlich satt. Dieses Gefühl war einfach himmlisch.

„Hat es geschmeckt?“

„Ich stehe tief in der Schuld deines Vaters.“

„Freut mich.“

„Du hast mich gerettet.“

„Ich weiß eben was gut für dich ist.“

Sie lachten. Dann klingelte es auch schon zum Unterricht und sie gingen in ihre Klasse. Zwar war Shana gesättigt, müde war sie aber trotzdem noch. Sie musste ihre ganze angefutterte Energie darauf verwenden wach zu bleiben. Klar, dass sie deswegen nicht dem Unterricht folgen konnte. Shana war froh, als das Schulklingeln den Unterrichtsschluss einläutete. Sie verabschiedete sich von Mika und schlurfte nach Hause.
 

Es war bereits halb sechs, als Shana sich zu Hause an den Esstisch setzte und ihr Abendbrot zu sich nahm. Ihre Mutter und Ken saßen ebenfalls am Tisch.

„Shana.“, begann ihre Mutter. Shana konnte sich schon fast denken, was jetzt kam.

„Ja?“

„Dein Bruder Ken hat heute eine 1 in Japanisch bekommen.“, erklärte ihre Mutter mit hochjauchzender Stimme. Na bitte, da war er wieder, der Vergleich zwischen Shana und Ken. Es war klar, wer bei diesem Vergleich besser abschneiden würde.

„Toll.“, bemerkte Shana trocken. Sie wollte doch nur essen und ins Bett, war das denn zu viel verlangt?

„Und was ist mit dir? In Japanisch stehst du auf einer vier, du solltest dich was schämen.“

„Verzeih meine Unfähigkeit und Dummheit Mutter.“ Das bisschen Unterwürfigkeit musste ihrer Mutter reichen. Für das volle Schleimprogramm hatte Shana einfach nicht die Kraft.

„Soll ich Shana-chan vielleicht Nachhilfe geben, Mutter?“

Ihre Mutter klatschte erfreut in die Hände. „Das wäre eine wunderbare Idee. Aber hast du nicht selbst genug mit deinen Studien zu tun?“

„Gewiss, aber ich denke nicht, dass Shana-chan so hoffnungslos ist, immerhin gehört sie ja zur Familie.“

Dieses schleimige Grinsen würde Shana nachher in ihren Träumen sicher noch begleiten. Nur wie konnte sie sich da jetzt rausreden? „Das ist wirklich nett, aber ich denke, dass Ken sich ganz auf die Schule konzentrieren sollte. Immerhin ist er doch Stammhalter und wenn er sich noch um meine schulischen Belange kümmern muss, könnte ihn das zurückwerfen.“

„Wie umsichtig von dir Shana-chan.“

Shana beendete ihr Essen. Sie hatte zwar noch Hunger gehabt, aber diese Unterhaltung wollte sie wirklich nicht weiter führen. Sie stand auf und wollte nur noch nach oben in ihr Zimmer.

„Shana!“ Was wollte ihre Mutter denn jetzt schon wieder? „Ja Mutter?“

„Vergiss nicht deine Hausaufgaben zu machen. Und wir hatten eine Abmachung bezüglich der Anrede von deinem Bruder.“

Shana seufzte. Warum konnte ihre Mutter das nicht vergessen? Oder tot umfallen? Ihr wäre beides recht gewesen.

„Verzeih, dass ich meinen Bruder respektlos behandelt habe, Mutter. Und auch dich möchte ich um Verzeihung bitten, Ken-sama.“

„So ist es richtig Shana-chan.“

„Kann ich jetzt gehen?“

„Geh!“

„Danke.“

Und Shana ging, so schnell sie nur konnte.

Als sie oben in ihrem Zimmer war, schleuderte sie ihre Schultasche in die nächst beste Ecke. Diese Familie war einfach zum kotzen. Aber fluchen, laut schreien oder toben hätte nur wenig gebracht, diese Familie würde sich einfach nie ändern.

Ihr fielen plötzlich die Notizen auf, sie lagen immer noch überall auf dem Boden verteilt. Das war ihr heute Morgen gar nicht aufgefallen. Na ja, selbst ein nackter Mann oder ein wildes Tier wäre ihr wohl heute Morgen nicht aufgefallen.

Shana sammelte die Zettel auf, erst bei näherem hinsehen fiel ihr auf, dass sie verändert wurden. Auf allen Blättern zog sich ein Querstrich von links unten nach rechts oben. Da hatte jemand ihre fein säuberlich ausgearbeiteten Recherchen durchgestrichen. Ja hallo ging’s noch? War das ihre Mutter gewesen? Sie konnte sich das nicht vorstellen, keiner ihrer Familienmitglieder betrat ihr Zimmer. So was interessierte sie gar nicht, vor allem nicht das, was auf den Zetteln stand. Außerdem hätte ihre Mutter sie längst schon darauf angesprochen.

Sie sah die Zettel abermals durch, erst jetzt bemerkte sie, dass auf der letzten Seite ihrer Ausarbeitung etwas geschrieben stand, was eindeutig nicht ihre Handschrift war. War das… Englisch?

„Hä?“, entwich es ihrem Mund. Sie las die paar Zeilen. Ihr Englisch war zwar mies (wie fast alle Sprachen), aber das konnte die gerade noch übersetzten. Sie las es laut vor:

„Das ist Blödsinn. Wenn du wirklich glaubst, dass das da der wahren Natur von Vampiren und Werwölfen entspricht, bist du dümmer als ich gedacht habe. Blöde Kuh!“

Jetzt war Shana wirklich nach schreien zu mute. „Ethan! Du Idiot! Na warte! Das kriegst du zurück!“

Ethan hätte sich wahrscheinlich über diese Drohung kaputt gelacht, obwohl, das glaubte Shana nun auch wieder nicht. Der Kerl war so komisch wie ein Sack Reis. Konnte er überhaupt lachen? Okay. Er war untot und musste sich von Blut ernähren, aber ein bisschen Humor konnte man doch erwarten oder nicht? Blöder Ethan!
 

Die Sonne war bereits untergegangen. Shana hatte sich noch etwas aufgeregt, dann aber zur Ablenkung Hausaufgaben gemacht. Da sie das aber zu sehr anstrengte und ihre Müdigkeit noch weiter förderte, lag sie danach sofort im Bett und schlief. Doch ihr Schlaf wurde jäh gestört, als sie plötzlich ein immer lauter werdendes Klopfen aus ihren Träumen riss. Sie versuchte es zu ignorieren, aber es war so laut und penetrant, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war. Müde richtete sie sich auf und sah auch schon die Gestalt, die draußen auf dem Fenstersims hockte und nicht aufhörte gegen das Fenster zu klopfen. Shana hoffte inständig, dass es nur ein Traum war. War es nicht. Und wenn, dann war es ein Alptraum.

Sie krabbelte aus ihrem Bett und öffnete das Fenster. Ethan kam herein.

„Na endlich. Das hat ja ewig gedauert!“

„Entschuldige, oh großer Ethan, dass ich nicht sofort springe, wenn du bei einer unwürdigen Person wie mir auftauchst.“

„Werde nicht frech!“ Mit ihrem Sarkasmus hatte er es nicht so.

„Du nervst!“

„Gleichfalls.“

„Was willst du überhaupt hier?"

„Dich abholen.“

Shana stöhnte genervt auf. „Schon wieder? Warum? Ich war doch erst gestern bei euch.“

„Rowen will dich sehen.“

„Schön für ihn. Ich komme aber nicht mit.“

„Ich kann auch Gewalt anwenden.“

„Geh mir nicht auf die Nerven. Ich bin müde und will schlafen.“ Als ob Ethan das interessieren würde.

„Interessiert mich nicht. Ist dein Problem, nicht meins.“ Hatte irgendjemand was gesagt?

„Was muss ich tun, damit du gehst?“

„Mitkommen.“

„Ach halt doch die Klappe!“

Und schon wieder hatte er seine Hand um ihren Hals gelegt. Wie oft wollte er das eigentlich noch machen? Fiel ihm mal langsam nicht was Neues ein? Shana blieb über sein Handeln stumm und starrte ihn nur an. Ebenso wie Ethan. Wer würde diesen spannenden Starrwettkampf wohl gewinnen?

Diesmal musste Ethan sich geschlagen geben. Er durfte sie leider nicht töten, zumindest jetzt noch nicht. Was nicht war, konnte ja noch werden. Er ließ von ihr ab, sah sie aber trotzdem noch missbilligend an. So ganz wollte er sich dann doch nicht geschlagen geben. War Shana auch recht. Sie hatte für ihn auch nicht viel übrig gehabt.

„Wir gehen jetzt!“

„Hast du mir nicht zugehört? Ich habe „nein“ gesagt.“

Anscheinend hatte er ihr wirklich nicht zugehört, denn schon hatte er sie geschultert und war in die kühle Abendluft gesprungen.

„ETHAN!“, schrie sie. „Lass mich runter! Bring mich zurück! Ich will nach Hause!“

Mal wieder stieß sie auf taube Ohren. Beeinträchtigte das Dasein als Vampir etwa die Hörfähigkeit? Zum Teufel mit Ethan!

Zum allem Übel hatte sie nur eine Schlafanzughose und ein Top mit dünnen Trägern an. Die Außentemperatur betrug 5°C. Viele Menschen blickten an diesem Abend in den Himmel, weil sie dort ein Mädchen wüste Beschimpfungen schreien hörten.
 

Als sie den Friedhof erreicht hatten, wollte Shana eigentlich wieder nach Hause, aber da es zu weit war und sie wegen der Kälte schon blau anlief, ging sie doch mit Ethan mit. Nachdem er das Grab geöffnet hatte und sie den Flur passiert hatten, standen sie auch schon im Wohnzimmer. Dort saß Hawk und sah fern. Er grüßte noch nicht mal, sondern sah stur zum Fernseher. Ethan hielt sich dort wie auch schon gestern nicht lange auf und brachte Shana in das Arbeitszimmer zu Rowen. Doch als sie im Zimmer standen, war es leer. Keine Spur von dem Vampir mit Buchtick. Erst als sie ein leises Stöhnen unter einem Bücherhaufen hörten, konnten sie sicher sein, dass Rowen sein Arbeitszimmer doch nicht verlassen hatte. Ethan und Shana holten ihn unter der schweren Lektüre hervor. Er stand leicht zerzaust da und klopfte sich den Staub von seiner Kleidung. Erst als er seine schief sitzende Brille gerichtet hatte, sprach er mit ihnen.

„Vielen Dank. Ich bin auf der Leiter ausgerutscht und habe wohl ein paar Bücher mitgerissen!“ Er lächelte verlegen. Ethan war genervt, denn er ging einfach wieder ohne etwas zu sagen. Er hatte seinen Auftrag erfüllt. Jetzt war Shana das Problem von Rowen.

Er lächelte Shana an. „Guten Abend Shana-cha… verzeih. Shana-kun.“ Wenigstens einer, der nett und höflich zu ihr war.

„Guten Abend Rowen-san.“

„Hast du gut her gefunden?“

„Na ja...“ Ihr Blick sprach mal wieder Bände.

„Ist Ethan nicht nett zu dir?“

„Lass mal überlegen... er beleidigt mich, klaut mir das letzte bisschen Schlaf, versucht ständig mich zu erwürgen, nennt mich immer blöde Kuh und gibt mir noch nicht mal Zeit zum Umziehen... doch, er ist sehr nett zu mir.“ Ja Shana hatte wirklich gute Laune gehabt. Rowen schien perplex. Entweder verstand er ihren Sarkasmus nicht oder er konnte sich nicht vorstellen, dass Ethan so gemein war. „Was?“, fragte sie leicht gereizt.

„Tut mir leid, dass wusste ich nicht.“

„Das wusstest du nicht? Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, dass er die Freundlichkeit in Person ist.“

„Das vielleicht nicht unbedingt, aber dass er sich so benimmt, kann ich gar nicht glauben.“

„Reden wir auch von demselben Ethan?“

„Ich denke schon.“

„Lassen wir das. Warum hast du mich herbestellt, Rowen-san?“

Jetzt sah er sie noch komischer an. „Ist das nicht offensichtlich?“

„Äh… nein?“

„Ich wollte mit dir über deine Bestimmung sprechen. Gestern hatten wir ja nicht viel Gelegenheit dazu.“

„Gut, dass du das ansprichst. Da muss ein Fehler vorliegen.“

„Fehler?“

„Ja. Ich bin nicht diese komische Wächterin oder was auch immer. Ihr irrt euch.“

„Was bringt dich zu dieser Annahme?“

Das fragte er wirklich? Sah man in sein Gesicht, fragte er das wirklich. Shana konnte es nicht fassen. „Na das ist doch alles verrückt. Okay. Ihr seid anscheinend Vampire. Ich kann das zwar noch nicht so ganz glauben, aber anders kann ich mir diese ganzen Eigenarten nicht erklären. Wie auch immer. Ich bin stink normal. Ein gewöhnliches, 17- jähriges Mädchen und keine Wächterin. Was soll das überhaupt sein? Ich habe mich ein bisschen schlau gemacht. Nirgends konnte ich etwas über eine Wächterin in Bezug auf Vampire finden. Du musst dich einfach irren.“

Ohne Shana zu unterbrechen hatte Rowen ihr zugehört. Sie hoffte, dass ihn ihre Argumente überzeugen konnten. Ja denkste. Rowen lächelte nur.

„Wollen wir uns nicht setzten?“

„Ich will mich nicht setzten. Ich will dieses Missverständnis aufklären.“

„Willst du dich wirklich nicht setzten?“

„Rowen-san!“

„Okay. Wie fange ich am besten an? Es gibt so viele Sachen, die dafür sprechen, dass du die Wächterin bist.“

„Ach und was?“

„Bist du stark?“

„Bitte?“

„Hast du mehr Körperkraft, als gewöhnliche Menschen?“

„Ja schon, aber das ist bestimmt ein Gendefekt oder so. Die Ärzte sind sich da nicht so ganz sicher.“

„Das ist eins der Anzeichen. Ethan erzählte mir, dass dein Blut anders schmeckt.“

Shana überlegte einen Moment. Woher wusste der Perversling, wie ihr Blut schmeckte? Dann fiel es ihr plötzlich wieder ein. Ihre erste Begegnung. Der Zusammenstoß, ihre Wunde an der Hand und wie er darüber geleckt hatte. Sofort wurde sie rot. Daran wollte sie doch nicht mehr denken. Sie musste sich da raus reden. Irgendwie. „Da… Das hat bestimmt nichts zu sagen. Ehrlich nicht.“

„Das Blut der Wächterin ist einzigartig. Es schmeckt nicht nach normalem Blut. Und dann konntest du Ethan widerstehen.“

„Ja so ein Frauenheld ist er ja nun auch nicht. Was sollte ich schon an ihm finden?“ Er sah zwar gut aus, das musste sie zugeben, aber sein Charakter war das Letzte gewesen.

„Das meine ich nicht. Vampire benutzen so eine Art Hypnose, damit das Opfer bereitwillig sein Blut gibt und nicht in Panik gerät. Dem konntest du widerstehen. Das ist nicht üblich.“

„Du tust ja gerade so, als ob ihr ganz toll wärt.“

Sofort tat es Shana leid. Sie mochte Rowen wirklich und wollte ihn nicht beleidigen. „Entschuldige bitte, Rowen-san. Ich wollte nicht gemein zu dir sein.“, sagte sie schnell.

„Das macht nichts. Wirklich nicht.“ Er lächelte. Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen. Doch Rowen fuhr unbeirrt fort. „Wir fühlen uns nicht toll. Doch es ist nun mal so, dass sich keiner unserer Hypnose widersetzten kann. Und das wohl wichtigste Indiz ist der Schlüssel.“

„Gut, dass du das ansprichst. Wie werde ich dieses rostige Ding wieder los? Er lässt sich einfach nicht ablegen.“

„Das beweist, dass du die Wächterin bist. Das ist alles so aufregend.“

Shana zog die Augenbrauen in die Höhe. Aufregend? Sie fand das alles eher skurril und lästig.

„Wozu ist der Schlüssel und wie werde ich ihn wieder los?“ Vielleicht half es, die Frage noch einmal zu wiederholen.

„Ach ja. Warte einen Moment.“

Er ging zu dem Bücherregal hinter seinem Schreibtisch und suchte anscheinend ein Buch. Shana stand da und wartete geduldig, bis er sein angestrebtes Buch gefunden hatte. Als Rowen es hatte, schlug er es auf und suchte die Seite, die ihm für die Beantwortung der Frage dienlich war. Shana hoffte zumindest, dass es so war.

„Da ist es ja.“, verkündete Rowen stolz. „Der Schlüssel ist die Erkennung der Wächterin.“, begann er zu lesen. „Legt die Auserwählte den Schlüssel um, bleibt er bis zum nächsten Neumond um ihren Hals. Dies hat zweierlei Gründe. Zum einen sichert es, dass der Schlüssel im Besitz der Wächterin bleibt. Er kann von niemandem abgelegt werden. Nicht mal von der Auserwählten selbst. Zum anderen regeneriert er ihre Kräfte. Der Schlüssel ist nicht nur ein Symbol, sondern öffnet auch die Truhe der ersten Wächterin.“

Rowen sah von dem Buch auf und blickte Shana an. Sie war noch verwirrter als vorher. Irgendwie warf diese Antwort noch mehr Fragen auf. Das würde noch eine lange Nacht werden.

„Truhe der Wächterin?“

„Ja. Es gibt eine Gruft, in der die letzte Wächterin liegt. Dort liegt auch die Truhe der Wächterin verborgen. Sie beinhaltet alles, was die Wächterin zur Erfüllung ihrer Aufgabe benötigt.“

„Und was soll das sein?“

„Das steht hier leider nicht. Die Geschichte der Wächterin ist nur sehr vage. Wir hatten bisher selbst noch keine. Siehst du?“ Er zeigte ihr das Buch, doch Shana konnte kein einziges Wort lesen. Rowen bemerkte es. „Verzeih. Du kannst nicht zufällig rumänisch?“

„Ist die Frage ernst gemeint?“

„Natürlich.“

„Nein kann ich nicht.“

„Tut mir leid. Das wusste ich nicht.“

„Und was heißt das jetzt genau für mich?“

„Das du vielleicht rumänisch lernen möchtest?“

„Das meine ich nicht. Du erzählst mir was von einer Wächterin, hast aber im Grunde selbst keine Ahnung. Und was soll das mit der Truhe?“

„Ach ja, Richtig, dass heißt wir gehen zur Gruft der Wächterin und bergen ihre Truhe beim nächsten Neumond.“

„Ich soll im Grab einer Leiche nach einer Truhe buddeln? Geht’s noch? Das geht zu weit! Außerdem weißt du doch gar nicht wo sich die Leiche der letzten Wächterin befindet.“

„Du musst die Ruhe der Wächterin nicht stören. Die Truhe befindet sich separat in der Gruft und nicht in dem Sarg der Wächterin. Die Gruft befindet sich hier in Japan. Auf diesem Friedhof.“

„Ernsthaft?“

„Ja. Die letzte Wächterin war eine höhere Tochter, starb aber leider schon sehr früh. Den genauen Umstand ihres Ablebens habe ich noch nicht herausfinden können. Es ist alles sehr mysteriös. Es gibt viele Ungereimtheiten. Aber das Tagebuch der Wächterin wird hoffentlich Aufschluss geben. Es soll sich in der Truhe befinden. Übrigens geht es nächste Woche los. Dann ist Neumond.“

„Das behagt mir alles gar nicht Rowen-san. Ihr wisst nicht viel über die Wächterin, seit aber überzeugt, dass ich eine bin?“

„Vertrau mir bitte. Aber ich verstehe dich, das du den Umstand, dass wir Vampire sind, nicht so ganz akzeptieren kannst. Mir erging es damals auch nicht anders.“

„Damals?“

„Als ich zum Vampir wurde.“

Das hörte sich doch mal interessant an. „Erzählst du mir davon?“

Rowen’s Augen begannen zu leuchten. Anscheinend nahm man sonst nicht viel Anteilnahme an ihm. Shana konnte es verstehen. Er redete wirklich gerne über dieses ganze staubtrockene Zeug aus seinen Büchern. Und wenn man noch Interesse an seiner Person zeigte, hatte man praktisch schon gewonnen.

„Aber natürlich. Sehr gerne sogar. Aber lass uns das bitte in gemütlicher Atmosphäre besprechen.“

Er legte sein Buch auf den Schreibtisch und ging zur Tür. Nach kurzem zögern folgte Shana ihm. Sie gingen ungefähr fünf Schritte, bis Rowen anhielt und auf der linken Seite eine Tür öffnete. Der Raum war dunkel. Aber das wunderte Shana noch nicht mal. Rowen war schnell in der Dunkelheit verschwunden und Shana konnte nur leise ein paar Geräusche vernehmen. Doch er brachte schnell Licht in den Raum, als er ein paar Kerzen anzündete. Der Raum entpuppte sich als Küche.

Wozu brauchten Vampire eine Küche? Bewahrten sie hier Blutkonserven auf? Das wurde alles immer merkwürdiger.

Links erstreckte sich eine riesige Küchenzeile, rechts stand ein Schrank und an der gegenüberliegenden Wand von der Tür stand ein Tisch mit sechs Stühlen.

„Setz dich doch bitte Shana-cha-… kun.“ Er würde es wohl nie lernen. Shana setzte sich auf einen der Stühle. „Möchtest du etwas trinken? Allerdings kann ich dir nur Tee, Wasser und Kaffee anbieten.“

„Tee wäre nett.“

„Englischen oder Grünen?“

„Grünen Tee, bitte.“

„Sehr gerne.“

Während Rowen den Tee zubereitete, überdachte Shana die ganze Situation. Die Geschichte der Wächterin wurde immer verrückter. Vor allem, woher sollte sie wissen, was wahr war und was nicht? Immerhin wusste Rowen selbst nur sehr wenig darüber. Sie musste wohl wirklich warten, bis sie die Truhe hatten. Noch so ein Punkt, der eher einem Horrorfilm entsprang. Was kam als nächstes? Wildgewordene Affen? Zombies? Das war doch albern. Und jetzt sollte sie hier seelenruhig eine Tasse Tee trinken? Na ja, sie brauchte wirklich etwas Warmes, hier in der Gruft unterschied sich die Zimmertemperatur kaum von der jetzigen Außentemperatur. Aber warum sollte das auch einen Vampir stören? Die waren von Natur aus kalt. Wenn sie nur an den kalten Körper von Ethan dachte, bekam sie eine Gänsehaut.

Es dauerte auch nicht lange und Rowen stellte eine dampfende Tasse Tee vor Shana hin. Er setzte sich schräg neben sie. Ebenfalls mit einer dampfenden Tasse. Was war das? Heißes Blut? Roch aber eher wie Tee. Er zündete die auf dem Tisch stehenden Kerzen ebenfalls an, damit sie einander besser im Blick hatten.

„Was trinkst du da?“

„Earl Grey.“

„Was ist das?“

„Englischer Tee.“

„Ein Vampir, der Tee trinkt?“

„Ist das verwunderlich?“

„In jedem Fall.“

„Es ist eine Alternative zu Blut. Außerdem beruhigt es und bewahrt mir ein Stück meiner Herkunft.“

„Trinken die anderen auch Tee?“

„Nicht alle. Ethan und ich trinken englischen Tee. Chris trinkt grünen Tee und Hunter, Hawk und Jay trinken Kaffee.“

„Das’n Witz oder?“

„Nein?“

„Okay. Das ist gerade wirklich verrückt.“

„Es ist ein Irrglaube der Menschen, dass wir nur Blut trinken. Das ist zwar unser Hauptnahrungsmittel und wir nehmen keine feste Nahrung zu uns, aber von Blut allein können wir unseren Flüssigkeitshaushalt nicht konstant halten. Und Wasser schmeckt nicht.“

„Schmeckt ihr überhaupt? Ich meine, ich habe gelesen, dass Vampire nur Blut schmecken können. Für alles andere ist ihre Zunge unempfindlich.“

„Ein Irrglaube. Wir schmecken so was, naja, wir benutzen keinen Zucker, weil das überflüssig ist, aber den leicht blumigem Geschmack von meinem Tee schmecke ich schon. Ansatzweise zumindest.“ Er lächelte freundlich.

„Ich glaube, wir belassen es einfach dabei.“

Shana konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Ethan Tee trank. Das war einfach nur verrückt. Obwohl ihr prompt fünf sarkastische Sprüche für Ethan einfielen. Und wie sollte dann erst die Geschichte werden, die Rowen ihr erzählen wollte? Sie musste mit diesen Wahnvorstellungen aufhören.

Vorsichtig legte sie ihre Hände um die Tasse. Shana spürte, wie ihre Finger anfingen zu kribbeln. Langsam belebte die heiße Tasse ihre Glieder wieder. Ein angenehmes Gefühl. Sie hob die Tasse an und trank einen Schluck. Es war eine Wohltat, wie die heiße Flüssigkeit ihre Kehle herunter ran. Sie trank noch zwei weitere Schlücke und setzte dann wieder ab. „Also Rowen-san. Erzähl mir deine Geschichte.“

Rowen hatte seine Tasse ebenfalls abgesetzt, nachdem er etwas getrunken hatte und sah Shana erfreut an. Wie ein kleines Kind, das stolz das erste Mal einen Käfer gegessen hatte. Unglaublich.

„Gerne doch.“

Gerade als er anfangen wollte zu erzählen, öffnete sich die Küchentür. Rowen und Shana drehten sich um. Hunter und Ethan kamen herein.

„Was will die Göre denn schon wieder hier?“, fragte Hunter, als er Shana sah.

„Hallo Hunter. Ich hatte sie gebeten herzukommen.“

„Ist ja toll Ro. Hast du Kaffee gemacht?“

„Oh verzeih. Das hatte ich vergessen.“

„Das ist ja mal wieder wunderbar. Die Göre kriegt diesen ekeligen Tee von Chris und du machst nicht mal Kaffee für jemanden, den du schon länger kennst als zwei Tage?“ Hunter war nicht in bester Laune. Erst jetzt bemerkte Shana, als er in das Kerzenlicht trat, dass Hunter spärlich gekleidet war. Er hatte nichts weiter an, als eine Trainingshose. Seine kalkweiße Brust schimmerte im Kerzenlicht. Bei diesem Kleidungsstil bekam sie wieder eine Gänsehaut.

„Es tut mir wirklich leid, Hunter.“, entschuldigte Rowen sich erneut. Shana machte das wütend.

„Du tust ja gerade so, als ob Rowen-san dein Mädchen für alles wäre. Deinen dämlichen Kaffee kannst du dir ja wohl selber kochen.“

Ohne jede Vorwarnung flog etwas ins Shana’s Richtung. Sie duckte sich gerade noch darunter weg und das Geworfene flog gegen die Wand und zerbrach. Shana vermutete, dass das Wurfgeschoss ein Teller oder eine Tasse war.

„Du hast hier gar nichts zu melden, Göre! Kleine Kinder haben den Rand zu halten, merk dir das!“

Dann machte er sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Doch Shana gab sich nicht so leicht geschlagen. Wäre ja noch schöner.

„Oh Hunter-sama, bitte tu mir nichts. Ich habe solche Angst vor dir.“

„Okay. Das reicht!“

Hunter drehte sich um und wollte auf Shana losgehen. Auch sie war aufgestanden um sich besser verteidigen zu können. Doch es kam nicht zu einem Kräftemessen, da Rowen sich zwischen sie stellte.

„Genug. Es reicht.“

„Geh mir aus dem Weg. Ich mach dieses Kind fertig!“

„Als ob du das könntest Hunter-chan.“

„AUFHÖREN!“

Mit einem Mal verstummten sie. Rowen räusperte sich. „Seit bitte friedlich.“

„Pah!“

„Pah!“

Na damit waren Hunter und Shana sich wenigstens einig. Sie setzte sich wieder und Hunter widmete sich wieder der Kaffeemaschine. Ethan stand die ganze Zeit recht unberührt da.

„Wo sind Jay und Chris?“, fragte Rowen an die beiden Vampire gewandt.

Ethan antwortete: „Sind noch unterwegs.“

„Gut. Ethan? Könntest du Shana-cha-… kun bitte nach Hause bringen?“

„Warum denn Rowen-san? Du wolltest mir doch noch deine Geschichte erzählen.“

„Es tut mir leid, aber es wird spät. Du hast doch morgen bestimmt Schule?“

„Ja schon…“

„Also Ethan?“

„Nein!“

„Warum nicht?“

„Ich bin nicht ihr Taxi.“

Recht hatte er. Doch nun meldete sich auch Shana zu Wort. „Fein! Ich will auch nicht von dir nach Hause gebracht werden, du Grobian!“

„Mit dir redet keiner, blöde Kuh!“

„Ich heiße Shana!“

„Mir doch egal.“

„Rowen-san? Dieser Idiot…“ Damit zeigte sie auf Ethan. „… braucht mich nicht zu bringen. Ich laufe!“

„Aber es ist doch viel zu weit. Hunter? Würdest du vielleicht?“

„Das schlag dir ganz schnell aus dem Kopf Ro. Wahrscheinlich färbt ihre Dummheit auf mich ab, wenn ich sie anfasse.“

„Na viel dümmer kannst du auch nicht mehr werden.“, bemerkte Shana trocken. Sie verneigte sich leicht vor Rowen. „Auf wieder sehen, Rowen-san.“

Ohne ein weiteres Wort ging sie aus der Küche. Schnell hatte sie auch das Wohnzimmer gefunden. Das lag aber auch nur daran, dass das Licht vom Fernseher unter den Türspalt in den Flur schien. Sonst hätte sie sich wahrscheinlich hoffnungslos verlaufen.

Sie verneigte sich vor Hawk, der nur anerkennend nickte und verließ dann die Gruft. Zähneklappernd lief sie über den Friedhof zur Straße. Dann blieb sie stehen. Wo lang? Links oder rechts? Kaum 100 Meter von der Gruft entfernt und schon hatte sie sich verlaufen. Na wunderbar. Ein Wunder, dass sie überhaupt den Weg zur Schule fand.

Shana rieb sich über die nackten Oberarme, hüpfte auf der Stelle und überlegte, welche Richtung sie nun einschlagen sollte. Doch die Entscheidung wurde ihr schnell abgenommen, als sich plötzlich ein Arm um ihren Bauch schlang und sie sich in die Lüfte erhob.

„Blöde Kuh!“

„Lass mich runter! Ich will nicht von dir getragen werden.“

„Mir egal. Leb damit!“

„Woher der Sinneswandel? Ich dachte du wärst nicht mein Taxi?“

„Geht dich nichts an.“

„Auch gut.“

Sie schwiegen. Selbst als Ethan sie zu Hause abgesetzt hatte, wechselten sie kein Wort. Keine Verabschiedung oder ein Wort der Beleidigung.

Als Ethan weg war, verschloss Shana fest ihr Fenster. Sie würde es nie wieder für Ethan öffnen. Da konnte er sich auf den Kopf stellen. Schwor sie sich in dieser Nacht zumindest. Doch Shana und schwören… Na lassen wir das.

Sie fror immer noch, aber sie war zu müde, um noch ein heißes Bad zu nehmen oder sich was Wärmeres anzuziehen. So wie sie war ging sie zu Bett. Als sie ihre Augen schloss, musste sie niesen. Na toll. Jetzt auch noch eine Erkältung. Eins wusste sie mit ziemlicher Sicherheit. Irgendjemand würde dafür büssen müssen, wenn sie wirklich krank werden würde.

Mit kaltem Körper und einer ziemlichen Wut im Bauch schlief sie dann schlussendlich doch ein.
 

And that’s all?
 

An der Stelle möchte ich mich bei allen Lesern bedanken. Ich finde es klasse, dass ihr es durchhaltet so lange auf ein Kapitel zu warten. Ich bin lahmarschig, ich weiß.

Besonderer Dank geht hier an meine süße Eve-chan, die das Kapitel Beta gelesen hat. Es ist echt besser geworden.

Und für alle, die möchten, dass ich ihnen ne Ens schreibe wenn ein neues Kapitel da is, sagt mir ruhig bescheid. Ich mach das gerne.

Okay.. bla… ich rede zu viel.

Bis denn dann
 

BabyG

Rowen

Ein Mensch nimmt täglich Informationen auf. Es ist ein gängiger Vorgang. Aufnahme, Bearbeitung, Interpretation. Besonders Frauen bevorzugen es, immer das Falsche in ein Wort oder einen Satz hineinzuinterpretieren. Doch zuhören alleine macht noch keine Geschichte. Es geht um den Wert und die Gefühle, die der Erzähler versucht zu vermitteln.

Shana hörte eine Geschichte aus der Vergangenheit. Eine nicht gerade schöne Geschichte. Kein Märchen über Prinzen und gute Feen. Oh nein, es war kein Märchen. Es war Rowen’s Geschichte.
 

England/Oxford/1861
 

„Guten Tag Rowen.“, sagte das Mädchen freundlich, als Rowen den Lebensmittelladen betrat.

„Hallo Lilli.“

„Was kann ich dir geben?“

Rowen überlegte kurz. „Ich hätte gerne zwei Pfund Kartoffeln,…“

Rowen war für seine Mutter zum Einkaufen gegangen. Er kannte Lilli schon ewig. Sie war die Tochter der Ladenbesitzerin. Immerhin lebte seine Familie schon in Oxford seit er denken konnte.

Als Rowen seine Einkäufe getätigt hatte und sein Weidenkorb voll mit Lebensmitteln war, verließ er den Laden wieder. Beim Rausgehen hörte er, wie Lilli kicherte. Und das tat sie einzig und alleine seinetwegen. Doch sie war nicht die Einzige gewesen. Jeder der Rowen kannte, spottete über ihn. Doch wie kam das? Immerhin war Rowen eigentlich von unscheinbarer Natur gewesen. Seine langen blonden Haare trug er wie üblich zu einem Pferdeschwanz. Die klugen blauen Augen musste er hinter einer Brille verstecken. Von seiner Statur her war er groß und schlaksig. Und ein Tollpatsch vor dem Herrn. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Was Rowen in Oxford so einzigartig machte, war seine Familie und sein Familienerbe.

Die Familie Hayford bestand aus einer Reihe von Ärzten. Der erste männliche Hayford war Arzt gewesen und dieser Berufszweig wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Kein Hayford konnte sich dem verwehren. Auch der Vater von Rowen, Earl Hayford, war Arzt. Er hatte in dem Viertel, in dem die Hayfords lebten, großes Ansehen durch diesen Beruf erlangt. Immerhin war das Land von Tuberkulose und Cholera befallen und die Menschen brauchten Hilfe. Deswegen war Rowen’s Familie nicht arm gewesen.

Auch der ältere Bruder von Rowen, Eric, war Arzt. Soweit setzte sich die Tradition fort. Doch was war mit Rowen selbst? Er studierte zwar das Handwerk des Mediziners, doch seine Ausbildung schleppte sich dahin. Sein Bruder hätte ihm ein Vorbild sein müssen, da dieser seine Ausbildung in nur wenigen Jahren bestanden hatte. Doch nicht so Rowen. Er wollte nicht daran denken, wie lange er schon mit seinen Studien beschäftigt war. Er war schon 28 Jahre alt und noch immer hatte er sein vorbestimmtes Handwerk nicht erlernt. Musste man mehr sagen?

Doch es lag nicht daran, dass Rowen dumm gewesen war. Durch den Reichtum seines Vaters besuchte er eine der renommiertesten Internate in Oxford, welches er auch mit ausgezeichneten Noten absolvierte. Er war wahrlich klug, bemessen an dem Wissenstand dieser Zeit. Der Grund für seine Trödelei war einfach der, dass er kein Arzt werden wollte. Krankheiten und kranke Menschen machten ihm im Allgemeinen Angst und von Blut wurde ihm immer leicht übel. Doch sein Vater war ein strenger Mann gewesen. Er duldete keine Ausflüchte und zwang Rowen den Berufszweig des Arztes auf. Ein Hayford wurde Arzt. Das und nichts anderes. Das predigte er zumindest immer, wenn Rowen auch nur Ansatzweise äußerte, dass es auch noch andere Berufswege hab. Doch davon wollte sein Vater nichts wissen.

Und was wollte Rowen? Er wollte eine ganz andere Richtung einschlagen. Er wollte Historiker werden. Er interessierte sich schon damals für die Geschichte. Den Geschichtsunterricht im Internat verschlang er geradezu. Und seine Freizeit verbrachte er in der Bibliothek. Er liebe Bücher und empfand es als Hochgefühl, wenn er sich mit Länderkunde befasste. Und warum sollte er auch nicht den Beruf des Historikers gehen? Dieser Beruf hatte Zukunft. Denn Geschichte gab es immer.

Als Rowen einmal besonders mutig war und seinem Vater diese Idee unterbreitete, tobte dieser nur. Hayford bedeutete Arzt. Nicht Historiker, Verkäufer oder Bauer. Arzt und nichts anderes. Niedergeschlagen fügte Rowen sich mehr oder minder dem Willen seines Vaters. Doch das musste ja nicht heißen, dass er seinen Traum gänzlich aufgab. Er sparte Geld und kaufte sich davon historische Werke. In den Semesterferien unternahm er einige Exkursionen. Natürlich ohne das Wissen seines Vaters.

Einzig sein Bruder wusste von seinem Traum. Schließlich hatten Eric und Rowen schon immer ein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Und dabei waren sie so gegensätzlich. Eric war beliebt, hatte viele Freunde und war der Liebling seiner Eltern. Doch Gefühle wie Neid kamen deswegen bei Rowen nie auf. Im Gegenteil. Er bewunderte seinen Bruder für seine offene und herzliche Art. Rowen war schon immer schüchtern und zurückhaltend gewesen. Er ging Auseinandersetzungen aus dem Weg und gab eigentlich immer schnell nach. Und da seine Eltern sich ganz auf seinen vier Jahre älteren Bruder Eric konzentrierten, konnte Rowen sich ganz seinen Historikerstudien widmen.

Soviel zur Familiengeschichte Hayford.
 

Rowen ging gemütlichen Ganges nach Hause. Er machte noch einen kurzen Zwischenstopp im Buchladen und kaufe sich ein Historienwerk, auf das er schon längere Zeit gewartet hatte. Glücklich über seine neue Errungenschaft, kam er auch bald zu Hause an. Das Anwesen der Hayfords war groß. Den armen Menschen in der Stadt erging es schlecht. Die waren abgemagert, krank und konnten sich nicht mal einen anständigen Schlafplatz leisten. Das war anscheinend Grund genug für Earl Hayford, seinen Reichtum zur Schau zu stellen. Aber er tat es nur den anderen Reichen in der Stadt nach. Rowen brauchte kein Haus mit drei Schlafzimmern, vier Gästezimmern, zwei Lesezimmern, sechs Badezimmern und diversen Empfangshallen. Alles einfach viel zu protzig.

Er ging durch den Dienstboteneingang herein und übergab einer Küchenmagd den Einkauf. Natürlich hätten die Angestellten des Hauses einkaufen gehen müssen, aber Rowen tat es ab und zu recht gern. Außerdem kam er so in den Semesterferien mal raus aus dem Haus. Nachdem er sich noch einen Apfel aus der Obstschale genommen hatte, ging er die breite Holztreppe hinauf in sein Zimmer. Hier hatte er alles immer recht schlicht gehalten. Ein ganz normales Bett, ein Schreibtisch, ein Kleiderschrank und zwei Bücherregale befanden sich in seinem kleinen Reich. Er brauchte keine Accessoires, wie Vasen, Bilder oder weitere Tische, auf denen Modelle oder Figuren standen. Er ging auf die Rechte Seite von seinem Bett und hob eine lose Diele hoch. Dort bewahrte er seine Schätze auf. Sein Vater wäre rasend vor Wut geworden, hätte er in den Bücherregalen von Rowen ein Buch über die Geschichte des alten Ägyptens gefunden. Deswegen versteckte er solche Bücher im Boden. Behutsam legte er sein neustes Buch zu den anderen geschichtlichen Meisterwerken und verdeckte das Loch wieder mit der Diele. Er würde nach dem Abendessen ein wenig in seinem neuen Buch lesen.
 

Es vergingen drei Stunden, als eine Dienstmagd zum Abendessen läutete. Die Familie fand sich im Esszimmer an der langen Tafel aus Eiche zusammen. Sein Vater saß an der Stirnseite, links neben ihn seine Frau und zu seiner rechten Rowen. Das Abendessen begann mit einer leichten Gemüsesuppe. Während des ersten Ganges berichtete Earl ein wenig von seiner Arbeit und Rowen’s Mutter, Viktoria, teilte den neusten Klatsch und Tratsch aus. Rowen hörte nur mit halbem Ohr zu. Es interessierte ihn nicht wirklich, wie krank die Menschen waren oder wer wen aus welchen Gründen geheiratet hatte.

Als dann der Hauptgang, Lamm mit Kartoffeln und Bohnen, aufgetischt wurde, schlug Earl plötzlich aus den Tisch. Rowen zuckte zusammen.

„Rowen!“, sagte sein Vater barsch.

„Ja, Vater?“

„Ich bin nicht zufrieden mit dir!“

Rowen wusste was er meinte. Es war ja nicht nur sein langwieriges Studium, was die Familie Hayford in Misskredit brachte. Auch Rowen’s geplatzte Verlobung war Grund genug, dass sein Vater wütend war. Seine Verlobung war schon beschlossene Sache gewesen. Sie hieß Rose, war freundlich, hübsch und durch Rowen’s Vater und ihrem einander versprochen gewesen. Doch Rose konnte es anscheinend nicht ertragen, dass ihr Zukünftiger so ein Versager war und löste die Verlobung. Earl war sehr wütend gewesen und Viktoria dachte nur an den Klatsch, der dadurch verbreitet wurde. Rowen war das relativ egal gewesen. Er mochte Rose eh nicht besonders und sie war im geheimen nur auf das Geld der Hayfords aus. Auf so eine Verlobte konnte er verzichten.

„Verzeih mir Vater.“, sagte Rowen reumütig.

„Ich dulde keine Versager in meiner Familie! Was ist nur los mit dir?“, donnerte sein Vater. „Es scheint, als versuchtest du dich mit allen Mitteln deiner Bestimmung zu verwehren.“

Rowen musste leicht lächeln. Wie Recht sein Vater mit dieser Vermutung doch hatte. Doch sollte er seinem Vater jetzt die Wahrheit sagen? Er dachte an die vielen Bücher, die er in seinem Zimmer versteckt hielt. Er dachte an die vielen nächtlichen Stunden, in denen er heimlich und mit Vorsicht darin las. Seine Entscheidung war denkbar einfach. „Ich lege keinen Wert darauf Arzt zu werden.“

Sein Vater ließ die Gabel in seiner rechten Hand auf den Porzellanteller fallen.

„Wie bitte?“, fragte er mit erhobener und erzürnter Stimme.

„Du weißt, dass ich niemals Arzt werden wollte. Ich will Historiker werden.“

„Das erlaube ich dir nicht!“

„Es ist mein Wunsch und mein Traum, also erlaube es bitte Vater.“

„Ein Hayford wird Arzt!“, donnerte sein Vater wieder.

Da war es wieder. Das Familienmotto. „Ich weigere mich, dieses Familienerbe anzutreten.“, sprach Rowen schon eine Spur wütender aus. Sein Vater lief schon puterrot an und sah nicht sehr gesund aus.

„Dann verlasse auf der Stelle mein Haus und wage es nicht dich noch einmal hier blicken zu lassen.“, stieß sein Vater zornig hervor.

Rowen sah ihn entsetzt an. Er hatte ja mit viel Widerstand gerechnet, aber an Rausschmiss hatte er dabei wirklich nicht gedacht. Doch wenn er so darüber nachdachte, war dies die einzige Möglichkeit, um seinen Traum verwirklichen zu können. In diesem Haus würde er nicht weiterkommen und auch niemals glücklich werden.

„Wie du es wünschst Vater.“

Rowen faltete seine Serviette zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann stand er auf und ging in sein Zimmer. Schnell hatte er zwei Reisekoffer gepackt. In dem einen befand sich Kleidung und in dem anderen waren seine wertvollen Bücher. Während er die Treppen wieder nach unten ging, hörte er, wie seine Mutter versuchte seinen Vater umzustimmen. Sie erinnerte ihn an das Gerede das entstehen würde, wenn er Rowen Rausschmiss. Rowen konnte über diese Argumentation nur lächeln. Das war seine Mutter wie sie leib und lebte. Doch sein Vater blieb hart. Rowen ging zu seinen Eltern um sich zu verabschieden.

„Lebt wohl.“, sagte er ein wenig wehmütig. Auch wenn sie sich falsch verhielten, waren sie doch trotzdem noch seine Eltern.

„Wage es nicht je wieder einen Fuß über diese Schwelle zu setzten!“, wütete sein Vater.

„Sehr wohl Vater.“

Rowen ging. Und eins war gewiss. Er würde nie wieder kommen. Doch es sollte aus ganz anderen Gründen geschehen, als aus den Nahe liegenden.
 

Es dämmerte bereits, als Rowen nach draußen trat. Er entschied, dass er sich noch von seinem Bruder verabschieden sollte, bevor er Oxford gänzlich verließ, um in der Welt herumzureisen. Da er noch genügend Geld hatte, nahm er sich eine Kutsche, die ihn in einen der Vororte von Oxford brachte.

In den Vororten herrschten noch schlechtere Lebensbedingungen, als in der Stadt. Und genau dahin verschlug es Rowen’s Bruder Eric. Hier gab es noch mehr Kranke und viel zu tun. Nach seiner Ausbildung hatte Eric geheiratet und mit seiner Frau Mary zwei Kinder gezeugt. Es war bereits dunkel, als Rowen vor dem mittelständischen Haus stand und an der Tür klopfte. Es dauerte etwas, bis sich die Tür öffnete und Mary in sein Blickfeld geriet. Es wunderte ihn, dass sie ihm persönlich die Tür öffnete. Anscheinend war ihre Bedienstete heute nicht zugegen. Mary war so schön wie immer. Langes, braunes, wallendes Haar, welches ihr bis zur Hüfte reichte und eine schlanke Figur. Als Mary Rowen erkannte, verdunkelten sich ihre braunen Augen. Sie mochte ihn nicht. Aus genau den gleichen Gründen wie seine Ex- Verlobte. In ihren Augen war Rowen einfach ein Versager gewesen. Doch Rowen war schon immer freundlicher Natur gewesen und ignorierte ihre offene Missbilligung einfach.

„Guten Abend Mary.“

„Rowen.“, sagte sie kühl. „Was willst du zu so später Stunde hier?“

„Ich wollte meinen Bruder besuchen.“

Ihr Blick fiel auf die beiden Koffer und anscheinend konnte sie eins und eins zusammenzählen, denn ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Eric ist nicht da.“, entfuhr es ihr hastig. Doch bevor sie Rowen die Tür vor der Nase zuschlagen konnte, trat Eric plötzlich an ihre Seite.

„Was ist denn hier los, Mary?“, fragte er freundlich. Dann erblickte er seinen Bruder. „Rowen.“ Er lächelte.

„Guten Abend Eric.“

„Warum stehst du denn hier draußen? Komm rein, komm rein.“ Er schob seine Frau beiseite und zog seinen Bruder ins Haus. Sie gingen in das Arbeitszimmer von Eric und er bat seine Frau, ihnen Tee zu reichen. Sie war nicht wirklich begeistert davon, tat aber was ihr Mann verlangte.

Das Arbeitszimmer war mit deckenhohen Bücherregalen ausgestattet, die gefüllt waren mit diversen gebundenen Niederschriften. Am Fenster stand ein Schreibtisch aus Buche. Der zentrale Punkt des Zimmers war die Sitzecke mit Tisch und vier Sesseln. Sie ließen sich dort nieder.

„Wo sind die Kinder?“

„Sie schlafen leider schon. Soll ich sie wecken?“

„Nein, nein. Lass sie bitte schlafen.“

Die Tür öffnete sich und Mary brachte Tee und etwas Gebäck auf einem Tablett herein. Eric bedankte sich und sie verließ mit wutverzerrter Miene das Arbeitszimmer wieder.

„Was führt dich her Ro?“, fragte Eric, nachdem er ihnen beiden Tee eingegossen hatte. Rowen druckste ein wenig herum.

„Nun ja.“, begann er und erzählte stockend, was zu Hause vorgefallen war. Eric war nicht sauer, sondern lächelte nur. Anscheinend hatte er gewusst, dass es irgendwann so kommen musste.

„Da hast du ja was angerichtet.“, kommentierte er die Geschichte. Rowen lächelte. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. „Und was hast du jetzt vor? Nach Hause zu gehen kommt im Moment wohl nicht in Frage.“

„Das stimmt. Ich habe vor die Welt zu bereisen. Aber dafür benötige ich Geld. Ich werde nach London gehen, um welches zu verdienen.“

„Wirklich? Nach London? Willst du nicht doch lieber hier bleiben? Ich meine, London ist weit weg und recht groß. Schaffst du das überhaupt?“ Es war nicht so, dass Eric Rowen nichts zutraute, doch er kannte seinen kleinen Bruder von allen am besten. Er wusste, was für ein Tollpatsch Rowen war. Und seine Gutmütigkeit würde ihn in einer Stadt wie London wahrlich nicht weit bringen.

Rowen wusste das. „Es ist nett, dass du dir Sorgen machst. Und auch dein Angebot ehrt mich, aber Mary wird es wohl nicht so gut finden, wenn ich bei euch verweile.“

„Meinst du?“ Eric war in diesem Punkt schon immer etwas naiv gewesen.

„Ja, meine ich. Es ist wirklich besser so. Aber ich möchte dich trotzdem um einen Gefallen bitten. Dann werde ich auch gehen.“

„Gewiss. Ich erfülle dir, was immer du wünschst.“

„Könntest du mir ein Pferd geben? Zu Fuß wird die Reise gewiss noch beschwerlicher.“

„Selbstverständlich.“, stimmte Eric lächelnd zu. Er war eben eine gute Seele.

Rowen trank seinen Tee aus und stand auf. „Jetzt sofort?“, fragte Eric erstaunt. „Es ist schon dunkel draußen. Bleib doch über Nacht hier und reise morgen früh los.“

„Das ist nett von dir, aber ich möchte schnell soviel Abstand zwischen Vater und mich bringen wie nur möglich.“

„Verstehe.“, lenkte Eric ein und seufzte leise. Er stand ebenfalls auf und geleitete Rowen nach draußen.

Er sattelte ihm zwei Pferde. Das eine sollte Rowen zum reiten nutzen und auf dem anderen sollte er sein Gepäck transportieren. Natürlich wäre eine kleine Kutsche einfacher gewesen, aber Mary verbot dies. Allein schon, dass Eric Rowen zwei Pferde gab, empfand sie als zu großzügig.

Als Mary sich erbost zu Bett begab, steckte Eric ihm ein wenig Geld zu und gab ihm Proviant. „Leb wohl Eric.“

„Auf bald Rowen. Und komme mich bald wieder besuchen. Du bist hier immer willkommen.“

„Danke. Wir sehen uns bald wieder.“ Sie lächelten sich an.

Das war das letzte Mal, dass die beiden sich sahen.
 

Zwar konnte Rowen auf ebenen Boden keinen Fuß vor den anderen setzten ohne zu stolpern oder gar hinzufallen, aber reiten konnte er. Einige der wenigen Sachen, die er wirklich beherrschte. Natürlich war es unvernünftig nachts zu reisen. Sobald die Sonne unterging, lauerten viele Diebe, Mörder und Räuberbanden auf den Straßen und Wegen- und trotzdem. Rowen hatte schon viel zu viel Zeit vergeudet. Er wollte jetzt endlich das Glück beim Schopfe packen. Doch seine Reise sollte schneller enden, als ihm lieb war.
 

Er war vielleicht zwei Stunden unterwegs gewesen. Sein erstes Ziel war das kleine Dorf Horspath gewesen. Dort konnte er sicher für ein paar Schillinge ein Nachtlager finden. Als er in die Nähe von Horspath kam, kamen ihm mehrere Leute entgegen. Zu Fuß, zu Kutsche oder auch zu Pferd. Panik und Entsetzen stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Rowen trieb seine Pferde an und als er die Allee nach Horspath passiert hatte, sah er den Grund, warum die Menschen flüchteten. Das Dorf brannte lichterloh. Dicke Rauchschwaden wabberten zum Himmel empor. Menschen schrieen, liefen panisch herum und flüchteten. Rowen war entsetzt. Was war nur passiert? Warum löschten die Menschen das Feuer nicht, sondern flüchteten? Er überlegte, was jetzt zu tun war. Natürlich hätte er gerne irgendwie geholfen, doch die Menschen legten keinen Wert darauf. Sie hatten ihr Dorf bereits aufgegeben und wollten nur noch weg. Auch schien niemand ernstlich verletzt, soweit er es überblicken konnte.

Doch gerade, als er sich wieder auf den Weg machen wollte, kam eine Frau mit einem Jungen aus dem brennenden Dorf. Der Junge stützte die Frau. Doch mit einem Mal knickten ihr die Beine weg und sie sackte zusammen. Rowen ritt aus sie zu und stieg von seinem Pferd.

„Kann ich ihnen helfen, Miss? Tut ihnen etwas weh?“, fragte er fachmännisch.

„Mein… Arm…“, presste sie hervor. Ihre Stimme zitterte und klang durch den Rauch kratzig und rau. Rowen besah sich ihren rechten Arm. Er blutete und sah nicht gut aus. Auch wenn er nicht Arzt werden wollte, hatte er das Handwerk doch geringfügig erlernt. Und in weiser Voraussicht führte er einige Arztutensilien mit sich. Diese holte er aus der Satteltasche des Pferdes. Er gab er Frau und dem Jungen eine seiner Wasserflaschen, während er sich um den Arm kümmerte.

Vorsichtig schnitt er die nekrotische Haut ab und schmierte großzügig eine Salbe auf die Wunde. Die Frau hielt still. „Was ist denn überhaupt passiert?“, fragte er, während er den Arm verband.

„Es war schrecklich.“, sagte sie. „Erst war es nur einer… dann waren sie… überall!“

„Wer?“

„Vampire-“ Sie zitterte und ihre Stimme brach. Rowen sah zu dem Jungen, sein Blick bestätigte ihm, dass die Frau es ernst meinte.

Als Rowen den Arm versorgt hatte, stützte die Frau sich wieder auf den Jungen und ging davon. Rowen sah ihnen nach. Vampire? So was Absurdes. Sie hatte wahrscheinlich eine Rauchvergiftung und redete deswegen wirr. Er hatte schon diverse Geschichten über Vampire gehört und auch einige Bücher darüber gelesen, doch nichts basierte auf Tatsachen. Trotzdem lief ihm ein Schauer über den Rücken, als er darüber nachdachte. Schnell packte er seine Sachen zusammen und stieg wieder auf sein Pferd. Er hätte bestimmt noch einigen Menschen helfen können, doch er hatte Angst, dass man ihm dann die Pferde stehlen würde, wenn er noch länger hier verweilte. Und das wollte er auf keinen Fall riskieren. Außerdem waren die Dorfbewohner mehr mit ihrer Flucht, als mit ihren Verletzungen beschäftigt. Und da er sich sicher war, dass hier kein Nachtlager mehr finden würde, ritt er weiter.
 

Er folgte der Allee, bis diese in einen Wald mündete. Das bereitete Rowen Unbehagen. Natürlich hätte er um den Wald herumreiten können, doch das hätte ihn wertvolle Stunden gekostet. Durch den Wald zu reiten, brachte ihm weniger Umstand.

Rowen schluckte, als er in die dunklen Tiefen des Waldes eindrang. Immer wieder überprüfte er seine Laterne. Es war Neumond gewesen und im Wald herrschte finsterste Nacht.

Er ritt ungefähr eine halbe Stunde und war schon fast aus dem Wald raus, als er jemanden an einem Baum gelehnt sitzen sah. Er hob seine Laterne und bei näherer Betrachtung erkannte er, dass es ein kleines Mädchen war. Sie war vielleicht zehn Jahre alt gewesen. Sie trug ein weißes schlichtes Kleid und ihre langen braunen Haare umrandeten ihr Engelsgesicht. Was machte dieses Kind so ganz alleine in diesem Wald?

Ohne nachzudenken sprang er vom Pferd und ging auf sie zu. Bei ihr angekommen kniete er sich hin und hielt die Laterne seitlich, damit er sie sehen konnte.

„Geht es dir gut?“, fragte er sanft. Ihr Gesicht war leichenblass und dreckig. So wie auch ihr Kleid. Vermutlich gehörte sie ebenfalls zu den Flüchtlingen aus dem Dorf und war hier vor Erschöpfung zusammengebrochen.

„Durst.“, presste sie schwach hervor. Ihr Atem hing stoßweise und ihre dunkelbraunen Augen sahen ihn flehend an.

„Warte. Ich gebe dir Wasser.“ Rowen wollte zu seinem Pferd zurück um seine Wasserflasche zu holen, als er plötzlich spürte, wie sich ihre Hand um sein Handgelenk schloss. Bei dieser Berührung zuckte er zusammen. Ihre Hand war eiskalt. Rowen blickte wieder in ihr Gesicht. Doch etwas war anders. Waren ihre Augen nicht braun gewesen? Denn jetzt schimmerten sie plötzlich in einem unnatürlichen grün.

„Es tut mir leid.“, sagte sie schwach und mit glockenheller Stimme. Von einem Moment auf den anderen spürte er einen stechenden Schmerz seitlich an seinem Hals. Sie bewegte sich so schnell, dass er gar nicht sah, wie sie sich vorbeugte und ihre Zähne in seinen Hals rammte. Rowen riss die Augen weit auf und keuchte schmerzlich auf. Vor Schreck ließ er die Laterne fallen. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und er spürte seinen schnellen Pulsschlag. Er merkte, wie sie ihm das Blut aussaugte.

Ein Vampir, ging es ihm durch den Kopf.

Plötzlich schrie er auf, als er unerträgliche Schmerzen an seinem Hals verspürte. Der Schmerz breitete sich schnell in seinem Körper aus. Es fühlte sich, als ob er von innen verbrennen würde. So fühlt sich also der Tod an, dachte Rowen bitter. Als der Schmerz ein wenig abklang, wurden seine Augenlider schwer. Er dachte an seine Eltern und an seinen Bruder. An die Worte, die er an sie richten wollte und die nun doch unausgesprochen blieben.

Das Vampirmädchen schien hungrig zu sein, denn sie trank immer noch. So sollte seine Reise also enden. Zumindest diente sein Tod einem guten Zweck. Er lächelte leicht und legte dem Mädchen seine linke Hand auf den Kopf. Sanft streichelte er ihr durchs Haar. Der kleine Vampir schien irritiert über diese plötzliche Zuneigung, denn sie ließ von ihm ab und sah ihn an.

„Warum… hörst du… auf?“, fragte Rowen leicht benommen. Lange würde er nicht mehr bei Bewusstsein bleiben können.

„Was soll das?“, zischte sie erbost. Ihr Mund und ihr Kleid waren blutverschmiert.

„Trink ruhig… lass bitte… nichts übrig…“, sagte Rowen freundlich.

„Was?“

„Du bist… durstig… ich gebe… gebe dir… was du… verlangst…“

Sie schien immer noch überrascht. Sie merkte, dass Rowen wollte, dass sie von ihm trank. Sie lächelte. „Deine Selbstlosigkeit soll belohnt werden.“ Sie hatte ihren Durst gestillt. Mehr Blut brauchte sie nicht. Sie führte ihren linken Arm zum Mund und biss hinein. Blut floss ihren blassen Arm herab. Sie hielt ihm die blutende Wunde hin. „Trink“, sagte sie freundlich.

„Nein… danke… nicht… durstig…“ Zu ganzen Sätzen war Rowen schon nicht mehr fähig.

„Trink!“, herrschte sie ihn mit zorniger Stimme an. Ihr Blut tropfte auf seine Kleidung, weil sie ihren Arm immer noch ausgestreckt hielt. Rowen lächelte nur über ihren Befehl, weigerte sich aber dennoch.

„Trink endlich!“

Rowen wusste nicht, warum er es tat, aber er öffnete seinen Mund und ließ die warme Flüssigkeit seine Kehle herunter rinnen. Zuerst überkam ihm Übelkeit, als seine Geschmacksknospen den salzigen und eisenhaltigen Geschmack wahrnahmen. Doch er kam auf den Geschmack. Als er merkte, dass das Feuer in seinem Inneren durch das Blut gelöscht wurde, biss er zu und saugte gierig an ihrer Wunde. Mit beiden Händen hatte er ihren Arm fest umklammert. Um nichts in der Welt würde er diesen Arm loslassen. Doch bald reichte es dem Mädchen und sie entriss ihm ihren Arm.

Rowen sah noch, wie sie grinste, dann wurde er ohnmächtig.
 

Rowen wachte auf.

Doch das Aufwachen war nicht wie sonst gewesen. Es war nicht, wie es normalerweise war. Wenn er sonst aufwachte, verspürte er ein leichtes Schwindelgefühl und sein Kopf fühlte sich dumpf an. Doch jetzt war es anders. Er war merkwürdigerweise klar im Kopf. Kein Nebel, der seine Sinne verschleierte.

Er hörte Geräusche. Das Tropfen von Wasser, das Atmen von Tieren und eine Art Surren. Doch noch nie hatte er Geräusche so intensiv wahrgenommen. Es fühlte sich merkwürdig an. Als ob die Geräusche greifbar wären.

Langsam schlug er die Augen auf. Im ersten Moment sah er nichts. Es war dunkel gewesen. Dunkelheit bekam für ihn hier eine ganz neue Bedeutung. So eine tiefe Schwärze hatte er noch nie erlebt. Vorsichtig hob er seine rechte Hand vor seine Augen, um das genaue Ausmaß dieser Dunkelheit bestimmen zu können. Doch als er das tat, runzelte er plötzlich die Stirn. Er konnte seine Hand klar und deutlich erkennen. Mehr noch, er sah die vielen kleinen Hautzellen, die seine Hand überzogen. Er konnte sogar erkennen, dass er Dreck unter seinen Fingernägeln hatte. Doch wie war so eine klar Sicht möglich, bei so einer Dunkelheit?

Er setzte sich auf. Der Schwindel, der sich normalerweise jetzt immer verstärkte, setzte nicht ein. Er fühlte sich sogar eigenartig kraftvoll.

Rowen sah sich um. Er sah, als ob es gerade dämmern würde. Farben waren zwar nicht so deutlich wie bei Tageslicht, doch er konnte trotzdem alles genau erkennen. Er sah Steinwände, die rau waren und sich um die Decke wölbten und Fledermäuse die kopfüber dort hingen. Er musste sich in einer Höhle befinden. Doch wie kam er hierher? Was war passiert?

Dunkel drangen seine Erinnerungen an die Oberfläche. Der Streit mit seinen Eltern, Eric, das brennende Dorf, das Mädchen. Natürlich! Das Mädchen war ein Vampir und hatte ihn gebissen. Wie konnte er das so schnell vergessen? Doch was passierte dann? Panisch tastete er seinen Hals ab, doch er konnte nichts fühlen.

„In so einem Fall hinterlässt ein Biss keine Spuren.“, hörte er jemanden sagen. Rowen drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme kam. Da saß das Mädchen. Sie lehnte an der Felswand und sah ihn direkt an. Sie lächelte ein wenig belustigt. „Wie heißt du?“, fragte sie mit ihrer Engelsstimme.

Rowen dachte kurz darüber nach, ehe er antwortete: „Mein Name ist Rowen Hayford.“ Seine Stimme klang eigenartig. Bevor er gebissen wurde, war sie ein wenig unsicher und piepsig. Doch jetzt hatte sie einen kräftigen und weichen Klang gehabt. Er lächelte. Anscheinend hatte sich so einiges verändert. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich heiße Elisabeth Brown. Du kannst aber Beth zu mir sagen.“

„Freut mich deine Bekanntschaft zu machen, Beth.“ Er ging auf sie zu. Selbst sein Gang war anders. Seine Beine bewegten sich elegant. Er schwebte geradezu über den feuchten Boden. Von seinem unsicheren und tollpatschigen Gang war nichts mehr übrig. Mit einer flüssigen und für ihn normalerweise untypischen Bewegung, setzte er sich ihr gegenüber. „Wo sind wir hier?“ Er blickte sie fragend an.

„In einer Höhle im Wald. Ich musste dich vor der Sonne schützen.“

„Vor der Sonne?“

„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“, begann sie und schaute dann zu Boden. Rowen wartete geduldig, bis sie wieder sprach. „Du bist zu einem Vampir geworden und es ist meine Schuld.“ Noch immer blickte sie nicht auf, während sie leise seufzte. „Ich weiß, dass du mir gewiss nicht zu glauben vermagst, aber ich spreche die Wahrheit.“

„Ich muss zugeben, es hört sich schon ein wenig befremdlich an.“ Beth hob ein wenig den Kopf. Er sah sie leicht lächeln.

„Da hast du wohl Recht.“

„Wie ist das alles passiert?“ Rowen war gefasst. Damit hatte Beth anscheinend nicht gerechnet. Trotzdem verwehrte sie ihm einen Blick auf ihr Gesicht, denn sie senkte den Kopf wieder. „Ich erzähle dir die Geschichte am besten von Anfang an.“

„Sehr gerne.“

Es entstand eine weitere Pause. Anscheinend dachte sie darüber nach, wie sie beginnen sollte.

„Geboren wurde ich 1820. Ich kam aus einer gewöhnlichen Bauernfamilie. Es war mein 11. Geburtstag gewesen, als mein Leben endete. Wir hatten nie viel Geld gehabt, aber es reichte uns zum leben. An meinem Ehrentag führte Vater uns im Dorf zum Essen aus. Doch als wir gerade unsere Suppe gegessen hatten, kam ein Mann in den Pub und schrie, dass das Dorf überfallen wurde. Wir rannten raus, so wie viele andere Gäste, um Schutz zu suchen. Doch das Dorf brannte bereits. Ungefähr so, wie Horspath. Wir liefen den Räubern direkt in die Arme. Bis zu diesem Zeitpunkt dachten wir zumindest, dass es Räuber waren. Wer hätte auch mit etwas anderem gerechnet.

Meine Eltern und mein Bruder wurden getötet. Von Vampiren.“

Beth machte eine Pause, damit Rowen das eben gehörte verdauen konnte. Sie holte ein paar Mal tief Luft und setzte ihre Geschichte fort. „Ich habe gesehen, wie sie ihnen das Blut aus dem Körper saugten. Ich hörte ihre Schreie und ihr Flehen. Und dann hörte ich plötzlich alle Geräusche verstummen. Ihre leblosen Körper sackten zu Boden. Ich weiß nicht warum, aber ich konnte nicht weinen. Selbst Schreien war mir in dem Augenblick nicht vergönnt. Vermutlich war es der Schock, der so untypische Reaktionen hervorrief. Ich stand einfach nur regungslos da und starrte auf die Leichen meiner Familie.

Einer der Vampire kam auf mich zu und fragte mich mit honigsüßer Stimme ob ich auch sterben wollte. Ich sah immer noch zu den Leichen. Meine Entscheidung viel mir in diesem Moment leicht. Ich bat den Vampir mich zu seinesgleichen zu machen. Ich wollte nicht sterben. Wollte nicht blutleer auf dem Weg liegen und in Vergessenheit geraten, so wie meine Familie. Anscheinend hatte ich Wohlwollen bei dem Vampir geweckt, denn er machte mich zu einem von ihnen. Als ich erwachte, war ich zu einem Vampir geworden und lebte unter ihren Reihen.

Der Clan bestand auf 15 Vampiren. Ich kann nicht genau beschreiben, wie meine Zeit mit ihnen war. Wir überfielen des Öfteren Dörfer und labten uns an dem Blut der Menschen. Zuerst empfand ich es als ekelhaft, dass Blut der Menschen zu trinken, doch mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Denn schließlich brauchte ich das Blut zum überleben. Ich hätte mein Leben oder wie auch immer man es zu nennen vermag, noch viele weitere Jahre bei diesem Clan fristen sollen. Doch letzte Nacht ging etwas schief.

Wir kamen nach Horspath und überfielen es, wie jedes andere Dorf auch. Ich hatte schon längere Zeit nicht mehr getrunken und war durstig. Du musst wissen, ich trinke nur, wenn ich wirklich keine andere Wahl mehr habe. Ich hatte mir ein Opfer ausgesucht. Ein kleines Kind, kaum älter als ich zu meinen Lebzeiten. Doch als ich mich an seinem Blut laben wollte, ging es nicht. Das Kind sah mich mitleidig an und ich konnte ihm einfach nicht das Leben nehmen. Ich kenne den genauen Grund dieses Umstandes nicht. Vielleicht erinnerte es mich zu sehr an mich selbst.

Mein Vormund bei den Vampiren bekam mein Zögern mit und sagte, dass ich eine Schande für die Rasse der Vampire sei. Wenn ich nicht fähig war zu morden, hatte ich bei dem Clan nichts mehr zu suchen. Normalerweise hätte er mich töten müssen. Doch er mochte mich und verstieß mich stattdessen. Um nicht von den anderen Vampiren erwischt zu werden, floh ich in den Wald um mich zu verstecken. Denn sie hätten mich ohne weiteres ermordet. Doch der Durst hatte meinen Körper bereits so sehr geschwächt, dass ich an diesem Baum kraftlos zusammen sank.“

Wieder legte Beth eine Pause ein. Rowen musterte sie währenddessen interessiert. Dann holte sie erneut Luft und brachte ihre Geschichte zu Ende.

„Dann hast du mich gefunden. Ich war wirklich durstig gewesen. Ich musste dein Blut einfach haben. Es roch wahrlich verlockend. Ich hatte die Wahl. Selbst sterben oder dich töten. Mein Selbsterhaltungstrieb entschied für mich. Dein Blut war ein Festschmaus. Eigentlich wollte ich trinken, bis du blutleer warst, doch als du mich auch noch gebeten hattest dich bis auf den letzten Tropfen deines Blutes auszusaugen, hatte ich Mitleid mit dir. Deswegen entschied ich mich dich zu einem Vampir zu machen. Du hattest nur die Möglichkeit zu sterben, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Ich habe für dich einen anderen Weg entschieden. Es tut mir leid.“ Beth hob kurz den Kopf um ihn anzusehen, senkte ihn dann aber wieder schuldbewusst. Rowen jedoch lächelte nur und streichelte ihr über das Haar. Sie zuckte zurück und sah ihn erschreckt an. „Du bist nicht wütend?“

„Du hast eine Wahl für mich getroffen. Ich wäre doch sowieso bald gestorben. In deinen Ohren vermag es vielleicht merkwürdig klingen, aber ich bin nicht wütend. Ich habe mein behütetes Heim verlassen um mir meinen Traum zu erfüllen. Ich wusste, dass es ein Fehler war. Es gibt also keinen Ort mehr, an den ich zurückkehren kann. Deswegen verzeihe ich dir. Mein Leben hatte seit dem Tag meiner Geburt seinen Sinn verwirkt. Und durch dich hat es vielleicht einen neuen Sinn erhalten.“

Ein tiefes Knurren entwich ihrer Kehle. „Deine Haltung ist falsch. Dein Leben hat keinen Sinn mehr, denn ich habe es beendet! Du bist ein Wesen, das weder tot, noch lebendig ist. Es ist gar grausam, was ich dir angetan habe. Ein Vampir zu sein ist alles andere als einfach.“

Rowen spürte in jedem einzelnen Wort ihren Zorn. „Was genau beinhaltet es denn, ein Vampir zu sein? Ich kenne einige Geschichten zu diesem Thema, aber ich denke nicht, dass alle der Wahrheit entsprechen.“ Er war freundlich, als er dies aussprach.

Beth sah ihn erstaunt an. „Meinst du das ernst?“

„Gewiss.“

„Also gut.“, lenkte sie ein. „Vielleicht bedarf es bei dir ein wenig Schrecken.“ Sie grinste und Rowen sah eine Reihe perfekter Zähne.
 

Beth erzählte ungefähr drei Stunden lang über alles nur Erdenkliche. Und fast jeden Satz kommentierte Rowen mit einer Frage. Obwohl Beth ihm Angst machen wollte, genoss sie diese Unterhaltung. Es war angenehm, sich endlich mal wieder zivilisiert unterhalten zu können. Man sah es ihr an. Außerdem zeigte Rowen reges Interesse. Noch nie war ihr jemand begegnet, der so wissbegierig war.

„Vampire sind wirklich faszinierend.“, sagte Rowen dann schließlich, als Beth ihm alles erzählt hatte, was sie wusste.

„Faszinierend? Verspürst du denn keine Angst?“

„Ich weiß nicht recht. Mein Wissensdrang und meine Neugierde waren schon immer größer, als meine Angst.“

„Rowen! Dein Leben wird nie wieder so sein, wie es einmal war. Ich habe dich zu einem bluttrinkenden Wesen der Nacht gemacht!“ Wieder war ihre Stimme von Zorn erfüllt. Er reagierte einfach nicht so, wie er es hätte tun sollen. „Du wirst nie wieder das Gefühl von Wärme erfahren. Vampire sind einsame Wesen. Ihr Herz hat seinen Dienst getan. Du kannst nicht mehr empfinden.“

„Ich denke, du irrst dich.“

„Wie bitte?“

„Ich denke nicht, dass deine Gefühle vollständig erkalten. Du empfindest Reue mir gegenüber, weil du mich zu einem Vampir gemacht hast. Wenn dein Herz vollständig erkaltet wäre, dann hättest du nicht >Es tut mir leid< gesagt.“

Beth runzelte die Stirn. Ihre Haut war so glatt, dass sich kaum Falten auf dieser bildeten. „Vielleicht hast du mit deiner Vermutung ja Recht. Unter den Vampiren, bei denen ich bis vor kurzem noch gelebt habe, war es zumindest so gewesen. Sie teilten nichts von ihrem Besitz und Nettigkeiten empfanden sie als überflüssig.“

„Was gedenkst du jetzt zu tun? So wie es scheint, kannst du bis auf absehbare Zeit nicht zu deinem Clan zurückkehren.“

„Ich weiß es nicht.“, seufzte sie und ließ den Kopf hängen. Rowen wollte sie nicht niedergeschlagen sehen und nahm tröstend ihre Hand. „Also ich für meinen Teil möchte immer noch ferne Länder bereisen. Ich will die Geschichte erforschen und meinen Traum Wirklichkeit werden lassen. Und ich hätte nichts dagegen, wenn mich eine bezaubernde Lady, wie du es bist, begleiten würde. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, da ich noch keine Erfahrung mit dem Dasein als Vampir sammeln konnte. Lasst mich euer Schüler sein, Lady Beth.“

Beth sah ihn mit großen Augen an. Die Schönheit ihres Gesichtes entfaltete sich in vollen Zügen, als sie lächelte und ihn freudig umarmte. „Natürlich werde ich deine Lehrerin.“
 

Da die Sonne bald aufging, verbrachten sie noch einen Tag in der Höhle. Als die Nacht hereinbrach, machten sie sich auf den Weg. Beth war begeistert von der Idee, nach London zu reisen. Sie wollte die Stadt schon immer mal besuchen. Die Pferde hatte Beth in weiser Voraussicht an einen Baum vor der Höhle gebunden. Als Rowen die Pferde sah, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Er fühlte die Wärme, die von den Tieren ausging. Er konnte das Blut hören, das ihnen durch die Adern rauschte. Er witterte den Blutgeruch. Der sonst so beherrschte Rowen wurde unkontrolliert. Etwas ging in ihm vor. Er spürte, wie seine Eckzähne länger wurden und sich verhärteten. Sein Blick verschleierte und der Drang diesen Tieren das Blut auszusagen wurde so groß, dass er sich auf sie stürzen wollte. Mit einem beherzten Sprung konnte Beth ihn gerade noch davon abhalten.

„Nein Rowen!“

„Lass mich!“ Seine Stimme war eisig.

„Es tut mir leid. Ich vergaß, dass du dich noch nicht beherrschen kannst. Du brauchst Blut, aber nicht das von den Pferden!“

Rowen knurrte, schloss dann aber die Augen und wehrte sich nicht mehr. Er sah zwar ein, dass er sich beherrschen musste, aber sein Blutdurst war übermenschlich. Er wusste nicht, wie lange er noch Kontrolle walten lassen konnte.

„So ist es gut.“, sagte Beth sanft. „Lass uns jagen gehen. Hier im Wald werden wir bestimmt ein Reh oder ein anderes Wildtier finden.“

Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn von den Pferden weg. Es dauerte auch nicht lange, bis sie eine Gruppe von Rehen entdeckten. Beth ließ Rowen stehen und pirschte sich lautlos an das Rudel heran. Die Tiere blickten nicht mal auf, als sie sich nährte. Sie kauerte sich hin, wartete einen Moment und stürzte sich dann auf sie. Das Rudel trieb auseinander, doch Beth hatte längst was sie wollte. Sie hielt ein Reh an den Hinterläufen fest, sodass es nicht mehr fliehen konnte. Rowen staunte über ihre Schnelligkeit und Wendigkeit. Er hätte nie für möglich gehalten, dass sie eins dieser extrem scheuen Tiere zu fassen bekam. Es fühlte sich wunderbar an, als das Blut des Rehs seine Kehle herunter rann. Dass er das Tier getötet hatte, daran dachte er in diesem Moment nicht.

Als er gesättigt war, gingen sie zu den Pferden zurück. Kaum, dass er nicht mehr durstig war, verloren die Pferde an Reiz. Natürlich nahm er sie noch wahr. Das pulsierende Blut und dieser anziehende Duft, doch diesmal konnte er dem leichter widerstehen. Nachdem die Tiere mit Speis und Trank versorgt waren, machten sie sich auf den Weg.
 

Sie brauchten einen Monat für die Reise nach London. Sie ritten bei Nacht und schliefen am Tage. Rowen hatte noch erhebliche Probleme seinen Durst unter Kontrolle zu bringen. Vor allem, wenn er auf Menschen traf. Doch dann wurde ihm immer bewusst, dass er selbst einmal Mensch gewesen war und schämte sich für seine Gier. Es war moralisch falsch. Er wollte kein Monster sein. Deswegen lenkte er seinen Durst auf Tierblut. Es stillte ihn zwar nicht völlig, aber es reichte aus um nicht auf Menschen loszugehen. Es machte das Leben unter ihnen erträglicher. Beth hingegen labte sich an dem einen oder anderen Menschen. Sie war schwächer als Rowen und brauchte das volle Sättigungsgefühl.

Als sie London erreicht hatten, mietete Rowen von seinem restlichen Geld eine kleine Wohnung. Diese war wirklich erbärmlich gewesen. Die hatte einen großen Raum, eine Küche und ein kleines Bad. Doch auf Dauer würde er die Wohnung nicht halten können. Deswegen nahm er diverse Arbeiten an. An drei Abenden in der Woche lehrte er Geschichte an einer Abendschule. An den zwei anderen Abenden half er in der Bibliothek aus.

Das Leben in London erwies sich als schrecklich. Es war verschmutzt, überfüllt und krankheitsbelassen. Wie gut, dass einem Vampir Krankheiten nicht zu Leibe rücken konnten. Trotzdem wollte Rowen nicht zu lange verweilen. Doch dieser Vorsatz gelang ihm nur kläglich.

Sie lebten bereits seit fünf Jahren in London. Von seinem Einkommen konnte er sich bald eine Wohnung leisten, die drei Zimmer mit Küche und Bad hatte. In dieser Zeit brachte er Beth lesen, schreiben und auch rechnen bei. Durch ihr Leben bei den Vampiren, hatte sie diese Dinge nie erlernt. Und als sie die Grundkenntnisse beherrschte, bemerkte Rowen, dass sie ähnlich von Büchern begeistert war, wie er. Des Öfteren brachte er Bücher mit, die sie meist vor ihm ausgelesen hatte. Viel hatte sie auch nicht zu tun gehabt. Sie blieb immer im Haus. Es war nicht so, dass Rowen es ihr verbot, doch sie war schwächlich. Er hatte Sorge, dass sie irgendwo in den Straßen zusammenbrach. Deswegen erlaubte er ihr auch, Menschenblut zu sich zu nehmen. Er befürwortete es zwar nicht gerade, aber in ihrem Fall war es notwendig. Doch es waren so wenige Menschen, dass die daraus entstandenen Leichen kaum auffielen. Meist ernährte sie sich wie Rowen von Schweine- und Rinderblut. Es gab einen Schlachter in der Stadt, der das Blut immer in großen Containern im Hinterhof aufbewahrte. Dort schlich Rowen sich nachts immer hin und füllte das Blut in Flaschen ab. So war es nicht auffällig und da das Blut eh weg gegossen wurde, war es auch kein direkter Diebstahl. Rowen und Beth lebten mehr oder minder glücklich. Er hatte einiges an Geld angespart. Bald würde es reichen, um aufs Festland zu fahren um dort die Länder zu erforschen.

Das Verhältnis der beiden war innig. Sie waren schon längst nicht mehr Schüler und Meister gewesen. Es war eher ein Zusammenleben wie Bruder und Schwester. Sie stritten, versöhnten sich und lachten gemeinsam. Rowen hatte viel über die Vampire herausgefunden und hielt seine Ergebnisse in Form von Notizen fest. Beth sortierte diese mit Vorliebe und schrieb sie das ein oder andere Mal nach eigenem Ermessen um.

Doch ihr Glück sollte nicht lange wehren.
 

Eines Nachts, es war eine kalte Novembernacht, stand die Tür zu ihrer Wohnung offen, als er nach Hause kam. Er hatte seinen Dienst in der Bibliothek beendet und hatte sich auf dem Weg nach Hause an den Containern mit dem Blut bedient. Die Flaschen hielt er in einem Stoffbeutel in seiner linken Hand.

Die offene Tür machte ihn misstrauisch. Beth ging nie allein aus dem Haus. Wenn sie das Bedürfnis hatte nach draußen zu gehen, dann nur in Begleitung von Rowen. Selbst wenn sie auf Menschenjagd ging, war er dabei. Vorsichtig drückte er die Tür auf.

„Beth?“, rief er in den dunkeln Flur hinein. Als er keine Antwort bekam, betrat er die Wohnung. „Beth?“, rief er erneut. „Bist du da?“ Vorsichtig durchschritt er den kleinen Flur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Normalerweise saß sie in seinem Lesesessel aus Leder oder auf dem Teppich auf dem Fußboden und las ein Buch. Als er Einsicht in das Wohnzimmer hatte, saß sie auf seinem Lesesessel. Doch nicht wie sonst mit einem Buch in der Hand. Sie war gefesselt und geknebelt.

Vor Schreck ließ Rowen den Beutel mit dem Blut fallen. Die Flaschen zersprangen und das Blut verteilte sich auf dem dunklen Holzfußboden. „BETH!“, schrie Rowen. Er wollte zu ihr um sie zu befreien, doch plötzlich und wie aus dem Nichts tauchten zwei Männer auf und stellten sich vor Beth. Rowen blieb stehen. „Was wollt ihr?“, knurrte er. Das waren keine gewöhnlichen Männer, sondern Vampire. Er spürte den Hauch von Tod an ihnen haften. Und auch wie sie so plötzlich aufgetaucht waren, ließ nur diese Schlussfolgerung zu.

„Rowen, nehme ich an?“, sagte der Vampir zu Beth's Linken mit süffisantem Lächeln. Sein Tonfall war höflich. Die langen brauen Haare hatte er mit einem Band im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Rowen knurrte. Die grünen Augen des fremden Vampirs sahen Rowen eher belustigt, als wirklich verängstigt an. Das Knurren von Rowen wurde noch bedrohlicher. Auch seine Augenfarbe wechselte zu einem matten grün. Das Erkennungszeichen eines Vampirs. Er zog seine Oberlippe zurück und entblößte seine scharfen Zähne. „Das geht dich nichts an! Lass Beth sofort gehen!“, befahl Rowen mit tiefer und gefährlicher Stimme.

Der Mann blickte zu Beth und dann wieder zu Rowen. „Du nennst sie bei ihrer Namensverkürzung? Seit ihr schon so eine tiefe Bindung der Freundschaft eingegangen? Aber wie dem auch sei.“ Er schüttelte den Kopf, sodass sein Pferdeschwanz leicht mitschwang. „Ich kann sie dir nicht überlassen. Sie gehört zu mir und meinem Clan. Und ich als Oberhaupt werde ihren Verrat sühnen.“

Beth riss die Augen auf und wimmerte durch den Knebel. Man sah, dass sie Angst hatte.

„Man hat sie gehen lassen, also hast du kein Recht mehr Beth büßen zu lassen.“

Der Vampir ließ ein kehliges Lachen verlauten. „Ben!““; befahl er leise. Der Vampir, der rechts von Beth stand, trat einen Schritt vor. Er hatte aschgraues Haar und seine Kleidung war im Gegensatz zu seinem Anführer dreckig und zerschlissen. Auch seine Augen leuchteten grün. „Ja, Ian?“

„Ich denke, eine weitere Unterhaltung bedarf es nicht. Beth wird dafür büßen, dass sie mich hintergangen hat.“ Ian blickte hinunter zu Beth, deren Augen immer noch angsterfüllt waren. „Du hast richtig gehört, meine Liebe. Ich habe nicht vergessen, wie du jenes Haus in Horspath in Brand gesteckt hast, in welchem ich zugegen war. Du wolltest mich umbringen. Diese Tat soll nicht ungestraft bleiben. Ephraim hat dich ziehen lassen, wofür er seine Strafe schon erhalten hat.“ Ian grinste, holte aus und gab Beth eine Ohrfeige, die laut in der Dunkelheit hallte.

Das reichte Rowen. Er hatte genug gehört und gesehen. Er ging ein wenig in die Knie und stürzte sich auf Ian. Er hatte zwar wenig Kampferfahrung gehabt, doch er hoffte, dass es reichen würde. Leider erreichte er Ian nicht, da Ben sich ihm in den Weg stellte.
 

Was genau geschehen war, daran konnte Rowen sich nicht mehr erinnern. Es kam ihm wie Stunden vor, in denen er bewegungslos auf dem Boden gelegen hatte. Langsam und unter Schmerzen richtete er sich auf. Er lag in einer großen Lache Blut. Aber es war nicht nur seines, wie er bald feststellte. Ben lag zwei Meter neben ihm. Tot. Auch er lag in einer Blutlache. In der Mitte verbanden sich die roten Flüssigkeiten und beschrieben einen großen runden Fleck. Hatte Rowen ihn getötet? Er wusste es nicht genau, weil seine Erinnerung leicht verschwommen war. Wo war Ian? Er konnte ihn nicht ausmachen. Doch viel wichtiger. Was war mit Beth?

Hastig kam Rowen auf die Beine. Er schwankte, als er sich umsah. Er hatte wohl mehr Blut verloren, als er dachte. Er sah zu seinem Lesesessel. Beth war immer noch an diesem gefesselt. Ihre Arme waren vom Körper getrennt. Der linke lag auf ihrem Schoß und der rechte lag achtlos auf dem Boden. Ihr Brustkorb war offen. Die dort befindlichen Rippen waren teils gebrochen, teils ganz herausgerissen worden. Ihr Darm verteilte sich über ihren Beinen und auch auf dem Boden. Ihr Herz fehlte, doch es war nirgends zu erblicken. Vermutlich hatte Ian es als eine Art Trophäe mit sich genommen. Ihr Kopf saß auch nicht mehr auf ihren Schultern, sondern lag auf ihrem linken Arm auf ihrem Schoß.

Rowen schrie ihren Namen, als der das Ausmaß dieser Schandtat begriffen hatte. Doch Beth gab keine Antwort und würde es auch nie wieder tun. Als Vampir war es ihm versagt Tränen zu vergießen. Doch er hätte gerne geweint.

Zitternd kniete er sich vor Beth und nahm vorsichtig ihren Kopf in seine Hände. Behutsam schob er das blutverschmierte Haar aus ihrem Gesicht und blickte in ihre toten Augen. Sie waren trotz des milchigen Films, angsterfüllt und schmerzverzehrt. Achtsam umschlossen seine Arme ihren Kopf und er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. „Oh Beth!“, jaulte er.
 

Es verging Zeit. Eine Woche verstrich, in der Rowen die Wohnung nicht verließ. Er ging weder zur Arbeit, noch besorgte er sich Blut. Wenn man es genau nahm, hatte er sich seit dem Tod von Beth nicht mehr von der Stelle bewegt. Noch nicht mal geschlafen hatte er. Er stank, seine Haut war noch blasser als sonst und sah ungesund aus. Dunkle Ringe unter seinen Augen hatten sich tief in die Haut gebrannt. Die ganze Zeit hatte er den Kopf von Beth an seine Brust gedrückt und beteuerte, dass alles in Ordnung war. Das ein oder andere Mal schrie er vor Verzweiflung auf, dann wimmerte und jaulte er.

Die Leichen stanken bereits bestialisch und Maden und Fliegen hatten sich in dem verwesenden Fleisch eingenistet. Auch Ratten waren nicht fern geblieben und labten sich an dem Angebot toten Fleisches. Während dieser Zeit nutzte Rowen die wenigen klaren Momente zum nachdenken. Oft genug musste er dem Drang widerstehen Ian aufzusuchen um Vergeltung zu üben. Doch ihm war klar, dass er es niemals mit ihm aufnehmen konnte. Doch so wie es jetzt war, konnte es nicht weitergehen. Auch Beth hätte das sicher nicht gewollt. So begab es sich, dass er eines Nachts ihre Leiche begrub und mit dem wenigen Hab und Gut das er hatte, verschwand. Er beschloss, endlich seine Reise anzutreten. Er wollte nicht mehr in England verweilen. Keine Kraft der Welt konnte ihn mehr halten. Zu viele schmerzliche Erinnerungen waren an dieses düstere und neblige Land geknüpft. Er wollte seinen Traum verwirklichen. Nicht nur für sich, sondern auch für Beth. Das war er ihr schuldig gewesen. Er konnte sie nicht beschützen, deswegen musste er für sie leben und weitermachen.
 

Rowen machte sich auf den Weg nach Brighton. Von dort aus wollte er mit einem Schiff auf das Festland übersetzten. Über die Reise dorthin gab es nur wenig zu berichten. Er versuchte mit seinen Schuldgefühlen und mit seiner Trauer fertig zu werden. Und als er am Hafen von Brighton ankam, schien das Glück wieder auf seiner Seite. Ein Schiff stand bereits bereit. Er kaufte sich ein Ticket und suchte sich eine Koje in der Holzklasse. Im Morgengrauen legte das Schiff ab und Rowen verschlief den Tag.

Bald ging die Sonne unter und Rowen sah sich ein wenig auf dem Schiff um. Es gab die Holz-, Mittel- und Oberklasse. Die Klassen verteilten sich über drei Decks. Das vierte Deck war ausschließlich dem Kapitän vorbehalten. Hier und da wurde ausgelassen gefeiert, doch Rowen war nicht in Stimmung gewesen.

Er ging nach oben an Deck und trat in die kalte Dezemberluft. Da es ziemlich kalt war, befanden sich auch keine Passagiere dort. Es zog alle ins warme Schiffsinnere. Die Nacht war sternenklar und der Mond beschrieb eine schlanke Sichel. Doch als er zur Rehling ging, war dort noch eine weitere Person. Rowen trat mit ein wenig Abstand neben diese.

Es war ein junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren. Sein schwarzes kurzes Haar lag wild auf seinem Kopf. Trotz der Kälte trug er einfache Hosen und einen schwarzen Pullover. Er zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch in einer hellen Wolke aus seinem Mund. Rowen brauchte nicht lange um zu erkennen, dass dieser Junge kein gewöhnlicher Mann war. Diese blasse Gestalt war von gleicher Natur wie er selbst gewesen.

Als Rowen seine Arme auf die Rehling legte, nickte der Junge einmal in seine Richtung und starrte dann wieder gedankenverloren auf die dunkle See. Eine Weile schwiegen sie, bis Rowen die Stille brach. „Sie sind auch nicht gewöhnlicher Natur.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der junge Mann nickte.

„Eine schöne Nacht, nicht wahr?“

„Das Einzige, was unsereins noch geblieben ist.“ Seine Stimme war ein wenig rau, was vielleicht von der Meeresluft kam, aber ansonsten war auch sie glockenhell und wunderschön.

„Gewiss. Doch was für eine Bedeutung hat die Sonne für uns, wenn sie uns nicht mehr berührt, wie zu Lebzeiten?“

„Sie hatte etwas Tröstliches.“

„Das hatte sie. Doch wozu braucht man Trost, wenn einem Leid, Trauer und Verlust vorherbestimmt sind?“

Der junge Mann lächelte verbittert. „Mir scheint, wir sind uns ähnlicher, als wir wahrhaben wollen.“

Rowen lächelte ähnlich. „Da könntet ihr Recht haben.“

„Was ist es bei euch?“

„Der Verlust einer guten Freundin.“

„Bei mir ist es der Verlust einer Geliebten.“

„Es ist grotesk. Ich meine, dass unsere erkalteten Herzen solch warme Empfindungen verspüren können.“

„Ein Zeichen dafür, dass wir auf eine gewisse Art doch leben.“

„Leben…“, wiederholte Rowen nachdenklich.

„Ein recht erbärmliches Leben.“, fügte der junge Mann hinzu.

„Wohl wahr. Aber ich vergaß glaube ich, mich vorzustellen. Mein Name lautet Rowen Hayford.“ Nachdem der Junge nichts sagte, setzte Rowen erneut an. „Und wie lautet der eure?“

Der dunkelhaarige Junge nahm den letzten Zug seiner Zigarette und ließ den Stummel ins Wasser fallen. Er drehte sich zu Rowen und seine braunen Augen fixierten ihn kurz. „Man nennt mich Ethan. Gehabt euch wohl, Rowen.“ Damit drehte er sich um und ging wieder ins Innere des Schiffes. Rowen sah ihm lange nach.

Sie trafen sich fast jede Nacht während der ganzen Überfahrt wieder. Doch Ethan sprach kein einziges Wort mehr mit Rowen. Und irgendwann gab Rowen es auf, Konversation zu betreiben. Sie standen nur still da und schauten aufs Meer.

Als sie einige Tage später am Festland anlegten, gingen die Vampire auseinander ohne sich in irgendeiner Form von einander zu verabschieden.
 

Rowen kam viel herum während seiner Reisen. Er erlebte Frieden, Kriege, schlechte Zeiten und gute Zeiten. Doch egal wie sehr er auch mit seinen Studien beschäftigt war - Beth vergaß er nie.

Er vergingen knapp 90 Jahre, in denen Rowen die Länder bereiste, bis er im Jahre 1950 Ethan wieder traf. Und durch ein Angebot, welches Ethan nicht ablehnen konnte, waren sie von da an miteinander verbunden. Rowen hatte, seit er ein Vampir war, viel erlebt, was ihn geprägt hatte. Beth hatte immer bekundet, wie leid es ihr tat, dass sie ihn zu einem Vampir gemacht hatte, doch Rowen bereute es nicht einen einzigen Tag. Niemals würde er das, was sie getan hatte, vergessen und ihr bis zu seinem endgültigen Ende dankbar dafür sein.
 

And that’s all?
 

Also… wundert euch nicht über das Kapitel, es wird alles in Kapitel 7 erklärt. Das nächste Update ist dann erst an Weihnachten, wenn ich es bis dahin auf die Reihe krieg *smile* Vielen Dank wie immer an Eve-chan und an alle Leser, die diese Geschichte gerne verfolgen.

Bis denn dann
 

BabyG

Jäger und Gejagte

Menschen leben, Menschen sterben. Das Ende ist unvermeidlich. Irgendwann stirbt jeder einmal. Entweder aufgrund eines natürlichen Todes, durch Krankheit, durch einen Unfall oder in schlimmen Fällen durch einen Mord. Manchmal ist der Tod gewollt, manchmal passiert er ganz plötzlich und unerwartet. Doch es gibt auch Menschen, die ihren Tod selbst verschulden. Es gibt Menschen, die keinen Sinn mehr darin sehen, zu leben.

Shana sollte schneller mit dem Tod konfrontiert werden, als ihr lieb war. Doch es war ihr bislang nicht wirklich bewusst, dass sie eine Gruppe von Untoten ihr eigen nennen sollten. Und genau diese Art von Wesen ernährte sich von Blut.
 

Shana fühlte, wie ihr Kopf zu bersten drohte. Doch warum wunderte sie das? Was hatte sie denn erwartet?

Als sie sich aufrichtete, weil ein starker Hustenanfall sie plagte, fühlte sie sich in ihrer Vermutung doch nur bestätigt. Sie hatte sich erkältet. Und wessen Schuld war das? Natürlich die von Ethan. Von wem auch sonst? Warum musste er sie auch bei diesen abartigen Außentemperaturen spazieren tragen? Seit sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte, ging alles schief. Aber auch wirklich alles. Warum eigentlich ausgerechnet sie? Womit hatte sie dieses Schicksal verdient? War sie so böse gewesen? Okay… ganz der Unschuldsengel war sie nun auch nicht gewesen, aber Ethan als Strafe fand sie etwas übertrieben. Sie wollte doch nur normal sein. War das denn zuviel verlangt gewesen?

Vorsichtig schwang sie ihre Füße aus dem Bett und setzte sie auf den Boden. Als sie sich hinstellte, schwankte sie und musste sich festhalten, damit sie nicht umkippte. Ihr Kopf glühte, doch der Rest ihres Körpers fror erbärmlich. Vorsichtig und einen Schritt nach dem anderen nehmend bewegte sie sich ins Bad. Der Blick in den Spiegel ließ sie zurückschrecken. Ihr Gesicht war gerötet und die Augen waren blutunterlaufen. Als sie ihre Zunge raus streckte, war diese belegt. Sie sah furchtbar aus. Nicht, dass sie sonst gut aussah, aber dieses Spiegelbild war grässlich. Wie in einer Horror-Freak-Show. Trotzdem wusch sie sich das Gesicht und zog sich ihre Schuluniform an. Natürlich fühlte sie sich nicht wirklich in der Lage zur Schule zu gehen, aber das sollte sie mal ihrer Mutter erklären. Sie würde Shana nie zu Hause lassen. Egal wie krank sie war. Es könnte ja dem Ruf der Familie Minabe schaden. Bei dem Gedanken rollte sie nur genervt mit den Augen. Wenigstens das konnte sie ohne das ihr schwindlig wurde. Sie fühlte sich sogar so schlecht, dass sie noch nicht mal Hunger verspürte. Und das sollte bei Shana schon was heißen.

Schnell verabschiedete sie sich und wandelte zur Bahn. Es war kein richtiger Gang den sie an den Tag legte, da sie sich nicht in der Lage fühlte normal zu gehen. Es machte ihr richtig Mühe, da sich ihr Kopf anfühlte, als ob er gleich platzen würde. Außerdem wurde ihr zunehmend schwindliger. Doch Shana riss sich zusammen. Zumindest so gut sie es eben konnte. Sie war nicht schwach. Außerdem wollte sie Ethan noch für das bestrafen, was er ihr angetan hatte. Für sie war er schuld an dieser ganzen Misere und sonst niemand. Das würde sie ihm noch heimzahlen.

Als Shana in der Schule ankam, keuchte sie wie ein Kettenraucher und schwankte bei jedem Schritt. Sie war froh, als sie sich endlich auf ihren Platz setzten konnte. Für sie war es geradezu grotesk sich darüber zu freuen, dass sie in der Schule war. Doch heute war ihr alles egal. Doch kaum dass sie saß, kam auch schon Mika und redete in üblicher Manier mit Shana. Doch leider ertrug sie Mika heute nicht. Jedes Wort bohrte sich wie ein Messerstich in ihren Schädel.

„Mika!“, flüsterte sie. Zu mehr fühlte sie sich nicht in der Lage. Mika schaute Shana an. Verwundert, dass Shana überhaupt etwas zu ihr sagte. „Ja?“

„Bitte… sei still. Ich ertrage das heute nicht.“

Mika bekam große Augen. Shana war des Öfteren unfreundlich zu ihr gewesen und normal sah sie auch darüber hinweg, doch wie Shana es heute sagte, behagte ihr nicht. Außerdem hatte sie gebeten, den Mund zu halten. Mit solch einer Höflichkeit hielt sie sich normalerweise gar nicht auf. Sie betrachtete ihre beste Freundin nun genauer und endlich fiel ihr ihr Zustand auf. „Himmel Shana. Was ist mit dir los?“

„Krank.“

„Was machst du dann noch hier? Du solltest das Bett hüten.“

Shana zog eine Grimasse. „Ja klar. Meine Mutter lässt mich auch.“

Da verstand Mika. Sie sah ihre beste Freundin mit mitleidigen Augen an. Shana bereute es sofort, etwas gesagt zu haben. Warum konnte sie nicht wie üblich das Gerede von Mika ignorieren und warten, bis der Unterricht begann?

„Sie mich nicht so mitleidig an“

„Aber Shana…“, begann Mika, wurde jedoch unterbrochen, weil der Lehrer die Klasse betrat. Mika setzte sich auf ihren Platz und der Unterricht begann. Doch Shana konnte sich gar nicht konzentrieren. Nicht mit einem Betonkopf und verstopften Ohren. Außerdem übertönte sie den Lehrer mit ihrem Husten ständig. Einige waren erbost über diese Störung, doch Shana ignorierte das.

Anscheinend hatte Mika Shana die ganze Zeit beobachtet, denn mit einem Mal sprang sie auf, als Shana gefährlich am schwanken war.

„Herr Yamato!“, schrie sie schon fast. Alle Blickte richteten sich auf Mika.

„Ja bitte, Kusuragi- san?“

„Shana geht es nicht gut. Ich bringe sie am besten zur Krankenstation.“

Shana spürte die Augen ihrer Klassenkameraden auf sich und wäre am liebsten im Boden versunken. Herr Yamato besah sich Shana kurz und nickte Mika dann zu. Widerstrebend ließ Shana sich aus der Klasse und ins Krankenzimmer führen. Wie gerne hätte sie Mika für diese tat die schlimmsten Beschimpfungen an den Kopf geworfen, aber sie musste sich auf das Laufen konzentrieren. An das Folgende konnte Shana sich nur noch vage erinnern. Mika sprach kurz mit der Krankenschwester und dann lag Shana auch schon im Krankenbett. Die Krankenschwester machte ein paar Untersuchungen und dann später die Schulärztin, aber das bekam Shana schon gar nicht mehr mit. Sie merkte nur, wie es ihr langsam besser ging.
 

Shana erwachte, als die Schulglocke erklang. Die große Wanduhr, auf die sie einen direkten Blick hatte, als sie die Augen aufschlug, verkündete ihr, dass Schulschluss war. Sie musste nach Hause. Doch als sie sich aus dem Bett erheben wollte, wurde sie jäh von einer Hand auf ihrer Schulter daran gehindert. Verwirrt blickte sie in das Gesicht von Mika.

„Mika? Was machst du noch hier?“ Ihre Stimme war rau und ihr Hals kratzte, sodass sie husten musste.

„Alles okay. Du kommst mit zu mir.“

„Was?“ Shana verstand nicht ganz.

„Denkst du wirklich, ich lasse dich in dieses Höllenhaus zurück, wenn du krank bist?“

„Mika, nicht!“ Shana wollte schreien, konnte aber nur flüstern. Diese blöde Erkältung. „Mutter wird ausflippen. Ich muss nach Hause.“

„Nein!“

Und da hatte sie auch schon ihr Handy gezückt. Sie drückte nur eine Taste und führte das Telefon an ihr Ohr. Nach kurzem Warten, fing sie an zu sprechen. „Guten Abend, Minabe- sama… mir geht es gut. Danke der Nachfrage… Ich rufe an, weil ich ihnen mitteilen möchte, das Shana eine Weile bei mir zu Hause wohnen wird.“

Shana hätte ihr am liebsten das Handy aus der Hand gerissen oder Mika erwürgt. Ihr war beides recht. Hauptsache sie hörte auf mit ihrer Mutter zu reden. Doch Mika wahrte genug Abstand, sodass Shana sie nicht erreichen konnte. Dieses Biest!

„Nun ja. Shana ist krank und ich würde sie gerne pflegen…. Aber es macht mir doch keine Umstände. Ich habe bereits mit meinen Eltern gesprochen und sie würden nichts lieber tun, als Shana zu umsorgen… Sie sind also einverstanden? Wunderbar! Ich komme dann gleich noch vorbei und hole ein paar Sachen von Shana. Bis gleich.“ Sie legte auf und grinste Shana ins Gesicht. „Alles geregelt.“

„Ich hasse dich!“

„Ich liebe dich auch.“ Mika strahlte und Shana bekam zunehmend schlechtere Laune. Und um dem Ganzen noch die Krönung aufzusetzen, trug der Chauffeur von Mika Shana auch noch zur Limousine. Als ob Shana nicht schwer wie ein Tonne wäre. Sie wehrte sich nach Leibeskräften dagegen, doch da diese praktisch nicht vorhanden waren, verlor sie den Kampf natürlich. Es war ihr peinlich und sie überlegte auf der Fahrt zu sich nach Hause, wie sie sich an Mika rächen konnte und sich bei Yoshi-san, dem Chauffeur, entschuldigen konnte. Erstmal ignorierte sie Mika, die wie immer fröhlich vor sich hin redete. Und so was nannte sich beste Freundin. Doch dann schlief sie über die ganze Grübelei ein.
 

Shana wurde von dem Geruch von Reissuppe geweckt. Es war warm um sie herum und es fühlte sich an, als ob sie auf Wolken liegen würde. Vorsichtig öffnete sie die Augen und blickte auf einen vergoldeten Baldachin. Sie ließ den Blick vorsichtig schweifen. Rechts von ihr war eine große Fensterfront mit Balkon. Vor ihr war eine Sitzecke, bestehend aus beigen Möbeln und eine Unterhaltungsanlage. Links war eine große Flügeltür und noch eine etwas kleinere. Sie wusste wo sie war. Im Gästezimmer der Kusuragis. Als sie sich aufrichtete, bewegte sich etwas zu ihrer Linken im Bett. Sie blickte auf den schlafenden Körper von Mika. Natürlich. Das Bett war so riesig, dass locker drei Leute hier Platz fanden. Und bei der großen Decke und den vielen Kissen ging Mika schon leicht unter. Sie sah süß aus, wie sie da so eingerollt lag und schlief. Das war Gelegenheit genug für Shana, um sich zumindest ein wenig zu rächen. Sie rüttelte an ihr, bis Mika ihre brauen Augen aufschlug und gähnte.

„Wie geht es dir?“

„Besser.“ Und es stimmte. Der Schwindel war kaum noch zu spüren und sie hörte besser. Trotzdem war ihr noch warm und ihr Hals kratzte.

„Unser Hausarzt war da und hat dir eine Spritze gegeben. Er sagte, du hast dir eine Grippe eingefangen.“

„Grippe also.“

„Ja. Iss etwas, damit du wieder zu Kräften kommst.“

Mika krabbelte aus dem Bett und reichte ihr die Reissuppe. Erst wollte Shana nicht, doch dann knurrte ihr Magen und sie merkte, wie hungrig sie war. Ein gutes Zeichen. Zwischen zwei Bissen fragte sie: „Hat meine Mutter etwas zu dir gesagt?“

Mikas Augen verengten sich merklich. „Meinst du ob sie sich nach deinem Zustand erkundigt hat oder ob sie versucht hat sich bei mir einzuschleimen?“ Shana wollte etwas sagen, aber Mika sprach bereits weiter. „Sie wollte wissen, wie es mir und meinen Eltern geht. Fragte nach den Geschäften und allem, hat aber nicht ein Wort wegen dir verloren. Ich kann einfach nicht fassen, wie egal du dieser Frau bist.“

Shana zuckte nur mit den Schultern. Was hätte sie auch dazu sagen sollen? Sie wusste, was ihre Mutter für sie empfand, also überraschte es sie auch nicht.

Als sie zu Ende gegessen hatte, kamen auch die Eltern von Mika und umsorgten sie, als ob Shana ihr Kind wäre. Es war herrlich.

Es wurde später und Mika schickte alle heraus, damit Shana schlafen konnte, wofür sie dankbar war. Die Familie war zwar lieb und sehr nett, aber eben auch sehr anstrengend. Außerdem war sie so viel Liebe einfach nicht gewohnt.

Doch lange konnte sie auch nicht schlafen, denn ein penetrantes Klopfen riss sie aus dem Land der Träume. Shana brauchte einen Moment um sich zu orientieren zu können. Dann registrierte sie, dass das Klopfen von der Balkontür kam. Das war doch jetzt ein Witz oder? Sie knipste die Nachttischlampe an und erkannte die Silhouette eines Menschen auf dem Balkon. Shana wusste wer das war und sah rot. Sie sprang etwas zu übermütig aus dem Bett, sodass sie wieder zurück sank. Ihr war immer noch etwas schwindlig. Sie zog sich langsam einen Bademantel, der auf einem Stuhl neben dem Bett stand, an. Als sie zur Balkontür ging, fragte sie sich, was er sich überhaupt erdreistete, hier aufzutauchen. Außerdem fragte sie sich, wie er es immer wieder schaffte, sie zu finden. Hatte er ihr eine Wanze verpasst, von der sie nichts wusste oder wie machte er das? Mit vor Zorn sprühenden Augen öffnete sie die Tür.

„Wurde auch Zeit.“, grollte Ethan und trat ein.

„Was willst du hier?“

„Na was wohl? Dich abholen. Oder denkst du, ich verbringe freiwillig Zeit mit dir?“

„Ich komme nicht mit!“

„Das hast du sicher nicht zu entscheiden.“

„Es ist mir egal was du sagst. Ich bin krank und werde meine Gesundheit wegen dir sicher nicht gefährden.“

„Du bist so erbärmlich.“

„Und du bist pervers und blöd. Also hau ab und lass mich in Ruhe!“

„Das werde ich nicht.“, zischte er. Anscheinend hatte sie ihn verärgert, doch das war ihr egal. Außerdem tat sie seit dem Tag, an dem sie sich kennen gelernt hatten, nichts anderes. Sie wollte wieder ins Bett. „Verschwinde!“

„Nein!“

„Verdammt, Ethan! Du bist schuld, dass ich krank bin. Ich hasse dich und will mit dir und den Vampiren nichts zu tun haben. Das alles ist absurd. Warum kapiert ihr das nicht? Ich bin keine Wächterin. Wie oft muss ich das noch sagen? Und jetzt raus hier. Scher dich gefälligst zum Teufel!“ Sie drehte sich um und ging auf das Bett zu. Sie hatte wirklich genug. Doch sie kam nicht weit, denn sie spürte eine kalte Hand auf ihrer Schulter und wurde herum gerissen. Die tiefe goldene Farbe von seinen Augen schimmerte im Schein der Nachttischlampe wirklich bedrohlich. Er versuchte sie mit seinen Blicken zur erdolchen.

„Hör gut zu, denn ich sage es nur ein einziges Mal. Du bist die Wächterin. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, es ist Tatsache. Mir passt es nicht, dass ausgerechnet du es bist, denn ich hasse Wächterinnen. Und wenn sie auch noch so vorlaute und blöde Kühe sind wie du, ist das noch schlimmer. Folglich hasse ich dich also. Mir ist es vollkommen egal ob du es glaubst oder nicht. Find dich damit ab, so wie alle anderen auch!“

Shana schluckte. Seine Stimme troff vor Hass und Abscheu. Er hasste sie wirklich. Ethan ließ ihr keine Zeit der Erwiderung, denn plötzlich schulterte er sie und sprang in die kühle Nacht.

Von der Grippe ermattet hatte sie noch nicht einmal mehr Kraft zum Schreien. Sie schloss einfach die Augen und brodelte innerlich vor sich hin. Das würde sie Ethan heimzahlen, wenn sie wieder ganz gesund war. Nicht nur er hasste sie, sondern es beruhte auch auf Gegenseitigkeit. Und wie sie ihn hasste.
 

In der Gruft angekommen, brachte er sie in das Arbeitszimmer von Rowen und war von da an nicht mehr gesehen. Rowen legte gerade eins seiner vielen Bücher ins Regal zurück, als Shana sein Arbeitszimmer betrat. Er drehte sich zu ihr um und lächelte. Da Ethan weg war, richtete sie ihren Zorn auf Rowen. Das war natürlich nicht fair, aber ihr war kalt und sie wollte ins Bett. Außerdem war sie stinksauer.

„Warum bin ich schon wieder hier, Rowen-san?“, donnerte sie los. „Ich will nicht, dass Ethan mich ständig hierher schleppt. Verflucht, ich bin eigentlich krank und sollte im Bett liegen und mich erholen. Stattdessen bin ich schon wieder hier!“ Ihr Wutanfall wurde von starkem Husten unterbrochen, sodass Rowen Gelegenheit zum Sprechen fand. „Ich verstehe nicht ganz, was dein Gemüt so erhitzt hat. Erkläre es mir doch bitte in einfachen Worten Shana-cha… -kun.“ Er lächelte sanft und in ihr keimten Schuldgefühle auf. Shana biss sich kurz auf die Unterlippe und begann dann zu erklären.

„Das tut mir leid.“, verkündete Rowen nach Beendigung ihrer Geschichte. „Hätte ich das geahnt, hätte ich Ethan nicht zu dir geschickt.“

„Dann kann ich ja wieder gehen.“ Auch wenn Rowen nichts für ihren Zorn konnte, schlechte Laune hatte sie trotzdem noch. Und die ließ sie normalerweise an jedem aus. Das war zwar keine angenehme Charaktereigenschaft, aber so viele Leute scharrte sie nun auch nicht um sich, die ihr das übel nehmen konnten.

„Aber natürlich kannst du gehen. Obwohl es schade ist, weil ich da weitermachen wollte, wo wir gestern gestört worden sind.“

Shana überlegte einen Moment, bis ihr einfiel, was er meinte. „Deine Geschichte?“

„Genau.“

Sie seufzte. „Also gut. Da ich schon mal hier bin und deine Geschichte wirklich gerne hören möchte, bleibe ich. Aber ich bin trotzdem noch sauer. Nur damit du es weißt. Ihr könnt mit mir nicht machen was ihr wollt. Ich bin nicht euer Spielzeug.“

„Aber gewiss.“ Wieder lächelte er sanft und ihre Wut verpuffte. Sie mochte Rowen wirklich. Seine Art machte sie sogar ein wenig befangen, was aber nicht direkt Verliebtheit war, sondern eher Freundschaft.

Rowen bat sie auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch platz zu nehmen und reichte ihr dann eine Wolldecke, in die sich Shana nur zu gerne kuschelte. Dann entschuldigte er sich kurz und hatte dann zwei dampfende Tassen in der Hand, als er wieder zurückkehrte. Er reichte Shana die eine und setzte sich mit der anderen auf seinen Platz hinter den Schreibtisch. Nachdem sie beide etwas getrunken hatten, begann Rowen, seine Geschichte zu erzählen.

Shana war fasziniert. Als er von seinen Eltern sprach, war seine Stimme recht normal und fast ohne jede Gefühlsregung. Doch als er von Eric anfing, wurde seine Stimme ein wenig sanfter. Und während er von Beth berichtete, schwoll Shana regelrecht das Herz. In seiner Erzählung lag soviel Liebe und Wärme für das kleine Vampirmädchen, dass sie Rowen gleich noch viel mehr mochte. Der Tod von Beth nahm sie so sehr mit, dass Shana fast weinen musste. Doch die Begegnung mit Ethan ließ Zorn in ihr aufwallen, weil sie immer noch sauer auf diesen perversen und blöden Vampir war. Außerdem war er nicht gerade nett zu Rowen gewesen.
 

Shana wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch als Rowen mit seiner Geschichte geendet hatte, fühlte sie sich müde und doch gleichzeitig so glücklich, weil er ihr diesen Schatz anvertraut hatte.

Rowen räusperte sich. „Ich hoffe, ich habe dich nicht zu sehr gelangweilt.“

„Nein. Natürlich nicht. Wie kommst du darauf? Deine Geschichte war wundervoll. Es ist nur schwer zu glauben, dass du schon 128 Jahre alt bist und dabei noch so jung aussiehst. Das kommt mir so unreal vor.“

„Ja. Es ist eine lange Zeit gewesen. Ethan ist noch älter als ich.“

„Wie alt?“

„Ich glaube so um die 180 Jahre.“

„So alt?“

„Ich denke. Wenn man so altert wie wir, ist einem das Alter nicht mehr so wichtig.“

„Du vermisst Beth, habe ich Recht?“ Sie wollte das Thema vom Alter ablenken, aber vor allem wollte sie nicht über Ethan reden.

Einen Moment trat Stille ein, doch dann sprach Rowen mit einer Mischung aus Liebe und Trauer in seiner Stimme. „Ja. Sie weilt zwar schon lange nicht mehr bei mir, aber ich habe sie wie eine Schwester geliebt. Und da sie niemanden mehr hat, werde ich täglich an sie denken, damit sie nicht in Vergessenheit gerät.“

Shana nickte.

„Aber genug davon. Ich hoffe, du konntest dir ein vages Bild über mich und die Vampire machen. Du solltest jetzt gehen. Bald wirst du zur vollwertigen Wächterin und deswegen musst du dich schonen. In drei Tagen kommst du wieder her. Du hast noch etwas Nachholbedarf, was die Rasse der Vampire anbelangt.“

Shana wollte noch etwas sagen, wurde aber von einem unerträglichen Hustenreiz geplagt. Als sie endlich wieder Luft bekam, stand Ethan vor ihr. Ihre persönliche Hölle mit goldenen Augen.

„Gehab dich wohl, Shana-cha… -kun.“ In diesem Leben würde er es wohl nicht mehr lernen. Und da Ethan keine Geduld hatte, zog er sie einfach hoch und von Rowen weg, sodass sie sich nicht verabschieden konnte. Bestimmend schleifte er sie aus der Gruft. Draußen angekommen schlang Shana ihre Arme um ihren Körper. Es wurde von Tag zu Tag immer kälter. Bald wäre schon November. Sie hasste die kalte Jahreszeit wirklich. Kommentarlos schulterte Ethan sie und machte sich auf den Weg.

Bis sie wieder auf dem Balkon waren, wechselten sie nicht eine Silbe miteinander. Aber wen wunderte das auch? Ethan war noch nie ein Mann großer Worte gewesen und Shana war zu schwach und zu wütend. Außerdem hatten sie sich gegenseitig ihren Hass bekundet. Musste man da mehr sagen?

Er setzte sie ab und wollte sich wieder auf den Weg machen, doch sie hielt ihn an seiner Schulter fest und drehte ihn zu sich herum.

„Was?“, blaffte er ziemlich genervt.

Da holte Shana auch schon aus und gab ihm mit all ihrer momentanen Kraft eine Ohrfeige. „Arschloch!“, zischte sie, ging hinein und schloss die Balkontür. Sie wartete einen Moment und drehte sich dann um. Ethan war verschwunden.

Ihr Herz hämmerte wie wild und ihre rechte Hand pochte unangenehm. Sie konnte Ethan einfach nur hassen. Er behandelte sie schlecht und ließ kein gutes Haar an ihr. Er war abweisend und kühl gewesen. Warum konnte er nicht so sein wie Rowen? Er war gutherzig, freundlich und liebenswert. Was Ethan war, darüber wollte Shana noch nicht mal mehr nachdenken. Vielleicht war ihr Gefühlsausbruch nicht das Wahre gewesen, aber ihrer Ansicht nach hatte er es verdient.

Vorsichtig schlich sie ins Bett und schlief auch fast augenblicklich ein.
 

Drei Tage vergingen rasch. Da die Kusuragis Shana verboten zur Schule zu gehen, konnte sie sich erholen und war schon fast wieder gesund. Natürlich trugen gutes Essen, viel Schlaf und Medikamente dazu bei, dass sie nur noch leichten Husten und ein bisschen Schnupfen hatte. Der Arzt nannte es eine Drei-Tage-Grippe. Sollte ihr auch recht sein. Shana wollte eigentlich wieder nach Hause, aber da Wochenende war, ließ sie sich dazu breitschlagen, noch zu bleiben. Außerdem konnte sie so dem Ärger mit ihrer Mutter noch etwas entkommen. Da Shana wusste, dass sie in dieser Nacht wieder in die Gruft sollte, schlief sie am Nachmittag, damit sie fit für die Nacht war.

Als es dann soweit war, saß sie auf der Couch und sah fern. Es klopfte an der Balkontür und Shana fuhr hoch. Die Ohrfeige hatte sie nicht bereut und würde es wieder tun. Der Zorn auf Ethan war noch nicht verraucht, beziehungsweise flammte er wieder auf. Sie würde ihm schon deutlich zeigen, was sie von ihm hielt. Doch als sie die Balkontür öffnete, stand nicht wie erwartet Ethan vor ihr.

„Hallo, Shana-san. Wie geht es dir? Wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen. Warum bist du nicht zu mir gekommen, als du bei uns warst? Ich habe dich so vermisst. Oh… ich freue mich ja so.“ Da hatte Chris sie auch schon umarmt und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Shana war völlig überrumpelt. „Hallo, Chris-chan. Ähm… was machst du hier?“

Chris hielt sie auf Abstand. „Freust du dich etwa nicht mich zu sehen?“ Sie zog eine Schnute. Dieser wunderschöne Vampir zog tatsächlich eine Schnute wegen ihr. „Natürlich freue ich mich.“, sagte Shana hastig. „Es wundert mich nur. Normalerweise holt Ethan mich doch ab.“

Die Gesichtszüge von Chris wurden zuerst ernst, doch dann lächelte sie wieder ihr Sonnenscheinlächeln. „Du kennst doch Ethan.“, sagte sie schlicht. Shana schaltete schnell. „Er ist sauer auf mich.“

„Wann ist er denn mal nicht sauer?“

„Ich glaube das einfach nicht. Er ist derjenige, der mich ständig beleidigt, mich entführt und mich am liebsten umbringen würde, wenn er könnte.“

„Ich weiß auch nicht was er hat.“

Irgendwas an dieser Aussage machte Shana stutzig, sagte jedoch nichts. Stattdessen sagte sie: „Also wollen wir dann in die Gruft?“

„Heute nicht. Rowen bat mich, dir heute eine Lernstunde zu geben.“

„Eine was?“

„Lernstunde.“

„Könntest du bitte etwas deutlicher werden?“

„Später.“ Chris grinste und hob Shana auf ihre Arme.

Es war merkwürdig mit Chris über die Dächer zu springen. Ihr Körper war schmaler, geradezu zierlich. Doch sie hatte nichts an Kraft eingebüßt. Ethan bewegte sich zwar elegant, aber trotzdem ein wenig aggressiv. Chris dagegen bewegte sich so sanft, dass Shana das Aufsetzten das wieder hoch springen kaum bemerkte. Auch ihr Körper fühlte sich anders an. Okay, er war auch eiskalt, aber irgendwie fühlte sie sich nicht wie Stein an. Ihr Körper war ein wenig weicher und der Stoff ihres schwarzen Satinkleides war angenehmer, als der Ledermantel von Ethan. Chris war Ethan eindeutig vorzuziehen. Hätte sie nicht die ganze Zeit über die Vorteile von Chris und die Nachteile von Ethan nachgedacht, wäre ihr vielleicht aufgefallen, wie konzentriert die junge Vampirdame war. Naja… aber auch nur vielleicht.

Die Fortbewegung mit Chris hätte nach Shanas Meinung ewig so weitergehen können, doch irgendwann blieb Chris auf dem Boden und setzte Shana ab. Shana sah sich um. Ein leichter Wind kam auf und ließ nicht nur die Blätter der Bäume erzittern, die hier und da standen, sondern auch sie selbst. Ein Weg umsäumte die weiten Rasenflächen, auf dem die Bäume standen. Das war der Stadtpark gewesen. Nicht weit von ihnen entfernt war ein Spielplatz mit Sandkiste, Schaukel und Rutsche.

Shana machte den Mund auf um etwas zu sagen, aber Chris war bereits losgegangen. Sie musste rennen, um sie einzuholen.

„Chris? Was wollen wir hier?“

„Lernstunde.“

„Was bedeutet das?“

„Nun ja. Du hast doch bestimmt Nachforschungen über uns angestellt oder?“

„Ja.“

„Und Rowen denkt, dass die Informationen aus deinen Büchern nicht ganz der Wahrheit entsprechen.“

Shana überlegte einen Moment, bis der Groschen fiel. „Ethan hat Rowen-san gesagt, was ich über Vampire herausgefunden habe.“

„So sieht es aus.“

Shana platze fast vor Zorn. „So ein Idiot! Das geht ihn doch nichts an.“

„Er hat deine Notizen gelesen und Rowen davon erzählt. Sonst nichts.“

„Das war privat!“ Ihre Stimme wurde ein wenig höher, wie immer, wenn sie sich aufregte.

„Beruhige dich bitte. Jedenfalls bat Rowen mich, dir einige Verhaltensweisen von Vampiren zu zeigen. Dies ist die erste Lernstunde in dieser Nacht.“

„Und was willst du mir beibringen, beziehungsweise zeigen?“

„Ich zeige dir, wie ein Vampir jagt und trinkt.“

Shana blieb ruckartig stehen. Chris drehte sich zu ihr um und sah, wie jegliche Farbe aus dem Gesicht der angehenden Wächterin gewichen war. „Was hast du Shana-san? Ist dir nicht gut?“

„Da… Das ist nicht dein ernst!“

„Eigentlich schon.“

„Chris-chan. Du willst, dass ich zusehe, wie du einen Menschen tötest? Das kannst du nicht von mir verlangen!“

„Warum nicht?“ Chris legte den Kopf schief und bekam einen fragenden Gesichtsausdruck.

„Ich kann nicht.“

„Es ist nicht so wie du denkst. Naja… fast zumindest.“

„Was soll das schon wieder heißen?“

„Komm mit. Ich zeige es dir.“

Chris lächelte, nahm Shana bei der Hand und zog sie weiter. Weitere Kälteschauer jagten Shana über den Rücken. Und das lag nicht an der kalten Hand von Chris. Sie versuchte sich zu wehren, aber da hätte sie genauso gut versuchen können, sich gegen ein fahrendes Auto zu stemmen. Das Resultat wäre ähnlich gewesen. Dieses zierliche Mädchen hatte wirklich außergewöhnliche Kräfte.

Als Chris nach wenigen Minuten stehen blieb, sah Shana einen kleinen Teich vor sich, der von Bäumen umzäunt war. Im schwachen Licht der Parklaternen konnte sie ein Mädchen vor dem Teich stehen sehen. Sie war kaum älter als sie selbst. Sie hatte kurzes schwarzes Haar und trug eine rote Schuluniform im Matrosenlook.

Chris zog Shana hinter einen Baum. „Sieh zu und verhalte dich bitte ruhig.“, flüsterte sie sanft. Shana sah sie an und ihre braunen Augen begannen eigenartig zu leuchten. Stumm nickte sie, weil sie ihrer Stimme nicht mehr traute. Bestimmt hätte sie vor Angst gezittert und diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Selbst vor Chris nicht.

Langsam glitt Chris auf das Mädchen zu und stellte sich neben sie. „Guten Abend.“, sagte sie sanft und zärtlich. Das Mädchen schreckte auf und sah Chris an. „Verschwinde!“, quietschte sie.

„Eine schöne Nacht, nicht wahr?“

„Was willst du von mir?“

„Nur ein wenig reden.“

„Ich will nicht mit dir reden.“ Aber die Augen des Mädchens verrieten etwas ganz anderes.

„Das solltest du aber. Ich mag es nicht, dass du dich umbringen willst, indem du dich in dem Teich ertränkst.“

Das Mädchen riss die Augen auf. „Was? Woher…. Ich…“

„Es ist alles okay. Wie heißt du?“

Ohne zu überlegen antwortete das Mädchen. „Ich… Akiko.“

„Du hast einen sehr schönen Namen, Akiko-chan.“

„Wer bist du?“

„Ich? Ich bin Chris.“

„Woher weißt du, dass ich-“

„Schhh…“, unterbrach Chris sie. „Warum bist du denn so traurig?“

„Ich bin doch nicht traurig.“

„Ich weiß, es ist dir unangenehm mit einer Fremden zu reden, aber ich möchte deinen Kummer wirklich gerne hören. Vielleicht kann ich dir ja sogar helfen.“ Chris lächelte so sanft, dass Akiko all ihre Vorsicht vergaß. Es war fast so, als ob Chris sie hypnotisiert hätte.

Akiko holte Luft. „Ich… ich hatte einen Freund.“

„Das ist doch toll.“

„Am Anfang war es das auch. Ich war sehr glücklich mit ihm. Doch nachdem wir drei Monate zusammen waren, wollte er mit mir schlafen und ich wollte nicht. Er sagte, es wäre in Ordnung und ich war froh, dass er so verständnisvoll war. Doch dann habe ich herausgefunden, dass er sich das, was er bei mir nicht bekommen hat, bei meiner besten Freundin und meiner Schwester geholt hatte.“ Akiko war den Tränen nahe.

„Er hat dich mit deiner besten Freundin und deiner Schwester betrogen?“, fragte Chris ungläubig. Akiko nickte stumm und dann flossen die Tränen. Chris machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie. Akiko weinte sich bei ihr aus. Dabei schien der kalte Körper von Chris ihr nichts auszumachen.

Shana konnte von ihrem Beobachtungsposten jedes Wort verstehen und es zerriss ihr fast das Herz. Normalerweise gingen sie die Schicksale anderer nichts an, aber vieles hatte sich geändert, als sie mit Ethan zusammenstieß und er ihr den Schlüssel umlegte. Und da sie gerade an dieses unheimliche Teil dachte, reagierte es. Es fing leicht an zu glühen, so als ob es mit dem Mädchen fühlte.

Als Akiko sich wieder ein wenig beruhigt hatte, löste sie sich von Chris. „Tut mir leid.“, schniefte sie leise.

„Schon gut. Das macht nichts.“

„Du bist ganz kalt“, bemerkte sie plötzlich.

„Ja, aber es ist ja auch recht frisch.“ Sie lächelte verschmilzt.

„Ich halte dich davon ab, ins Warme zu kommen. Tut mir leid.“

„Aber nicht doch. Aber sag mal Akiko-chan. Was willst du jetzt tun? Oder besser, willst du dich wirklich umbringen?“

Einen Moment herrschte Stille. Man konnte sehen, wie sich Akiko quälte. Dann sagte sie leise: „Ich will nicht mehr leben. Ich liebe ihn immer noch, aber ich kann ihm nicht verzeihen. Und meine Schwester und meine beste Freundin hasse ich. Es gibt keinen Halt mehr für mich auf dieser Welt. Ich halte das nicht mehr aus. Ich will sterben, damit ich keine Schmerzen mehr habe.“

„Und das willst du wirklich? Einfach von der Welt Abschied nehmen und jämmerlich und qualvoll ertrinken?“

„Ja verdammt! Du hast doch keine Ahnung wie ich mich fühle!“ Akiko schrie schon fast, doch Chris blieb unbeeindruckt.

„Würdest du eine andere Art von Sterben vielleicht vorziehen?“

„Was meinst du?“

„Ich schlage dir vor, dir die Freuden der Seeligkeit zuteil werden zu lassen.“

„Ich verstehe nicht.“

„Ich verspreche dir, dass du keine Schmerzen haben wirst. Du wirst glücklich mit deinem Freund zusammen sein. Er hat dich nie betrogen und er liebt dich über alles.“

„Das kannst du?“

Chris nickte. Akiko bekam große Augen. „Ich werde keine Schmerzen mehr haben?“

„Nein. Nie wieder.“

„Dann erlöse mich bitte.“

„Bist du dir auch ganz sicher?“

„Ja.“

„Dann schließe deine Augen, Akiko-chan.“ Sie tat wir ihr geheißen und stand ganz still da. Chris legte ihren Hals frei, beugte ihren Kopf ein wenig und biss zu. Akiko zuckte ein wenig, sagte aber nichts.

Wieder überkam Shana ein kalter Schauer. Doch irgendwie war die Szene nicht so gruselig, wie sie sich es vorgestellt hatte. Irgendwie hatte es etwas Sanftes an sich.

Shana sah, wie das Opfer von Chris lächelte und irgendwie einen entspannten Gesichtsausdruck hatte. Aus ihren geschlossenen Augen flossen langsam Tränen über ihre Wangen. Sie formte ein Wort mit ihrem Mund, doch Shana konnte nicht hören, was sie sagte. Als Chris von ihr abließ, legte sie ihre Hand um die Hüfte von Akiko und ging mit ihr in den Teich. Das Wasser spritzte hoch, als sie ungefähr in der Mitte stehen blieb. Das Wasser ging ihnen bis zum Bauch. Chris ließ Akiko los und diese fiel vornüber ins Wasser. Chris wartete noch einen Augenblick und kam dann wieder heraus. Shana blieb beim Baum stehen. Sie wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Sie war irgendwie zu Tränen gerührt, aber auch wütend, weil Chris Akiko das Blut ausgesaugt hatte. Chris kam auf sie zu. Ihre Augen waren nicht länger braun, sondern leuchteten in einem sehr hellen grün. Und sie sah gequält aus. Das gab den Ausschlag für Shana nicht mehr wütend zu sein.

„Chris-chan? Geht es dir gut?“

„Ja. Es wird gleich besser.“ Sie holte ein paar Mal tief Luft. „Lass uns von hier weg.“ Sie nahm die Hand von Shana und zog sie weiter. Die Hand von Chris war nicht länger kalt, sondern war ein wenig warm. Shana drehte sich noch ein letztes Mal um und sah den Körper von Akiko. Sie sah irgendwie friedlich aus.

Sie gingen ein Stück schweigend, bis Chris plötzlich stoppte und sich auf eine Parkbank setzte. Shana zog sie ebenfalls auf die Bank. Ihre Hände ließen sie nicht los.

„Geht es dir auch wirklich gut, Chris-chan?“

„Ja. Dieses Mädchen war von Trauer schon richtig zerfressen.“

„Also… ich…“ Shana wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich unwohl. Mit einem Mal zog Chris sie an ihre Schulter. „Chris-chan?“

„Sorge dich nicht um mich. Geht es dir gut?“

„Ich denke schon. Aber was genau ist eigentlich passiert? Ich habe es zwar gesehen, aber nicht verstanden. Woher wusstest du, dass sie sich umbringen wollte?“

„Das ist eine besondere Fähigkeit. Wir sind nicht wie andere Vampire.“

„Wie meinst du das?“

„Es gibt Vampire, die alles beißen, was ihnen vor die Zähne kommt. So ähnlich wie bei Werwölfen.“

Shana fröstelte es. Sie musste an ihre erste Begegnung mit Werwölfen denken. Chris zog sie noch fester an sich. „Und dann gibt es noch uns.“, sprach sie im ruhigen Ton weiter. „Man könnte uns schlicht als wählerisch bezeichnen. Denn wir jagen nur Menschen mit besonderer Natur.“

„Ich verstehe nicht ganz.“

„Wir jagen Menschen, dessen Leben sowieso endet. Seien es nun todkranke Menschen oder Menschen, die sterben wollen, so wie Akiko.“

Shana dachte darüber nach und kam zu dem Schluss, dass sie gar nichts verstand. Chris bemerkte es und ihre Stimme wurde noch zärtlicher, als sie weiter sprach. „Wie soll ich dir das nur erklären? Als wir vorhin unterwegs waren, habe ich meine Sinne geschärft und jemanden gesucht, der große Schmerzen hatte. Natürlich habe ich viele Schmerzen wahrgenommen, aber der von Akiko war am stärksten. Es ist, als ob man Stimmen hören würde. Ich glaube so kann man es ausdrücken. Ich höre viele Stimmen, doch die von Akiko war am lautesten. Und es war seelischer Schmerz. Man muss da unterscheiden. Seelischen Schmerz spürt man, was nur sehr wenige können. Körperlichen Schmerz kann ein Vampir riechen. Das können fast alle.“ Sie machte eine kurze Pause und sah Shana an. Diese hing begierig an ihren Lippen, sodass Chris lächelte und dann weiter erzählte. „Als ich Akiko vor dem Teich stehen sah, war mir klar, dass sie sich ertränken wollte. Dafür brauche ich keine hellseherischen Fähigkeiten oder so.“

„Aber warum hast du sie nicht vom Sterben abgehalten?“

„Oh. Das habe ich. Du hast doch zugehört. Nur wenn jemand wirklich sterben will, verhelfen wir ihm dazu. Wir bringen nicht wahllos Menschen um.“

„Warum?“

„Nun. Nicht jeder von uns ist freiwillig ein Vampir. Nimm zum Beispiel Rowen. Er wollte kein Monster sein und ernährte sich deswegen von Tierblut. Für ihn mag das ausreichen, aber für mich nicht. Ich brauche Menschenblut. Doch auch ich will kein Monster sein. Deswegen wählen wir Menschen aus, die schon mit einem Fuß im Grab stehen. Natürlich rechtfertigt das nicht, dass auch wir morden, aber es ist nicht ganz so schlimm.“

„Aber ihr tötet.“

„Schon, aber wir tun Gutes.“

„Indem ihr Menschen umbringt?“ Shana war empört und wollte sich von Chris losmachen, doch sie ließ das nicht zu. Ihr Griff um sie war eisern. „Du verstehst das falsch. Nimm einen Menschen, der einen schweren Autounfall hatte und solche Schmerzen hat, dass er nach Erlösung schreit. Würdest du ihm dann nicht lieber diese Erlösung bringen, anstatt ihn weiter leiden zu lassen?“

„Ich weiß nicht.“

„Aber ich. Dafür, dass wir ihnen Blut nehmen, geben wir ihnen etwas zurück. Wir schenken ihnen einen schönen Traum.“

„Wie geht das?“

„Wenn man ein Vampir wird, macht man eine anatomische Veränderung durch. Wir sind stärker, schneller und uns wachsen lange Eckzähne.“

„Kein Klischee?“

„Das leider nicht. Obwohl ich wünschte, es wäre eins. Wenn dir die Zähne wachsen, kribbelt es unangenehm. Unsere Eckzähne sind mit einem lähmenden Gift behaftet. Uns tut es nichts, aber das Opfer machen wir dadurch bewegungsunfähig. Und über den Eckzähnen befinden sich Drüsen, die eine Art Halluzinogen absondern. Als sich zu Akiko sagte, dass sie wieder glücklich mit ihrem Freund sein würde, hat sie sich das vorgestellt und das Halluzinogen hat ihre Vorstellung verstärkt und ihr suggeriert, dass es echt wäre. Deswegen sah sie glücklich aus, als ich sie gebissen habe.“

„Also stand sie unter Drogen?“

„So kann man es auch ausdrücken.“

„Ich verstehe.“

„Die meisten Vampire machen davon nicht Gebrauch, aber uns ist es wichtig. Wir wollen die Schmerzen nehmen, was wir auch tun.“

„Und warum hast du dann so traurig ausgesehen, wenn du doch etwas Gutes getan hast?“

„Na wie würdest du dich fühlen, wenn du jemanden umbringen würdest? Es ist, als ob der seelische Schmerz mit dem Biss auf dich selbst übergeht. Ich nehme den Schmerz auf, den mein Opfer erleidet.“

„Was?“

„Frag mich nicht, wie und warum das passiert. Manchmal ist es nicht sehr angenehm, aber ich denke, so tun wir Buße für das, was wir tun.“

„Und das haltet ihr aus?“

„Naja. Mal ja, mal nein. Einmal habe ich mich eine Woche in mein Zimmer eingesperrt, als ich einer Frau das Leben nahm, die ihr Kind verloren hatte. Der Schmerz hat mich fast zerrissen.“

„Das tut mir Leid.“

„Entschuldige dich nicht dafür. Das ist unsere Strafe.“

„Und ist es bei den anderen auch so?“

„Bei unserem Clan? Überwiegend. Das Problem ist, das Opfer zu spüren. Nur Ethan und ich können auch seelische Schmerzen spüren. Die anderen wittern nur körperliche Schmerzen. Ab und zu gehe ich zusammen mit Jay auf die Jagd und überlasse ihm dann Opfer mit seelischen Schmerzen. Er kommt damit besser zurecht, als ich. Vielleicht bin ich als weibliches Wesen emotionaler. Keine Ahnung. Aber für Ethan ist es glaube ich am schwersten.“

Shana spannte sich kaum merklich an. Bisher hatte sie noch nicht viel über Ethan herausgefunden. „Warum ist es für ihn am schwersten?“ Eigentlich hasste sie ihn und es war ihr egal, aber die verdammte Neugier konnte man leider nicht immer besiegen.

„Er sucht sich Extremfälle raus. Vergewaltigte Frauen, misshandelte Menschen oder auch Menschen, die ihre Liebsten auf grausamste Art verloren haben.“

„Wieso tut er das?“ Sie ärgerte sich über sich selbst. Sie sollte still sein und nicht noch weitere Fragen über ihn stellen. Blöde, blöde Shana!

„Keine Ahnung. Aber wenn nicht, hätte er mich wahrscheinlich nicht gefunden.“

„Willst du damit sagen, dass Ethan dich-“ Sie konnte nicht weiter sprechen. Natürlich. Wenn nur Ethan und Chris die Fähigkeiten hatten, seelische Schmerzen zu spüren, war die Sachlage doch eindeutig.

Chris ließ sie plötzlich los und sprang auf. „Hast du Hunger? Lass uns was essen gehen.“

„Chris-chan. Stimmt es, dass-“

„Wir gehen essen und dann erzähle ich dir alles.“, unterbrach sie Shana und lächelte. Ihre Augen waren mittlerweile wieder braun und es sah so aus, als ob es ihr besser ging.

Shana musste ihre Neugier befriedigen. Ob sie nun wollte oder nicht. Solche Laster waren wirklich nicht vorteilhaft gewesen. Aber sie wollte unbedingt die Geschichte von Chris hören.

Also sprang sie auf und folgte dem Vampir, der sie immer mehr faszinierte. Sie war gespannt, was diese ihr zu erzählen hatte.
 

And that's all?
 

Soa. Bin doch schon schneller fertig geworden. Also… Ich wünsche euch auf diesem Wege eine fröhliche Weihnacht und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Wir sehen uns dann ungefähr am 20. oder 25. Januar mit Kapitel 8 wieder.

Ich hoffe, ihr wart alle lieb und bekommt schöne und viele Geschenke.

Bis denn dann
 

BabyG

Die Freuden der Seligkeit

Ein Mensch kann viel ertragen. Leid, Trauer, Liebe, Freundlichkeit, Schmerzen, Hass. Ein Mensch ist nur so stark, wie er es wirklich will. Er kann Dinge ignorieren oder er kann sie akzeptieren. Er kann Probleme lösen oder ihnen aus dem Weg gehen. Doch was macht er, wenn er weder das eine noch das andere kann?

Shana hätte es nie für möglich gehalten, dass man es mit seiner Familie noch schlimmer treffen konnte, als mit ihrer. Doch als sie die Geschichte von Chris hörte, wurde ihr bewusst, dass sie es doch ganz gut getroffen hatte.
 

Weh, weh, weh denen, die auf Erden leben.

Sie klappte das Buch zu und starrte ausdruckslos auf den schwarzen Einband. Gedankenverloren strich sie über die roten Schriftzeichen, die den Titel verrieten: „Verderben der Menschheit.“ Ein gutes Buch, befand sie. Dann wandte sie sich von dem Buch ab und schaute durch die breite Fensterfront nach draußen. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und der Himmel erstrahlte in einem kräftigen blau. Wie sie den Sommer hasste. Die Wärme, den Sonnenschein, die Unbekümmertheit der Menschen. Der Sommer war positiv und gut. Das genaue Gegenteil von dem, was sie verkörperte. Der Blick auf die Standuhr verriet ihr, dass es Zeit für das Abendessen war. Nahrung zu sich zu nehmen empfand sie als nutzlos und als Zeitverschwendung. Wozu essen? Um am leben zu bleiben? Und was, wenn man gar nicht leben wollte?

Xiaofan erhob sich seufzend. Sie strich ihr schwarzes langes und schlicht geschnittenes Kleid glatt. Es war hochgeschlossen und gab so gut wie keine Haut frei. Sie sah aus, als ob sie auf eine Beerdigung gehen würde. Ihr schwarzes Haar hatte sie heute zu einem strengen und festen Dutt zusammengebunden. Dadurch sah sie sehr erwachsen aus, nicht wie ein 14- jähriges Kind. Ihre Haut hatte eine unnatürliche Blässe und die schwarze Schminke hob dies noch hervor. Wenn sie vernünftig essen und sich der Sonne aussetzten würde, hätte sie vielleicht etwas mehr Farbe. Aber ihr gefiel die Porzellanhaut, also machte das nichts.

Ihr Blick glitt über das spartanisch eingerichtete Zimmer. Ein Bett, ein Kleiderschrank, ein Tisch mit einem Stuhl und ein Regal mit Büchern. Die Wände hatte sie mit schwarzem Tüll verhangen, sodass ihr Zimmer düster erschien. Perfekt. Mechanisch bewegte sie sich zur Tür und trat in den Flur. Hier erstrahlte alles in hellen Tönen wie weiß oder gelb. Eine Beleidigung für ihre Augen. Sie hasste es.

Hochmütig stieg sie die Treppen herunter, ging durch das Foyer direkt in den Speisessaal. Ein dunkler Eichentisch nahm den gesamten Raum ein. Stühle aus demselben Holz umsäumten den Tisch. Sie war nicht allein. Leider. Am Kopf des Tisches saß ihr Erzeuger, Cheng Qiang. Vater konnte man diese Person nun wirklich nicht nennen. Er war schlank, sein schwarzes kurzes Haar, war schon von einigen grauen Strähnen durchzogen, sodass man ihm seine 50 Jahre schon ansah. Er hatte ein markantes Gesicht und seine dunklen Augen strotzten nur so von Stolz und Kälte. Die Frau zu seiner rechten war ihre Stiefmutter, Cheng Lanfan. Oder wie auch immer man diesen Zustand bezeichnen sollte. Sie strahlte soviel Erhabenheit und Arroganz aus, dass Xiaofan bei diesem Anblick immer übel wurde. Familie war doch was Schönes. Hätte sie doch bloß keine gehabt.

Langsam ging sie zu ihrem Platz und setzte sich. Sie sah diese ihr so fremden Personen nicht an, sondern starrte auf die gegenüberliegende Wand. Der erste Gang, bestehend aus einer undefinierbaren Brühe, wurde serviert. Xiaofan starrte den Inhalt ihrer Schüssel an. Sollte sie essen oder nicht? Sie war es leid, so eine profane Zeitverschwendung ausüben zu müssen.

„Xiaofan!“, erdreistete sich ihr Erzeuger sie anzusprechen. Sollte sie darauf reagieren oder nicht? Fast alles was sie tat, wägte sie vorher ab. Ob es sich überhaupt lohnte Dinge zu tun oder nicht. Diesmal entschied sie sich, ihm zu antworten. „Was wünscht ihr?“ Sie würde ihn niemals duzen. Das tat sie nie. Das wäre viel zu persönlich und würde eine Zuneigung verraten, die sie beim besten Willen nicht empfand.

„Was soll dieser Aufzug? Du bist eine Schande für die Familie Cheng!“

„Selbstverständlich. Deswegen tue ich es ja auch.“ Normalerweise rechtfertigte sie sich nicht - es war überflüssig - aber heute hatte sie zur Abwechslung mal gute Laune.

Und im nächsten Augenblick hatte sie sich eine Ohrfeige eingefangen. Sie zuckte nicht mal.

„Sei nicht so frech!“

„Ihr beliebt zu scherzen. Das ist meine einzige Freude.“ Und schon hatte sie die nächste sitzen.

Als das Essen beendet war, hatte sie sich noch sechs weitere Ohrfeigen eingefangen. Ihre Wangen glühten und brannten ziemlich, aber das interessierte sie nicht sonderlich. Warum redete er auch mit ihr? Er wusste doch, wozu das führte. Ihre so genannte Stiefmutter schaute dem Schauspiel immer stumm zu. So wie immer. Nichts hatte sich verändert und es würde sich auch nichts ändern. Niemals.

Es war bereits dunkel, als Xiaofan draußen auf ihrem Balkon stand und in die Nacht blickte. Eine mondlose Nacht, die angenehmste Zeit für sie. Es war dunkel, trist und leblos. Genauso wie sie es mochte. Immer wenn sie sich an der Nacht erfreute – es war fast ihre einzige Freude – dachte sie über ihr bisheriges Leben nach.

Wie kam es, dass sie in dieser Hölle leben musste? Das war leicht zu beantworten. Sie war ein uneheliches Kind gewesen, welches nur durch Lügen und Intrigen einen Platz in der Gesellschaft fand. 1979 hatte eine Frau in China nur zwei Möglichkeiten. Entweder man heiratete und gebar dem Ehemann einen Sohn oder man wurde Prostituierte. Ihrer Mutter blieb nur die zweite Möglichkeit. Sie wusste, dass ihre Mutter Shuang hieß, mehr aber auch nicht. Qiang wurde Kunde bei ihr. Einmal passten sie nicht auf und ihre Mutter wurde schwanger mit Xiaofan. Doch ihr Vater konnte es sich nicht leisten, ein Kind von einer Hure zu bekommen. Er versuchte alles, um sie zu einer Abtreibung zu bewegen, doch Shuang weigerte sich. Das Schlimmste war, dass er kurz nach dieser Liaison seine jetzige Frau, Lanfan, ehelichte und sie erwartete ebenfalls ein Kind von ihm. Das und der Umstand, dass er der Leiter einer großen Firma war, brachte ihn mehr und mehr in Bedrängnis. Shuang beteuerte zwar, dass sie weder Ansehen noch Geld von ihm wollte, doch das glaubte er ihr nicht. Warum sollte er auch? Er traute niemanden außer sich selbst. Ihre Mutter war schon im 8. Monat mit Xiaofan schwanger, als er kurzerhand einen Killer anheuerte und sie umbringen ließ. Zu seinem Pech wurde sie schnell gefunden. Bevor die tödliche Wunde sie dahinraffen konnte, gab sie noch den Namen des Vaters preis und brachte eine gesunde Xiaofan zur Welt. Qiang bekam das mit und wollte Xiaofan ebenfalls umbringen lassen, doch dann erlitt Lanfan eine Fehlgeburt. Sie war im 7. Monat schwanger. Und so fügte sich alles perfekt zusammen. Um der großen Schmach zu entgehen, floss viel Schweigegeld und Xiaofan wurde als das Kind von Lanfan ausgegeben.

Zwar hatte sie jetzt ein Dach über den Kopf, doch sie war die Tochter einer Hure. Und so wurde sie auch behandelt. Ihre ‚Eltern’ hassten sie jeden Tag aufs Neue und bis auf das Kindermädchen und den Hauslehrer bekam sie niemand zu sehen. Und selbst diese Personen brachten ihr Verachtung entgegen. Das prägte Xiaofan aufs Schärfste. Schon früh verfiel sie in Depressionen. Sie aß nur, wenn es nicht mehr anders ging, redete nicht und sah alle so ausdruckslos und desinteressiert an, dass sie täglich Prügel bezog. Liebe war ein Witz. Sie hatte darüber mal etwas in einem Buch gelesen und brachte darüber fast ein Lächeln zustande. Der einzige Gefühlsausbruch, seit sie denken konnte. Ihr Erzeuger strafte sie mit soviel Verachtung, dass sie auf ihre ganz persönliche Art gegen ihn rebellierte. Sie zerriss seine Bücher, zerdepperte Geschirr und steckte sogar das Wohnzimmer in Brand. Wie gerne wäre er sie losgeworden, doch die Angst, dass Xiaofan im Kinderheim das dunkle Geheimnis ihrer Existenz preisgeben könnte, war einfach zu groß. Dieses Risiko konnte er nicht eingehen. Und woher Xiaofan das alles wusste? So albern es auch war, ihr so genannter Vater führte Tagebuch. Falls er mal sterben würde – was nach ihrem Geschmack leider nicht schnell genug ging – würde das Tagebuch sein Leben beschreiben. So sagte er das zumindest immer. Das war Blödsinn. Er las nur jeden Abend gerne, was er in seinem bisherigen Leben alles erreicht hatte.

Xiaofan wunderte sich, warum ihre Stiefmutter bei dieser Farce überhaupt mitmachte. Immerhin hatte man ihr ein völlig fremdes Kind untergeschoben. Aber vielleicht hatte sie auch einfach Angst um ihr Ansehen und das Geld, was sie verloren hätte, hätte sie nicht zugestimmt.

Xiaofan seufzte. Womit hatte sie das nur verdient? Sie schaute über den Rand des Balkons nach unten. Wie oft schon hatte sie versucht sich umzubringen? So viele Male, dass sie schon aufgehört hatte zu zählen. Und alle Versuche scheiterten. Nahrungsverweigerung gelang nicht, weil man ihr das Essen dann rein zwang, wenn es kritisch wurde. Und immer wenn sie versuchte sich zu ertränken oder sich die Pulsadern aufschnitt, wurde sie leider immer rechtzeitig gefunden. Auch der Sprung vom Balkon brachte nichts, da es nicht hoch genug war. Einmal hatte sie es versucht und sich dabei nur den Arm gebrochen. Mehr auch nicht.

Ich sollte es mal mit erhängen versuchen, überlegte sie. Nur würde das etwas bringen? Immerhin waren die Leute, mit denen sie gezwungenermaßen unter einem Dach lebte, vorsichtiger geworden, wenn es darum ging, sie am Leben zu erhalten. Alle scharfen Gegenstände wurden weggeschlossen, so wie auch Medikamente. Das ödete sie an. Der Tüll an ihren Wänden würde ihr Gewicht sicher nicht tragen, aber das Bettlaken würde ihr diesen Dienst vielleicht erweisen.

Xiaofan wandte sich von der tröstenden Nacht ab und trat wieder in ihr Zimmer. Fünf dicke Kerzen erhellten den Raum spärlich. Genauso wie sie es mochte. Sie wollte sich gerade ihr Bettlaken greifen, als die Schiebetür zu ihrem Zimmer sich öffnete und ihr Erzeuger den Raum betrat.

Leicht runzelte sie die Stirn. War es schon wieder soweit?

Leise schob er die Tür wieder zu und sah sie hasserfüllt an. Hätte sie Gefühle ihm gegenüber gehegt, sähe ihr Blick wahrscheinlich ähnlich aus. Aber zu Gefühlen war sie schon längst nicht mehr in der Lage gewesen.

„Das, was du dir heute Abend beim Essen geleistet hast, ist unverzeihlich.“, knurrte er sie an.

„Es war nicht schlimmer als sonst auch.“

„Sei still!“, brüllte er. „Du bist nichts weiter als eine dreckige Hure! Selbst der Dreck unter meinen Schuhen ist mehr wert als du.“

Xiaofan nickte. Er hatte Recht und sie würde ihm nicht widersprechen. „Dann lasst mich doch einfach sterben.“

„Oh nein. Das hättest du wohl gerne.“, zischte er. „Du bist dazu da, um mir zu dienen und als Prellbock zu fungieren.“

Am liebsten hätte sie genervt mit den Augen gerollt, aber soviel wollte sie ihm nicht zugestehen. Sie sah, wie er die Schnalle an seinem Gürtel löste und ihn dann aus der Hose zog. „Du weißt, was du zu tun hast, meine abscheuliche Hure.“

„Natürlich.“, erwiderte sie trocken.

Langsam öffnete sie die Knöpfe ihres Kleides. Es dauerte auch nicht lange, bis sie völlig nackt vor ihm stand. Sie kannte die Prozedur. Deswegen überraschte es sie auch nicht, als er mit dem Gürtel ausholte. Erst verprügelte er sie mit dem Gürtel, bis ihn das so erregte, dass er selbst seine Kleider ablegte und sie vergewaltigte. Wenn er dann fertig war, zog er sich wieder an und verließ das Zimmer.
 

Nackt lag sie auf dem zerwühlten Bett und starrte an die Decke. Sie fühlte nichts. Keine Schmerzen, als er sie schlug, keine Angst, als er sich an ihr verging. Irgendwie hatte er ja auch recht gehabt. Ihre Mutter war eine Hure gewesen und diese Tradition musste sich mit ihr fortsetzten.

Als sie 11 wurde, fing er an, sie mit dem Gürtel zu schlagen. Erst war es nur ein Geburtstagsgeschenk gewesen, doch dann fand er Gefallen daran und kam fast jeden Abend. Denn entweder tat er es, weil sie frech war oder weil er einfach Lust dazu verspürte, sie zu schlagen. So genau konnte man das nie sagen.

Als sie dann 12 wurde und ihr Busen anfing zu wachsen und ihr Körper weiblicher wurde, fing er an, sich nach den Prügeln an ihr zu vergehen. Das erste Mal hatte sie sich doch tatsächlich sogar gewehrt.

An den Gedanken daran fing ihr Mund leicht zu zucken an. Wie töricht sie doch war. Ihre Gegenwehr hatte ihn nur noch mehr angestachelt. Er wollte sie für ihre Existenz bestrafen und konnte seiner Wut anscheinend nur so Luft machen. Es war ekelhaft, seinen nackten Leib auf ihrem zu spüren. Bei seinem tiefen Keuchen wurde ihr immer übel. Doch bald sah sie den Vorteil an dieser Sache. Sie fühlte sich ihrer Stiefmutter gegenüber überlegen. Denn immerhin legte er Hand an Xiaofan und nicht an Lanfan. Das rieb sie ihr ständig unter die Nase und der Gesichtsausdruck eben dieser Frau befriedigte sie. Ihre Stiefmutter konnte nicht viel dagegen tun. Sie steckte zu tief drin in diesem Geflecht aus Lügen. Wenn sie androhen würde ihn zu verlassen, hätte er sie ohne zu zögern umgebracht. Sie musste es einfach hinnehmen.

Xiaofan richtete sich auf. So amüsant das Ganze auch war – sie hatte keine Lust mehr. Sie ging ins Bad und wusch sich die letzten Stunden vom Körper. Ihre Haut war von Narben und blauen Flecken übersäht. Manche Verletzungen hatte sie sich selbst zugefügt, andere stammten von ihrer so genannten Familie. Sie zog sich ein schwarzes Kleid an und band ihre Haare zu einem Zopf. Dann nahm sie sich ihr Bettlaken und ging wieder auf den Balkon. Das eine Ende verknotete sie am Geländer. Dann setzte sie sich auf das kalte Gestein von der Brüstung und wollte sich gerade das andere Ende um den Hals binden, als ein Geräusch sie innehalten ließ. Fast wäre sie gefallen, doch sie konnte sich noch rechtzeitig festhalten. Wie gesagt, runterspringen brachte nichts. Als sie ihr Gleichgewicht wieder gefunden hatte, wandte sie ihren Kopf nach rechts und da war er.

Er saß auf dem steinernen Pfeiler, der die Längsseite des Balkons begrenzte. Sein schwarzes Haar wehte leicht im Wind, sodass es noch mehr verwuschelte, als es eh schon war. Seine Augen funkelten in einem hellen braun. Er trug normale Schuhe, dazu eine schwarze Hose und ein schwarzes Shirt. Darüber trug er einen schwarzen Ledermantel. Seine Haut war noch blasser als ihre. Sie fragte sich, wie er es auf das Grundstück geschafft hatte. Selbst ihr war es unmöglich, dass Gelände zu verlassen. Sie hatte es schon des Öfteren versucht, doch es gab zu viele Wachleute und Hunde. Leicht runzelte Xiaofan die Stirn.

„Guten Abend.“, sagte er mit sanfter und heller Stimme. Sie bemerkte, dass er einen leichten Akzent hatte.

„Kann ich etwas für Sie tun?“

„Wäre möglich.“

„Nun ja. Dann sollten Sie ihre Forderungen schnell vorbringen, denn ich bin gerade dabei mich umzubringen.“ Um ihre Aussage zu untermauern, hielt sie das eine Ende des Lakens hoch. Sie fragte nicht wer er war oder wie er es auf den Balkon geschafft hatte. Es interessierte sie einfach nicht.

Er schmunzelte. „Genau deswegen bin ich hier, Cheng Xiaofan.“

Das wunderte sie dann doch. Woher kannte er ihren Namen? Sie wurde so sehr aus der Gesellschaft raus gehalten, dass sie praktisch nicht existierte. Doch wollte sie das wirklich wissen? Sie wägte es ab und traf dann ihre Entscheidung. „Sie kennen mich?“

„Ich beobachte dich schon eine ganze Weile.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Kann ich dann weitermachen mit meinem Selbstmord oder kommt noch was Konkretes von Ihnen?“, fragte sie, als er längere Zeit nichts sagte.

„Willst du wirklich sterben?“

„Das hatte ich eigentlich vor.“

„Was würdest du davon halten, wenn ich dir die Freuden der Seligkeit zuteil werden lasse?“

„Nein, danke.“

Er blickte sie verwundert an. „Du weißt, was das ist?“

„Nein, aber Freuden belasten mich nur. Ich bin an negative Gefühle gebunden und hasse positive.“

Diese Antwort überraschte ihn sichtlich, doch dann grinste er. „Du hasst also das Gute und das Leben?“

„So kann man es ausdrücken.“

„Was würdest du dann davon halten, wenn ich dir noch einen anderen Weg eröffne?“

„Hat es was mit Freuden zu tun?“

Er lachte leise. „Ganz sicher nicht.“ Sein Lachen erstarb und er wurde ernst. „Das Leben, welches ich dir vorschlage, ist mit dem Tod behaftet. Ist dir der Begriff ‚Vampir’ geläufig?“

Natürlich wusste sie, was ein Vampir war. Sie hatte einige Bücher darüber gelesen. Und jetzt erst viel ihr auf, dass er offensichtlich ein Vampir war. Sie schaute erst auf das Bettlaken und dann sah sie ihn wieder an. „Ihr wollt mir anbieten, mich zu einem Vampir zu machen?“

„So sieht es aus. Du wirst dich von Blut ernähren müssen und kannst nur des Nachts wandeln. Dein Herz erkaltet und ‚schön’ wird dieses Leben sicher nicht.“

Wieder begann ihr Mundwinkel zu zucken. „Von mir aus. Ich nehme an.“

Anscheinend war er nicht verwundert darüber. Er stand auf und sprang vom Geländer. Dann ging er langsam und sanft wie eine Katze auf sie zu. Ihr fiel auf, dass seine Augen wie pures Gold leuchteten.

„Die Verwandlung wird schmerzhaft.“, warnte er noch.

„Umso besser.“

Er zog sie zu sich hinab. Kurz noch erhaschte sie einen Blick in diese wunderschönen Augen und dann biss er in ihren Hals. Seine kalte Hand, die neben seinen Lippen auf ihrem Hals lag, jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. Sie spürte, wie er ihr das Blut und gleichzeitig das Leben aussaugte. Zeitgleich floss etwas anderes in ihre Blutbahn. Es fühlte sich an, als ob pure Säure durch ihren Körper floss. Es war großartig. Er trank noch ein wenig und ließ dann von ihr ab. Ihr Herz pochte wie verrückt und die Schmerzen waren berauschend. Besser als jeder Selbstmordversuch.

Sie blickte ihn an. Sein Mund war blutig und die Intensität seiner goldenen Augen ließen sie leicht lächeln. Er hob seine Hand, die zuvor noch auf ihrer Kehle lag und biss in sein Handgelenk. Dabei ruhte die ganze Zeit sein Blick auf ihr. Dieser Moment hatte wahrlich etwas Intimes. Als er seine Haut durchgebissen hatte und es anfing zu bluten, hielt er ihr sein Handgelenk hin. Sie zögerte nicht einen Moment, öffnete ihren Mund und legte ihn über die blutende Wunde. Gierig saugte sie das Blut aus seinen Adern.

Plötzlich zuckte etwas durch ihre Synapsen. Sie sah eine Frau vor ihrem inneren Auge. Sie war von atemberaubender Schönheit. Sie hatte schwarzes, leicht gewelltes Haar, welches ihr bis zur Hüfte reichte. Ihre eisblauen Augen wirkten kühl. Ihre ganze Erscheinung wirkte erhaben und unnahbar. Noch mehr Bilder flossen durch ihren Kopf, doch sie verschloss dies tief in ihren Gehirnwindungen.

Irgendwann reichte es ihm und er entzog ihr sein Handgelenk. Blut klebte an ihren Lippen und einige Rinnsale liefen an ihrem Kinn herunter. Vorsichtig strich er diese mit seinem Daumen fort und leckte das anhaftende Blut ab. Immer noch sah er sie an.

„Euer Name!“, forderte sie flüsternd. Xiaofan spürte, wie sie bald das Bewusstsein verlor. Er grinste. „Ethan.“

„Danke.“, wisperte sie.

„No problem, cute girl.“

Dann war sie weg.
 

Als sie erwachte, brauchte sie einen Moment zur Orientierung. Erst als sie die Erinnerungen und die Bilder sortiert hatte, konnte sie sich einen Reim darauf machen, warum sie sich so kraftvoll fühlte und warum ihr so kalt war. Es war einfach großartig.

Vorsichtig schlug Xiaofan die Augen auf und fand sich in einem Bett wieder. Und dieses hier war komischerweise viel bequemer, als ihr eigenes. Also schlussfolgerte sie, dass sie nicht mehr in der Anstalt war, in der sie eine so lange Zeit leben musste. Konnte sie der Hölle also tatsächlich entkommen sein? Außer dem Bett standen in dem Zimmer noch ein Stuhl, ein Tisch und ein kleiner Schrank. Auf dem Stuhl saß Ethan und musterte sie.

„Auch schon wach.“, bemerkte er trocken.

Xiaofan zuckte etwas. Irgendwie nahm sie alles ganz anderes wahr, als sonst. Sie hörte Dinge, die sie nicht mal benennen konnte. Ihr Sehvermögen war viel deutlicher und schärfer, als gewöhnlich. Die Farben so intensiv, als ob sie sie anspringen würden.

„Man gewöhnt sich an die geschärften Sinne.“ Er bemerkte anscheinend, wie ungewohnt diese neue Wahrnehmung für sie war.

„Hast du wirklich niedliches Mädchen zu mir gesagt?“ Da sie ihr Blut miteinander geteilt hatten, verzichtete sie auf das Sie. Bei dem Klang ihrer Stimme zuckte sie abermals zusammen- sie war melodisch und irgendwie süß. So niedlich wie kleine Kinder sonst nur redeten. Sie verzog das Gesicht. Das war ja ekelhaft.

„Du kannst Englisch?“, fragte er erstaunt.

„Ein bisschen.“

„Interessant.“

Xiaofan stand vom Bett auf. Sie trug immer noch das gleiche Kleid. Also hatte er sie nicht weiter angerührt. Ihr Zopf hatte sich gelöst und ihre Haare hingen ihr wie ein schwarzer Vorhang vor dem Gesicht. Energisch strich sie sich die Strähnen aus dem Gesicht, aber sie fielen immer wieder zurück. Ärgerlich.

„Wie fühlst du dich?“

„Kalt.“

Wieder grinste er. „Durstig?“

„Ein wenig.“ Sie konnte eigentlich immer gut Durst und Hunger ignorieren, aber das war noch in lebenden Zeiten gewesen. Jetzt war der Durst fast unerträglich. Ihre Kehle brannte förmlich. Ethan hob ein Glas mit tiefroter Flüssigkeit hoch und schwenkte es leicht. Dadurch entfaltete sich ein Geruch, der Xiaofan fast um den Verstand brachte. Mit drei langen und nebenbei bemerkt, sehr geschmeidigen Schritten, war sie bei ihm und nahm ihm das Glas aus der Hand. Doch sie konnte noch ein wenig Selbstbeherrschung aufbringen und es ihm nicht zu entreißen. Das hätte nämlich schon eher ihrem Geschmack entsprochen. Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie das Glas zu ihrem Mund führte und die Flüssigkeit gierig hinunterschlang.

„Ein wenig.“, spottete er.

Als das Glas leer war, leckte sie sich genussvoll über die Lippen. „Du hast es erfasst.“ Sie spürte, wie das Blut ihre Kraft nährte und das Brennen der Kehle milderte. Wohlige Schauer jagten Xiaofan über den Rücken. Ein Vampir zu sein fing langsam an ihr zu gefallen.

„Und nun?“, fragte sie leichthin und setzte sich aufs Bett.

„Hast du keine Fragen?“

„Ich halte mich nie mit unwichtigen Dingen auf.“

„Ich denke dein neuer Zustand ist nicht ganz unwichtig. Du solltest schon wissen, welche Regeln ein Vampir zu beachten hat.“

„Und du willst mich aufklären?“

„So ist es leider vorgeschrieben. Ich habe dich zu dem gemacht, was du jetzt bist. Deswegen muss ich dich einweisen, bevor du eigene Wege gehen kannst.“

Xiaofan schnappte kaum hörbar nach Luft. Er wollte sie also verlassen, wenn er seine Pflicht getan hatte. Wieso überraschte sie das überhaupt?

„Na dann fang mal an, damit du mich schnell loswerden kannst.“ Ihre Stimme troff vor Kälte.

Ethan grinste nur. „Wie? Du willst bei mir bleiben?“

„Habe ich das gesagt?“

„Hör zu. Du bist interessant. Ich habe dich sofort gespürt, als ich in China einreiste. So einen emotional kaputten Menschen habe ich noch nie getroffen. Doch auch ich bin emotional verstümmelt. Natürlich würden wir uns perfekt ergänzen, aber ich glaube das würde dich nur langweilen. Du bist frei und solltest die Welt erkunden und dich nicht an ein Frack binden.“

„Ich weiß nicht, warum du dich rechtfertigst. Ich habe doch gesagt, dass ich nicht bei dir bleiben will.“

„Natürlich. Du hast es nicht gesagt, aber wir haben unser Blut miteinander geteilt. Und auch irgendwie unsere Gedanken. Normalerweise ist das nicht üblich. War wirklich nicht schön, was ich da so in deinem Kopf gesehen habe. Aber wegen diesem Umstand weiß ich auch, dass du bei mir bleiben willst. Also mach mir nichts vor. Dein Entschluss stand fest, als ich dich gebissen habe.“

Sie grinste. Es fühlte sich fremd an, aber nicht falsch. „Und du meinst, dieser Entschluss besteht noch?“

„Oh ja.“

Ihr Grinsen wurde breiter. Langsam schmerzten schon ihre Mundwinkel, doch sie konnte damit einfach nicht aufhören. Das war das erste Mal, dass sie Grund zum Grinsen hatte und das wollte sie in vollen Zügen genießen. „Und wenn es so wäre?“

„Dann solltest du wissen, dass ich kaltschnäuzig bin. Ich will nichts von dir. Das was ich wollte, habe ich bekommen. Was also sollte ich noch von dir wollen?“

„Gleich und gleich gesellt sich gern.“

„Glaubst du wirklich, wir sind gleich?“ Er klang ein wenig entrüstet, was sie amüsierte. So was war ihr noch nie passiert.

„Wir haben unsere Gedanken miteinander geteilt, wie du es vorhin so schön ausgedrückt hast.“, erklärte sie so ruhig und langsam, als ob sie mit einem geistig behinderten reden würde. Er schaute sie misstrauisch an. „Ich werde nie auch nur ein Wort über das verlieren, was ich gesehen habe. Das ist deine Sache. Doch wir sind uns ähnlicher, als du wahrhaben willst. Denn auch ich will nichts von dir. Ich habe bekommen, was ich wollte. Trotzdem wäre ich nicht abgeneigt, eine Weile bei dir zu bleiben.“

„Dir ist klar, dass ich eine Weile durch China reise und dann gezwungenermaßen wieder nach Japan gehe.“

„Passt mir prima. Mehr als die vier Wände von dieser Hölle, die ich zu Hause nennen musste, habe ich nicht gesehen. Nehmen wir doch einen Tag nach dem anderen. Dann sehen wir ja, was kommt.“

Ethan verzog ein wenig den Mund, doch dann grinste er. „Von mir aus. Versuchen wir es ein paar Tage zusammen.“
 

Aus den paar Tagen wurde ein ganzes Jahr. Ethan brachte ihr bei, was sie wissen musste. Nebenbei brachte er ihr noch Japanisch, Englisch und diverse andere Sprachen bei. Ihre negative Einstellung behielt sie zwar bei, doch sie war nicht mehr so stark ausgeprägt. Trotzdem lachte sie nicht. Mit Ethan kam sie sehr gut klar. Sie spürte, wenn er schlechte Laune hatte und ließ ihn dann in Ruhe. Er sprach nicht viel und wenn, dann nur das Nötigste. Es kam sogar vor, dass sie eine Woche kein Wort miteinander wechselten. Irgendwie war sie mit ihm verbunden und es fühlte sich gut an. Sie hegte zum ersten Mal so etwas wie freundschaftliche Gefühle für jemanden.

Für Xiaofan war die Zeit mit Ethan eine tolle Erfahrung. Sie hätte nie gedacht, dass es soviel zu sehen gab. Die ganzen Eindrücke erfreuten sie auf eine gewisse Art und Weise. Auch das Ernährungsverhalten von ihm begrüßte sie. Denn das besagte strikt, nur Menschen zu töten, die entweder mit einem Fuß schon im Grabe standen oder sich nach dem Tod sehnten. Es war interessant zu sehen, dass es Menschen gab, denen es noch schlechter erging. Doch die Extremfälle, die Ethan sich gerne suchte, mied sie. Denn so schön negative Gefühle für sie auch waren – soviel hielt sie dann doch nicht aus. Natürlich hatte sie die Medien interessiert verfolgt. Sie wollte ja wissen, was aus ihrem Erzeuger geworden war. Und was sie über ihn in der Zeitung las, überraschte sie nicht mal. Denn darin stand, dass Lanfan verrückt geworden war. Erst hatte sie Xiaofan umgebracht und dann sich selbst. Wahrscheinlich hatte er sich ein Mädchen aus den ärmeren Vierteln gesucht und diese dann als Xiaofan ausgegeben, damit das Ganze auch ein wenig glaubwürdiger war. Ihr Erzeuger hatte danach wieder geheiratet und erwartete diesmal einen Sohn. Endlich das, was er immer haben wollte.

Xiaofan überlegte ernsthaft, ob sie ihm das Blut aussaugen sollte, doch das war etwas, was sie nicht konnte und gegen die Regel verstieß. Dafür hatte sie sich einfach zu sehr mit der Philosophie von Ethan angefreundet. Doch rächen wollte sie sich, ging dabei aber weitaus subtiler vor. Sie brach eines Nachts bei ihm ein und stahl sein Tagebuch und diverse Dokumente und ließ diese anonym den Behörden zukommen. Das Triumphgefühl war herrlich, als er verhaftet wurde.
 

Als Ethan sich dann entschied wieder nach Japan zu gehen, begleitete sie ihn. Und insgeheim war er froh, dass sie es tat. Doch nach außen hin tat er wie immer gleichgültig und cool.

Doch sie hätte nie erwartet, dass sich ihre ganze bisherige Lebenseinstellung ändern würde, sobald sie Japan erreichten und sie die anderen kennen lernte.

Rowen ging ihr am Anfang gewaltig auf die Nerven. Er war so fürsorglich und väterlich. Gefühle, mit denen sie nicht umgehen konnte. Hunter benahm sich ähnlich wie Ethan, deswegen kam sie gut mit ihm zurecht. Hawk war noch besser, weil er gar nicht redete und sie die meiste Zeit ignorierte. Doch wen sie wirklich hasste, war Jay. Gleich schon, als sie ihn zum ersten Mal begegnete.

„Hallo.“, sagte Jay freundlich.

„Hallo.“, entgegnete Xiaofan reserviert.

„Ich heiße Jay Adams. Und wie heißt du?“

Statt zu antworten, schaute sie zu Ethan. Sie verstanden sich ganz ohne Worte, sodass er wusste, was sie wollte. Er nickte einmal und sie wandte sich wieder zu Jay. „Cheng Xiaofan.“

„Bitte, was?“

„Bist du taub?“

„Nein, nein. Der Name ist schwer auszusprechen.“

„Nicht mein Problem.“

„Weißt du was? Ich nenne dich Chris. Viel einfacher und es passt zu dir.“

„Nein!“

„Nicht?“

„Bist du dumm oder so?“

„Nein. Ich finde dich nur interessant, Chris.“ Dann lachte er und wandte sich ab.

Xiaofan sah Ethan verärgert an und er schüttelte nur den Kopf.
 

Es verging eine Woche.

Da sich Hunter und Rowen, sowie Jay und Hawk ein Zimmer teilten, schlief sie bei Ethan im Zimmer. Ihn störte es nicht und sie war froh, bei ihm wohnen zu können. Es war ihr einfach vertraut gewesen und nicht unangenehm, da sie sich auf ihrer Reise durch China schon ständig ein Zimmer geteilt hatten. Mit den anderen verstand sie sich dann auch bald besser. Ja selbst mit Rowen kam sie klar. Wenn man erstmal wusste, wie er tickte, war er ganz erträglich gewesen. Er war durch seine Tollpatschigkeit sehr speziell und man musste ihn einfach mögen. Doch Jay ging ihr nach wie vor auf die Nerven. Nicht nur seine ganze positive Art, sondern auch der Umstand, dass er sie ständig Chris nannte. Das führte dann soweit, dass es auch die anderen taten.
 

Sie versuchte Jay zu ignorieren, doch er schien es darauf anzulegen, sie zu nerven. Drei Wochen versuchte sie es eisern, doch dann hielt sie es einfach nicht mehr aus. Eines Nachts stellte Xiaofan Jay dann in seinem Zimmer zur Rede. Sie waren allein, da die anderen auf der Jagd waren.

„Hör mir mal gut zu!“, begann sie. „Ich kann dich nicht leiden und noch weniger mag ich es, wenn du mich Chris nennst. Ich bin keine Amerikanerin, sondern von chinesischer Herkunft. Also lass das gefälligst sein oder du wirst es bereuen.“ Das Gefühl von Wut kam ihr seit Neustem sehr leicht von der Hand. Allgemein etwas zu fühlen war neu, aber auch befreiend für sie gewesen.

„Tut mir leid.“, sagte Jay reumütig. „Ich hatte nur gedacht, na ja, neues Leben, neuer Name.“

„Wie bitte?“

„Dein altes Leben ging durch die Presse, musst du wissen. Ich habe darüber gelesen. Und ich meine, du wurdest von deinem Vater misshandelt und so. Du weißt ja, dass sie das Tagebuch veröffentlicht haben. Und da habe ich mir einfach gedacht, dass du das hinter dir lassen willst. Dein Name erinnert zu sehr an dein früheres Leben. Und da du dieses Leben aufgegeben hast, solltest du auch deinen Namen aufgeben, der dich bestimmt daran erinnert.“ Er lächelte. „Außerdem ist es wirklich schwer deinen Namen auszusprechen.“

Xiaofan war erstaunt. Sie dachte, dass er sie nur ärgern wollte. Wer hätte denn auch an so etwas Tiefgründiges gedacht. Diese Nettigkeit machte ihr Angst. Nie war jemand nett zu ihr gewesen.

„Wenn es dich wirklich so stört, dann höre ich auf. Versprochen.“, setzte er noch nach und senkte den Blick, um auf den Boden zu starren. „Ich wollte dich wirklich nicht verärgern. Nur es ist so… ich mag dich. Klar, wir kennen uns noch nicht lange und so, aber du hast mir auf Anhieb gefallen. Ich verstehe natürlich, dass du mich nicht magst, aber ich will, dass du es weißt.“

Es verschlug ihr die Sprache. Noch nie hatte ihr jemand positive Gefühle entgegengebracht. Was dachte er sich nur dabei? Und warum keimte so etwas wie Frohsinn bei diesen Worten in ihr auf? Es war ärgerlich. „War das alles?“, hörte sie sich fragen. Jay nickte. Dann trat sie auf ihn zu und er hob den Kopf. „Bist du mir böse?“

„Ich bin verwirrt.“

Er grinste. Dann beugte er sich ohne jede Vorwarnung zu ihr herunter und küsste sie. Nie gekannte Gefühle wallten bei dieser zärtlichen Berührung in ihr auf. Eigentlich hätte sie ihn wegschubsen sollen, aber es ging nicht. Auch wenn seine Lippen genauso kalt waren wie ihre, fühlte sie doch so etwas wie Wärme.

Aus dem Kuss wurde schnell mehr. Irgendwann lagen sie eng umschlungen auf seinem Bett. Doch als er anfing über ihren Körper zu streicheln, stoppte sie ihn.

„Warte!“

Sofort hörte er auf. „Tut mir leid.“, beteuerte er. „Ich wollte nicht… ich… oh man… Sorry. Ehrlich.“ Jay richtete sich auf und wollte aufstehen, doch sie hielt ihn zurück. Verwundert sah er sie an.

„Ich will dir nur eins sagen. Ich bin kaputt. Seelisch wie auch körperlich.“

„Ich weiß. Ich habe darüber gelesen.“

„Das allein reicht nicht. Ich wurde viele Male geschändet, geschlagen und verbal fertig gemacht. Ich bin nicht in der Lage etwas zu fühlen. Nicht solche Gefühle.“

„Ich verstehe.“

„Bist du sicher, dass du das tust?“

„Ich denke schon.“

„Und trotzdem willst du mich? Auch wenn du weißt, dass ich behindert bin?“ Er nickte. Jay legte sich wieder zu ihr und streichelte Xiaofan über die Wange.

„Du bist nicht behindert. Vielleicht auf Gefühlsbasis ein wenig unerfahren, aber sicher nicht behindert.“ Er lächelte. „Ich will dich wirklich. Glaub mir. Aber nicht, um mich körperlich zu befriedigen oder dich einfach als irgendein Objekt ansehen. Ich mag dich wirklich sehr gerne und wenn ich länger darüber nachdenke, habe ich mich auch ein wenig in dich verliebt. Das hier hat mehr mit Gefühlen zu tun. Es könnte dir wehtun.“

„Ich bitte dich. Ich habe schon lange keine Schmerzen mehr gefühlt. Und bei dieser Sache erst recht nicht. Dagegen bin ich immun.“

„Aber bisher war keine Liebe im Spiel. Möchtest du es trotzdem? Ich kann auch warten oder dich in Ruhe lassen. Ganz wie du es möchtest.“

Er ließ ihr die Wahl. Er ließ ihr tatsächlich die Wahl. Sie konnte entscheiden ob sie es wollte oder nicht.

Xiaofan schluckte und fing an zu zittern. Sie schaute in seine grünen Augen und erkannte, dass diese voller Wärme waren. Kein Hass und keine Abscheu. Nur irgendwie Wärme.

„Also gut.“, flüsterte sie. Jay lächelte und küsste sie wieder.

Und er hatte Recht. Es tat weh. Soviel Rücksichtnahme und Gefühl war schmerzhaft und qualvoll für Xiaofan. Trotzdem hatte sie nie Schöneres erlebt.
 

Von da an mochte sie Jay von Tag zu Tag mehr und mehr. Natürlich konnte sie ihren Wesenszug nicht von jetzt auf gleich vollständig ablegen, doch je mehr Zeit sie mit Jay verbrachte, desto fröhlicher wurde sie. Sie genoss es mit ihm zusammen zu sein. Mal redeten sie, mal liebten sie sich. Bald schon teilten sie sich ein Zimmer und Xiaofan machte den Wandel zu Chris durch. Sie hatte sich nie besser gefühlt. Sie hatte Freunde, auf die sie sich verlassen konnte und sie hatte Jay. Den Mann, den sie über alles liebte. Was komisch war, denn das hätte sie nie für möglich gehalten. Niemals. Jay nahm sie so, wie sie war. Kaputt und zerfressen und machte eine völlig neue Frau aus ihr.

Chris.
 

And that’s all?
 

Erstmal frohes neues Jahr euch allen. Da noch Januar ist, kann ich das ja noch sagen, ne? Gut. Das Kapitel ist jetzt keine Glanzleistung und vorerst höre ich mit den Lebensgeschichten der anderen auf. Freut euch schon auf das nächste Kapitel, dann wird es wieder spannender *smile*

Upload ist dann zwischen dem 20. und dem 24. Februar. Ich hoffe, ihr haltet bis dahin durch. Und danke für die ganzen lieben Kommentare. Das war das schönste Weihnachtsgeschenk überhaupt.

Bis denn dann
 

BabyG

Wolfsjammer

Angst ist ein starkes Gefühl. Ein Gefühl, dass bei jedem Menschen unterschiedlich stark und schwach ausgeprägt ist. Manche suchen geradezu den Nervenkitzel um von dem ausgestoßenen Adrenalin berauscht zu werden. Es gibt unterschiedliche Arten von Ängsten. Sei es die Angst um die Existenz, die Angst um die eigene Familie oder aber die Angst vor engen Räumen oder Tieren.

Shana hatte nicht viele Ängste. Doch das sollte sich bald ändern. Eine neue Angst sollte hinzukommen. Die Angst vor Werwölfen.
 

„Geht es dir etwas besser?“, fragte Chris besorgt. Shana nahm einen Schluck von ihrem Wasser und atmete einmal tief durch.

„Ja. Es geht wieder.“

Nachdem Chris Shana durch die halbe Stadt geschleift hatte, machten sie in einem Schnellrestaurant halt. Sie setzten sich in eine ruhige Ecke und Shana fing an zu essen. Trotz der Ereignisse mit Akiko, haute sie ordentlich rein. Nachdem sie zwei Hamburger verschlungen hatte und gerade bei ihren Pommes war, begann Chris, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Shana riss sich so lange zusammen, bis Chris geendet hatte, rannte dann auf die Toilette und übergab sich. Mehrmals.
 

Sie liefen schon etwas länger durch die Gegend, damit Shana sich erholen konnte.

„Du siehst immer noch sehr blass aus.“

„Mir geht es gut. Ehrlich.“

„Tut mir leid. Ich wollte nicht, dass es dir schlecht geht.“

„Du kannst ja nichts dafür. Ich meine, es ist deine Lebensgeschichte. Da kannst du nicht viel dran ändern.“

„Ich hätte es vielleicht ein bisschen schöner formulieren können. Außerdem, wenn ich gewusst hätte, dass du so reagierst, dann hätte ich sie dir nicht erzählt.“

Shana lächelte verkrampft. Allein der Gedanke an Chris` Lebensgeschichte bereitete ihr Unbehagen. Sie nahm einen weiteren Schluck von ihrem Wasser. Chris seufzte. „Ich hätte es dir wirklich nicht erzählen sollen.“

„Du musst dir keine Vorwürfe machen, Chris-chan. Ich war nur so überrascht, dass du zu deinen Lebzeiten so anders warst. Ich kann es mir nur sehr schlecht vorstellen. Und dass dein Vater so ein Mistkerl war, ist wirklich unglaublich. Ich bewundere dich, dass du das ausgehalten hast.“ Chris lächelte, sagte aber nichts weiter dazu.

Sie gingen noch eine Weile schweigend nebeneinander her. Shana hatte sich inzwischen soweit wieder erholt, dass ihre Gesichtsfarbe nicht mehr der von Chris glich.

„Soll ich dich zurückbringen?“ Shana nickte. Sie spürte, wie Chris ihre Arme um sie schlang und an sie presste. Im nächsten Moment befanden sie sich auch schon auf einem Dach. Shana kniff ihre Augen fest zusammen und klammerte sich an Chris. Doch es war keine Angst, die sie zu dieser Tat bewegte. Ganz und gar nicht. Sich mit Chris fortzubewegen war mehr als nur angenehm gewesen. Doch sie befürchtete, dass ihr wieder schlecht werden würde, wenn sie die Augen offen behielt.

Den Weg zu Mika verbrachten sie schweigend. Erst als Chris Shana auf dem Balkon von Mikas zu Hause absetzte, fühlten sie sich wieder in der Lage zu sprechen. Chris musterte Shana eingehend, als sie wieder genügend Abstand zu einander hatten. Shana bemerkte es. „Mir geht es wirklich gut.“, beteuerte sie.

„Ich bin noch nicht ganz überzeugt.“

„Du konntest ja nicht wissen, dass ich so reagieren würde. Du musst dir um mich keine Sorgen machen.“

„Mir tut es trotzdem leid.“

Shana lächelte. Dann wandte sie sich von Chris ab, lehnte sich leicht an die Balkonbrüstung und starrte in die Nacht. Chris trat neben sie.

„Darf ich dir eine Frage stellen, Chris-chan?“

„Natürlich. Du kannst mich alles fragen.“

„Ethan und du… Wart ihr nur Freunde?“

Chris schwieg einen Moment. „Ja. Nur Freunde. Mehr nicht. Wieso fragst du?“

Shana zuckte leicht mit den Schultern. „Nur so.“

„Sicher? Du machst den Eindruck, als würde mehr dahinter stecken.“

Shana seufzte. „Naja. Es ist schwer vorstellbar, dass du mit Ethan befreundet warst. Ethan ist so… du weißt schon. Ihr seit so grundverschieden.“ Chris fing plötzlich an zu kichern und Shana sah sie ein wenig verärgert an. „Was ist daran so komisch?“

„Entschuldige bitte. Du bist nicht die Erste, die mich das fragt. Weißt du, Ethan und mich verbindet etwas. Es liegt nicht nur daran, dass wir unser Blut miteinander geteilt haben. Das trifft es nicht ganz. Wir verstehen uns eher auf mentaler Ebene. Ich weiß wie er denkt und er weiß wie ich denke. Wir respektieren und achten einander. Zumindest war es so, als wir in China waren. Doch seit ich mit Jay zusammen bin und mein Charakter so gegensätzlich dem von früher ist, hält Ethan Abstand zu mir. Ich verstehe ja, dass ihn meine Art nervt, aber er kapselt sich ab. Ich mache mir Sorgen, dass er noch einsamer wird.“ Chris seufzte entmutigt, was zu ihrem sonst so heiteren Gemüt überhaupt nicht passte.

Shana konnte sich das alles nicht so wirklich vorstellen. Ethan und einsam? Er wollte es doch so oder nicht? Niemand zwang ihn dazu, Einzelgänger zu sein. Er wies doch jeden von sich der ihm zu Nahe kam.

„Shana-san?“ Chris drehte sich zu ihr um und Shana ahnte nichts Gutes. „Ja?“, fragte sie deswegen vorsichtig.

„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“

„Was denn?“

„Freunde dich bitte mit Ethan an.“

„Was?“ Shana war entsetzt. Das konnte doch nicht ihr ernst sein.

„Hör mir erst zu, bevor du widersprechen willst. Ethan braucht einen Freund. Er kommt zwar mit allen aus dem Clan aus, aber er distanziert sich. Nie würde er ihnen von seinen Problemen erzählen. Es gibt Leute, die sterben an Einsamkeit. Ich will nicht, dass Ethan auch so ein Schicksal widerfährt.“

„Das kannst du nicht von mir verlangen. Wir hassen uns. Ich will nicht mit ihm befreundet sein! Warum ich? Warum nicht du?“

„Er lässt mich nicht an sich ran.“, gestand Chris ein wenig beschämt.

„Ach und mich lässt er oder was?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht. Du sollst ja nicht gleich seine beste Freundin werden. Kümmere dich einfach ein wenig um ihn. Mehr verlange ich doch nicht. Vielleicht öffnet er sich dir von selbst, irgendwann.“

Chris klang leicht verärgert, was Shana ihr noch nicht mal übel nehmen konnte. Doch es war ihr egal. Chris war anscheinend nicht klar, was sie da verlangte. „Er hasst mich und ich hasse ihn. Das funktioniert einfach nicht.“

„Versuch es doch wenigstens. Was kann denn schon groß passieren?“

Shana viel da so einiges ein, aber das verschwieg sie Chris besser. Sie sah sie mit großen Augen an. Shana seufzte. Wie konnte sie diesen Rehaugen auch widerstehen? „Na gut.“, beteuerte sie zähneknirschend. „Aber das gefällt mir nicht, nur damit du es weißt. Und ich weiß, dass es ein sehr böses Ende nehmen wird.“, grummelte Shana.

Chris ignorierte diese Voraussage und umarmte sie. „Danke. Das bedeutet mir viel. Du hast was gut bei mir.“

„Das will ich auch hoffen.“

Chris drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Ihre kalten Lippen hinterließen ein Kribbeln auf ihrer Haut. „Ruh dich aus und schlaf eine Nacht drüber. Dann kannst du dich vielleicht an den Gedanken gewöhnen.“ Chris lächelte sie noch einmal freundlich an und war im nächsten Moment verschwunden.

Shana konnte sich ein aufseufzen nicht verkneifen, bevor sie wieder nach drinnen ging. Es dauerte auch nicht lange, bis sie umgezogen im Bett lag.

Geistesabwesend starrte sie an die Decke und ließ den Tag noch einmal Revue passieren, beziehungsweise die Nacht. Sie dachte über Chris und ihr Leben nach. Chris hatte es mit ihrer Familie wirklich schlimm getroffen. Shana wusste nicht ob sie das ausgehalten hätte. Hätte sie das so einfach hinnehmen können? Wahrscheinlich nicht. Doch Ethan hatte sie gerettet und Jay hatte ihr ihre Lebensqualität wiedergegeben. Bei den Gedanken an Ethan, wallte Zorn in ihr auf. Was dachte Chris sich überhaupt dabei, so was von Shana zu verlangen? Wahrscheinlich nichts. Eine Freundschaft mit Ethan. Wie sollte das funktionieren? Ihr kam schon die Galle hoch, wenn sie nur an ihn dachte. Und dann gleich eine Freundschaft? Er hasste sie. Das hatte er ihr deutlich genug gesagt. Und Shana glaubte nicht, dass er seine Meinung ändern würde, nur weil Chris sich in den Kopf gesetzt hatte, dass er eine Freundin brauchte.

Shana seufzte. Das war ein Versprechen, dass sie unmöglich halten konnte.
 

Der Vormittag am nächsten Tag verlief recht ereignislos. Shana schlief lange und machte sich dann am Nachmittag auf den Weg nach Hause. Familie Kusuragi wollte sie natürlich noch länger bei sich behalten, aber Shana war wieder gesund und konnte diese Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen. Außerdem war ihre Mutter sicher schon wütend genug und sie wollte dieses Gespräch nicht noch länger hinauszögern. Doch um nicht gänzlich undankbar zu erscheinen, ließ sie sich von Mika in der Limousine nach Hause fahren. Als sie dort ankam, runzelte sie verwundert die Stirn. Das Familienauto stand auf der Auffahrt und die Kofferraumtür war geöffnet. Sie konnte einige Gepäckstücke im Kofferraum ausmachen. Etwas irritiert öffnete sie die Haustür. Zu ihrer Überraschung stand ihr Vater im Flur. Und das nicht im Anzug, sondern in Freizeitkleidung. Aber was machte er zu Hause? Sonntags war er doch sonst immer zu irgendwelchen Geschäftsessen unterwegs oder spielte Golf.

„Hallo Vater.“ Shana verneigte sich leicht. Ihr Vater, Taro Minabe, sah sie leicht verärgert an. „Shana. Hast du also doch den Weg nach Hause gefunden? Was denkst du dir überhaupt, Kusuragi-sama so lange zu belästigen?“

Shana wollte zu einer Antwort ansetzten, aber ihr Vater hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. „Sag nichts. Ich will deine Ausreden nicht hören. Wie konnte ich nur an so einen Nichtsnutz wie dich geraten? Du bist eine Schande.“

„Verzeih mir, Vater. Es wird nicht wieder vorkommen.“

„Das will ich auch hoffen. Du beschmutzt das Ansehen der Familie.“, sagte er missgelaunt. Dann wandte er sich ab und ging ins Wohnzimmer.

Jetzt war Shana zwar gedemütigt, aber immer noch nicht schlauer. Sie schlüpfte aus ihren Straßenschuhen und zog ihre Hauspantoffel an. Kaum, dass sie den Flur betreten hatte, tauchte ihre Mutter auf. Sie trug ihren Reisekimono und einige Frischhalteboxen mit Essen. Was zum Teufel war hier eigentlich los?

„Was machst du denn hier?“, fragte sie. Shana zuckte etwas zurück. Die Verachtung in der Stimme ihrer Mutter gefiel ihr nicht. „Ich dachte, wir wären dich endlich los.“ Shana konnte die Enttäuschung ihrer Mutter spüren.

„Verzeih mir, Mutter.“

„Du kommst zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.“, wischte sie ihre Entschuldigung weg.

„Warum? Ist etwas passiert?“

Ihre Mutter blickte zornig. So als ob Shana etwas für ihre Unwissenheit konnte. „Deine Großmutter ist krank und wir fahren für eine Woche zu ihr um sie zu pflegen. Und du bleibst hier, verstanden?“

Shana war erstaunt. Eine Woche ohne ihre Familie? Jippie. Doch sie musste ihre Freude zügeln und Anteilnahme heucheln. Obwohl das eigentlich nicht notwendig war, da ihre Großmutter sie noch mehr hasste, als ihre Familie. Sie nannte Shana immer liebevoll Dämon oder Saatgut des Bösen. Wenn Shana ihre Großmutter besuchte, bespritzte diese sie immer mit Weihwasser und versuchte sie mit Bannzetteln aus dem Haus zu vertreiben. „Dann wünsche ihr eine gute Besserung von mir.“, sagte Shana hastig.

„Wir wollen, dass sie gesund wird. Deine Genesungswünsche treiben sie wahrscheinlich direkt ins Grab.“

Wenn es doch nur so wäre. Bevor Shana etwas erwidern konnte, kam ihr Vater mit Ken aus dem Wohnzimmer.

„Dann lasst uns fahren.“, sagte ihr Vater. „Benimm dich!“, brummte er an Shana gewandt und ihre Familie verließ dann geschlossen das Haus.

Shana war alleine. Eine ganze Woche war sie alleine. Ihre Beine zitterten etwas, als sie in ihr Zimmer ging. Sie legte ihre Tasche ab und starrte sich im Spiegel an. Alleine. Ohne ihre Familie. Wenn sie in der Lage gewesen wäre zu weinen, dass hätte sie bestimmt literweise Tränen vergossen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Sie war gerade dabei zu überlegen, was sie mit ihrer Einsamkeit anstellen sollte, als ihr Handy klingelte. Der blecherne Klingelton ließ sie zusammenfahren. Dieses dämliche alte Schrottteil. Shana kramte es aus ihrer Tasche und ging ran. „Hallo?“

„Hey. Ich bin es, Mika.“

„Ist etwas passiert?“ Warum rief sie an? Sie hatten sich doch gerade erst gesehen.

„Hast du Zeit?“

„Hast du so eine Sehnsucht nach mir?“

„Das auch. Aber ich will mich mit Sho treffen.“

Shana setzte sich aufs Bett. Den Zusammenhang verstand sie nicht so ganz. „Und was habe ich damit zu tun?“

„Nun ja… wie soll ich sagen…“ Shana wunderte sich. Sonst war Mika doch nie um Worte verlegen, sehr zu ihrem Leidwesen. Sie ahnte Böses, als Mika am anderen Ende der Leitung tief Luft holte. „Also. Ich habe Vater gesagt, dass ich mich mit dir in der Stadt treffe, obwohl ich mich eigentlich mit Sho treffen wollte. Vater meinte dass er in der Stadt zu tun hat. Er hat mir dann vorgeschlagen, mich mitzunehmen und wir Drei uns dann treffen und was essen gehen könnten, nach seinem Termin. Ich konnte ihm nicht die Wahrheit sagen. Du weißt ja wie er über Männer in meinem Leben denkt. Aus diesem Grund rufe ich an. Würde es dir etwas ausmachen dich mit mir und Vater treffen? Wenn er dann geht, will ich mich mit Sho treffen.“

Shana schwieg. Mika war wirklich abgebrüht, aber sie konnte es ihr nicht verübeln. Hiroshi war zwar lieb, nett und sehr tolerant, aber den zukünftigen Mann von Mika wollte er aussuchen. In dieser Sache war er sehr streng gewesen.

„Okay.“, stimmte Shana dann zu. Sie schuldete Mika für die vergangenen Tage etwas. Und ein Treffen mit Hiroshi war ihr nicht unangenehm. Und im Prinzip hatte sie eh nichts zu tun, also warum nicht? „Holst du mich ab?“

„Du machst es?“

„Habe ich doch gerade gesagt.“

„Ich liebe dich.“

„Jaja. Holst du mich nun ab oder nicht?“

„Natürlich. In einer Stunde sind wir da.“

„Gut. Bis dann.“ Shana legte auf.
 

Die Stunde Wartezeit vertrieb sie sich mit umziehen und fernsehen. Und ehe sie sich versah, saß sie auch schon in der Limousine zusammen mit Mika und ihrem Vater. Nach dem Termin von Hiroshi fuhren sie dann in die Stadt und er lud „seine Mädchen“ zum Essen ein. Es war wunderbar. Er ließ die beiden erst alleine, als es bereits dunkel war.

Gemeinsam gingen die Mädchen dann zum Treffpunkt, wo Mika und Sho sich verabredeten hatten.

„Ach ja, Shana.“, begann Mika aus heiterem Himmel. „Weißt du eigentlich schon, dass für zwei Wochen die Schule ausfällt?“

Shana blieb ruckartig stehen. „Was?“ Auch Mika blieb stehen. „Es kam in den Nachrichten, die Schule hat ein Problem mit Ungeziefer. Das Ausräuchern dauert zwei Wochen haben die im Fernsehen gesagt.“

„Wirklich?“

„Ja.“

Shana fing an zu grinsen. Meinte das Schicksal doch gut mit ihr? Hatte sie doch endlich mal Glück?

Während des ganzen Weges zum Treffpunkt strahlte sie wie ein Honigkuchenpferd. Als Shana Mika sicher bei Sho abgeliefert hatte, verabschiedete sie sich von den Beiden und machte sich auf den Weg nach Hause. Da es schon spät war, fuhr weder Zug noch Bahn, also musste Shana laufen. Und sie konnte sich darüber noch nicht einmal ärgern. Dafür hatte sie viel zu gute Laune. Sie war von diesem Gefühl so sehr beflügelt, dass sie nicht wirklich merkte, welche Wege sie einschlug.

Erst ein Geräusch brachte sie wieder in die Realität. Shana zuckte zusammen und bemerkte auf einmal, wo sie sich befand. Geistesabwesend, wie sie war, war sie durch eine Häusergasse gelaufen. Links und rechts an den Häuserwänden befanden sich Müllcontainer und diverser anderer Unrat. Diese Gasse wurde von einer Laterne nur schwach beleuchtet. Das Geräusch, welches sie erschreckt hatte, war von einer Katze gekommen, die eine leere Dose umgeworfen hatte. Shana atmete auf.

Doch plötzlich kam ihr dieses Schema sehr bekannt vor. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper, als sie sich wieder erinnerte, woher sie diese Szene kannte. Ethan hatte sie zu so einer Gasse geführt, als er ihr einen Beweis für die Existenz von Werwölfen liefern wollte. Sollte sie umkehren? Aber sie konnte das Ende der Gasse schon sehen. Es waren vielleicht nur noch dreißig Meter und dann wäre sie wieder auf einer belebten Straße.

Stell dich nicht so an, schalt sie sich in Gedanken. Shana atmete tief durch und machte einen Schritt. Wieder ertönte ein Geräusch und sie drehte sich um, konnte jedoch nichts sehen. Als sie sich umwandte, um aus der Gasse zu rennen, standen plötzlich zwei Gestalten vor ihr. Ihr Herzschlag setzte für zwei Momente aus. Entweder waren das Typen, die sie vergewaltigen oder ausrauben wollten, oder es waren Werwölfe. Was anderes konnte sie sich nicht vorstellen, denn die Beiden grinsten auf unangenehme Weise.

Shana machte einen Schritt nach rechts, doch einer der Beiden stellte sich ihr in den Weg. Er hatte schwarzes schulterlanges Haar. Seine Augen waren so dunkel, dass sie seine Augenfarbe nicht bestimmen konnte.

„Wo willst du denn hin, Süße?“ Seine Stimme hatte einen tiefen Bass und Shana lief es eiskalt den Rücken runter. Er trat noch einen Schritt auf sie zu und Shana rümpfte die Nase. Ein unangenehmer Gestank wehte zu ihr herüber. Es war nicht übermäßiges Parfüm gewesen, sondern er stank nach totem Fleisch. Der Geruch kam ihr bekannt vor und dann erinnerte sie sich wieder. Die Typen, die Ethan bei ihrer ersten Begegnung verfolgt hatten, stanken genauso. Also doch Werwölfe?

„Lass mich bitte vorbei.“ Shana machte noch einen Schritt nach rechts, aber der Typ tat es ihr gleich.

„Bleib doch noch ein bisschen hier. Wir werden dich auch bestimmt nicht langweilen.“ Nun lachte auch der andere Typ, der sich eher im Hintergrund hielt. Shana sah kurz zu ihm. Er hatte kurze blonde Haare und sah nicht wie ein Japaner aus. Ausländer? Langsam tastete sie in ihrer Tasche nach der halben Telefonzelle, die sich Handy nannte. Doch kaum hatte sie es in der Hand, da war es auch schon wieder weg. Der Typ vor ihr hatte es. Das ging so schnell, dass Shana noch nicht mal gesehen hatte, wie er es sich gegriffen hatte.

„Das wirst du nicht brauchen.“ Dann zerquetschte er das Handy mit der bloßen Hand und ließ das, was davon noch übrig war, zu Boden fallen. Das reichte. Werwolf oder nicht. Niemand verging sich an ihren Sachen. Sie verdrängte das natürliche Gefühl von Angst und ersetzte es durch Wut. Sie war sich der Gefahr einfach nicht bewusst.

„Spinnst du?“, fauchte sie ihn an. Der Typ schien etwas verdutzt, doch dann grinste er. „Was für eine Wildkatze. Oder was meinst du, Jean?“

Der Blonde lachte. „Da stimme ich dir zu, Kato.“

Shana wurde jetzt richtig wütend. „Geht mir endlich aus dem Weg!“, befahl sie. Doch anstatt, dass sie vor Ehrfurcht zurückwichen, lachten sie nur wieder. Wäre ja auch zu schön gewesen. Shana versuchte sich an Kato vorbeizudrängeln und schubste ihn ein wenig, doch er ergriff ihr Handgelenk und schleuderte sie an die Wand. Irgendwas knackte und Shana verspürte Schmerzen. Vielleicht hatte sie sich eine Rippe angeknackst, aber sie konnte sich nicht sicher sein. Aber im Grunde war ihr das egal, denn jetzt bekam sie es richtig mit der Angst zu tun. Dieser Kato hatte wirklich außergewöhnliche Kraft. Drohend stand er vor ihr.

„Du gehst nirgendwohin.“, bellte Kato. Shana wurde übel und fing an zu zittern. Kato trat einen Schritt zurück. „Vielleicht sollte ich dir mal zeigen, mit wem du es hier zu tun hast, Süße.“

In einem Moment stand noch ein Mensch vor ihr und im nächsten ein über zwei Meter großer, beharrter, schwarzer Werwolf. Shana öffnete den Mund um zu schreien, doch kein Laut entwich ihrer Kehle. Der Wolf zeigte seine Zähne und fing an zu jaulen. Ihre Knie gaben nach und sie sackte an der Hauswand zu Boden. Wie war das noch mal? Das Schicksal meinte es gut mit ihr? Von wegen.

Jean lachte. „Mensch Kato. Erschreck die Kleine doch nicht so.“ Und dann verwandelte Jean sich ebenfalls. Er hatte gelb- orange Fell, doch das interessierte Shana nicht. Sie würde sterben.

Ihr Atem ging stoßweise und ihre Arme fielen schlaff herunter. Plötzlich fühlte sie etwas Kaltes an ihrer rechten Hand. Sie schielte hinunter. Ihre Hand hatte eine Rohrstange ertastet. Sollte sie es wirklich wagen sich zu wehren oder sich kampflos ihrem Schicksal ergeben?

Kämpf, du dusselige Kuh! Shana holte tief Luft und umfasste die Rohrstange. Zitternd stand sie auf. Die Werwölfe lachten.

„Wie niedlich.“, spottete Kato. Ein wenig wunderte Shana sich, dass sie in dieser Form sprechen konnten, aber was wusste sie schon? Sie schob den Gedanken beiseite, weil sie sich auf andere Sachen konzentrieren musste. Mit festem Blick sah sie die Werwölfe an. „Ich mach euch fertig!“ Ihre Stimme klang nicht so entschlossen, wie sie eigentlich sollte, aber was machte das schon. Man konnte schließlich nicht alles haben. Sie ergriff mit beiden Händen die Rohrstange. „Na los! Wenn ihr mich fressen wollt, dann müsst ihr wohl mit mir kämpfen.“

„Nur zu gerne, Süße.“ Kato kam wieder auf sie zu. Dann beugte er seine Knie und sprang Shana an. Sie schrie, kniff die Augen zusammen und holte aus. Es erklang ein dumpfes Geräusch und sie spürte, wie ihre Hände und Arme anfingen zu schmerzen. Sie biss sich auf die Lippe, damit sie die Rohrstange nicht fallen ließ. Shana öffnete sie Augen und sah, dass Kato etwas entfernt von ihr auf dem Boden lag.

Jean lachte. „Na jetzt hat sie es dir aber gegeben.“

Kato stand auf und schüttelte den Kopf. Ein tiefes Knurren drang aus seiner Kehle. „Na warte. Das büßt du mir!“, drohte er mit seiner tiefen Stimme.

Shana wusste, dass ihr Trick nicht ein zweites Mal funktionieren würde. Das war es dann wohl. Zumindest hatte sie ihn einmal getroffen. Ein befriedigendes Gefühl und wohl auch ihr letztes.

Als Kato wieder auf sie zugehen wollte, ertönte plötzlich ein lauter Knall und die Werwölfe sprangen beide zurück. Knurrend wandten sie ihre Köpfe nach oben. Anstatt wegzurennen und dankbar für diese Ablenkung zu sein, tat sie es ihnen gleich. Eine dunkle Gestalt stand auf einem der Dächer. Dann machte sie einen Schritt nach vorn und segelte zu Boden. Shana schluckte, als diese Gestalt sanft wie eine Katze vor ihr landete. Diesen Ledermantel kannte sie doch.

„Ich hoffe, dass ist keine Privatparty und ich darf auch ein bisschen mit feiern.“, sagte die Gestalt.

Shana zitterte. „Ethan?“, flüsterte sie.

„Wer sonst, blöde Kuh?!“
 

And that´s all?
 

Oh man. Schlimmes Kapitel. Da war nix mehr zu retten. Sorry wegen der Verspätung, aber im Moment kriegen alle meine Freunde ihre Kinder und des is etwas stressig.

Nun gut. Erstmal wie immer vielen lieben Dank für die Kommentare. Mein einziger Lichtblick im Moment. Nächstes Update ist dann Ende März. Freue mich schon auf Kritik. Und sorry, dass es so kurz ist.

Bis denn dann
 

BabyG

24 Stunden Ethan

Ein Leben ist das Wichtigste, was ein Mensch besitzt. Manche schützen ihr Leben und passen auf sich auf, andere werfen es weg und wollen es schnell beenden. Doch was macht man, wenn es ungewollt gefährdet wird?

Shana sollte schnell herausfinden, was man machte, wenn das Leben von zwei Werwölfen bedroht wurde.
 

Shana war erstaunt. Es war tatsächlich Ethan, der da vor ihr stand. Und er beleidigte sie schon wieder. Aber diesmal sah sie es ihm nach. Immerhin würde er sie doch retten, oder?

„Blöde Kuh!“, knurrte er sie an. „Nur du schaffst es, diesen stinkenden Kötern zu begegnen.“

„Was kann ich denn dafür, dass du mich in diesen Irrsinn hineingezogen hast?“, versuchte sie sich zu verteidigen. Er tat ja gerade so, als ob sie die Werwölfe freiwillig aufgesucht und geschrieen hätte: „Hier bin ich, fresst mich!“ Was bildete Ethan sich überhaupt ein? Dieser blöde eingebildete Vampir!

Ethan schüttelte nur den Kopf. Und obwohl er mal wieder gemein zu ihr war, fühlte sie sich sicher. Eigentlich dürfte sie so etwas nicht fühlen, da immer noch Gefahr bestand. Und irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, wie Ethan sie retten sollte. Immerhin waren das zwei riesige Werwölfe und Ethan war allein und eher schmächtig. Kamen vielleicht die anderen noch? Hunter wäre ihr lieb. Sie mochte ihn zwar genauso wenig wie Ethan, aber er war groß und muskulös. Vorsichtig sah Shana sich nach allen Seiten um, doch sie konnte niemanden sehen.

„Na sieh mal einer an.“, meldete sich nun Kato zu Wort. Den hatte Shana schon fast vergessen. „Wenn das nicht ein ekelhafter Blutsauger ist.“

„Hast du ein Problem damit, Köter?“

Kato knurrte und fletschte die Zähne. „Sei bloß vorsichtig mit dem was du sagst.“

„Ich finde du solltest ihn nicht reizen, Ethan.“

„Halt die Klappe, blöde Kuh! Dich hat niemand gefragt.“

Shana zog einen Schmollmund. „Entschuldige bitte, dass ich versuche unser beider Leben zu retten.“

„Nerv mich nicht.“

„Nerv du mich nicht!“

„Können wir dann weitermachen?“, fragte Jean und kratzte sich hinter den Ohren. „Ich habe Hunger und fange an mich zu langweilen.“

„Aber gerne doch.“ Ethan knackte geräuschvoll mit den Fingern. „Wer will zuerst? Oder beide zusammen?“

Kato trat vor. „Diese Blutsaugerpest gehört mir.“

Ethan zuckte mit den Achseln. „Von mir aus.“ Er trat einen Schritt vor. Shana hatte das Gefühl, im völlig falschen Film zu sein.

Als das imaginäre Taschentuch gefallen war, gingen Kato und Ethan aufeinander los. Viel konnte Shana von diesem Kampf nicht sehen. Sie sah nur zwei schwarze Säulen, die immer wieder aufeinander prallten und sich dann wieder trennten. Verzweifelt suchte sie immer noch die Gegend ab. Wo zum Teufel war der Rest des Clans?

„Hau ab!“, schrie der schmächtige schwarze Schatten sie an. Natürlich. Auf diese Idee hätte sie auch selbst kommen können, doch sie weigerte sich. „Nein. Ich bleibe. Was soll dann aus dir werden?“, flüsterte Shana. Sie war sich nicht ganz sicher ob er sie hörte, aber zu mehr konnte sie ihre Stimme nicht erheben.

„Ich komme hier schon klar. Verschwinde endlich oder ich helfe nach!“ Mehr sagte Ethan nicht, weil er sich auf den Kampf konzentrieren musste. Shana blieb noch einen Moment regungslos stehen und nahm dann die Beine in die Hand. Sie hoffte wirklich, dass Ethan überlebte. Sie mochte ihn zwar nicht, aber sie rechnete es ihm hoch an, dass er für sie kämpfte, doch weit kam sie nicht, als sich plötzlich ein gelb-orangener Werwolf ihr in den Weg stellte. Shana blieb stehen und schrie leise auf.

Jean zeigte seine Zähne. „Wo willst du denn hin, Kleines?“

Shana kratzte all ihren Mut zusammen. „Verschwinde!“, befahl sie.

„Sorry, aber ich finde es nicht sehr nett von dir, einfach zu gehen. Zumindest solltest du dich verabschieden.“

„Tschüss.“

Jean gab eine Art hüsteln von sich, dass wahrscheinlich ein Lachen war. Während er damit beschäftigt war, sich zu amüsieren, fiel Shana auf, dass sie immer noch die Rohrstange in den Händen hielt. Einen Versuch war es wert. Und was hatte sie schon groß zu verlieren?

Shana umfasste fest die Rohrstange und rammte sie Jean in den Bauch. Er jaulte auf und ging leicht in die Knie. Shana ließ die Stange fallen und rannte, im wahrsten Sinne des Wortes, um ihr Leben. In was war sie da nur wieder rein geraten? Wo war ihr langweiliges und eintöniges Leben geblieben? Wann hatte sie darum gebeten, dass es aufregender wurde? Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so einen Wunsch geäußert zu haben.

Doch für solche Fragen hatte sie jetzt keine Zeit. Wie hoch war die Chance, dass sie das hier überlebte? Sehr, sehr gering. Ohne sich umzudrehen rannte sie weiter. Wahrscheinlich hatte Jean sich schon wieder erholt und folgte ihr jetzt. Sie wollte nicht sehen, wie er immer näher kam und sie dann packte und fraß.

Shana schrie auf, als etwas ihren Bauch umschlang und sie in die Höhe gerissen wurde. Als sie ihre zusammengekniffenen Augen öffnete, sah sie, dass es kein stinkender Werwolf war, sondern Ethan.

„Sin... sind sie…?“

„Schön wär’s.“ Er sprang auf das nächste Dach, rannte und sprang wieder. „Sie verfolgen uns. Wir müssen abtauchen.“

Shana klammerte sich fester an ihn und schaute zaghaft hinter sich. Auch die Werwölfe waren in Höhen gut zu Wege. Und sie kamen mit jedem Sprung näher.

Shana würde sterben. Mit Sicherheit würde sie sterben. Und der Letzte, den sie sehen würde, wäre Ethan. Verdammt! Konnte es nicht jemand sein, den sie mochte? Chris oder Jay? Oder Rowen? Musste es ausgerechnet Ethan sein? Was trieb das Schicksal eigentlich für einen blöden Scherz mit ihr?

Plötzlich fielen sie. Ganz ohne jede Vorwarnung landete Ethan in einer Seitenstraße und ließ Shana los. Hatte er also endlich eingesehen, dass Weglaufen nichts brachte? Würden sie sich jetzt ergeben? Genau diese Fragen stellte sie ihm, doch er beachtete sie mal wieder nicht. Er kniete sich hin und hob etwas Schweres, was im Boden eingelassen war, hoch. Shana brauchte einen Moment, um den Kanaldeckel zu erkennen, den Ethan da zur Seite schob.

„Runter!“, befahl er.

„Das ist doch nicht dein Ernst.“

„Ich habe keine Zeit für Diskussionen. Runter mit dir!“

„Ich denke ja nicht dran. Was glau-“ Weiter kam Shana nicht, denn da hatte Ethan sie schon gepackt und in den Kanalschacht geworfen. In den zwei Sekunden, in denen Shana fiel, schrie sie wie am Spieß, ehe sie mit einem lauten Platsch in eine Flüssigkeit eintauchte. Doch da blieb sie nicht lange. Prustend kam sie wieder an die Oberfläche und hätte sich am liebsten übergeben, als der Gestank über sie hereinbrach. Es war dunkel und laut. Nicht gerade ein Ort um sich wohl zu fühlen. Sie wollte gar nicht erst darüber nachdenken, woher der Gestank kam und was das für eine Flüssigkeit war, in der sie bis zur Hüfte stand. Sie konnte sich erinnern, dass Ethan zwar gesagt hatte, dass sie abtauchen mussten, aber musste der Idiot das auch so wörtlich meinen?

Da sie gerade an ihn dachte. Fast lautlos glitt auch er in die stinkende Brühe, fasste Shana am Arm und zog sie mit sich.

„Was soll das?“, keifte sie. So einfach würde sie sich diesmal nicht abspeisen lassen.

„Sei still! Sie sind über uns.“

Das reichte, um Shana zum schweigen zu bringen. Okay... Vielleicht ließ sie sich doch so leicht abspeisen. Aber beim nächsten Mal würde er nicht damit durchkommen. Falls es überhaupt ein nächstes Mal geben sollte.

Wortlos bewegten sie sich durchs Abwasser. Nach ungefähr zehn Minuten und mehreren Würgen brach Shana die Stille zwischen ihnen. Außerdem bereitete es ihr mehr und mehr Unbehagen, dass Ethan, seit sie hier unten waren, ihren Arm nicht losgelassen hatte. Obwohl sie ihm einerseits auch dankbar dafür war, denn sie sah nicht mal die Hand vor Augen.

„Wohin gehen wir?“ Der Gestank brannte ihr im Hals und sie musste gegen aufkeimende Tränen ankämpfen. Trotzdem würde ihr das nicht den Mund verbieten.

„Ich bringe dich nach Hause.“

„Findest du dich hier unten überhaupt zurecht?“

„Hm- mh.“

„Du hast keine Ahnung wo wir lang müssen?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Aber angedeutet.“

„Nein.“

„Ethan!“

„Was?“

„Es stinkt, es ist laut und dunkel, ich muss ständig dagegen ankämpfen mich zu übergeben und irgendwas schwimmt ständig um meine Beine herum! Ich will hier raus! Also solltest du wirklich besser wissen, wo es lang geht.“

Er murmelte etwas Unverständliches. Wahrscheinlich beschimpfte er sie, aber sie war froh, dass sie es nicht verstand. Ihre Nerven waren eh bis zum Zerreißen angespannt. Einen Streit mit Ethan konnte sie sich da einfach nicht leisten.

Bei der nächsten Biegung zog Ethan sie an sich. Shana schauderte. Hatten die Werwölfe sie doch entdeckt? Doch es war etwas weit banaleres. Er zog an ihrem Arm und legte ihn auf eine kalte Stange. Dann ließ Ethan ihren Arm los und fing an zu klettern. Es war die Sprosse einer Leiter gewesen. Wortlos zog sie sich hoch und folgte ihm. Als sie endlich wieder an der Oberfläche war, atmete sie tief durch. Doch das brachte nicht viel, weil sie nur Abwasser roch. Doch ihr fiel das Atmen ein wenig leichter. Shana schaute sich um, konnte jedoch nicht bestimmen, wo sie sich befanden. „Zumindest stinken wir so furchtbar, dass die Werwölfe unsere Fährte nicht aufnehmen können.“ Sie versuchte einen Witz zu machen, um die Stimmung ein wenig zu lockern, doch Ethan sah sie nur grimmig an. Er zog sie an sich und sprang auf das nächste Dach. Dieser Idiot, ohne Sinn für Humor!
 

Es dauerte dann auch nicht mehr lange und er setzte sie vor ihrer Haustür ab. Shana war noch nie in ihrem Leben so froh gewesen, zu Hause zu sein. Am liebsten hätte sie vor Dankbarkeit die Türklinke geküsst.

Nach einigen Anstrengungen schaffte sie es, ihre Haustürschlüssel aus ihrer nassen und zusammengeklebten Hosentasche zu bekommen und schloss auf. Als Shana sich zu Ethan umdrehte, war er immer noch da. Das wunderte sie, denn normalerweise verschwand der sofort, wenn er sie zu Hause abgesetzt hatte. Warum also war er immer noch hier? Die Sekunden verstrichen, in denen sie sich schweigend ansahen.

„Du lässt mich wohl nicht rein.“, schlussfolgerte Ethan. Was auch immer Shana getan hatte, dass er das glaubte.

„Warum sollte ich?“

„Die Sonne geht bald auf und diese stinkenden Köter streifen sicher noch durch die Stadt und suchen nach mir. Ich schaffe es sicherlich nicht rechtzeitig in die Gruft.“

Shana seufzte und trat zur Seite, so dass Ethan eintreten konnte. Dann verschloss sie fest die Haustür und machte das Licht an. Ethan zog scharf die Luft ein und senkte den Blick.

„Tut mir leid, aber ich kann in der Dunkelheit nicht sehen.“

Er versuchte sie mit seinen Blicken zu töten, als er sich soweit an das Licht gewöhnt hatte, dass er sie wieder ansehen konnte. Für Shana war das ja nichts Neues gewesen. Jetzt erst sah sie die Ausmaße ihrer Wanderung durch die Kanalisation. Sie beide waren von einem grün-, braun- grauen Schleim überzogen. Und natürlich stanken sie immer noch.

„Vorschlag.“, sagte Shana, als sie einen Augenblick nachgedacht hatte. „Du wartest hier und ich gehe duschen. Wenn ich fertig bin, dann gehst du, okay?“

Ethan überdachte den Vorschlag und nickte dann.

„Bleib bitte genau hier stehen und rühr dich nicht vom Fleck!“ Als Antwort bekam sie Todesblicke. Auch recht.

Sie zog ihre Schuhe aus und ging nach oben. Auf dem Weg dorthin hinterließen ihre Socken undefinierbare Abdrücke, aber das kümmerte sie im Moment nicht. Ihr einziger Gedanke galt der Dusche und das heiße Wasser, welches ihr den Dreck vom Körper waschen würde. Im Badezimmer angekommen entledigte sie sich ihrer stinkenden Kleidung und stopfte sie in die Waschmaschine. Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis sie sich halbwegs sauber fühlte. In Handtücher gewickelt huschte sie in ihr Zimmer und zog sich saubere Kleidung an. Dann ging sie wieder zu Ethan. Immer darauf bedacht den stinkenden Fußabdrücken auf dem Boden auszuweichen.

Ethan stand immer noch im Flur und inspizierte sein Handy. „Du kannst jetzt duschen gehen.“ Er steckte sein Handy in seinen Mantel und ging nach oben. Während Ethan duschte, holte Shana Putzzeug hervor und beseitigte den Dreck, den beide hinterlassen hatten. Da Ethan keine Sachen zum wechseln dabei hatte, suchte Shana ihm was zum anziehen. Die Sachen von ihrem Vater passten ihm wohl kaum und einen Yutaka würde Ethan mit Sicherheit nicht anziehen. Engländer trugen so was schließlich nicht. Also musste sie wohl oder übel bei Ken nach Kleidung suchen. Es war unangenehm und demütigend, als sie das Zimmer ihres Bruders betrat. Ken hatte so viel mehr als sie. Ein größeres Bett, einen größeren Schrank und einen größeren Schreibtisch. Und er besaß im Gegensatz zu ihr einen Computer und diverse Spielkonsolen. Man sah sofort, wer mehr geliebt wurde. Shana seufzte und öffnete den Schrank. Sie musste schon eine ganze Weile suchen, bis sie halbwegs annehmbare Kleidung gefunden hatte. Ethan hielt sicher nichts von weißen gestärkten Hemden oder karierten Pullundern. Sie zog eine schwarze Schlafanzughose heraus und fand zum Glück noch ein weißes T- Shirt. Als sie die Unterwäsche von Ken begutachtete, musste sie grinsen. Ethan würde sicher keine weiße Feinripp-Unterwäsche tragen, aber sie wollte ja nicht, dass er keine Unterwäsche trug, also packte sie eine davon auf den Kleiderstapel. Schnell und erleichtert verließ sie das Zimmer von Ken wieder.

Sie klopfte an die Badezimmertür. „Ethan?“ Sie bekam keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Eigentlich wollte sie die Kleidung im Vorraum hinlegen und dann wieder verschwinden. Doch dieses Vorhaben wurde ihr gründlich vereitelt. Die Tür zum eigentlich Bad war offen und sie konnte Ethan dort stehen sehen. Um seine Hüfte hatte er ein Handtuch geschlungen. Seine Haare waren noch nass und es tropfte von seinen Haarspitzen. Doch das war es nicht, was Shana so einen Schock versetzte, dass sie die Kleidung fallen ließ. Okay, die halbnackten Tatsachen trugen vielleicht ein bisschen dazu bei. Was Shana aber vordergründig so schockte, war Blut, dass Ethan von der Schulter über den Arm lief und ein dunkler, blutender Fleck an seiner rechten Seite.

„Oh mein Gott, Ethan!“, stieß sie hervor.

Ethan sah sie an und runzelte leicht verwundert die Stirn. „Was?“, fragte er irritiert.

„Du blutest.“

„Nur ein Kratzer.“

„Nur ein Kratzer? Du bist verletzt!“

Er zuckte gleichmütig mit den Schultern, verzog daraufhin aber leicht das Gesicht. Von wegen nur ein Kratzer.

Shana reagierte schnell. Sie holte aus dem Schrank im Vorraum das Erste-Hilfe-Set und kam zu ihm. „Du musst verbunden werden.“

„Blödsinn!“

„Ethan! Du verblutest!“

„Ich bin ein Vampir. Solche Wunden verheilen bei mir schnell.“

„Ist mir egal was du bist.“, herrschte sie ihn an. Da seine Wunden schon gereinigt waren, holte sie die Kompressen heraus und legte die erste auf seine verletzte Schulter. Dann verband sie diese vorsichtig mit einer Mullbinde. Ethan knurrte.

„Beschwer dich nicht!“

„Blöde Kuh!“

„Von mir aus. Ist das zu fest?“

Ethan schnaubte und sie deute das als ein Nein. Nachdem sie den Verband mit Tapeband fixiert hatte, kümmerte sie sich um die Wunde an seiner Seite. Dafür ging sie in die Knie. Für jeden, der sie so gesehen hätte, wäre diese Pose eindeutig gewesen. So nah an seiner intimen Stelle zu sein behagte ihr nicht wirklich, aber Shana versuchte sich nur auf die Wunde zu konzentrieren.

Guck gefälligst auf das was du machst und nicht auf das, was zwischen seinen Beinen ist!, schalt sie sich.

Als Shana fertig war, packte sie das Verbandszeug wieder weg und reichte ihm die Kleidung. Wortlos ging Shana raus und machte die Tür zu.

Ihr Atem ging heftig und ihr Herz raste. Ethan hatte sich verletzt, als er sie gerettet hatte. Nur wegen ihr. Sie sah auf ihre Hände. Sie zitterten. Seine Haut war blass und kühl. Sie war von der Dusche noch feucht und fühlte sich glatt und hart an. Sie hatte noch nie die Haut eines Jungen berührt. Und nun war ihr erstes Mal in so einer Situation und dann auch noch mit Ethan. Mit einem Vampir. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Ihr wurde bewusst, wie nah sie Ethan war. Nicht nur seiner Haut, sondern auch anderen Körperstellen. Sie biss sich auf die Unterlippe um die aufsteigende Röte zu unterdrücken. Und da nannte sie ihn Perversling.

Die Tür vom Badezimmer öffnete sich. Ethan hatte nur die Schlafanzughose an. Im Flurlicht schimmerte seine Marmorhaut und es zeichneten sich deutlich seine Muskeln ab. Von wegen schmächtig.

„Wo ist euer Telefon?“

Shana erwachte aus ihren nicht ganz jugendfreien Fantasien. „Wozu brauchst du eins?“

„Mein Handy ist kaputt gegangen und ich muss Rowen Bescheid sagen.“

Shana brauchte einen Moment um den Sinn seiner Worte zu begreifen, da sie immer noch von seinem Körper befangen war. „Ähm… im Flur.“

Ethan ging an ihr vorbei nach unten. Shana atmete einmal tief durch und ging dann das Badezimmer putzen.

Als sie fertig war, folgte sie Ethan nach unten. Er telefonierte immer noch. „Woher soll ich das wissen?“, knurrte er in den Hörer. „Nein Rowen… Ja ich bin mir sicher… Keine Ahnung… Zufall? Das glaubst du doch wohl selber nicht… ja… bis dann.“ Er legte auf.

„Was sagt Rowen-san?“

„Geht dich nichts an.“

„Entschuldige bitte, dass ich gefragt habe.“, gab sie zerknirscht zurück.

„Wo kann ich schlafen?“, fragte Ethan nach einem kurzen Moment der Stille.

„Schlafen?“, fragte Shana verwundert. „Du schläfst?“

„Was geht es dich an? Das war nicht meine Frage.“

„Kannst du vielleicht mal aufhören, mich ständig so abzufertigen? Ich weiß nicht viel über euch Vampire und eure Gewohnheiten.“

„Stimmt. Das, was du herausgefunden hast, war ziemlicher Blödsinn. Särge und Totenstarre. Wirklich amüsant.“ Er grinste, was Shana ziemlich wütend machte. „Dann sag mir einfach was stimmt. Mit mir redet ja keiner.“

„Du fragst ja auch nicht.“

„Jetzt frage ich!“

Ethan sah sie grimmig an. Shana wusste selbst, dass sie ab und zu eine kleine Klugscheißerin war, aber das interessierte sie im Moment nicht wirklich.

„Vampire dösen.“, war seine einfache Antwort.

„Sie dösen?“

„Richtig schlafen können wir nicht. Deswegen verbringen wir einen Teil des Tages in einer Art Dämmerschlaf oder eben dösen.“

„Warum?“

„Was warum?“

„Ich meine, eigentlich müsstet ihr doch gar nicht schlafen.“

„Ach ja? Bleib du mal ein paar Tage wach ohne die Augen zu schließen. Auch wir müssen ruhen. Was bringt man euch heutzutage eigentlich bei?“

„Nichts über Vampire.“

„Ziemlich dumm.“

Shana seufzte. „Du kannst in meinem Zimmer schlafen.“

Ohne ein weiteres Wort ging er nach oben. Er wusste ja, wo ihr Zimmer war. Doch auf der Hälfte der Treppe blieb Ethan plötzlich stehen. „Zieh überall die Vorhänge vor. Sonnenlicht ist nicht mein Fall.“ Es klang natürlich mehr nach einem Befehl, als nach einer Bitte. Warum wunderte das Shana nicht?

„Das stimmt also?“ Doch darauf bekam sie keine Antwort mehr und Ethan setzte seinen Weg in ihr Zimmer fort. Am liebsten hätte sie irgendwas nach ihm geworfen. Doch stattdessen tat sie was er gesagt hatte und zog im ganzen Haus die Vorhänge zu. Obwohl Shana noch ziemlich aufgekratzt war, überkam sie plötzlich Müdigkeit. Es war auch ein wirklich langer Tag gewesen. Nur wo sollte sie schlafen? Weder bei Ken, noch bei ihren Eltern würde sie es wagen sich ins Bett zu legen. Eher würde sie sich umbringen oder draußen schlafen. Im Wohnzimmer und allen weiteren Räumen im Erdgeschoss hatte sie Angst zu schlafen. Die Vorstellung, dass die Werwölfe sie finden und sie eine leichte Beute für sie war, weil sie im Untergeschoss schlief, behagte ihr nicht. Warum auch hatte sie Ethan ihr Bett überlassen? Ganz einfach. Er hatte sie gerettet und war deswegen verletzt worden.

Shana seufzte und ging nach oben. Aus dem Schrank im Flur holte sie einen Futon heraus und breitete diesen auf dem Boden vor ihrem Zimmer aus. Doch statt zu schlafen, als sie lag, starrte Shana an die Decke. Die Müdigkeit war auf einmal verflogen. Sie hörte, wie die Trommel der Waschmaschine ihre Runden drehte und das gelegentliche Knacken des Holzes von der Treppe. Erst jetzt, wo sie zur Ruhe kam, wurde ihr bewusst, was passiert war. Sie wäre heute fast von zwei Werwölfen gefressen worden. Sie hatte gegen sie gekämpft. Sie, mit ihren eigenen Händen.

Plötzlich fing Shana an zu zittern und umarmte sich selbst. Sie fing an zu wimmern. Shana hielt die Angstwellen, die ihren Körper überrollten, kaum aus. Sie fühlte sich allein und hatte Angst. Langsam stahlen sich Tränen aus ihren Augenwinkeln, doch das ignorierte sie. Sie musste einfach nur abwarten. Das würde sicher von selbst bald aufhören. Doch sie hatte die Rechnung ohne Ethan gemacht, der wie aus dem Nichts auf einmal über ihr stand. Shana schrie und sprang vom Futon.

„Ich bin es nur.“, sagte er gleichmütig.

„Erschreck mich nicht so.“ Der Schock milderte ihre Panikattacke ein wenig. Hastig wischte sie sich über die Augen und konnte wieder etwas klarer denken. „Was willst du?“, fragte sie barsch und mit brüchiger Stimme. Ethan war wirklich der Letzte, vor dem sie Schwäche zeigen wollte.

„Dein Gewimmer nervt. Hör auf damit!“

„Lass mich in Ruhe!“

„Blöde Kuh!“

„Geh einfach zurück ins Zimmer.“

Ethan sah sie einen Moment an. Dann packte er den Futon und zog ihn in ihr Zimmer.

„Was machst du da?“

„Du hast Angst. Schlaf bei mir. Vielleicht kriegst du deine Panik dann in den Griff.“

„Ich will das nicht.“

„Mir doch egal.“ Er ließ den Futon neben dem Bett fallen und legte sich dann wieder hin.

Shana stand immer noch im Flur. Doch dann gab sie sich einen Ruck und ging ins Zimmer. Nachdem sie die Schiebetür geschlossen hatte, legte sie sich auf den Futon. Es war ihr zwar zuwider, dass Ethan wieder so herrisch war, aber bei ihm fühlte sie sich augenblicklich sicher. Schweigend lagen sie da und Shana beruhigte sich langsam wieder. Sie sah hinter den Vorhängen, dass die Sonne langsam aufging. Etwas lag ihr noch auf der Seele, bevor sie bereit war zu schlafen. „Ethan?“

„Hm- mh?“

„Danke.“, flüsterte sie. Er gab etwas von sich, dass wie „mpfh“ klang, sicher konnte sie sich aber nicht sein. Shana schlief ein.
 

Als Shana einige Stunden später erwachte, brauchte sie einen Moment der Orientierung. Warum lag sie auf einem Futon auf ihrem Zimmerboden und nicht in ihrem Bett? Als sie zu ihrem Bett schaute, sah sie einen dunklen Haarschopf. Wie ein Blitzlichtgewitter schossen die Erinnerungen an die Nacht durch ihr Gehirn. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich soweit beruhigt hatte, dass sie aufstehen und das Zimmer verlassen konnte. Nachdem Shana die schlimmen Erlebnisse verdrängt und sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, ging sie in die Küche, weil ihr Magen knurrte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits 14:00 Uhr war, also war ihr Hunger gerechtfertigt. Sie hatte keine Lust auf ein aufwendiges Frühstück und da so was bei ihr sicher in einer Katastrophe geendet hätte, suchte sie sich stattdessen Schüssel, Löffel, Milch und Frühstücksflocken heraus und machte sich daraus ihr Essen.

Sie hatte gerade drei Löffel gegessen, als Ethan die Küche betrat. Er bewegte sich so lautlos, dass Shana bei seinem Auftreten zusammenzuckte. Auf halben Weg blieb ihr vierter Löffel in der Luft hängen, als sie ihn ansah. Er trug immer noch nur die schwarze Hose. Er hatte leichte Augenringe und seine Haare waren verwuschelt. Er sah wirklich attraktiv, um nicht zu sagen sexy aus. Als ihr bewusst wurde, was sie da dachte, vor allem über wen, schüttelte sie leicht den Kopf und versenkte den Löffel in ihren Mund. Verstohlen sah sie zu den Verbänden. Auf dem Verband an der Schulter schimmerte ein dunkelroter Fleck, aber der an seiner Seite war weiß.

„Was starrst du mich so an? Noch nie einen halbnackten Mann gesehen?“, blaffte er, als er ihre Blickte bemerkte.

Shana spürte, wie sie leicht errötete. „Doch, natürlich.“ Glatte Lüge. „Ich wollte nur sehen, ob da wirklich Muskeln sind oder ob ich mir die nur eingebildet habe.“, gab sie schlagfertig zurück.

Ethan nuschelte etwas Unverständliches. Lauter fragte er dann: „Gibt es Tee in diesem Haus?“

„Ja, aber nur grünen.“

Ethan knurrte, zog einen Stuhl zurück und ließ sich dort ihr gegenüber fallen. Shana versuchte ihn zu ignorieren und frühstückte weiter. Er starrte sie an, was selbst sie nicht ausblenden konnte. „Warum starrst du mich so an? Noch nie jemanden gesehen, der isst?“

Ethan grinste. „Doch, schon. Ich habe mich nur gerade gefragt, ob du wirklich so dämlich und verfressen bist oder ob ich mir das nur einbilde.“

„Sehr witzig.“

Nachdem Shana ihre Schüssel geleert hatte, stellte sie diese in die Spüle. „Deine Sachen dürften in einer Stunde trocken sein.“ Bevor Ethan wieder eine seiner sehr geistreichen Antworten geben konnte, klingelte das Telefon. Shana nahm in der Küche ab. „Bei Minabe.“

„Hey Shana.“

„Hallo Mika.“

„Warum ist dein prähistorisches Handy aus? Ich versuche schon den ganzen Tag dich zu erreichen.“

„Mein Handy? Ach das ist… kaputt.“ Sie konnte schlecht sagen, dass ein Werwolf es zerquetscht hatte. Shana verzog bei dem Gedanken grimmig das Gesicht.

„Na, war ja abzusehen.“

„Wolltest du etwas Bestimmtes von mir?“

„Hast du heute Abend schon etwas vor?“

Shana schielte zu Ethan, der sie kritisch musterte. „Nein. Ich habe heute Abend noch nichts vor.“

„Gut. Dann hast du es jetzt.“

„Ach ja? Und was?“

„Du gehst heute Abend essen.“

„Mit dir?“

„Mit mir und Sho… und noch jemanden.“

„Nein Mika. Kein Blind Date.“

„Ach komm schon.“

„Nein.“

„Mensch Shana. Das wird lustig.“, versuchte es Mika weiter.

„Du musst mich nicht verkuppeln, okay? So arm bin ich noch nicht dran.“ Sie hatte Fantasien von Ethan und ihr. Und wie arm sie dran war. Aber das würde sie Mika sicher nicht auf die Nase binden.

„Damit hat das auch nichts zu tun. Sho will mir seinen besten Freund vorstellen. Und damit er sich nicht wie das fünfte Rad am Wagen fühlt, habe ich gesagt, dass du auch mitkommst.“

„Moment mal. Du hast schon zugesagt?“

„Ja.“

„Mika! Kannst du mich vorher nicht fragen?“

„Mach ich doch jetzt.“

„Vorher!“

„Also kommst du mit?“

„Nein.“

„Bitte, Shana. Tu mir den Gefallen“

„Ich will aber nicht.“

„Bitte, bitte.“, bettelte Mika weiter. Shana knirschte mit den Zähnen. Das war das Letzte, worauf sie Lust hatte. Doch leider schuldete sie Mika eine ganze Menge. Deswegen konnte sie schlecht nein sagen, auch wenn es ihr nicht gefiel.

„Von mir aus.“, murrte sie resigniert.

„Oh, ich liebe dich.“

„Und ich hasse dich.“

„Wie auch immer. Ich hole dich um 19:00 Uhr ab.“

„Wenn es denn sein muss.“

„Auf jeden Fall. Bis nachher dann. Ich freue mich schon.“

„Ich mich nicht.“

Mika legte auf. Shana seufzte und hängte ebenfalls ein.

„Du gehst heute Abend nicht weg.“

„Was geht es dich an?“ Ethan hatte sie schon fast wieder vergessen. Sie war eh schon schlecht gelaunt. Und anscheinend wollte er ihr mit seinen Befehlen dem noch die Krone aufsetzten.

„Du gehst heute Abend in die Gruft.“

„Wie du gehört hast, gehst das heute nicht.“

„Nicht mein Problem.“

„Lass mich doch einfach in Ruhe.“

„Nein.“

„Hör zu. Ich bin dir dankbar, dass du mich gerettet hast. Und die Ohrfeige von neulich hätte vielleicht nicht unbedingt sein müssen, auch wenn du sie verdient hast. Trotzdem hast du nicht über mein Leben zu bestimmen, auch wenn ich dir vielleicht etwas schulde.“

Ethan stand auf. Shana wappnete sich schon dafür, dass er sie wieder würgen würde, so wie er es am liebsten tat, doch nichts dergleichen geschah. Er stellte sich vor sie.

„Mir schuldest du nichts. Es gäbe nichts, was du mir geben könntest. Dass ich dich gerettet habe, hat nichts damit zu tun, dass mir dein Leben etwas bedeutet. Du bist mir egal. Auch die Ohrfeige interessiert mich nicht. Leider braucht der Clan dich, weil du die Wächterin bist. Der Clan, nicht ich! Heute ist Neumond. Das heißt, du trittst heute das Erbe der Wächterin an.“

Als er den Neumond erwähnte, begann der Schlüssel um Shana’s Hals an zu glühen. Shana schnappte nach Luft. „Heute?“, flüsterte sie.

„Um Mitternacht.“, bestätigte er.

„Konntest du mir das nicht früher sagen?“

„Ich habe es dir jetzt gesagt.“

„Vollidiot!“

„Blöde Kuh!“

„Ich kann das heute nicht absagen.“

„Wie gesagt. Nicht mein Problem.“

„Es scheint nie irgendwas dein Problem zu sein.“

Als Antwort grinste er. Shana war kurz davor zu explodieren. Warum hatte ihr das keiner gesagt? Warum zum Teufel hatte sie nicht mal in einen Kalender geschaut? „Okay.“, begann sie nach kurzem Schweigen. „Ich gehe heute Abend mit meiner besten Freundin aus. Ich werde rechtzeitig wieder hier sein. Mehr kann ich nicht anbieten.“

Ethan funkelte sie wütend an. „Das Erbe der Wächterin sollte dir wichtiger sein.“

„Wieso sollte es mir wichtig sein? Ich weiß praktisch nichts darüber. Also entschuldige bitte, wenn ich nicht mehr Interesse an den Tag lege. Und jetzt geh mir aus dem Weg.“ Sie drängelte sich an ihm vorbei.

„Diese Einstellung wird dir noch sehr Leid tun.“

Shana ignorierte das und stapfte wütend in ihr Zimmer. Jetzt war sie sich sicher. Sie würde das Versprechen, sich mit Ethan anzufreunden, niemals halten können. Eher würde die Hölle zufrieren.
 

Den Rest des Tages verbrachte Shana mit Aufräumen und Ethan hockte in der Küche, weil es der dunkelste Raum war. So vergingen die Stunden, bis die Sonne unterging.

„Ich hole dich um 23:00 Uhr ab. Wenn du dann nicht da bist, gibt es Ärger.“

„Ja, Vater.“

„Blöde Kuh!“

Dann war Ethan auch schon in der Nacht verschwunden. Ein Gutes hatte das Gezanke mit Ethan ja. Es lenkte Shana so sehr ab, dass sie nicht über Werwölfe nachdachte. Als Ethan weg war, ging sie baden und zog sich dann für ihr „Date“ um. Um Punkt 19:00 Uhr klingelte es und Shana öffnete die Tür.
 

And That´s all?
 

Die Verspätung tut mir sehr leid. Ich kam net in die Füße und meine Beta- Leserin war krank... so ist es nun schon April. Aber hey... dafür bekommt ihr diesen Monat 2 Kapitel. Ist doch auch schon was XD

Vielen lieben Dank für die Kommis. Ich spring immer wie ne Blöde durch die Gegend, weil ich mich so freue. Macht nur weiter so. So was rettet mir den Tag. Ich hoffe, ihr hattet alle schöne Ostern. Wir lesen uns dann wieder am Ende des Monats.

Bis denn dann
 

BabyG

Ich bin ich, dachte ich zumindest

Ein Mensch schafft sich im Laufe seines Lebens eine Identität. Durch Aussehen, besondere Merkmale oder durch Leistungen. Jeder Mensch wird dadurch einzigartig.

Shana dachte 17 Jahre lang, dass sie einfach nur Shana war. Ein gewöhnliches Mädchen. Doch diese Nacht sollte ihr bisheriges Denken gehörig auf den Kopf stellen. Wer war sie eigentlich?
 

Es war, wie nicht anders erwartet Mika, die da vor der Tür stand. Shana machte gerade den Mund auf um etwas zur Begrüßung zu sagen, doch Mika war schneller. Mal wieder.

„So gehe ich nicht mit dir weg!“ Sie stürmte an Shana vorbei ins Haus. Shana war verwirrt und sah an sich herunter. Sie trug ausgebeulte Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover. Was war daran nicht richtig?

„Was hast du für ein Problem?“

„Wir gehen in ein nobles Restaurant. Du siehst aus, als hätte dich ein Landstreicher eingekleidet.“

„Du übertreibst maßlos.“

„Nein. Aber ich kenne dich so gut, dass ich mir so was schon gedacht habe.“ Triumphierend hielt sie eine Tasche hoch. Bevor Shana fragen konnte, hatte Mika sie auch schon gepackt und schleifte sie nach oben.

„Zieh dich aus.“, sagte sie, als sie im Zimmer von Shana angekommen waren.

„Ich denke ja nicht daran.“

„So nehme ich dich nicht mit.“

„Sehr gut. Dann bleibe ich eben zu Hause.“

Mika reagierte wütend auf Shana’s Trotz. Das konnte man ihr ansehen, doch das war Shana egal. In dieser Sache würde sie nicht nachgeben. Mika war da aber anderer Meinung. Sie packte Shana am Pullover und zog ihn ihr über den Kopf. Die Hose und das Unterhemd folgten schneller, als Shana gucken konnte. Was Mika machte, machte sie richtig.

„MIKA!“ Doch sie ignorierte den Protest und holte aus ihrer Tasche einige Kleidungsstücke. Sie wägte kurz ab und reichte Shana dann eine dunkle Jeans.

„Ich ziehe das nicht an.“

„Doch, das wirst du.“

„Mika! Deine Sachen passen mir nicht. Die sind viel zu eng.“ Sah Mika das nicht? Figuren-technisch waren sie wie Tag und Nacht.

„Anziehen!“, befahl Mika in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Shana knurrte und zog dann die Hose an. Sie hatte einige Schwierigkeiten die Jeans über die Oberschenkel zu ziehen und den Knopf bekam sie auch nur gerade eben mit einigem Luft anhalten zu.

„Das ist viel zu eng.“, jammerte Shana. Doch Mika gab ihr schon das nächste Kleidungsstück. Da Widerworte nichts brachten, zog Shana es wortlos und mit bösen Blicken an Mika gerichtet, an. Es war dunkelrot, etwas länger, mit Fledermausärmeln und einem tiefen Ausschnitt. Shana versuchte ihre Blöße zu bedecken. Sie machte schon den Mund auf, um heftig gegen dieses Oberteil zu protestieren, als Mika ihr das Haargummi abzog und Shana’s Haare offen über ihre Schultern und ihren Rücken fielen. Da sie nicht viel Zeit hatten, stylte Mika die Haare so, dass sie zwar offen waren, aber nicht ins Gesicht fielen. Als Mika Make-up auftragen wollte, stieß Shana sie von sich. „Es reicht! Ich sehe schon nuttig genug aus, also übertreib es nicht.“

„Entschuldige bitte. Mich überkam es einfach.“, sagte Mika ein wenig schuldbewusst.

„Ich sehe schon schlimm genug aus.“

„Du siehst süß aus.“

„Ich bin halb nackt.“

„Nun übertreibst du.“

„Ich werde meinen Mantel nicht ablegen.“

„Oh doch.“

„Niemals.“

„Doch.“

„Lass uns lieber gehen, bevor ich einen Mord begehe.“

„Gerne doch.“ Mika lächelte und packte die restlichen Sachen wieder ein. Nachdem sie nach unten gegangen und sich ihre Schuhe angezogen hatten, fuhren sie mit der wartenden Limousine zum Restaurant.

Nachdem sie dieses betreten hatten, brachte eine Empfangsdame sie zu ihrem Tisch. Als Shana sich umsah, entdeckte sie Männer in teuren Anzügen und Frauen in edlen Kimonos. Sie wollte gar nicht wissen, wie teuer hier eine Vorspeise war. Vermutlich fragte man hier auch gar nicht nach dem Preis. Wenn man fragen musste, war man hier fehl am Platz.

Ihr Tisch war nicht leer. Leider. Und zu allem Überfluss nahm die Empfangsdame ihre Mäntel, so dass Shana nun vollkommen entblößt dastand. Die Männer am Tisch erhoben sich. Sho ging sofort zu Mika und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. Es war mutig, weil Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit in diesen Kreisen nicht gern gesehen waren. Mika hatte schon wieder diesen grenzdebilen Blick. Sie war echt verknallt in Sho. Während Mika ihren Freund anschmachtete, wandte sich dieser an Shana und verneigte sich leicht, was sie ihm gleich tat. Dann deutete er auf den jungen Mann neben ihm. Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können. Sho verkörperte mit seinem Aussehen Rebellion. Er hatte lange schwarze Haare, die er zu einem Zopf zurück gebunden hatte. Seine große und schlanke Gestalt verhüllte er stets mit schwarzen Lederklamotten. Obwohl er heute eine Stoffhose und ein dunkles Hemd trug. Trotzdem strahlten seine Augen eine gewisse Wildheit aus, die er selbst in feiner Kleidung nie ganz ablegen konnte. Sein bester Freund dagegen sah anders aus. Er hatte dunkles braunes Haar, das er kurz trug. Seine Augen hatten einen sanften Karamellton und er war kleiner als Sho. Außerdem hatte er helle Haut und sah mehr nach einem Europäer aus. Er trug helle Sachen, was die beiden wie Engel und Teufel erschienen ließ.

„Meine Damen.“, begann Sho. „Das hier ist mein bester Freund Nasagi Yue. Yue? Das ist meine bezaubernde Freundin Kusuragi Mika und ihre beste Freundin Minabe Shana.“

Mika lächelte und verneigte sich. Sie freute sich eindeutig über das ´bezaubernd`. „Es ist mir eine Ehre dich kennen zu lernen, Nasagi-san.“

„Es freut mich ebenfalls. Aber nenn mich doch bitte einfach Yue, ja?“

Mika runzelte leicht die Stirn, lächelte dann aber. „Klar. Sag dann aber auch einfach Mika zu mir.“

„Natürlich. Und ich freue mich auch deine Bekanntschaft zu machen, Shana.“

Das schiefe Lächeln und diese warmen Augen machten Yue wirklich sympathisch. Shana erwiderte das Lächeln. „Gleichfalls, Yue.“

„Wir sollten uns setzen.“, warf Mika ein und die Vier nahmen Platz. Natürlich saßen sich Sho und Mika gegenüber, wie auch Yue und Shana. Mika wollte sie mit Yue verkuppeln. Das konnte ja ein lustiger Abend werden.

Bald darauf kam eine Kellnerin und brachte die Speisekarte. Shana musste bei diesen Preisen schlucken. Der Laden war wirklich exorbitant teuer. Das bemerkte auch Yue, aber Mika winkte ab. „Achtet nicht auf die Preise. Sucht euch aus, was ihr wollt. Das Essen geht auf mich.“

Das ließ Shana sich natürlich nicht zweimal sagen und suchte sich eine ganze Reihe an Speisen aus. Es war nur ärgerlich, dass sie eine so enge Hose an hatte, dass sie beim Atmen schon Angst hatte, dass der Knopf sich selbstständig machte. Aber dann war es ihr egal. Mika hatte Schuld für dieses enge Beinkleid. Wenn sie kaputt ging, musste Mika mit den Konsequenzen leben.

Es dauerte auch nicht lange und die Kellnerin kam, um die Bestellung aufzunehmen. Als Shana ihre Menüfolge aufgab, runzelte nicht nur die Kellnerin die Stirn. Shana war das aber wie üblich egal. Sie war eben nicht der Typ, der sich von zwei Salatblättern ernährte. Und sie hatte nicht vor, Yue zu gefallen. Also wollte sie hemmungslos essen, damit sie ihn so in die Flucht schlagen konnte. Außerdem hatte sie schrecklichen Hunger. Da Ethan den ganzen Tag in der Küche verbracht hatte und sie sich nicht mit ihm auseinandersetzen wollte, mied sie die Küche natürlich.

Erst als die Getränke kamen, hatten sie ein bisschen ungestörte Zeit.

„Also Yue.“, begann Mika. „Erzähl doch mal was von dir.“

„Was möchtest du denn wissen?“

Mika schaute ihn an, als ob sie die Frage nicht verstanden hätte. Shana bemerkte es und seufzte. „Alter, Blutgruppe, Eltern, soziales Umfeld, Zukunftsträume… so was will sie wissen.“, versuchte sie Yue zu helfen. Sie sah ihn nicht an, sondern war ständig bemüht ihr Oberteil so zu richten, dass ihr Ausschnitt nicht zu tief war. Dabei scheiterte sie mehr oder minder kläglich. Was war das nur für ein verflixtes Oberteil? Hatte Mika das verhext?

Yue fing an zu lachen. „Ich bin so alt wie Sho. Meine Blutgruppe ist 0. Ich wurde von meinen Eltern geliebt. Meine Mutter war Journalistin und mein Vater Bänker. Ich studiere wie Sho BWL. Was ich mit meiner Zukunft anfangen will, weiß ich noch nicht.“

„Interessant. Und was sind deine Hobbys?“, bohrte Mika weiter.

„Ich interessiere mich für Autos, gehe gerne schwimmen und spiele Schach.“

„Wie hast du Sho kennen gelernt?“

„Wir kennen uns durch die Schule.“ Dabei warf er Sho einen merkwürdigen Blick zu, den dieser erwiderte. Die Mädchen bemerkten nichts.

„Möchtest du sonst noch etwas wissen?“, fragte er Mika höflich.

„Im Moment nicht.“

„Ich bin auch eher uninteressant. Erzähl mir doch lieber etwas von dir.“

Fataler Fehler, denn Mika fing an zu reden. Und wenn Mika einmal anfing, hörte sie nicht auf, bis sie ihm wirklich jedes Detail ihres Lebens erzählt hatte. Ein bisschen wunderte Shana sich, dass Mika nicht wegen seiner Eltern nachhakte. Aber vielleicht würde sie später noch einmal darauf zurückkommen.

Shana hatte den Kampf mit ihrem Oberteil aufgegeben. Außerdem war es ärgerlich, weil sie ständig den Schlüssel berührte und dieser ihr immer wieder kleine Stromstöße verpasste. Aber sie würde ihn doch heute loswerden oder nicht? Immerhin brauchte man den Schlüssel, um die Truhe der Wächterin zu öffnen.

„Shana?“

Sie hoffte wirklich, dass es nicht allzu gruselig wurde. Von Horror hatte sie erstmal die Nase gestrichen voll.

„Hey Shana!“

„Was?“, schreckte sie aus ihren Gedanken an Schlüssel und Werwölfe.

„Yue hat dich was gefragt.“

Verwirrt sah sie erst zu Mika und dann zu Yue. „Oh… ähm… Ich habe nicht zugehört.“

Yue lächelte. „Das macht nichts. Sho sagt oft genug, dass ich ein Langweiler bin.“

„Das wollte ich damit nicht andeuten. Nur wenn Mika redet, höre ich grundsätzlich nicht zu.“ Dafür erntete sie einen Seitenhieb von ihrer besten Freundin. Shana grinste und die Männer lachten. „Was war denn deine Frage, Yue?“

„Ich wollte etwas über dich wissen.“

Na super. Jetzt sollte sie allen den Abend verderben, bevor überhaupt das Essen da war. „Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich bin eher langweilig.“

„Das glaube ich dir nicht.“

„Doch, doch. Ich bin wirklich uninteressant.“

Zum Glück kam in diesem Moment das Essen und sie verlagerten ihr Gesprächsthema auf die herrlichen Speisen. Shana war froh, endlich was zwischen die Zähne zu bekommen. Während sie munter das Essen in sich hineinschaufelte, unterhielten sich die anderen über Freizeitaktivitäten und Musik. Themen, zu denen Shana eh nichts beitragen konnte. Natürlich war es unhöflich, sich aus den Gesprächen raus zu halten, aber Shana war nie so gewesen. Sie hielt sich lieber zurück und versuchte sich nicht in den Mittelpunkt zu drängen. Wozu auch? Sie hatte nicht die Absicht, Yue zu beeindrucken. Er war nett, charmant, witzig und sah gut aus. So einer würde sich im Leben nicht freiwillig mit Shana abgeben. Sollte er sich ruhig weiter mit Mika beschäftigen. Sie genoss die Aufmerksamkeit. Und schließlich ging es ja darum, dass Yue die Freundin von seinem besten Freund besser kennen lernte und nicht Shana. Außerdem turtelten Sho und Mika das ein oder andere Mal recht heftig und das interessierte Shana noch viel weniger.

Sie wollte sich eine Garnele von einem der vielen Teller und Platten schnappen, als sie andere Stäbchen mit ihren zu fassen bekam, statt dem Krustentier. Sie blickte auf und sah, dass es die Stäbchen von Yue waren, die sie da im Griff hatte. Hastig ließ sie los und errötete etwas. „Entschuldige bitte.“, sagte sie schnell.

Doch er lächelte nur smart. „Das macht nichts.“

Während des gesamten Essens ignorierte sie ihn absichtlich.

Als es dann ans Dessert ging, sah Shana auf die Uhr und wurde ein wenig blass um die Nase. Es war bereits kurz vor zehn Uhr. Mit dem Auto brauchte man eine halbe Stunde zu ihr nach Hause. Und sie war noch nicht mal sicher ob Mika sie überhaupt nach Hause bringen würde. Die letzte Bahn würde sie noch kriegen, doch dann musste sie noch ein ganzes Stück laufen. Sie würde niemals pünktlich sein. Ethan könnte sie zwar auch von hier abholen- sie war sich sicher, dass er sie hier finden würde, weil er sie immer fand - doch dann wäre er wieder sauer auf sie. Außerdem wollte sie so nuttig nicht vor die Augen der anderen treten.

Mika riss sie aus ihren Gedanken. „Was haltet ihr davon, noch zum Karaoke zu gehen?“

Klasse. Mika liebte diesen schwachsinnigen Zeitvertreib. Sie würde nicht eher Ruhe geben, bis sie alle zum Karaoke geschleift hatte.

„Ich passe.“, sagte Shana schnell. Am besten alle Hoffnungen sofort im Keim ersticken.

„Warum? Wir haben keine Schule und du bist an keine Zeiten gebunden, wann du zu Hause sein sollst.“ Mika war sichtlich verwirrt.

„Ich singe furchtbar, ich hasse Karaoke wie die Pest und ich bin wirklich müde. Ich komme nicht mit.“

„Sei doch nicht so ein Langweiler.“

„Meine Prioritäten liegen nicht beim Singen. Außerdem habe ich dir schon genug Gefallen getan. Diesmal setze ich aus.“

Mika zog einen Schmollmund, was Shana herzlich egal war.

„Ich muss mich auch entschuldigen.“, mischte sich Yue in die Diskussion ein. „Ich schreibe morgen noch eine Klausur und wollte noch ein wenig lernen.“

„Ihr seit gemein. Sho, sag ihnen, dass sie gemein sind.“

„Freu dich doch. Dann haben wir beide noch etwas Zeit zusammen.“ Er zwinkerte ihr zu und sie fing an zu kichern. Shana nickte Sho dankend zu. Er hatte ihr das Leben gerettet.

Ob sie sich bei Mika Geld für ein Taxi leihen sollte?, überlegte sie, als sie das Restaurant verließen. Doch Yue war schneller. „Soll ich dich nach Hause bringen, Shana?“

Das überraschte sie. Sie war den ganzen Abend eher abweisend gewesen und trotzdem war er noch so nett zu ihr? Wie passte das zusammen? Vielleicht wollte er sich ja nur an ihr rächen, wenn sie alleine waren. Shana malte sich die schlimmsten Dinge aus und lehnte dankend ab. Doch Yue ließ nicht locker.

„Bist du sicher? Sho ist mit dem Motorrad hier und kann dich nicht nach Hause bringen.“ Sho nickte zur Bestätigung. „Und es ist für ein Mädchen abends nicht ganz ungefährlich auf den Straßen.“

Shana lief es eiskalt den Rücken herunter. Dabei dachte sie nicht an Perverse oder Gangs, wie Yue vielleicht, sondern an Werwölfe. Einmal hatte sie Glück und war ihnen entkommen. Das würde ihr sicher kein zweites Mal gelingen. Yue merkte an ihrem Blick, dass er gewonnen hatte.

„Also bringe ich dich nach Hause.“

Sie nickte resignierend. Sie verabschiedeten sich von Mika und Sho und gingen ein Stück schweigend nebeneinander her, bis sie vor einem alten roten Toyota zum Stehen kamen. Yue bemerkte natürlich ihren skeptischen Blick. Er schien eine Menge zu bemerken.

„Ich weiß, ist nicht gerade das neuste Model, aber er fährt.“

Nachdem er umständlich das Auto aufgeschlossen hatte, stiegen sie ein. Die Sitze waren abgewetzt und es roch merkwürdig im Innenraum. Yue zündete den Motor.

„Das Auto hat vorher einem Tierarzt gehört. Deswegen riecht es etwas streng nach Tier. Ich habe vergeblich versucht, den Gestank heraus zu bekommen.“, entschuldigte er sich.

Während Shana sich anschnallte, fuhr er los. Sie nannte ihm ihre Adresse. Naja, nicht ihre genaue, sondern die vom Ramen-Restaurant um die Ecke. Yue war zwar nett, aber sie traute ihm nicht über den Weg.

Sie fuhren eine Zeit lang schweigend, bis Yue das Radio einschaltete. Doch auch das konnte die drückende Atmosphäre nicht lockern. Als sie an einer Ampel halten mussten, richtete er das erste Mal, seit sie losgefahren waren, das Wort an Shana.

„Du scheinst mich nicht besonders zu mögen.“, bemerkte er nüchtern.

„Wie kommst du denn darauf?“ Blöde Frage, dass wusste sie selber, aber sie wollte es trotzdem von ihm hören.

„Naja. Du redest nicht mit mir und ignorierst mich. Und jetzt sag nicht, es hat nichts mit mir zu tun.“

Shana musste leicht lächeln. „In gewisser Weise hat es auch nichts mit dir zu tun. Ich bin eben schwierig.“

„Das kann ich nicht so ganz glauben.“

„Ich habe nicht nur dich ignoriert, sondern auch Mika und Sho. Das müsste dir doch aufgefallen sein.“

„Schon, aber die beiden haben des Öfteren geturtelt. So was versuche auch ich zu ignorieren.“

Shana seufzte. „Ich bin kein geselliger Typ. Außerdem traue ich Menschen nicht so leicht. Du bildest da keine Ausnahme.“

„Warum?“

„Ist einfach so. Hat keinen bestimmten Grund.“

„Da muss man doch was machen können.“

„Leider nicht.“ Sie seufzte noch mehr. „Irgendwie war ich heute Abend überflüssig. Das Essen hätte ich mir auch schenken können. Mika hielt es aber für eine gute Idee.“

„Du nicht?“

„Nicht wirklich. Ihr brauchtet mich doch gar nicht. Ihr habt euch auch ohne mich ganz gut verstanden.“

„Ich fand es trotzdem nett, dass du da warst. Auch wenn du mich nicht magst.“

„Das habe ich nicht gesagt. Ich traue dir nur nicht. Und du musst nicht nett zu mir sein.“

„Warum nicht?“

„Ich habe dich den ganzen Abend ignoriert. Warum sollte meine Anwesenheit also nett gewesen sein?“

Yue war einen Moment still. Wahrscheinlich musste er sich erst eine Lüge ausdenken.

„Na, auch egal.“, sagte sie schnell. „Du musst darauf nicht antworten.“

„Nein, es ist nicht egal. Auch wenn du nicht mit mir geredet hast, war es schön dich anzusehen.“

Shana brauchte nicht lange, bis sie anfing zu lachen. Yue war verwirrt und fuhr wieder an, weil die Ampel auf grün sprang. „Habe ich etwas so komisches gesagt?“

„Weil es schön war mich anzusehen? Eine wirklich niedliche Übertreibung und noch dazu eine Lüge.“

„Ich übertreibe nicht und lüge auch nicht. Mika ist zwar hübsch und alles, aber du bist netter anzusehen. Sieh das doch nicht alles so negativ.“

„Ich weiß, wie andere mich sehen. Und die haben sicher nicht die gleiche Meinung wie du. Ich kenne meinen Platz.“

„Was denken sie denn von dir?“

„Och. Wie wäre es mit dumm, hässlich, weltfremd oder abscheulich? Such dir was aus.“

Yue musste an der nächsten roten Ampel halten und sah sie an.

„Wer erzählt denn so was?“

„Na, alle.“

„Du schwindelst.“

„Nein.“

„Wer kann nur so grausam sein?“

Yue schien ernstlich entsetzt. War er denn wirklich so blind? Man musste Shana doch nur anschauen und man wusste, was sie für ein Monster war. Als er sie mitleidig anschaute, wurde ihr übel.

„Lass das.“

„Was denn?“

„Dieser mitleidige Blick. Ich weiß, was ich bin. Also musst du mich nicht bemitleiden.“

Die Ampel wurde wieder grün und Yue fuhr weiter. Doch wusste Shana wirklich, wer sie war? Zumindest wusste sie es, bis Ethan aufgetaucht war. Doch wer war sie eigentlich? Shana? Die Wächterin? Oder jemand ganz anderes?

„Ich finde dich trotzdem nett. Ob du mir nun traust oder nicht. Und du kannst meine Meinung auch nicht ändern.“, befand Yue und grinste selbstbewusst.

Shana musste dringend das Thema wechseln. „Was ist eigentlich mit deinen Eltern? Du hattest von ihnen in der Vergangenheit gesprochen.“

„Du hast mir also doch zugehört?“

„Zumindest am Anfang.“

Er lachte. „Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“

Der Glückliche. „Das tut mir leid.“

„Das muss es nicht. Es ist schon ziemlich lange her.“

„Waren sie Europäer?“

„Wie kommst du darauf?“

„Du siehst nicht asiatisch aus.“

„Ach so. Ja. Meine Mutter war Französin. Sie musste einen Artikel über die japanische Wirtschaftslage schreiben und hat dann bei einer Reise nach Japan meinen Vater kennen gelernt.“

Wieder breitete sich Schweigen aus. Shana war für Konversation einfach nicht gemacht. Doch sie musste das Gespräch in Gang halten, bevor er wieder anfing, wirres Zeug über sie zu reden. Nervös fing sie an, an ihrem Mantelknöpfen zu nesseln.

„Und? Wie ist dein Urteil über Mika?“

„Sie ist wirklich nett. Vielleicht ein bisschen aufgedreht, aber nett.“

„Also hat sie deinen Segen?“

„Segen? Wollen sie etwa heiraten?“

„Nein. Zumindest nicht in nächster Zeit, denke ich. Ich meine, der Sinn dieses Essens war doch, dass du sie kennen lernst und entscheidest ob sie mit Sho zusammen bleiben darf oder ob du ihr Steine in den Weg legst.“

„Was bin ich? Der Vater von Sho? Er ist zwar mein bester Freund und ich teile nicht gerne, aber wen er als Freundin hat, ist seine Sache. Er ist alt genug, um selbst zu entscheiden. Außerdem muss er mit ihr leben.“

Shana grinste. Er sah sie Sache genauso wie sie. „Und warum hast du dann dem Essen zugestimmt?“

„Na weil Sho gesagt hat, dass es gutes Essen gibt. Als Student ernähre ich mich von Supermarkt- Fertiggerichten. Da schlage ich so eine Einladung doch nicht aus.“

Shana lachte.

„Und warum bist du mitgegangen?“, fragte er lächelnd.

„Ebenfalls wegen dem Essen. Und weil Mika schon zugesagt hatte, ohne mich vorher zu fragen. Ich kann sie ja schlecht hängen lassen.“

„Ihr steht euch sehr nahe oder?“

„Na ja. Es heißt ja immer Gegensätze ziehen sich an. Und wir sind ein sehr krasser Gegensatz.“

„Trotzdem mögt ihr euch sehr.“

„Ich mag sie. Warum sie mich mag, weiß ich bis heute nicht.“

Yue antwortete mit Gelächter. Dabei beließen sie es. Den Rest der Fahrt verbrachten sie mehr oder weniger schweigend. Als der Wagen vor dem Ramen-Restaurant hielt, schaltete Yue den Motor aus.

„Du wohnst in einem Ramen-Restaurant?“, fragte er verwirrt.

„Theoretisch gesehen.“

„Und Praktisch?“

„Ich wohne zwei Straßen weiter, aber ich wollte dem Besitzer noch etwas sagen.“

„Ach so.“

Shana sah ihm an, dass er wusste, dass sie log. Doch das war sein Problem, nicht ihres. Außerdem hatte sie gesagt, dass sie ihm nicht traute, also musste er sich auch nicht wundern.

„Also es war wirklich ein netter Abend.“, leitete Yue die Verabschiedung ein.

„Fand ich auch. Und danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.“

„Zumindest theoretisch gesehen.“

Beide lachten.

„Also dann noch viel Glück für deine Klausur.“ Shana schnallte sich ab, verneigte sich in seine Richtung und wollte die Tür öffnen, als Yue sie mit seiner Stimme daran hinderte. Sie drehte sich wieder zu ihm um und sah, dass er sich zu ihr beugte. Er wollte sie küssen. Diese Pose war wirklich eindeutig. Shana handelte aus Reflex. Statt ihn gewähren zu lassen, wie es sich eigentlich gehörte, streckte sie ihre Hand aus und drückte sein Gesicht von sich. Dabei war sie etwas zu impulsiv, so dass Yue gegen die Fahrertür geschleudert wurde. Als sie sah, wie er aufprallte, tat es ihr sofort leid. Shana wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Wie dämlich konnte man eigentlich sein? Da bot sich so eine unglaubliche Gelegenheit und was machte sie? Sie führte sich wie ein Vollidiot auf.

„Yue ich… es tut mir leid… entschuldige bitte. Geht es dir gut?“ Sie konnte nicht verschwinden, ohne vorher Gewissheit zu haben, dass alles in Ordnung war. Obwohl sie nichts weiter tun wollte, als weglaufen.

Er stöhnte leicht auf und rieb sich den Hinterkopf. „Das nächste Mal frage ich dich, ob ich dich küssen darf. Du magst wohl keine Überraschungen.“

Sie war gleichzeitig frustriert und glücklich. Frustriert, weil sie gerade ihren ersten Kuss vermasselt hatte, glücklich, weil er sie wieder küssen wollte. Yue war eindeutig nicht ganz dicht.

„Hast du dich verletzt?“

„Nichts, was mit einer Kopfschmerztablette nicht weggeht.“

„Es tut mir wirklich sehr leid.“

„Schon gut. Es war mein eigenes Risiko.“

„Ich sollte jetzt wirklich gehen.“

„Moment!“

Shana schluckte. Er war bestimmt wütend und würde das jetzt an ihr auslassen. Oder sie Monster schimpfen und zum Teufel jagen. Sie musste den Drang zu flüchten wirklich unterdrücken. Aber sie konnte jetzt nicht so einfach gehen. Sie war es ihm schuldig, dass er seiner Wut Luft machte. Ein wenig scheu sah sie ihn an.

„Gibst du mir deine Handynummer?“

Shana fiel aus allen Wolken. Sie hatte mit allem gerechnet, nur sicher nicht damit. „Was?“

„Na so leicht gebe ich nicht auf. Und sich immer auf ein 4er Date einlassen, nur um dich zu sehen oder mit dir zu sprechen, wird auf die Dauer ganz schön anstrengend. Also gib mir doch deine Handynummer. Dann können wir mal alleine was machen.“

Shana brauchte einen Moment um zu begreifen, was er da eigentlich sagte. Er wollte sie wieder sehen? Er musste doch wissen, dass das eine schlechte Idee war. Eine wirklich sehr schlechte.

„Ich glaube, dein Kopf hat doch größeren Schaden erlitten.“

Yue lachte. „Meinem Kopf geht es gut. Also wie sieht es aus? Du musst nicht, wenn du nicht willst. Nur dir muss klar sein, dass wenn du sie mir nicht gibst, ich Mika fragen werde.“

„Du erpresst mich?“

„Gewissermaßen.“

Shana schaute ihn kurz böse an, musste dann aber lachen. „Leider muss ich dir sagen, dass ich im Moment kein Handy habe. Es ist kaputt.“

„Ernsthaft?“

„So wahr ich hier sitze.“

„Dann gebe ich dir meine und du rufst mich an, wenn du ein neues hast.“ Er kramte Stift und Papier aus dem Handschuhfach und schrieb seine Nummer auf. Shana wunderte sich, dass er ihr so einfach glaubte. Er traute ihr auf jeden Fall mehr als sie ihm.

„Und wenn du dich nicht meldest, frage ich Mika.“, drohte er scherzhaft.

Shana nahm den Zettel lachend entgegen. „Wehe dir.“ Schnell stieg sie aus dem Wagen um weiteren Peinlichkeiten zu entgehen. „Gute Nacht, Yue.“

„Gute Nacht, Shana.“

Er wartete noch, bis sie im Restaurant verschwunden war und fuhr dann erst los. Sobald er nicht mehr zu sehen war, rannte sie los. Shana rannte sowohl aus Angst, als auch wegen der Tatsache, dass Ethan sie in 20 Minuten abholen wollte. Zu Hause schlüpfte sie aus dem engen Nuttenfummel und duschte sich schnell. Endlich bekam sie wieder Luft.

In Unterwäsche stand sie dann vor ihrem Kleiderschrank. Was zog man zu so einem Ereignis an? Gab es besondere Kleidervorschriften? Wenn man Leichen schänden wollte, trug man doch normalerweise schwarz oder nicht? Sie entschied sich für dunkle Jeans und einen warmen Pullover.

Kaum, dass sie sich die Haare gekämmt hatte, klopfte es an ihrer Fensterscheibe. Shana zuckte zusammen und schreckte etwas zurück. Erst als sie die Silhouette am Fenster als Ethan identifiziert hatte, entspannte sie sich wieder und atmete erleichtert auf. Es war kein Werwolf. Sie würde sich wohl nie daran gewöhnen.

Langsam ging Shana zum Fenster und öffnete es. Kalte Luft strömte zusammen mit Ethan in ihr Zimmer. „Wurde aber auch Zeit.“, blaffte er. Shana ignorierte ihn. Heute konnte er sie einfach nicht ärgern. Sie musste an Yue denken und lächelte ein wenig. Er war wirklich nett und wollte sie sogar küssen. Sie wusste nicht, warum sie dieser Tatsache soviel beimaß. Vielleicht, weil sie gerne diese Erfahrung machen wollte. Ihr erster Kuss. Und das mit Yue. Ein leichter roter Schimmer zeichnete sich auf ihren Wangen ab. Und Mika sagte doch schließlich, dass Küssen etwas Wunderbares war.

„Na los! Beweg dich!“ Damit riss Ethan sie aus ihren Kuss-Träumen. Er wollte sie durch das Fenster schleifen, aber Shana hielt dagegen.

„Wir nehmen die Tür.“, bestimmte sie. Ethan knurrte, sprach aber keine Einwände aus. Sie gingen nach unten. Shana spürte die vernichtenden Blicke im Rücken, die Ethan ihr zuwarf, als er hinter ihr lief. Was hatte sie denn jetzt schon wieder getan? Als sie ihren Mantel angezogen hatte, sah sie ihn böse an. „Was hast du jetzt schon wieder für ein Problem mit mir?“ Seine kalte Abweisung ging ihr gehörig auf die Nerven.

„Geht dich nichts an.“

„Na wunderbar.“

„Hör auf zu reden und beweg dich!“

Warum konnten Blicke nicht töten? Denn dann wäre Ethan jetzt tot umgefallen. Anscheinend hatte sie ihr Glück mit Yue schon verbraucht.

Er legte den Arm um sie, zog sie etwas an sich und sprang dann in die Höhe, als sie draußen waren. Es war zum Kotzen mit Ethan. Sie hatte ja gedacht, ihr Erlebnis mit den Werwölfen hätte sie etwas näher gebracht, aber Pustekuchen. Er war immer noch verschlossen und abweisend. Und er würde diese Haltung ihr gegenüber nicht aufgeben. Dass es noch schlimmer kommen würde, war ihr bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar.
 

Den Weg bis zur Gruft verbrachten sie schweigend. Und als sie im Wohnzimmer angekommen waren, hielt Ethan soviel Abstand von Shana als ob sie die Pest hätte. Oder roch sie vielleicht komisch? Was hatte sie nur getan? Zumindest fand Chris nicht, dass sie eine ansteckende Krankheit hatte oder merkwürdig roch, denn sie umarmte Shana stürmisch, als sie sie sah. „Du bist da.“, quietschte sie.

„Chris… Luft…“

Chris ließ sie sofort los. „Entschuldige bitte.“

Shana musste mehrmals husten, bis ihre Lugen wieder ordnungsgemäß funktionierten. „Sei das nächste Mal etwas sanfter. Ich habe keine Superkräfte so wie du.“

Chris lächelte etwas verlegen. Auch Jay begrüßte sie herzlich, aber nicht so brutal wie seine Freundin. Hawk nickte ihr nur einmal kurz zu und sah dann wieder zum flimmernden Fernseher. Shana wusste nicht so recht, was sie mit Hawk anfangen sollte, aber das würde sich sicher noch zeigen. Es dauerte auch nicht lange und Rowen und Hunter betraten das Wohnzimmer. Rowen war freundlich und wie immer begeistert bei seiner Begrüßung. Hunter war… na eben Hunter. „Was will die Göre schon wieder hier?“

„Nett, dich wieder zu sehen, Hunter-chan.“

„Ich bring dich um!“

„Nicht, wenn ich dir zuvorkomme.“

„Das ich nicht lache.“

„Beruhigt euch bitte.“, versuchte Rowen zu schlichten. „Heute Nacht ist ein freudiges Ereignis, also streitet euch bitte nicht.“

„Sollten wir nicht lieber gehen, statt unsere Zeit mit so was zu vergeuden?“, fragte Jay in die Runde.

„Ja, natürlich. Bist du aufgeregt, Shana-cha… kun?“

Shana seufzte. „Nicht wirklich. Ich habe ja keine Ahnung, was genau passiert. Aber nenn mich doch einfach nur Shana, Rowen-san. Das ist einfacher für dich.“ Er würde es im Leben nicht lernen und warum sollte sie es ihm unnötig schwer machen?

Rowen nickte. „Dann lasst uns aufbrechen.“

Geschlossen verließen sie die Gruft und überquerten den Friedhof. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Niemand sagte etwas und Shana fühlte sich unbehaglich. Außerdem spürte sie, wie der Schlüssel sich zwischen ihren Brüsten erwärmte. Es war unangenehm. Chris schien zu spüren, dass irgendwas nicht stimmte, denn plötzlich stand sie neben ihr.

„Geht es dir gut?“, fragte sie besorgt.

„Klar doch.“

„Ich meine wegen der Sache mit den Werwölfen.“

Shana lief es eiskalt den Rücken herunter. Aber sie versuchte ihre Angst nicht zu zeigen. Sie hatte Ethan diese Blöße gegeben. Den Fehler würde sie nicht wiederholen. „Ich lebe ja noch.“, sagte sie ausweichend.

„Du warst sehr tapfer.“

„Ach ja?“

„Ethan hat es uns erzählt.“

Shana sah zu Ethan, der ganz vorne an der Spitze neben Rowen lief. „Was hat er denn erzählt?“ Hoffentlich nichts von ihrer Panikattacke. Doch Chris hüllte sich im Schweigen und wechselte das Thema.

„Wie war dein Date?“

Das hat er euch auch erzählt?“

„So mehr oder weniger.“

„Wenn ich mit ihm rede, sagt er nur das Nötigste. Wie schaffst du das? Ich meine, dass er mehr sagt als nur ´Ja`, ´Nein´ und ´Nerv mich nicht´?“

„Du lenkst vom Thema ab.“

„Es war ganz nett.“, wich sie einer näheren Beschreibung aus. Shana würde sicher keine Details preisgeben. Zumindest nicht, wenn alle anderen zuhören konnten.

„Nur ganz nett?“, fragte Chris spitzbübisch und grinste.

„Da gibt es wirklich nichts zu erzählen.“

„Ich bekomme schon raus, was passiert ist.“

Shana lachte nervös. Chris würde sie wahrscheinlich wegen dem verpatzten Kuss auslachen. Diese Blöße würde sie sich bestimmt nicht geben. Schlimm genug, dass sie versagt hatte. Das musste sie jetzt auch nicht noch öffentlich zugeben. Sie sollten sie nicht für einen kompletten Loser halten.

Es dauerte auch nicht lange und sie erreichten die Grabstätte der letzten Wächterin. Langsam fing der Schlüssel an, auf ihrer Haut zu brennen. So was machte er normalerweise nicht. Die Grabstätte war ein kleines quadratisches Mausoleum. Das Dach lief spitz zu. Über der Tür war ein religiöses Zeichen in den Stein gehauen. Darunter war der Name „Yamamoto“ zu lesen. Shana fröstelte es. Was würde sie hinter der Tür erwarten?

Einen Moment später hatte Hawk die Tür aufgebrochen und sie gingen hinein. Links und rechts waren lange Rechtecke in den Wänden eingelassen, an denen Namensschilder hingen. In der Mitte des Raumes war ein Altar aufgestellt. Dort brannten diverse Friedhofskerzen und spendeten so ausreichend Licht. Es roch moderig und nach Weihrauch. Rowen untersuche die Namensschilder, bis er das richtige gefunden hatte. „Makoto.“, las er laut vor. „Hier ist es. Komm bitte zu mir, Shana.“

Hochkonzentriert ging sie zu ihm. Sie traute ihren Beinen nicht so ganz. Sie fühlten sich an wie Wackelpudding. Der Schlüssel brannte bereits höllisch auf ihrer Haut. So als ob er nicht hier sein wollte.

Rowen deutete auf ein kleines Rechteck über dem Namensschild. Ein Schlüsselloch war zu sehen. „Hier musst du den Schlüssel rein stecken.“, wies er sie an.

Shana wollte den Schlüssel unter ihrem Pullover hervorholen, zuckte aber zurück, als der Schlüssel ihr wieder einen Schlag versetzte und sie sich die Finger verbrannte.

„Ich dachte, ich könnte ihn abnehmen, wenn wir die Truhe der Wächterin holen wollen.“

„Das habe ich auch gedacht.“, sagte Rowen verwirrt. „Irgendwas muss ich übersehen haben.“

„Wird das heute noch was?“, nölte Hunter. Shana war auch genervt, aber sie benahm sich nicht so kindisch wie er. Er war eben ein Idiot und würde immer einer bleiben. Rowen hörte ihm aber auch gar nicht zu. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sie Situation zu retten.

„Blut.“, ertönte es nach mehreren Sekunden des Schweigens aus einer Ecke. Shana wusste, wer das gesagt hatte. Sie musste zu ihrer Schande gestehen, dass sie diese Stimme aus einer von vielen herausgehört hätte. Es war demütigend. Alle sahen zu Ethan.

„Blut?“, fragte Rowen noch irritierter als vorher.

„Ihr Blut.“ Dabei deutete Ethan auf Shana. Keiner rührte sich, weil niemand so recht begriff, was er damit sagen wollte. Er seufzte schwer genervt und ging auf Shana zu. Dabei holte er etwas aus seiner Manteltasche. Erst, als er vor ihr stand, erkannte sie, dass es ein Dolch war. Shana machte den Mund auf, um zu protestieren, doch da hatte er schon ihre Hand gepackt und ritzte mit dem Dolch die Haut ihrer Handinnenfläche auf. Shana stieß einen Schmerzenslaut aus, als sie die rote Linie auf ihrer Handfläche sah. Ethan spann doch total. Was dachte er sich überhaupt, so was zu tun? Sie würde ihm nie wieder helfen. Das konnte er vergessen. Wenn er das nächste Mal verletzt war, würde sie ihn verbluten lassen. Plötzlich war es ganz still im Raum. Ihr wurde bewusst, dass sie mit sechs Vampiren in einem Raum war und blutete. Panisch sah sie die anderen an. Sie bewegten sich nicht. Bildete sie sich das nur ein oder hatten einige aufgehört zu atmen?

„Sei nicht albern.“, blaffte Ethan, als er ihre Panik bemerkte. Er griff von oben in ihren Pullover und zog die Kette, an der der Schlüssel hing, heraus. Ein leises Zischen und der Geruch von verbranntem Fleisch erfüllten den Raum. Ethan verzog jedoch keine Miene, obwohl es ihm wehtun musste. Er nahm ihre verletzte Hand und drückte die blutende Wunde auf den Schlüssel. Ein Ruck ging durch Shana’s Körper. Und sie spürte… nichts. Kein Brennen oder elektrische Schläge. Sie sah Ethan verwirrt an. Seine kühle Hand lag immer noch auf ihrer.

„Jetzt nimm ihn schon ab.“ Damit ließ er sie los und sie folgte seiner Anweisung. Und - oh Wunder - es klappte. Sie war den Schlüssel tatsächlich los. Fast hätte sie vor Glück geweint. Endlich kein Brennen mehr und auch keine Stromschläge. Endlich wieder ein Stück Normalität. Zumindest für den Moment.

„Ethan, woher-“, begann Rowen.

„Mach lieber weiter.“, unterbrach er ihn barsch.

Rowen nickte und wandte sich wieder an Shana. „Gut. Nun stecke bitte den Schlüssel in das Schlüsselloch.“

Ihre Hand zitterte etwas, als sie tat, worum Rowen sie gebeten hatte. Zumindest gab er ihr keine Befehle, sondern gab höfliche Anweisungen. Es klickte leise, als sie den Schlüssel drehte. Als Shana den Schlüssel bis zum Anschlag gedreht hatte, zog sie etwas daran und das Rechteck klappte auf. In dem Hohlraum war eine Kiste zu erkennen.

„Hunter? Hilfst du mir bitte?“, bat Rowen. Gemeinsam zogen sie eine Truhe heraus, die ungefähr 1,50 m lang und 60 cm breit war. Shana schloss den Hohlraum wieder und betrachtete die Truhe. Sie war aus Holz, welches über die Jahre dunkel geworden war. Mehr konnte sie aber nicht erkennen, da Hunter und Jay - der Rowen abgelöst hatte - die Truhe bereits nach draußen trugen. Die anderen folgten ihnen. Shana hielt den Schlüssel fest umklammert.
 

Den Weg zurück zur Gruft schwiegen alle und hielten Abstand zu Shana. Die Wunde hatte bereits aufgehört zu bluten, aber vermutlich haftete immer noch der Geruch von Blut an ihr. In der Gruft angekommen, gingen sie in das Zimmer von Rowen. Er räumte seinen Schreibtisch frei und sie legten die Truhe darauf ab. Erst, als Chris ein paar Kerzen angezündet hatte, konnte Shana die Truhe näher in Augenschein nehmen. Sie war nicht gerade besonders hübsch anzuschauen mit all dem Staub. Ihre Aufmerksamkeit erweckte ein Symbol auf dem Deckel. Doch da sie es nicht genau erkennen konnte, wischte sie den Staub mit ihrem Pulloverärmel beiseite. Es war ein Dolch zu erkennen, der von einem roten Faden umschlängelt wurde. Von der Klinge tropfte Blut in eine Pfütze, die sich unter der Klinge gebildet hatte. Ihr Herz raste. Sie wusste nicht warum, aber dieses Symbol machte sie nervös.

Die Truhe war mit einem gewöhnlichen Hängeschloss verschlossen. Hawk brauchte keine fünf Sekunden, um es zu knacken. Wo auch immer er so was gelernt hatte.

„Es ist deine Truhe.“, sagte Rowen ehrfürchtig. „Du solltest sie öffnen.“

Shana schluckte. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Sie hasste es wirklich, im Mittelpunkt zu stehen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und hob den Deckel hoch. Noch mehr Staub kam zum Vorschein. Das und eine hohe Anzahl von Büchern. Das war’s? Staub und Bücher? Doch Rowen sah das ein bisschen anders. Seine Augen begannen zu leuchten. Vorsichtig strich er über eines der ledergebundenen Bücher. Shana konnte es immer noch nicht fassen. „Bücher?“ Damit sprach sie die Gedanken der anderen aus.

„Ist das nicht toll?“, freute Rowen sich wie ein Kind an Weihnachten.

„Das sind nur Bücher.“, bemerkte Shana trocken.

„Vielleicht ist noch mehr in der Truhe.“, sagte Chris. Das war ein Argument. Zusammen mit Rowen leerte Shana die Truhe. Er behandelte die Bücher mit Ehrfurcht. Shana dagegen legte sie einfach irgendwie zur Seite. Sie hatte es nicht so mit geschriebenen Worten, die gebunden waren. Es waren 16 Bücher und eine Schatulle, die sich unter den Büchern befand. Shana öffnete sie. Ein Dolch war darin. Es war derselbe, wie auf dem Deckel der Truhe. Nur, dass die Klinge glänzte und kein Blut an ihr haftete. Ein Tuch aus Samt war ebenfalls in der Schatulle. Als sie das Tuch zurückschlug, hielt sie einen Ring in der Hand. Es war ein schöner schlichter Ring. Das Besondere war, dass er weder silbern noch golden war. Der Ring war pechschwarz. Und in der Mitte war ein roter Stein eingefasst. Merkwürdig war auch, dass eine tiefe Kerbe um die ganze Ringfassung ging. Shana wischte mit dem Tuch an dem Ring, doch er blieb schwarz. Sie betrachtete den roten Stein und hatte plötzlich ein komisches Gefühl. Ohne zu wissen, was sie da eigentlich tat, nahm sie den Dolch und versetzte sich einen Schnitt in den Zeigefinger. Dann ließ sie ihr Blut auf den roten Stein tropfen. Das Blut perlte ab und lief durch die Kerbe nach unten und tropfte auf den Boden. Erst, als die Kerbe und der Stein vollständig mit ihrem Blut getränkt waren, hörte sie auf und steckte den Ring an ihren Ringfinger der linken Hand.

Die Vampire hatten sie mit gemischten Gefühlen dabei beobachtet. Erst als Shana die Blicke bemerkte, war sie wieder sie selbst.

„Wa.. Was habe ich da getan?“, fragte sie Rowen verwirrt und sah auf den Ring. Doch er konnte nichts anderes tun, als sie anstarren. „Rowen-san. Was… Warum habe ich das getan?“

Er schüttelte den Kopf. „Mach dir keine Sorgen. Vielleicht war es einfach nur eine Reaktion auf die Ereignisse. Ich muss erst recherchieren um genaueres sagen zu können.“

Shana schwieg.

„Du gehst nach Hause!“, sagte Ethan plötzlich kalt und hasserfüllt. Shana zuckte bei diesem Tonfall zusammen.

„Warum?“, verlangte Rowen zu wissen. Doch Ethan gab keine Antwort, sondern packte Shana grob am Oberarm und schleifte sie nach draußen. „Komm nächste Nacht wieder.“, schrie Rowen noch hinterher.

Shana wollte nicht mit Ethan gehen, denn plötzlich hatte sie Angst vor ihm. Sie wusste nicht warum, aber ihre Angst war so stark, wie bei den Werwölfen. Sie wollte sich wehren und schreien, doch Ethan würde das eh ignorieren, also sagte sie nichts und versuchte sich zusammen zu reißen.

Als er sie zu Hause abgesetzt hatte, verschwand er ohne ein Wort, was Shana nur recht sein konnte. Erst als sie im Haus war, fiel ihr auf, dass sie den Schlüssel immer noch in der Hand hielt. Sie wusste nicht so recht, ob sie ihn anlegen oder wegschmeißen sollte. Ein wenig unschlüssig ging sie in ihr Zimmer. Als sie das Licht anschaltete, glänzte etwas Silbernes auf ihrem Bett. Bei näherer Betrachtung stellte es sich als ein Klapphandy heraus. Verwirrt las sie die Notiz, die an dem Handy klebte.

„Ersatz für dein kaputtes Handy. Und damit wir dich erreichen können. Aber vorrangig, damit du mich anrufen kannst, damit wir quatschen können. Chris.“

Shana lächelte und drückte das Handy an ihre Brust. Zwar waren es Vampire, aber einige entpuppten sich als echte Freunde.

Den Schlüssel und das Handy legte sie auf ihren Nachttisch. Dann machte sie sich fertig und lag nach kurzer Zeit im Bett. Gedankenverloren starrte sie den Ring an. Er musste der früheren Wächterin gehört haben. Woher wusste Shana, was zu tun war? Reflex? Eingebung? Oder einfach nur Dummheit? Und warum hatte sie nicht das Bedürfnis, ihn abzunehmen?
 

And that’s all?
 

Soa.. Ich hoffe mich hasst keiner wegen Yue. Und diesmal hat es mit dem geplanten Update geklappt, was mich besonders freut. Wie immer an dieser Stelle vielen lieben Dank für die Kommentare. Die heizen mich grad so an, dass ich mit dem Schreiben nicht mehr aufhören kann. Also immer weiter so *smile*

Wünsche euch dann einen schönen ersten Mai und schöne Pfingsten. Sehen uns dann in Kapitel 12 wieder.

Bis denn dann
 

BabyG

Eine Seele für Jedermann

Menschen leben, Menschen sterben. Das ist der Lauf der Natur. Doch was geschieht dazwischen? Was passiert mit der Seele nach dem Tod?

Shana hatte sich noch nie mit Seelen oder anderen übernatürlichen Kram beschäftigt, doch das sollte sich bald ändern.
 

„The Kill Birds“ wurden wahrscheinlich unter Vertrag genommen und probten deswegen neue Stücke ein. Oder sie versuchten einen neuen Hit zu landen. Was auch immer es war, sie gingen Shana tierisch auf die Nerven. Sie zog sich das Kissen über den Kopf, doch das Gezwitscher verstummte nicht. Sie knurrte übellaunig, als sie unter ihrem Lärmschutz hervorlugte und auf den Wecker sah. Es war erst 7:00 Uhr morgens. Sie hatte gerade mal fünf Stunden geschlafen. Sie holte ihren Kopf unter dem Kissen hervor und drückte ihr Gesicht dann in die weichen Daunen. Ein merkwürdiger Geruch stieg ihr in die Nase. Duschgel und ein etwas süßlicher Geruch, den sie nicht genau definieren konnte. Obwohl ihr dieser Geruch irgendwie auch bekannt vorkam. Shana überlegte einen Moment und sprang plötzlich wie vom Affen gebissen aus dem Bett, verfing sich in ihrer Decke und fiel der Länge nach hin.

Ethan hatte in ihrem Bett geschlafen und sie hatte vergessen, es abzuziehen. Das war Ethan, den sie da gerochen hatte. Sie schnupperte an sich und sie roch tatsächlich leicht nach Ethan. Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Warum kam ihr das so unkeusch vor? Es war irgendwie verrucht und verboten.

Was denkst du dir da eigentlich wieder für einen Schwachsinn zusammen?,

dachte sie verwirrt. Ein Gutes hatte es zumindest. Sie war wach. Und da Shana jetzt relativ klar im Kopf war, fiel ihr auch die letzte Nacht wieder ein.

Sie lag nach wie vor auf dem Boden und hob ihre linke Hand vor ihr Gesicht. Das Blut auf dem Ring war schon längst getrocknet und hob sich leicht von dem Schwarz des Ringes ab. Mika hatte ihr zwar das ein oder andere Mal Schmuck geschenkt, aber Shana trug es nicht. Wer legte schon Schmuck für mehrere 10000 Yen an? Sie hatte viel zu große Angst den Schmuck zu beschädigen oder zu verlieren. Doch mit diesem Ring hier war das etwas anderes. Es fühlte sich so an, als ob der Ring genau an ihren Ringfinger gehörte. Es fühlte sich so richtig an.

Shana lächelte. Endlich etwas, was ihr wirklich gehörte. Sie ließ ihre Hand wieder sinken und starrte an die Zimmerdecke.

Die gestrigen 24 Stunden waren einfach nur verrückt gewesen. Sie musste an Yue denken. Sie war vermutlich ein klein wenig verknallt in ihn, auch wenn sich das kindisch anhörte. Dabei kannte sie ihn noch nicht mal. Doch er war wirklich nett zu ihr gewesen. Er hatte sie nicht Monster geschimpft, als sie den Kuss auf so unprofessionelle Weise verpatzt hatte. Und er wollte sie auch noch wieder sehen. Es war schon komisch. Sie hatte schon gedacht, dass sich kein männliches Wesen je für sie interessieren würde und dann so was. Aber erstmal müsste sie ein Treffen mit ihm ausmachen.

Ihr Blick glitt zu dem silbernen Handy, welches immer noch auf ihrem Nachttisch lag. Wie hatte Chris es überhaupt hierher bringen können? Der Einzige, der letzte Nacht bei ihr war, war Ethan gewesen. Als Shana an den schlecht gelaunten Vampir dachte, fing ihr Körper an zu zittern. Er war furchtbar wütend auf sie gewesen. Aber sie hatte doch nichts getan. Außer, dass sie die Truhe der Wächterin geborgen und sie diese komische Sache mit dem Ring gemacht hatte. Und das hatte sie unbewusst gemacht. Es war, als ob jemand ihren Körper übernommen hätte und sie diese Dinge hat tun lassen. Moment mal! War es das gewesen? Die Tatsache, dass sie jetzt offiziell Wächterin war?

Plötzlich erinnerte sie sich an ein Gespräch mit Ethan. Er hatte gesagt, er hasste Wächterinnen. Egal, wer diese Bürde auf sich nahm. War das wirklich der Grund für seinen Zorn? Ethan musste etwas über Wächter wissen. Immerhin war er es, der geholfen hatte, dass Shana den Schlüssel ablegen konnte. Nur warum hatte er Rowen oder den anderen gegenüber nie etwas gesagt? Er erzählte ihnen anscheinend doch sonst auch alles. Irgendwas musste da im Busch sein. Doch Shana würde dem nicht auf den Grund gehen – Oh nein. Niemals! Sie würde ihren Job als Wächterin machen, so gut sie eben konnte. Wenn das erledigt war, würde sie mit dem ganzen Kram nichts mehr zu tun haben. Sie würde sich mit Chris, Jay und Rowen treffen, aber das war’s dann auch. Ethan und Hunter würde sie bestimmt nicht mehr wieder sehen. Und mit Hawk hatte sie praktisch nichts zu tun. Ihm wäre es sicher egal, wenn sie sich nicht mehr sahen.

Ganz so einfach sollte es dann doch nicht werden, aber das wusste Shana bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Sie stand auf und nahm das Handy zur Hand. Sie klappte es auf und schaute sich die Einstellungen an. Als sie zum Adressbuch kam, sah sie, dass die Nummern von allen Mitgliedern des Clans eingespeichert waren. Wobei sie sich fragte, warum Hawk ein Handy hatte, wenn er nicht sprach. Und die Nummer von Ethan und Hunter würde sie sicher nicht anwählen. Trotzdem löschte Shana sie nicht. Sie speicherte noch einige andere Nummern ein. Darunter die von Mika und die von Yue. Sie hätte ihm gerne eine sms geschrieben, um ihn viel Glück für seine Klausur zu wünschen, aber sie wusste nichts über die Konditionen. Wie teuer waren sms oder Telefonate? Oder war es sogar mit Vertrag und sie musste Grundgebühren bezahlen? Das hätte Chris doch mal erwähnen können.

Sie klappte das Handy wieder zu und legte es neben den Schlüssel. Es klebte immer noch ihr Blut an ihm. Sie würde Rowen nachher fragen, was sie damit jetzt anfangen sollte. Wegwerfen wollte sie ihn nicht, obwohl sie eine persönliche Abneigung gegen diesen Schlüssel entwickelt hatte.

Da Rumsitzen sie nicht weiter brachte und an Schlaf nicht mehr zu denken war, ging Shana ins Badezimmer und nahm erstmal ein ausgiebiges Bad. Nachdem sie sich angezogen hatte, zog sie ihr Bett ab. Sie wollte Ethan nie wieder mit einem Bett in Verbindung bringen. Als sie frische Bettwäsche aufgezogen hatte, ging sie einkaufen, da im Kühlschrank gähnende Leere herrschte.
 

Das dauerte bis zum Mittag. Und als Shana dann Hunger bekam, genehmigte sie sich eine Portion Ramen bei Suoshi. Als sie dann zu Hause war, klingelte auch schon das Telefon.

„Bei Minabe.“, meldete sich Shana.

„Und wie war es noch mit Yue?“

„Hallo Mika.“

„Ich will Einzelheiten.“

„Er hat mich nach Hause gebracht. Mehr war da nicht.“

„Shana! Zwing mich nicht, Yue persönlich zu fragen!“

Na toll. Das wollte Shana auf jeden Fall verhindern. „Es war nett mit ihm.“

„Und weiter?“

„Wir haben uns unterhalten.“

„Über was?“

„Dies und das.“

„Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen!“

Shana seufzte und erzählte Mika eine geschönte Kurzfassung.

„Und er wollte dich nicht küssen?“, fragte Mika dann, als Shana geendet hatte.

Wie gesagt. Eine geschönte Kurzfassung.

„Nein.“, wich sie aus.

„Schade. Ihr wärt das perfekte Paar.“

„Nun übertreib mal nicht.“

„Und mach du dich nicht so schlecht. Wäre das nicht cool? Ich meine, wenn meine beste Freundin mit dem besten Freund meines Freundes zusammen wäre?“

„Was soll daran cool sein?“

„Na überleg doch mal.“, fing Mika an und hielt geschlagene zehn Minuten einen Monolog über die Vorteile solch einer Verbindung.

Shana hörte wie immer nicht zu und schenkte ihre Aufmerksamkeit dem Ring der Wächterin. Warum war er eigentlich schwarz gewesen? Hatte das eine besondere Bedeutung? Woher wusste sie, was sie tun musste? Sie erinnerte sich an das erste Mal, als Ethan bei ihr zu Hause war. Als er ihr versuchte klar zu machen, dass sie die Wächterin war und es Vampire wirklich gab. Da hatte sie auch so ein komisches Gefühl gehabt. Nannte Ethan es nicht auch Seele der Wächterin? War es das gewesen? Yamamoto Makoto, die kurzzeitig ihren Körper übernommen hatte und die Sache mit dem Ring getan hatte? Die Vorstellung war gruselig.

„Shana?“, drang die Stimmte von Mika auf einmal zu ihr durch.

„Äh… was?“

„Du hast mir nicht zugehört oder?“

„Den Anfang habe ich noch mitbekommen.“

„Willst du mich ärgern?“

„Das würde ich doch nie wagen.“

„Von wegen!“

„Du Mika. Ich wollte mir gerade etwas zu Essen machen.“ Glatte Lüge, aber sie wollte die Unterhaltung beenden.

„Okay. Ich verstehe schon. Aber halte mich wegen Yue auf dem Laufenden, ja?“

„Du bist die Erste, wenn es etwas Neues gibt.“

Nachdem Shana aufgelegt hatte, machte sie sich einen gemütlichen Nachmittag vor dem Fernseher.
 

Shana schreckte von irgendeiner Soap auf, als es plötzlich an der Tür klingelte. Langsam stand sie auf und ging zur Tür. Wer konnte das nur sein? Leider konnte sie nicht erkennen, wer es war, da es an einem Spion mangelte.

„Wer ist da?“, fragte sie durch die geschlossene Tür. Seit der Sache mit den Werwölfen war sie vorsichtiger geworden.

„Ich bin es, Chris.“, kam es gedämpft als Antwort.

Chris? Und das an der Tür? Sie sah auf die Uhr und bemerkte, dass um diese Zeit die Sonne schon untergegangen war. Vorsichtig öffnete sie die Tür und es war tatsächlich Chris. Doch was machte sie hier? Dann fiel ihr aber ein, dass Ethan, dieser nachtragende Vampir, bestimmt immer noch sauer auf sie war. Und das würde sich sobald vermutlich auch nicht ändern.

„Hey.“, sagte Shana und trat zur Seite, um Chris Einlass zu gewähren. Doch sie rührte sich nicht.

„Bist du fertig? Rowen erwartet dich.“

Shana runzelte die Stirn. Warum war sie so distanziert? Was war aus der Chris geworden, die sie immer so überschwänglich in die Arme schloss?

„Ähm.. einen Moment.“

Shana ging rasch nach oben und holte ihre Umhängetasche, die sie schon vorher gepackt hatte. Nachdem sie sich Schal, Mantel und Schuhe angezogen hatte, kletterte sie auf Chris’ Schulter und sie erhoben sich in die Luft. Während des Weges zum Friedhof schwiegen sie. Auch das war nicht normal.

Und auch als sie nebeneinander herliefen und sich auf den Weg zur Gruft machten, schwiegen sie beharrlich, was Shana auf die Nerven ging.

„Habe ich dir irgendwas getan?“, platzte sie einfach heraus.

„Nein. Warum?“

„Weil du so tust, als ob ich Luft wäre.“

„Das hat nichts mit dir zu tun.“

„Ach, bitte. Seit wir die Truhe geborgen haben, benimmst du dich irgendwie merkwürdig.“

Chris seufzte und blieb, so wie auch Shana, stehen. „Es ist nur… Ethan ist seit gestern Nacht nicht mehr aufgetaucht.“

„Was?“ Ein Ruck ging durch Shana’s Körper. Warum machte sie sich Sorgen? Blöde, blöde Shana.

„Es ist ja nicht so, dass er nicht öfters mal verschwindet, aber sonst sagt er Bescheid oder ist zumindest auf seinem Handy zu erreichen. Ich mache mir Sorgen um ihn.“

Shana wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Stattdessen legte sie Chris die Hand auf die Schulter. Sie wusste nicht, dass Chris eine so tiefe Verbindung zu Ethan hatte.

„Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe.“

„Schon gut.“ Sie lächelte. „Du konntest es ja nicht wissen.“

Plötzlich hatte Shana eine Idee. „Ist sein Handy aus oder geht er nur nicht ran?“

„Er würde es nie ausschalten.“ Shana sah, dass Chris nicht genau wusste, worauf sie hinauswollte, obwohl es doch offensichtlich war. Und bevor Chris fragen konnte, hatte sie in ihrer Tasche gewühlt und ihr neues Handy herausgeholt.

„Danke übrigens dafür.“

„Kein Problem. Du brauchtest eins.“

„Du musst mich dann nachher mal über die Konditionen aufklären.“

Shana klappte das Handy auf, tippte kurz etwas herum und führte es dann an ihr Ohr. Sie brauchte auch nicht lange zu warten.

„Jetzt hör mir mal gut zu, du dämlicher Vollidiot!“, schrie sie schon fast ins Handy. „Ich weiß nicht, was dein Problem ist und im Grunde interessiert es mich auch nicht. Egal, was es ist, du kannst nicht einfach so abhauen! Es gibt Leute, die sich Sorgen um dich machen. Und keine Angst. Mir ist egal, was aus dir wird. Benimm dich nicht so kindisch und blöd! Beweg dich gefälligst hierher und entschuldige dich bei deinem Clan für dein respektloses Verhalten, Blödmann!“

Dann klappte sie das Handy wieder zu.

„Hast du gerade mit Ethan geredet?“, fragte Chris ein wenig schockiert.

„Was denkst du denn? Ein Wunder, dass er meinen Anruf nicht einfach ignoriert oder mittendrin aufgelegt hat.“

„Hat er etwas zu dir gesagt?“

„Weiß nicht. Habe vorher aufgelegt. Wahrscheinlich hätte er mich eh nur beleidigt und darauf kann ich verzichten.“

Chris lachte und umarmte Shana. „Ich bin froh, dass wir dich gefunden haben.“

„Das ist zwar zuviel der Ehre, aber danke.“

Sie lachten und setzten ihren Weg fort.

„Von was für Konditionen hattest du eigentlich gerade gesprochen?“

„Na wie teuer der Handyvertrag, sms und Telefonate sind. Soviel Geld habe ich nämlich nicht zur Verfügung.“

„Dich kostet es nichts.“

„Was?“

„Das Handy war ein Geschenk und um die Kosten brauchst du dich nicht zu sorgen.“

„Ich kann euch das doch nicht bezahlen lassen.“

„Doch, das kannst du. Wir haben eine Menge Geld so was sammelt sich mit den Jahren und den richtigen Investitionen einfach an. Benutz das Handy so oft und soviel du willst. Und mach dir über die Rechnung keine Sorgen.“

„Das kann ich doch nicht annehmen.“

„Du kannst und du wirst. Sonst werde ich ernstlich böse. Außerdem hast du Ethan die Meinung gesagt, wofür ich dir dankbar bin.“

Shana lächelte. „Danke.“

„Nicht der Rede wert.“

Sie betraten die Gruft und nachdem Shana Jay und Hawk begrüßt hatte, ging sie zu Rowen. Als Shana sein Arbeitszimmer betrat, empfing er sie herzlich.

„Sei mir willkommen.“

„Hallo, Rowen-san. Wie geht es dir?“

„Sehr gut. Danke der Nachfrage. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich dir alles zu berichten habe.“ Doch, das konnte sie sogar sehr gut.

„Du hast also in den Büchern gelesen?“, vermutete sie.

„Es sind nicht nur einfach Bücher, sondern Tagebücher.“

„Aha.“ Mehr fiel ihr dazu nicht ein. So ganz konnte sie seine Leidenschaft für Bücher eben nicht teilen. Rowen lächelte sie an und bat Shana, platz zu nehmen.

„Bevor wir anfangen- Möchtest du einen Tee?“

„Ich wäre dankbar dafür.“

Ihr Mantel war zwar warm, aber gegen etwas Heißes hatte sie nichts einzuwenden. Rowen nickte und verließ den Raum.

Shana schaute sich die Bücher -Verzeihung- Tagebücher an. Zwar interessierten Bücher sie nicht, aber sie war trotzdem gespannt, was diese Tagebücher hervorbringen würden. Ihr Blick heftete sich auf den Dolch, der mitten auf dem Schreibtisch lag. Im Schein der Kerzen schimmerte er verlockend. Ohne, dass sie es sich wirklich bewusst war, griff sie danach. Sie drehte und wendete den Dolch, um ihn genau in Augenschein zu nehmen. Ihr war der Schmerz, den sich damit zugefügt hatte, als sie sich in den Finger geschnitten hatte, nur noch wage bewusst. Bei genauerer Betrachtung sah sie noch ihr Blut an der Klinge kleben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Nichts, wie immer. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Vielleicht gaben die Tagebücher ja Aufschluss über ihr Verhalten in der letzten Nacht.

Sie grübelte noch ein bisschen über die vergangenen Ereignisse, als Rowen mit zwei dampfenden Tassen Tee wieder den Raum betrat. Dankend nahm sie ihre Tasse grünen Tee entgegen. Rowen setzte sich ihr gegenüber an seinen Schreibtisch.

„Du scheinst von dem Dolch fasziniert.“, bemerkte er.

Shana zuckte zusammen und legte den Dolch wieder auf den Tisch. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie ihn immer noch in der Hand hielt. Sie nickte Rowen zu und versteckte ihren roten Kopf hinter der Tasse, indem sie vorgab, zu trinken. Wie peinlich.

Rowen lachte. „Es muss dir nicht unangenehm sein. Es ist ganz natürlich, dass du dich zu dem Dolch hingezogen fühlst.“

Shana antwortete nicht.

„Es ist dir sogar bestimmt, den Dolch bei dir zu tragen. Also nimm ihn bitte an dich.“

Rowen seufzte, als Shana sich immer noch nicht rührte.

„Also… dann erzähl mal.“ Sie wollte das Thema von dem Dolch ablenken. Rowen ging auf die Ablenkung ein und fing an zu strahlen.

„Sehr gerne.“ Er wühlte in den Tagebüchern, die überall auf seinem Schreibtisch verstreut lagen und zog eines heraus. Es war ziemlich alt und in Leder gebunden. An den Seiten waren die Blätter schon ganz gelb und angefressen. Als Rowen es aufschlug und im Begriff war, daraus vorzulesen, hob Shana die Hand.

„Bitte, Rowen-san. Eine kurze Zusammenfassung reicht mir. Ich glaube auch nicht, dass ich es verstehe, wenn du es mir in der Originalfassung vorliest.“

Rowen schien ein wenig enttäuscht, doch er respektierte ihren Wunsch. Er räusperte sich.

„Nun…“, begann er und stoppte. Da er sich darauf vorbereitet hatte, vorzulesen, brauchte er einen Moment um einen Anfang zu finden.

„Das erste Tagebuch und somit auch der erste Beweis einer Wächterin, lässt sich im Jahre 1463 verzeichnen.“

„Aber gab es Vampire nicht schon vorher?“, unterbrach Shana ihn. Rowen nickte.

„Schon vorher gab es Vampire, und auch Werwölfe. Doch es waren noch nicht sehr viele, sodass sie eine Wächterin benötigt hätten. Tatsächlich werden Vampire erst mit dem Jahre 1767 in Verbindung gebracht. Wann allerdings der erste Vampir entstand, lässt sich leider nicht genau sagen. Ich habe Aufzeichnungen, in denen Vampire schon zu Lebzeiten Jesu existierten. Aber ich denke, darüber berichtete ich dir ein anderes Mal.“

Shana nickte zur Bestätigung. Außerdem war die Wächtersache gerade interessanter und auch wichtiger für sie. „Erzähl weiter.“, bat sie ihn.

Rowen lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rückte seine Brille zurecht.

„Die erste Wächterin hieß Romia und lebte in Prag auf dem Land. Wie auch alle weiteren folgenden Wächterinnen, wusste sie nicht, welches Schicksal sie ereilen würde. Damals war es in Prag üblich, Seelen zu erhalten.“

Shana verschluckte sich fast an ihrem Tee bei dieser Aussage. „Seelen erhalten?“ Hatte sie das richtig verstanden?

„Ja. Du kennst doch sicher den Aberglauben, dass Katzen 9 Leben haben. Und mit jeder großen Gefahr oder Fast-Todeserfahrung verlieren sie ein Leben. Und das glaubten die Menschen damals auch. Wenn man z.B. hingefallen war oder sich verbrannt hatte, glaubte man, einen Teil seiner Seele verloren zu haben. Trat so ein Fall also ein, ging man zur Dorfheilerin und ließ sich eine neue Seele geben. Romia war in dieser Hinsicht ein besonderer Fall. Sie war der größte Tollpatsch im Dorf und war meist bis zu dreimal täglich bei der Dorfheilerin um sich eine Seele geben zu lassen. Dadurch war sie mit ihren 17 Jahren auch noch nicht verheiratet. Keiner wollte einen Trampel zur Frau nehmen. Jeder im Dorf spottete über sie und nannte sie Seelenfresserin, weil sie so viele Seelen benötigte. Es war eher eine Verkettung unglücklicher Zufälle, dass sie zur Wächterin wurde. Und alles nur wegen der Seelen.“

„Wie das?“

„Es begann damit, dass ein Reisender in ihr Dorf kam. Er war ein stattlicher Mann und von blendender Schönheit. Er war auf der Durchreise und wollte nur für einen Tag im Dorf bleiben, um sein Pferd zu tränken und sich auszuruhen. Wohin genau er reisen wollte, war in dem Tagebuch nicht verzeichnet. Sein Name war Sarej.“

Shana fing leicht an zu zittern. Irgendwas schien ihr der Name zu bedeuten, sie wusste nur nicht, was. Rowen schien ihre innere Unruhe nicht zu bemerken und fuhr fort.

„Alle Frauen waren hin und weg von Sarej. Jede wollte seiner Geschichten lauschen und sich in seinem Antlitz baden. Romia hatte am Morgen zwar von ihm gehört, doch sie hatte Pflichten im Hause ihrer Eltern zu erfüllen und konnte so nicht in den Genuss kommen, den Reisenden in Augenschein zu nehmen. Sie wäre zu gerne in die dunkle Schenke gegangen um einen Blick auf Sarej zu werfen, doch es war ihr nicht vergönnt. Aber es war auch ganz gut so, denn Romia fühlte sich als nicht hübsch genug, um einen Mann unter die Augen zu treten.

Es war später Nachmittag, als Romia mal wieder zur Dorfheilerin musste, weil sie vom Schemel gefallen war. Die Dorfheilerin, musst du wissen, wurde von allen nicht sonderlich gemocht, da sie ziemlich gemein sein konnte. Außerdem hatte sie übernatürliche Kräfte. So was machte den Leuten dieser Zeit immer Angst. Nur Romia kam mit ihr aus.“

„Kein Wunder. Sooft, wie sie da war.“

Rowen lachte. „Wohl wahr. Die Dorfheilerin stöhnte wie üblich über die Tollpatschigkeit von Romia, doch das schöne Gesicht des Mädchens ließ sie erweichen und sie war mal wieder bereit ihr eine Seele zu geben. Das Ritual war recht simpel. Man brauchte nur eine Kerze, einen Kessel und einige geweihte Kräuter, um das Tor der Toten zu öffnen, damit man eine Seele fordern konnte. Man verbrennt diese Kräuter in dem Kessel und pustet dann gleichzeitig die Kerze aus. Der Rauch, der dann durch das Verbrennen und Verlöschen entsteht, stellt dann die neu gewonnene Seele dar.“

„Also war es nur Humbug?“

Rowen zuckte mit den Schultern. „Die Leute damals glaubten daran. Und solange man daran glaubt, ist es für einen real.“ Er nahm einen Schluck Tee, ehe er wieder weiter sprach.

„Diesmal jedoch ging etwas schief. Eine Fledermaus flatterte durch den Raum. Romia erschrak dadurch und stieß dann einige andere Kräuter um, die dann zusammen mit der Kerze in den Kessel fielen. Der Inhalt explodierte und Romia war dadurch ganz mit Ruß verdreckt. Die Dorfheilerin war erzürnt und schickte Romia fort. Das Mädchen fühlte sich seltsam. Irgendwie nicht so wie sonst. Ein wenig verwirrt machte sie sich auf den Weg nach Hause und traf zum ersten Mal auf Sarej. Er war mit den Frauen aus dem Dorf unterwegs und als diese Romia erblickten, fingen sie an zu lachen und schimpften sie als Seelenfresserin.

Sarej war wirklich, wie die anderen Frauen im Dorf gesagt hatten, wunderschön und edel. Und was war mit ihr? Ihr Haar war verfilzt und ihre Kleider und ihr Gesicht waren schwarz. Unterschiedlicher hätten sie nicht sein können. Doch Sarej war fasziniert von Romia. Er ließ die bildhübschen Frauen stehen, mit denen er einen Spaziergang gemacht hatte und geleitete Romia nach Hause. Normalerweise schickte sich so etwas nicht, doch es war ihnen egal.

Von da an trafen sie sich jeden Abend. Sarej verwarf sein Vorhaben zu reisen und blieb im Dorf. Da Romia Pflichten hatte, trafen sie sich immer nach Sonnenuntergang.

Romia veränderte sich. Von Tag zu Tag wurde sie nicht nur hübscher, sondern auch geschickter. Ihr Haar und ihre Haut glänzten und sie musste nicht mehr zur Dorfheilerin um nach einer Seele zu verlangen. Auch ihr Wesen wurde nobler. Sie drückte sich gewählter aus und bewegte sich anmutig. Sie gewann ebenfalls an Selbstvertrauen. Vorher hat sie sich von allen alles gefallen lassen. Doch nun erhob sie ihre Stimme und verteidigte sich. Romia konnte sich diese Veränderung nicht erklären. Vielleicht lag es ja daran, das sie versuchte, Sarej zu gefallen und strengte sich deswegen an.

Doch auch wenn beide glücklich schienen, erging es dem Dorf nicht so. Eine Art Mordwelle ging durch das Dorf. Fast jede Nacht wurde ein Toter aufgefunden. Noch brachte niemand Sarej mit den Morden in Verbindung, doch nach zwei Wochen eskalierte es.“

Rowen machte eine kleine Pause. Shana ärgerte sich darüber, da sie diese Geschichte wirklich fesselte. Nachdem er sich noch etwas von seinem Tee genehmigt hatte, begann er erneut.

„Du musst wissen, dass Romia wusste, dass Sarej kein Mensch war. Er sagte es zwar nicht, aber sie konnte es fühlten. Sie spürte, dass er nicht so war, wie andere Menschen. Trotzdem liebte sie ihn. Es war eine Art tiefes Band, welches die beiden geknüpft hatten und sie fest aneinander band. Eines Nachts gestand auch Sarej sich die Liebe zu Romia ein und offenbarte ihr, dass er ein Vampir war.“

Shana schluckte. Eigentlich wollte sie etwas sagen, doch sie wollte Rowen nicht ein weiteres Mal unterbrechen.

„Obwohl Romia wusste, was Vampire waren, liebte sie ihn und klagte ihn nicht an. Sarej war nicht nur erleichtert, sondern seine Liebe zu Romia wuchs dadurch noch. Ihre Toleranz gab ihm Mut und er machte ihr einen Antrag, den Romia nur zu gerne annahm. Der Ring, den du an einer linken Hand trägst, war er Verlobungsring.“

Shana starrte den Ring an. Das konnte doch nicht sein. Und sie hatte ihn sich auch noch links übergestreift. Das Zeichen für Verlobung. Sie legte ihre rechte Hand über die linke und sah Rowen an. Er nickte nur.

„Nur leider waren sie nicht ungestört und jemand hörte ihr Gespräch mit. Die Nachricht, dass Sarej ein Vampir war und Romia sich mit ihm verbünden wollte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. So dauerte es nicht lange und Sarej wurde der Morde angeklagt. Das ganze Dorf hatte sich mit Fackeln und Heugabeln auf dem Marktplatz versammelt und forderte den Tod von Sarej. Romia stellte sich schützend vor ihn und gab an, dass er von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang mit ihr zusammen war. Doch die Dorfbewohner glaubten ihr natürlich nicht. Immerhin war sie mit ihm verlobt. Romia wollte, dass Sarej floh, doch er wollte nicht ohne sie sein. Sarej hatte bereits seine Vampirgestalt angenommen und wollte die Dorfbewohner töten, die seiner Romia Leid zufügen wollten, als Wolfsgeheul das Treiben zum Stillstand brachte. Ein Rudel von fünf sehr großen Wölfen versammelte sich auf dem Marktplatz. Noch nie hatte man so riesige Wölfe gesehen und es war sofort klar, dass es sich nur um Werwölfe handeln konnte. Die Dorfbewohner wichen vor dieser Bedrohung zurück, doch die Werwölfe wollten nur Sarej. Er war schon seit längerer Zeit auf der Flucht vor ihnen und nun hatten sie ihn endlich gefunden. Sarej wollte sich zum Kampf stellen, doch Romia wusste, dass er schwach war. Er hatte schon mehrere Nächte kein Blut mehr zu sich genommen. Deswegen zog Romia seinen Dolch - nebenbei bemerkt der Dolch hier auf dem Tisch - und schnitt sich die Pulsadern auf. Sie hielt ihm ihr blutendes Handgelenk hin und flehte ihn an von ihr zu trinken.

Sarej haderte mit sich, doch er musste ihr Blut trinken, sonst waren sie alle verloren. Also senkte er seine Lippen um die Wunde und trank, soviel er Romia zumuten konnte. Danach hauchte er ihr einen blutigen Kuss auf die Lippen und stürzte sich in den Kampf. Durch ihr Blut war er stärker denn je. Er konnte drei der Werwölfe vernichten, bis er selbst schwer verletzt wurde und dem Tode nahe war. Die verletzten, aber noch lebenden Werwölfe hatten genug und zogen sich zurück. Romia konnte nicht glauben, dass ihr unsterblicher Geliebter dahin scheiden sollte. Doch bevor Sarej starb, sagte er etwas sehr wichtiges zu ihr.“

Rowen nahm dann doch das Tagebuch zur Hand und blätterte bis zur entsprechenden Stelle um daraus vorzulesen. „Meine Geliebte. Teuerste Romia. Höre auf die Wallungen deines Blutes und folge dem Weg der Unsterblichen. Gebe ihnen deinen Lebenssaft, um sie zu stärken. Sei ihre Wächterin, damit sie im Kampf gegen die Wolfsbrut bestehen können.“ Rowen schlug das Tagebuch zu.

„Dann starb er. Da die Dorfbewohner in Romia eine Hexe und Verbündete der Vampire sah, verbrannten sie sie noch in derselben Nacht. Doch Romia nahm ihren Todesspruch widerstandslos hin. Sie wollte ihr Leben nicht ohne Sarej fristen. Sie gab den Ring und den Dolch der Dorfheilerin, die ihr das letzte Gebet abnahm. Sarej hatte mit seinen Worten verständlich gemacht, was zu tun war. Romia bat die Dorfheilerin, diese Geschichte in ihren Namen nieder zu schreiben. Die Dinge, die Romia von Sarej bekommen hatte, sollten zusammen mit der Niederschrift in einer Truhe vergraben werden. Sie wünschte, dass man sie in der Nähe der Truhe begrub. Um die Truhe zu beschützen, sollte die Dorfheilerin einen Schlüssel fertigen, der nicht nur die Truhe, sondern auch die angehende Wächterin selbst, beschützt. Denn Romia wusste nur zu gut, dass die Dorfheilerin eine richtige Hexe war. Den Schlüssel sollte sie dem nächsten Vampir überreichen, der das Dorf betrat und auf der Suche nach der Wächterin war. Der Vampir würde dann schon wissen, was zu tun war.

Während Romia auf dem Scheiterhaufen brannte, befahl sie ihrer Seele, aus ihrem Körper zu fahren und das nächste Mädchen zu suchen, dass die Bürde der Wächterin tragen sollte. Die Dorfheilerin tat, was Romia ihr aufgetragen hatte und betete, dass bald ein Vampir kommen würde, da sie den Schlüssel und auch die Truhe loswerden wollte. Es dauerte einige Jahre, bis ein Vampir kam, der wahrhaftig auf der Suche nach der Wächterin war.“

Shana war noch nie ein Fan von Kitsch gewesen, aber das war die schönste Geschichte, die sie je gehört hatte. Auch Rowen schien tief berührt davon.

„Ich trage eine ziemliche alte Seele in mir. Und den Verlobungsring von Sarej.“, scherzte Shana um die Stimmung ein wenig zu lockern.

Rowen lachte. „Das stimmt wohl.“

„Haben alle Wächterinnen ihre Geschichte aufgeschrieben?“

„Ich denke. Ich konnte erst sechs Tagebücher übersetzten. Die Sprachen sind von Tagebuch zu Tagebuch verschieden und die Übersetzung erschwert sich durch die Handschrift und verblasste Tinte.“

„Oh. Danke, dass du dir solche Mühe gibst.“

„Nicht doch. Soll ich dann weitermachen und dir die nächste Geschichte erzählen?“

„Gerne.“

Doch gerade, als Rowen fortfahren wollte, schwang die Tür auf und knallte laut gegen die Wand. Shana hatte kaum Zeit sich umzublicken, als sie schon am Kragen gepackt und aus dem Stuhl gerissen wurde. Es war natürlich Ethan, der sie eiskalt und mit tief-goldenen Augen anfunkelte.

„Was fällt dir eigentlich ein, so mit mir zu reden, blöde Kuh?!?“

Shana rang nach Fassung. „Lass mich los!“

„Nein! Ich bringe dich um!“

„Ethan! Beruhige dich bitte.“

Rowen war aufgesprungen, doch Ethan fauchte in seine Richtung. „Zwing mich nicht, dich auch zu töten, Rowen.“

Dann wandte er sich an Shana und öffnete den Mund. Seine langen Fänge hätten sie eigentlich in Panik versetzten müssen, doch sie bewirken das genaue Gegenteil. Sie machten sie wütend. Richtig wütend. Shana rammte ihre Faust in seinen Magen, sodass er von ihr abließ.

„DU!“, schrie sie ihn an und bohrte ihren Zeigefinger in seine Brust. „Was glaubst du eigentlich wer du bist? Denkst du wirklich, du könntest mir Angst machen? Das ich nicht lache! Was ist überhaupt los mit dir? Hast du ein paar Schläge zuviel auf den Kopf bekommen? Warum hasst du mich eigentlich so sehr? Das würde mich wirklich mal interessieren. Ist es, weil ich die Wächterin bin? Denkst du, ich habe darum gebeten? Denkst du, ich habe geschrieen: ’Ihr braucht eine Wächterin? Hier bin ich!’ Denkst du das? Sag mal, bist du eigentlich noch zu retten? Du hast ein Problem mit Wächterinnen? Fein! Ich habe auch ein Problem mit dir, du Vollidiot! Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass ich nicht nur die Wächterin bin, sondern auch Shana?! Nein, natürlich nicht. Das wäre auch zuviel verlangt. Merk es dir gefälligst! Hasse von mir aus die Wächterin, aber ich, Shana, habe dir nie Anlass dazu gegeben. Also hör endlich auf, dich so verdammt idiotisch zu benehmen!“ Shana keuchte, weil sie so geschrieen hatte und ihm die ganze Zeit ihren Finger in die Brust gebohrt hatte. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte raus. Da sie sich in der Gruft nicht sonderlich gut auskannte, rannte sie in den Raum, der neben dem von Rowen lag, die Küche.

Oh. Mein. Gott. Hatte sie Ethan gerade wirklich runtergeputzt? War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Hatte sie Todes Sehnsucht? War sie verflucht noch mal irregeworden? Ihr Herz wummerte heftig in ihrer Brust. Da sich ihre Beine wie Wackelpudding anfühlten, hielt sie sich an einem der Stühle fest und atmete tief durch. Zwar hatte Ethan vorher keinen triftigen Grund gehabt sie zu hassen, aber jetzt hatte sie ihn praktisch dazu ermutigt. Was war nur in sie gefahren? Wo war ihre Angst geblieben? Sie war doch sonst nicht so mutig gewesen.

Etwas knackte und Shana wandte sich um. War das Ethan gewesen? Bereit, ihr die Kehle zu zerfetzen und sie auszusaugen? So genau konnte sie es nicht sagen, da es einfach zu dunkel war. Sie erkannte nur einen Schatten, der sie anscheinend ignorierte und zur Anrichte schlurfte. Erst die LED-Lampe der Kaffeemaschine ließ sie erkennen, dass es Hunter war. Zum Glück.

Doch kaum, dass sie sich sicher fühlte, waren auch schon die nächsten in die Küche gestürmt. Und sie brauchte ihre Augen nicht, um zu wissen, wer das war.

„Ethan! Halte dich bitte zurück!“

„Lass mich los, Rowen.“, knurrte er.

„Was ist denn hier los?“, vernahm Shana die Stimme von Chris. Na toll. Wollte sonst noch jemand ihrer Hinrichtung beiwohnen? Es nervte sie, dass sie nichts sehen konnte und machte das erstmal zu ihrem Hauptproblem.

„Verflucht noch mal! Ihr habt massig Geld und könnt euch noch nicht mal elektrisches Licht leisten?“, brüllte sie über den Lärm hinweg. Diese Dunkelheit machte sie wirklich fertig. Chris fing plötzlich an zu kichern. „Wir haben doch Licht.“ Um ihre Aussage zu bekräftigen, ging plötzlich das Licht an. Es war zwar gedämmt, aber es reichte aus, um alles sehen zu können.

„Und warum lauft ihr mit Kerzen rum?“, verlangte Shana zu wissen.

Chris zuckte mit den Schultern. „Wir sehen gut in der Dunkelheit. Und Kerzen finden die anderen authentischer.“ Damit deutete sie auf Rowen und Ethan und Shana war sich ihrer Situation wieder bewusst.

Ethan riss sich endlich von Rowen los und ging auf Shana zu, gefährlich wie eine Raubkatze. Shana machte sich bereit. Am liebsten hätte sie sich in die Hosen gemacht, aber kampflos würde sie sich nicht ergeben. Das wäre ja noch schöner. Er blieb direkt vor ihr stehen. Sein Körper presste sich hart an ihren. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, weil sein Körper sich so kalt anfühlte. Gleichzeitig jedoch schockierte sie die Intimität und erregte sie ein klein wenig. Na super. Ethan wollte sie umbringen und ihr schwirrten Bilder von seiner nackten Brust durch den Kopf, als sie ihn verarztet hatte.

Super Timing, Trottel!, schalt sie sich.

„Du!“, knurrte er sie an und benutzte dasselbe Eröffnungswort wie sie zuvor. „Ich bin nicht sehr geduldig und Beleidigungen lasse ich mir grundsätzlich nicht gefallen. Von niemanden! Ich hasse sowohl Wächterinnen, als auch dich. Dass muss nicht im Zusammenhang stehen. Du bist dumm, hässlich, laut, naiv und gehst mir auf die Nerven. Reichen diese Gründe, um meinen Hass zu rechtfertigen?“ Seine Stimme war so verflucht kalt und beherrscht, dass Shana eine Gänsehaut bekam.

Sie nickte und schluckte, da sie ihrer Stimmte nicht traute. Ethan beugte sich zu ihr herunter. Sein Atem streifte ihr Ohr, als er Folgendes zu ihr sagte: „Vergiss nicht, dass ich dich innerhalb eines Wimpernschlages töten kann.“, flüsterte er ihr zu, woraufhin sie wieder nickte.

Dann ließ er von ihr ab, ging zur Anrichte und machte sich einen Tee. War das denn zu fassen? Erst drohte er ihr und machte ihr Angst und jetzt machte Ethan sich einfach Tee? Das war zuviel für Shana und sie musste sich setzten. Dadurch entlud sich die angespannte Stimmung ein wenig.

Rowen räusperte sich. „Nun…“, begann er. „Ich hoffe, damit konnten alle Differenzen aus der Welt geschafft werden. Aber auch ich muss dir etwas mitteilen, Shana.“

„Nur zu. Schlimmer als das von Ethan kann es ja nicht sein.“, meinte sie sarkastisch. Ja, eindeutig hatte sie Todessehnsucht, doch Ethan ignorierte sie. Auch recht.

„Du musst als Wächterin stärker werden. Deswegen möchte ich, dass du in Kampfkunst unterwiesen wirst.“ Shana nickte. Das hörte sich doch mal interessant an. So was wollte sie schon immer mal lernen, aber ihre Eltern erlaubten es ihr natürlich nicht.

„Und wer soll sie trainieren?“, fragte Chris misstrauisch.

„Hunter.“

Hunter verschluckte sich an seinem Kaffee.

„Nein!“, kam es von Hunter und Shana gleichzeitig.

„Ich bitte euch. Hunter ist der Beste, wenn es um den Kampf mit und ohne Waffen geht. Ich bitte dich darum, Hunter.“

„Vergiss es, Ro. Eher bringe ich die Göre um, als dass ich sie unterrichte.“

Chris fing bei dieser Antwort an zu kichern.

„Was ist daran so komisch?“, blaffte Hunter.

„Na ja. Ich frage mich nur, was Rin-chan wohl dazu sagen würde.“

Ein tiefes und sehr bedrohliches Knurren entwich Hunter. Chris fing erneut an zu kichern und Rowen klatschte in die Hände.

„Also ist es beschlossene Sache.“

Shana fragte sich, wer Rin war. Doch viel wichtiger war, dass sie einfach übergangen wurde und man sie nicht nach ihrer Meinung gefragt hatte. Sie machte den Mund auf und wollte protestieren, aber Rowen war schneller.

„Des Weiteren ist es wichtig, dass du noch viel in Bezug auf Wächter, Vampire und Werwölfe zu lernen hast, Shana. Die Nächte sind zu kurz und die Zeit des Lernens nur knapp bemessen. Daher bitte ich dich, vorübergehend in der Gruft zu wohnen.“

Jetzt schaute nicht nur Shana dumm aus der Wäsche.

„Und wie stellst du dir das vor, Rowen?“, ergriff Chris das Wort. „Wo soll sie schlafen? Hunter und Hawk teilen sich ein Zimmer, sowie Jay und ich. In deinem Zimmer ist ja kaum Platz für dich selbst. Und das Wohnzimmer wird von Hawk ständig belagert-“ Chris brach ab, als ihr plötzlich ein Licht aufging. Rowen sprach aus, was sie dachte.

„Du hast es richtig erkannt. Shana wird bei Ethan nächtigen.“
 

And That’s All?
 

Ist schon wieder ein Monat rum? Scheint wohl so. Na ja. Ich hoffe, ihr hattet Gefallen an dem Kapitel. Mal so eine Frage. Fehlt euch die Spannung grad son bissel oder kann man es noch so aushalten?

Zum nächsten Kapitel: Es wird lustig und einen Tick romantisch *zwinker* Mehr will ich noch nicht verraten. Na ja... vielleicht noch, dass mal wieder Mord und Totschlag herrschen wird, aba nu is wirklich genug gesagt.

Also wir lesen uns dann Ende Juni wieder. Und vielen Dank für die Kommentare zu Kapitel 11. Ihr habt mir Yue anscheinend verziehen.

Okay… genug geredet.

Bis denn dann
 

BabyG

Mein Bett, bleibt mein Bett

In unserem Leben werden uns viele Entscheidungen abgenommen. Eltern entscheiden, was wir essen und wie wir uns kleiden. Lehrer entscheiden, was wir lernen sollen. Im Beruf sagt uns der Chef, was wir zu arbeiten haben. Solche Entscheidungen erleichtern uns vieles.

Shana war nicht zufrieden mit den Entscheidungen, die Rowen für sie traf. Wenn Rowen nur ein bisschen Verstand gehabt hätte, hätte er doch wissen müssen, dass Shana und Ethan sich umbringen würden, wenn sie sich ein Bett teilen mussten.
 

Jetzt starrte nicht nur Shana Rowen entsetzt und komisch an.

„Nein!“, sagten Shana und Ethan gleichzeitig. Wohl das erste und einzige Mal, dass die beiden einer Meinung waren.

„Warum nicht?“, verlangte Rowen zu wissen.

Eh… hallo? Hatte Rowen die Szene gerade nicht mitbekommen? „Rowen-san, Ethan wird mich umbringen, wenn ich mir ein Zimmer mit ihm teile.“

„Ich denke, du übertreibst, Shana.“

„Nein, tut sie nicht. Ich werde sie umbringen und dich gleich mit.“, drohte Ethan.

Na klar. Was auch sonst. Ethan war berechenbar geworden.

„Ich bitte euch. Ich sehe keine andere Möglichkeit um dieses Problem zu lösen.“

„Sie kann draußen schlafen.“, murmelte Ethan.

Rowen schüttelte den Kopf. „Das ist unmenschlich.“

„Denkst du, das interessiert mich? Ich will nicht mit ihr in einem Bett schlafen und dabei bleibt es.“

Langsam wurde Shana sauer. Sie hatten doch schon zusammen in einem Zimmer geschlafen. Okay, da waren sie noch nicht so zerstritten wie jetzt, aber was machte das schon? Ethan sollte sich nicht so anstellen. Er benahm sich wie ein kleines Kind. Shana überdachte ihre Situation. Rowen hatte Recht. Sie musste wirklich mehr über die Vampire und die Wächterinnen wissen. Wie sollte sie sich auf diesem Schlachtfeld behaupten, wenn es ihr an Informationen mangelte? Sie lernte zwar nicht gerne, aber das hier war ja auch keine Mathematik. Diese Sache gewann langsam an Reiz. Ein weiteres Argument dafür war, dass der Zeitpunkt gut gewählt war. Sie hatte keine Schule und ihre Familie war zur ihrer kranken Oma verreist um sie zu pflegen. Also würde sie auch keiner zu Hause vermissen. Wäre da nicht die Sache sich mit Ethan ein Zimmer zu teilen, wäre alles wirklich perfekt. Aber warum stellte sie sich überhaupt so an? Klar, Ethan sagte in einer Tour, dass er sie umbringen würde, aber so sehr glaubte sie nicht daran. Auch wenn er es immer abstritt, auch er brauchte eine Wächterin. Irgendwie würde sie es schon überleben. Eine andere Wahl hatte sie schließlich nicht.

Sie holte tief Luft und schluckte ihre Wut herunter. Das, was sie jetzt sagen würde, würde sie mit Sicherheit ihr ganzes Leben lang bereuen.

„Stell dich nicht so an.“, blaffte sie Ethan an. „Hast du solche Angst vor mir oder warum benimmst du dich wie ein kleines Kind?“ Oh ja. Das würde sie auf jeden Fall bereuen. Auf die ein oder andere Weise zumindest. Sie steckte lässig ihre Hände in ihre Hosentaschen um cool und arrogant zu wirken. Na ja… eigentlich tat sie es nur, um ihre Hände zu verstecken weil sie leicht anfingen zu zittern. Sie strafte Ethan mit einem, wie sie hoffte, herablassenden Blick. Statt in die Luft zu gehen, wie Shana es erwartete, grinste Ethan nur. Also war er wohl doch nicht so berechenbar, wie sie glaubte.

„Wenn die Sonne aufgegangen ist, gibt es hier nur noch tote Wächterinnen.“ Damit ging er aus der Küche und trank dabei genüsslich seinen Tee. Shanas Herz machte noch ein paar Schläge mehr. Doch sie wollte sich nicht wie ein Feigling benehmen. Das wäre ja noch schöner. Romia hatte es nicht getan und hatte ihr Leben riskiert, um Sarej zu retten. Daran wollte Shana sich ein Beispiel nehmen und ebenfalls mutig sein. Sie schluckte ihre Angst und ihre Wut abermals herunter und wandte sich an Chris.

„Wenn ich hier schon eine Zeit lang wohnen soll, dann brauche ich noch ein paar Sachen von zu Hause.“

Chris quiekte vergnügt. „Klar. Ich bring dich.“

Ohne Rowen weiter zu beachten, schleifte Chris Shana aus der Küche und ins Wohnzimmer. Dort saßen Hawk und Jay und spielten irgendein Konsolenspiel. Als Chris ihr Vorhaben verlauten ließ, beendete Jay sein Spiel und beschloss, die Damen zu begleiten. Shana fand es schon etwas merkwürdig, aber sie hatte nichts dagegen. Nicht, dass sie Chris nicht für stark hielt, aber sie war sich nicht sicher ob sich dieser kleine und zierliche Vampir gegen einen Werwolf zu Wehr setzten konnte.

Sie verließen die Gruft und Shana kletterte auf den Rücken von Chris. Während sie sich auf den Weg zu Shana machten, beobachtete sie Jay, der neben ihnen sprang. Er bewegte sich genauso sanft und anmutig wie Chris. Ihr fiel auf, dass er sich ständig umsah und die Umgebung sondierte, was Shana wirklich beruhigte. Während des Weges unterhielten sie sich nicht. Das Schweigen war angenehm.

Bei sich zu Hause angekommen, öffnete Shana die Tür und bat die Vampire herein. „Ihr könnt hier unten warten oder mit nach oben kommen. Ganz, wie ihr wollt.“

Sie zog ihre Schuhe aus und trabte nach oben. Da sie nichts hörte, vermutete sie, dass Jay und Chris unten blieben. Doch als sie unter ihrem Bett ihre Reisetasche hervorholte und sich umdrehte, standen die beiden in der Türschwelle und sahen sich um. Jay schien ganz besonders fasziniert zu sein.

„Ist irgendwas?“, fragte sie ihn, während sie ihre Klamotten in die Tasche packte.

„Nein. Oder vielleicht doch. Dein Zimmer sieht so anders aus.“

„Anders?“ Sie wusste, dass ihr Zimmer ein wenig spartanisch eingerichtet war und ihr das ganze Technikzeug fehlte, aber sonst sah es doch wie jedes andere Zimmer aus.

„Chris hat unserem Zimmer einen weiblichen Touch verliehen. Aber deins sieht so normal aus. Kein Tüll und auch kein Pink oder Rot.“

„Pink?“ Shana drehte sich zu ihnen um. Sie sah gerade noch, wie Chris ihm einen Seitenhieb verpasste.

„Pink ist schön!“, sagte sie beleidigt.

„Natürlich, Schatz.“, versuchte Jay sich schnell zu retten und rieb sich die geschundene Seite. „Da ich aber noch nicht viele Mädchenzimmer gesehen habe, dachte ich immer, sie sehen so aus wie unseres. Es war einfach nur eine Feststellung. Nichts weiter. Es sollte keine Kritik an dich sein. Du weißt, ich liebe unser kleines Nest. Vor allem, weil ich mit dir darin wohnen kann.“ Er küsste ihr zärtlich den Scheitel. „Verzeih mir bitte, dass ich mich so unklar ausgedrückt habe.“ Er lächelte und Chris erwiderte es.

Shana sah schnell weg. Ihre Blicke waren so intim, dass sie das Gefühl hatte etwas zu sehen, was nicht für ihre Augen bestimmt war.

Nachdem ihre Tasche voll war, nahm sie sich noch ein Kissen und eine warme Wolldecke und stellte alles in den Flur. Dann packte sie noch einige Toilettenartikel ein und verstaute es irgendwie noch in ihre übervolle Reisetasche. Als sie ihre Sachen nehmen wollte, um sie nach unten zu bringen, kam Jay ihr zuvor. „Lass nur. Ich nehme das schon.“

„Danke.“

Er schenkte ihr ein smartes Lächeln und ging voll beladen nach unten. Shana und Chris folgten ihm. Dann packte sie noch einige Lebensmittel und Getränke ein, weil sie sich ziemlich sicher sein konnte, dass der Kühlschrank in der Gruft leer war und eigentlich nur zur Zierde da stand. Nachdem auch das erledigt war, machten sie sich wieder auf den Weg. Sie hatten Glück und begegneten keinem Werwolf.

Als sie wieder in der Gruft waren, saß Hawk immer noch vor dem Fernseher und spielte. Jay legte ihre Sachen ab und gesellte sich zu seinem Bruder. „Okay. Wo waren wir? Ach ja. Ich war dabei, dich fertig zu machen.“ Jay lachte und schnappte sich einen Controller.

Shana beobachtete die Brüder. Sie hatten eine gewisse Ähnlichkeit, hätten aber unterschiedlicher nicht sein können. Jay war fast genauso aufgekratzt wie Chris, wobei es bei ihm sich noch in Grenzen hielt. Hawk dagegen war der Ruhepol. Er war still und auch seine Bewegungen waren langsam. Trotzdem ergänzten die beiden sich perfekt und strahlten angenehme Schwingungen aus. Man musste sich bei ihnen einfach wohl fühlen.

„Sag mal.“, begann Chris dann. „Hast du eigentlich schon die ganze Gruft gesehen?“

Shana wandte sich von den Jungs ab und schüttelte den Kopf. „Nein.“, gab sie zu. Chris fing an zu strahlen. „Gut. Dann zeige ich dir dein derzeitiges Heim mal genauer.“

Shana nickte. Was Besseres hatte sie wohl gerade eh nicht zu tun. Chris nahm ihre Hand, worauf Shana ein Schauer überlief. Sie würde sich wahrscheinlich nie an diese kalten Körper gewöhnen. Chris öffnete die Tür zum Flur und machte das Licht an.

„Also. Rechts sind nur das Zimmer von Rowen und die Küche. Da du das ja alles schon kennst, machen wir hier weiter.“

Sie deutete auf eine Tür, die direkt gegenüber der Wohnzimmertür war.

„Okay.“

Chris öffnete die Tür und machte das Licht an. Shana schreckte zurück. Jay hatte wirklich nicht übertrieben.

„Das ist das Zimmer von Jay und mir.“, sagte Chris nicht ganz ohne Stolz und lachte. Shana war nicht danach zumute. Rechts von ihr stand ein großer Kleiderschrank, der mit rosa und schwarzen Tüll verhangen war. An der gegenüberliegenden Wand von der Tür stand ein riesiges Himmelbett. Die vorstehenden Farben waren rot und schwarz. Links davon stand ein Tisch und drum herum lagen Kissen in verschiedenen Pinktönen. Links neben der Tür stand ein großer Flachbildfernseher. Wahrscheinlich das Einzige, was Chris nicht mit Pink verschandelt hatte. Von diesen grellen Farben schmerzten Shana die Augen.

„Gefällt es dir?“, fragte Chris erwartend und ungeduldig.

Was sollte sie darauf sagen? Die Wahrheit? Aber da Chris sie mit diesen großen Rehaugen ansah, konnte sie nicht ehrlich sein. „Wirklich hübsch.“, versuchte Shana es so freundlich wie möglich zu sagen.

„Echt?“ Chris strahlte wie eine 100-Watt-Birne. Shana brachte nur ein Nicken zustande und wurde prompt von dem Vampir umarmt. Hörte sie da Knochen knacken?

„Chris… Luft…“, röchelte Shana.

„Oh… Entschuldige.“ Sofort ließ Chris von ihr ab. „Lass uns besser weiter.“

Shana war für diesen Vorschlag wirklich sehr dankbar. Sie verließen das Zimmer und gingen nach rechts. Auch hier öffnete Chris wieder die Tür und machte das Licht an. „Das Zimmer von Hawk und Hunter.“

Rechts neben der Tür stand ein Bett. Über diesem hingen Poster von irgendwelchen fiktiven Gamecharakteren an der Wand. Vermutlich also das Bett von Hawk. Schräg gegenüber stand ein zweites Bett. Über diesem waren Waffen an der Wand angebracht. Von Schwertern bis zu Handfeuerwaffen war alles dabei. Auch hier befand sich ein Schrank, diesmal links von der Tür und ein riesiger Flatscreen. Davor stand eine gemütlich aussehende Couch. Von Deko hielten die Jungs anscheinend nicht viel, was Shana aber nur recht sein konnte, denn ihre Augen taten immer noch von Chris’ fehlgeleiteten Dekorelementen weh. Auch hier hielten sie sich nicht lange auf und betraten den nächsten Raum, der ebenfalls rechts lag. Ein Trainingsraum, wie sich herausstellte. Der Boden war mit Matten ausgelegt und an den Wänden waren Halterungen angebracht, an denen Schwerter und Stöcke hingen. Ein Sandsack baumelte von der Decke und in der Ecke lagen Hanteln und Seile.

„Hier wirst du viel Zeit mit Hunter verbringen.“

„Musst du mich daran erinnern?“, grummelte Shana. Chris fing an zu kichern und brachte sie zu dem Raum, der am Ende des Flures lag. Es war ein handelsübliches Badezimmer mit Waschbecken, Toilette, Wanne, Dusche, Waschmaschine und Trockner. Nachdem sie es eingehend betrachtet hatten, zeigte Chris ihr die Abstellkammer, die direkt neben dem Bad lag. Doch viel sagte Chris da nicht zu, da nur Trödel darin zu finden war.

„Sag mal, Chris. Wie kommt ihr eigentlich zu dieser Gruft hier? Ich meine, der Friedhof wird doch sicher von Priestern bewacht. Wie habt ihr es geschafft, unbemerkt so was hier zu erbauen?“

„Das ist gar nicht so schwer gewesen. Der Priester damals, als Ethan und Rowen das Land betreten hatten, hatte Sympathie für die beiden. Mit ihm und einigen anderen Arbeitern bauten sie die Gruft. Natürlich wussten sie nicht, dass sie mal mehr als nur zwei Personen sein würden, aber sie brauchten viel Platz und haben deswegen so viele Räume gebaut. Während des Baus haben sie bei dem Priester gewohnt. Da das Priesteramt von Generation zu Generation weitergegeben wird, blieb die Obhut des Friedhofs immer in derselben Familie. Dadurch bekamen wir keine Probleme. Denn du musst wissen, dass unser Strom, das Wasser und auch unsere Post über den Tempel des Priesters laufen. Zum Glück hatten wir bis jetzt noch keine schlimmen Probleme. Solange wir unsere Rechnungen bezahlen und unsere Post regelmäßig abholen, lassen die Priester uns in Ruhe. Obwohl der jetzige ein wenig schwierig ist. Er meint, wir würden seine spirituelle Aura stören.“

„Wie bitte?“

„Das ist völliger Blödsinn. Er mag es nur nicht, dass wir hier wohnen, weil wir Ausgeburten der Hölle sind. Ist nicht böse gemeint. Denke ich zumindest. Aber er muss sich wohl oder übel damit abfinden, weil er einen Eid abgelegt hat, uns in Ruhe zu lassen.“

„Ausgeburten der Hölle?“

„Wir sind Vampire. Wir leben in der Dunkelheit und trinken Blut. Was sollten wir sonst sein?“

Shana merkte, dass sie genau dieselben Vorurteile hatte, aber jetzt wusste sie es besser. Sie blieben vor der letzten Tür stehen, der Tür, die links neben dem Wohnzimmer lag.

„Und nun.“, sagte Chris geheimnisvoll. „Darf ich dir das Zimmer von Ethan präsentieren?“

Sie öffnete die Tür und betätigte den Lichtschalter. Shana sah sich um und bekam vor Schreck den Mund nicht mehr zu. Dieses Zimmer war erbärmlich. Rechts stand ein kleiner Schrank, links war eine winzige Kommode. Auf der linken Längsseite war ein Bett, so klein, dass kaum eine Person darin Platz hatte und ein Stuhl stand am Fußende. Sonst war da nichts. Die Wände, wie auch der Boden, ließen einen freien Blick auf den kalten Beton zu. Wie konnte man nur so ärmlich leben? Hatte Chris nicht gesagt, dass die Vampire Geld hatten? Was machte Ethan mit seinem? Beim Pferderennen verwetten?

Entsetzt drehte sie sich zu Chris. „Und hier soll ich schlafen?“

Chris nickte.

„Wie soll das gehen? Ich müsste schon auf Ethan drauf liegen, damit wir beide im Bett schlafen können. Wie stellt Rowen sich das eigentlich vor?“

„Keine Ahnung.“

„Habt ihr einen Futon oder so? Dann kann ich auf dem Boden schlafen.“

Als Chris den Kopf schüttelte, malte Shana sich Horrorvisionen aus, wie sie mit Ethan in diesem Kinderbett lag. Eine wirklich grausige Vorstellung.

„Warum hast du das nicht früher gesagt? Dann hätte ich einen von zu Hause mitbringen können. Können wir noch mal los und einen holen?“

Chris schaute auf ihre Armbanduhr. „Die Sonne geht bald auf. Dafür haben wir keine Zeit mehr.“

Shana stieß ein paar unflätige Flüche aus. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?
 

Den Rest der Nacht verbrachte Shana damit Tee zu trinken und mit Hawk, Jay und Chris fern zu sehen. Als sich die Turteltauben zur Nachtruhe verabschiedeten, erhob auch Shana sich langsam. Ihre Sachen hatte Jay zuvor in das Zimmer von Ethan gebracht. Den Muffelkopf von Vampir hatte sie seit der Entscheidung, dass sie bei ihm schlafen würde, nicht mehr gesehen. Auch gut. Je weniger Zeit sie mit Ethan verbrachte, desto besser. Sie nahm sich die Dinge aus ihrer Tasche, die sie brauchte und ging ins Bad. Sie putzte sich die Zähne und zog sich einen langen Schlafanzug, einen Trainingsanzug und einen Pullover an. Das müsste reichen, um nicht zu erfrieren.

Als sie ihre Sachen zusammenlegte, fiel ihr neues Handy auf den Läufer im Badezimmer. Shana hob es auf und betrachtete es. Hatte Chris nicht gesagt, dass sie sich um die Handyrechnung nicht zu sorgen brauchte und so viel telefonieren konnte, wie sie wollte? Sie klappte das Handy auf und drückte sich durch das Adressbuch, bis die bei der Nummer von Yue stehen blieb. Sollte sie ihn anrufen? Es war 5 Uhr morgens. Eine Sms wäre bestimmt besser gewesen, aber das kam ihr so unpersönlich vor. Sie drückte auf die Anruftaste, legte aber sofort wieder auf, bevor das Handy zu Ende wählen konnte. Das konnte sie doch nicht machen. Er wäre bestimmt wütend, wenn sie ihn aus dem Schlaf klingeln würde. Doch wenn er sie wirklich mochte, dann würde er sich freuen, dass sie ihn anrief.

Shana holte tief Luft und drückte abermals die Anruftaste. Sie war doch kein Feigling. Nervös führte sie das Handy an ihr Ohr und lauschte dem Freizeichen. Plötzlich klickte es.

„Ja?“, drang es recht ungehalten an ihr Ohr. Verdammt! Er war sauer. Sie musste den Impuls unterdrücken, sofort wieder aufzulegen. Shana machte den Mund auf um sich zu entschuldigen, aber ihre Kehle war so trocken, dass sie nicht einen Ton herausbrachte.

„Wer ist da?“

Idiotin! Rede endlich!,ermahnte sie sich. „Hallo, Yue?“, fragte sie vorsichtig.

„Ja?“

„Hier ist Shana.“

Stille.

„Shana?“ Er klang überrascht.

„Ja.“

„Ach hallo. Ich habe deine Stimme im ersten Moment nicht erkannt. Toll, dass du anrufst.“ Er hörte sich ehrlich begeistert an und Shana atmete auf.

„Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt oder so.“

„Ach nein, gar nicht. Ich wollte nur gleich ins Bett gehen.“

„Ach so. Dann will ich dich auch nicht weiter stören.“

„Hey. Leg jetzt nicht auf. Lass uns ein bisschen reden.“

„Ich… ich… ähm…“ Damit hatte sie nicht gerechnet und jetzt stammelte sie wie ein Volltrottel. Sie hätte ihm doch eine Sms schreiben sollen.

Trottel! Trottel! Trottel!

„Bist du noch dran?“

„JA! Klar.“ Sie hörte ihn lachen. War das jetzt gut oder schlecht?

„Was machst du gerade?“

„Nichts. Also ich wollte auch gleich ins Bett gehen.“

„Dürfen so süße Mädchen wie du denn noch so lange aufbleiben?“

Hatte er sie gerade süß genannt? Ihre Wangen fingen an warm zu werden.

„Ich… Natürlich.“

„Und wie komme ich zu der Ehre, dass du mich anrufst? Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, aber hattest du nicht gesagt, dass dein Handy kaputt wäre?“

„Ja. Eine Freundin hat mir ein neues geschenkt und ich wollte wissen, wie deine Klausur war.“

„Ach so. Nur deswegen?“

Shana schluckte. Er flirtete mit ihr. Das tat er eindeutig. Seine Stimme hatte so einen neckenden und sanften Klang. Sie musste sich zusammenreißen und ehrlich sein.

„Na ja. Nicht nur deswegen. Ich wollte deine Stimme hören.“ So. Jetzt hatte sie es gesagt. Entweder lachte er über sie oder legte auf. Doch nichts geschah. Es war unangenehm still. Shana bekam Panik. „Yue? Bist du noch dran? Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe. Ich nehme es auch zurück, wenn du das willst.“

„Was? Nein. Bloß nicht. Ich war nur so überrascht und überwältigt.“

Seine Stimme klang so ehrlich, aber Shana traute dem noch nicht so ganz. „Wirklich?“

„Ja.“

„Danke.“

„Wofür bedankst du dich?“

„Das du nicht böse bist.“

Er lachte. „Warum sollte ich böse sein? Ich fühle mich eher geschmeichelt, dass du mit mir reden wolltest.“

Ihre Wangen fingen jetzt richtig an zu brennen.

„Aber wäre es nicht noch besser, wenn wir uns treffen würden? Nur wir beide?“

„Ich… eh…“

„Immerhin schuldest du mir noch einen Kuss.“

Oh mein Gott. Gleich würde sie in Ohnmacht fallen.

„Shana?“

„Ja?“

„Wann hast du Zeit?“

„Ich weiß es nicht genau. Kann ich dir eine Sms schreiben?“

„Das oder du rufst wieder an. Ich mag es, deine Stimme zu hören.“

„Ich… danke.“ Sie benahm sich wirklich wie der letzte Trottel.

„Gut. Dann melde dich bald bei mir.“

„Das werde ich tun.“

„Schlaf gut und träum was Süßes. Und wenn du von mir träumst, habe ich absolut nichts dagegen.“

Shana lachte. „Ja. Du auch.“

Sie legten auf. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzten Samba. Jetzt war es amtlich. Sie war in Yue verknallt. Sie kannte ihn zwar noch nicht so gut, aber das, was sie bisher von ihm wusste, ließ ihr Herz Purzelbäume schlagen. Es war ein herrliches Gefühl.

Als sie zurück in das Zimmer von Ethan ging, war sie so glücklich, dass sie den Eindruck hatte, zu schweben. Doch ihre Hochstimmung verflog schlagartig, als sie Ethan in der Mitte des Raumes sah. Er trug nur Boxershorts und ein T-Shirt. Sofort überzog sich ihr Körper mit einer Gänsehaut. Den Perversling hatte sie ja vollkommen vergessen.

Er sah sie an und durchbohrte sie mit seinen Blicken. Shana versuchte es zu ignorieren, legte ihre Sachen weg und nahm sich Decke, Kissen und eine Taschenlampe und ging zum Bett.

„Auf welcher Seite schläfst du?“

„Du schläfst nicht in meinem Bett.“

„Wann hast du eigentlich das letzte Mal auf eine Frage vernünftig geantwortet?“

„Reiz mich nicht noch mehr. Das könnte deiner Gesundheit ernstlich schaden.“

„Von mir aus. Auf welcher Seite also?“

„Geht-“

„Jaja. Geht mich nichts an.“, fuhr sie ihm über den Mund. „Pass mal auf. Ich finde es genauso ätzend wie du mir ein Zimmer und auch ein Bett mit dir zu teilen. Also mach es mit deiner blöden Art nicht noch schlimmer, als es eh schon ist.“

Shana war eindeutig lebensmüde, aber die Schmetterlinge in ihrem Bauch machten sie mutig. Außerdem hatte sie es sich ja zum Vorsatz gemacht, endlich mehr Schneid zu zeigen. Das würde sie wahrscheinlich umbringen, aber zumindest konnte sie dann mit der Gewissheit sterben, dass sie es versucht hatte.

„Zur Wand.“, knurrte Ethan überraschend eine Antwort.

„Warum nicht gleich so?“

Shana legte ihr Kissen und ihre Decke auf die offene Seite des Bettes und stellte die Taschenlampe auf den Nachttisch. Dann zog sie sich ihre Pantoffeln aus und krabbelte ins Bett. Sie legte sich auf die Seite und so nah wie möglich an den Rand.

Ethan sah sie kurz an, schüttelte dann den Kopf und machte das Licht aus. Shana sah rein gar nichts mehr. Es war einfach viel zu dunkel. Und auch ihr Gehör vernahm kein Geräusch. Keine Schritte oder sonst irgendwas. Das war wirklich unheimlich gewesen. Sie zuckte zusammen, als die Matratze sich plötzlich senkte und das Laken, dass Ethan als Decke benutzte, leise raschelte. Warum mussten Vampire auch nur so leise sein? Sie spürte Ethan am Rücken. Das Bett war wirklich viel zu klein gewesen. Sie rutschte noch etwas mehr an den Rand, aber sie konnte ihn immer noch spüren und das bereitete ihr Unbehagen. Außerdem konnte sie seine Kälte durch die Decke und ihrer Kleidung spüren.

„Mach dich nicht so breit!“, murmelte sie in die Dunkelheit.

„Ich denke ja nicht dran.“

„Ich falle gleich aus dem Bett.“

„Denkst du, das interessiert mich?“

Jetzt war Shana wirklich sauer. Sie kam ihm ja schon entgegen, indem sie auf der Seite lag. Also konnte er auch etwas Rücksicht nehmen. Sie mochte ja in vielen Dingen nachgeben, aber von Ethan würde sie sich nicht unterdrücken lassen. Das wäre ja noch schöner!

Shana holte mit dem Fuß aus und trat ihm gegen die Wade. Er knurrte. Was auch sonst?

„Was denkst du, soll das werden, wenn es fertig ist?“

„Mach Platz!“

„Nein!“

Sie trat ihn noch mal. Er parierte, indem er ihr etwas Spitzes in den Rücken stieß. Vermutlich sein Ellenbogen. Sie trat noch kräftiger zu. Ethan schlug ihr daraufhin auf die Hüfte.

Er wollte Krieg? Den konnte er haben.

Sie drehte sich zu ihm um und boxte ihn in die Seite. Natürlich war es selten dämlich sich mit Ethan anzulegen, aber hatte er nicht selbst gesagt, dass sie dumm war? Also brauchte er sich auch nicht wundern. So fingen sie an, sich im Bett zu kabbeln. Die Tritte und Schläge, die die beiden austeilten, waren nicht gerade sanft, aber irgendwie mussten sie die Sache regeln. Und das schaffte sie sicher nicht mit Streicheleinheiten.

Doch irgendwann verließen Shana die Kräfte und sie musste sich sehr zu ihrem Ärger geschlagen geben. Am liebsten hätte sie ihn so richtig fertig gemacht, aber ihr Körper schmerzte und sie konnte es einfach nicht mit einem Vampir aufnehmen.

„Stopp!“, rief sie und versuchte seinen Schlag abzuwehren, der sie am Bauch treffen sollte. Natürlich umging er ihre Abwehr und schlug zu, hörte dann aber auf.

„Du gibst auf? Schwächling!“

„Himmel! Ich wollte nur, dass du ein bisschen Platz machst. Eine Prügelei wollte ich nicht anfangen.“

Sie konnte es zwar nicht sehen, aber sie wusste, dass er schadenfroh grinste. Dieser eingebildete Affe! Sie war so sauer, dass ihr einfach nichts mehr einfiel und sie deswegen den Mund hielt. Zornig zog sie die Decke bis zum Kinn. Shana blieb jetzt auf dem Rücken liegen. Sie hatte gerade reichlich Körperkontakt mit Ethan gehabt, da würde sie es nicht mehr stören, wenn ihr Arm seinen berührte.

„Gute Nacht!“, sagte sie verärgert und machte die Augen zu.

„Schwächling.“, erwiderte Ethan belustigt, doch Shana ging nicht darauf ein. Sie war ausgepowert und müde und es dauerte auch nicht lange und sie schlief mit schmerzendem Körper ein.
 

Shana träumte von einer leckeren Erdbeertorte, die sie zusammen mit Yue verspeiste. Dabei fütterten sie sich gegenseitig und sahen sich verliebt an. Shana lächelte und kuschelte sich mehr in die Decke.

Doch ihr schöner Traum wurde jäh gestört, als plötzlich etwas laut krachte und jemand mit freudiger Stimme „Guten Morgen.“ flötete. Shana wachte dadurch zwangsläufig auf und blinzelte gegen das gedämpfte Deckenlicht.

„Was?“, murmelte sie benommen. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an den Lichtwechsel gewöhnt hatten und sie wieder einigermaßen klar sehen konnte. Zuerst bemerkte sie die graue Betonwand. Ihr Blick senkte sich und sie sah ein schwarzes Shirt. Wie kam das denn hier her? Langsam erfasste sie das Gesamtbild. Sie lag an Ethan gekuschelt. Ihr Kopf lag auf seiner Brust und sie hatte einen Arm um seinen Bauch geschlungen. Als diese Information ihr Gehirn aufgenommen hatte, schrie sie auf und rückte von ihm ab, als ob er die Pest hätte. Dabei hatte sie nicht bedacht, wie schmal das Bett war und landete prompt auf dem harten Betonboden.

„Aua.“, ließ Shana sich vernehmen. Sie hörte jemanden kichern und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Chris über ihr gebeugt stand und sie anstrahlte. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und trug dazu ein schwarzes knielanges Gothic Lolita Kleid mit rosa Bändchen an allen möglichen Stellen.

„Hallo Sonnenschein. Gut geschlafen?“ Chris grinste.

Shana rappelte sich in eine sitzende Position auf und blickte auf Ethan, der sich ebenfalls aufgesetzt hatte und sich die Haare aus dem Gesicht strich.

„Wag es nie wieder so nah bei mir zu liegen, blöde Kuh. Du stinkst!“

Das war jawohl die Höhe. „Oh verzeiht, euer Hochwürden. Jeder normale Mann hat auch ein großes Bett. Hast du keine Freundin, mit der du das Bett teilst? Oder stehen die Frauen drauf in einem Winzbett zu schlafen? Was frag ich überhaupt? Keine Frau mit Verstand hält es mit dir aus.“

Ehe sie sich versah, hatte Ethan ihr schon ein Kissen ins Gesicht geschleudert. Als sie wieder etwas sehen konnte, war er schon verschwunden. Nur Chris war noch da und seufzte.

„So was darfst du zu Ethan nicht sagen.“

„Warum?“

„So halt. Ich kann es dir nicht sagen.“

„Ich kann mir kaum vorstellen, dass ihn das wirklich getroffen hat. Immerhin reden wir hier von Ethan. Er strotzt vor Arroganz. Da kann er doch wohl kaum beleidigt sein, wenn ich sage, dass er keine Frau abkriegt.“

„Es ist leider etwas komplizierter.“ Chris machte dabei einen so gequälten Gesichtsausdruck, dass Shana sie am liebsten umarmt hätte.

„Tut mir leid. Ich werde nicht wieder davon anfangen.“

„Danke.“

„Immerhin soll ich mich ja mit ihm anfreunden und ihn nicht noch weiter auf die Palme bringen.“

„Ja, aber du stellst dich ein bisschen dämlich an.“

Shana seufzte und stand auf. Das wusste sie selbst. Nur leider konnte sie es nicht ändern. Ethan und sie waren wie Feuer und Wasser. Einfach nicht kompatibel.

„Wie sollte es auch anders sein? Wir streiten einfach, wenn wir uns sehen.“

„Du musst dir einfach nur mehr Mühe geben.“

„Wenn es nur so einfach wäre.“

„Du schaffst das schon. Willst du was essen?“

Als Antwort knurrte der Magen von Shana und beide lachten. Gemeinsam gingen sie in die Küche. Rowen saß am Küchentisch mit einer Tasse Tee und einem der Tagebücher in der Hand, wie Shana schnell feststellte. Hunter lehnte an der Küchenzeile und trank ebenfalls aus einer Tasse. Vermutlich war es sein heiß geliebter Kaffee. Ethan saß ebenfalls am Tisch und starrte ins Leere, während er in langsamen Schlucken seinen Tee genoss. Shana seufzte leise. Das konnte ja heiter werden.

„Morgen.“, nuschelte sie.

Rowen sah auf. „Guten morgen Shana. Hast du gut geschlafen?“

„So mehr oder weniger.“, gab sie zerknirscht zu und versuchte Ethan nicht anzusehen.

Rowen lächelte daraufhin nur und vertiefte sich wieder in das Tagebuch. Shana plünderte den Kühlschrank, in dem nur ihre Lebensmittel waren und machte sich etwas zu Essen, während Chris ihr eine Tasse mit Tee füllte und diese auf den Tisch stellte. Nachdem Shana ein dürftiges Frühstück zusammengestellt hatte, setzte sie sich. Ihr Frühstück oder wie auch immer man es zu dieser Tageszeit nennen konnte, verlief schweigend. Shana vermied es weiterhin, Ethan anzusehen. Wahrscheinlich hätte er sie eh nur mit bösen Blicken bestraft. Als sie ihre Tasse zum Mund führte, merkte sie erst, wie sehr ihr Körper wirklich schmerzte. Die nächtliche Prügelei mit Ethan hatte eindeutig ihre Spuren hinterlassen. Blöder Ethan!

Als sie zu Ende gegessen hatte, hatte anscheinend auch Rowen endlich wieder Interesse an ihr.

„Also Shana.“, begann er. „Ich hoffe, du bist ausgeschlafen.“

„Es geht.“

„Gut, denn Hunter wird dich bestimmt hart ran nehmen.“

„Hä?“

„Na dein Kampfsporttraining.“

Ah ja. Da war ja noch was. Ein Alptraum folgte bekanntlich ja dem nächsten.

„Sie wird kläglich versagen.“, bemerkte Ethan nebenbei. Shana funkelte ihn giftig an.

„Das werde ich nicht.“

„Wenn du so kämpfst wie mit mir letzte Nacht, dann wirst du es.“

„Was?“, fragte Rowen irritiert, doch weder Shana noch Ethan gaben ihm eine Antwort.

„Ähm… nun… gut. Am besten gehst du gleich mit Hunter trainieren und danach erzähle ich dir etwas über Wächterinnen.“

Shana nickte. Rowen stellte sich das immer so einfach vor. Er vergaß anscheinend, dass sie kein Vampir war, sondern nur ein gewöhnlicher Mensch. Klar, sie war stärker als andere, aber sicher nicht stärker als ein Vampir.

Nachdem Shana ihr Geschirr in die Spüle gestellt hatte, holte sie sich einige Sachen aus Ethans Zimmer und duschte sich im Bad und machte sich fertig. Dabei ließ sie sich extra viel Zeit. Doch nachdem sie es nicht länger hinauszögern konnte, begab sie sich zum Trainingsraum. Es war, wie sollte es auch anders sein, dunkel. Shana konnte nur leise das rascheln von Kleidung vernehmen. Ihre Hand tastete an der Wand entlang und fand endlich den Lichtschalter. Gedämpft erhellte sich der Raum. Hunter befand sich in der Mitte. Er stand auf dem linken Bein und trat mit dem rechten in die Luft. Dann beschrieb er einen Halbkreis, kam auf dem rechten Bein zum stehen und kickte mit dem linken. Dabei bewegte er sich mit einer Grazie und Eleganz, was Shana nie für möglich gehalten hätte. Sie hielt ihn eher für grobmotorischer. Als Hunter dann auf beiden Beinen stand, schlug er mit den Fäusten zu und trat das ein oder andere Mal zu. Shana konnte ihn nur mit offenem Mund fasziniert anstarren. Das würde sie nie so hinbekommen.

Sie war so gefangen von seinen Bewegungen, dass sie gar nicht merkte, dass er sich ihr nährte und sie dann an der Kehle packte.

„Und jetzt wärst du tot.“

Shana zuckte zusammen. Hunter funkelte sie an. „Du bist wirklich erbärmlich.“

„Ich habe keine Ahnung von Kampfkunst.“, blaffte sie ihn an und schlug seine Hand weg. Warum mussten die anderen sie eigentlich ständig kritisieren? Hunter besaß doch tatsächlich die Frechheit und grinste, während er wieder auf Abstand ging.

„Na los. Greif mich an!“, befahl er.

„Warum sollte ich?“

Im nächsten Moment hatte er ihr auch schon die Faust in den Magen gerammt. Shana keuchte und krümmte sich zusammen.

„Wenn du es nicht tust, tue ich es.“

Sie hustete und richtete sich langsam wieder auf. Dabei hielt sie sich den Bauch. Irgendwie wurde ihr übel.

„Sag mal, spinnst du?“

„Denkst du, einen Werwolf würde es kümmern ob du ein Mensch oder eine Frau bist? Sie unterscheiden nicht. Für sie bist du nur Futter. Also reiß dich gefälligst zusammen, Göre.“

Hunter holte zum nächsten Schlag aus. Shana versuchte auszuweichen, doch er erwischte sie an der Schulter. Die Wucht des Schlages schleuderte sie auf die Matte.

„Du wirst sterben, wenn du nicht kämpfen kannst.“

„Dann bring es mir, verdammt noch mal, bei!“

„Das Training wird hart. Also sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“
 

In den nächsten drei Stunden verprügelte Hunter sie nach Strich und Faden und sie verbrachte mehr Zeit auf der Matte, als ihr lieb war. Hunter amüsierte sich köstlich, was sie ärgerte. Sie erlebte nur ein einziges Hochgefühl, als sie es schaffte, seinen Oberarm zu streifen, aber das war auch der einzige Körperkontakt, den er zuließ. Hunter war ein wirklich schlechter Lehrer. Er erklärte nichts, brachte ihr keine Schläge oder Abwehrtechniken bei und brüllte sie nur an. Trotzdem hatte er ihren Ehrgeiz geweckt. Sie wollte lernen, wie man kämpfte und sich verteidigte. Falls sie jemals wieder auf einen Werwolf traf, wollte sie sich zu helfen wissen. Und dafür nahm sie auch ein Training mit Hunter in Kauf. Während sie kämpfen, achtete sie auf seine Bewegungen und prägte sie sich ein. Vielleicht schaffte sie es ja so eines Tages, Hunter fertig zu machen. Wunschdenken, das wusste sie, aber man wird ja wohl noch mal träumen dürfen.

Hunter wollte weiter trainieren, aber Shana konnte kaum noch einen Muskel rühren. Es war recht ärgerlich, dass sie keuchte und schwitzte und Hunter immer noch dastand, als wäre er gerade erst aufgestanden. Erstaunlich fand sie auch seine Muskeln. Er trug nur eine Trainingshose, weswegen sie genau sehen konnte, wie gut gebaut er war. Irgendwie wirkte es anziehend, aber nicht so sehr, dass sie ihm gleich um den Hals fallen würde. Sie hielt sich da ganz an Yue. Und vielleicht bekam sie ja auch bald seinen nackten Oberkörper zu sehen. Wer wusste das schon?

Aber ein Gutes hatte das Training trotzdem. Endlich war Shana mal warm in der Gruft.

So kam es, dass er sie Schwächling und Göre schimpfte und sie entließ. Shana war noch nie so dankbar für ein heißes Bad gewesen. Nachdem sie ihre Muskeln genug gelockert hatte, zog sie sich was Frisches an und ging zu Rowen.

„Und? Wie war dein Training?“, fragte er freundlich und sah von seinem Buch auf, als sie sich vor seinen Schreibtisch auf den Stuhl setzte.

„Es war… anstrengend.“

Rowen lächelte und fing an, die nächste Geschichte zu erzählen.

Diesmal spielte sie in Russland. Die Wächterin hieß Katya und war ein stilles und schüchternes Mädchen gewesen. Sie wusste, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Sie nahm Dinge wahr, die kein anderer sah und fühlte die Energien der Menschen. Sie konnte Auren sehen. Menschen, die voller Leben waren, waren von einem roten Lichtkranz umgeben. Menschen, die kurz vor dem Tode standen, umgab ein rot-schwarzer Lichtkranz. Katya hatte nie irgendwem davon erzählt, weil sie wusste, dass es nicht normal war. Sie wollte nicht als Hexe gebranntmarkt werden. Von Vampiren und Werwölfen hatte sie keine Ahnung. Erst, als ein Werwolf sie Angriff, wurde sie sich dieser Gefahr bewusst. Doch sie überlebte diesen Übergriff, weil zwei Vampire sie retteten. Sie waren Brüder und hießen Dimitri und Ivan. Sie erklärten ihr, was sie waren und dass sie nach ihr gesucht hatten. Die alte Dorfheilerin hatte ihnen den Schlüssel gegeben, als sie auf der Durchreise waren. Sie bargen die Truhe und brachten sie zu Katya. Sie war natürlich verwirrt, aber sie mochte die Vampire und endlich schien ihr Leben einen Sinn zu haben. Sie nahm das Erbe der Wächterin an. Innerhalb eines Jahres hatte sie insgesamt fünf Vampire um sich gescharrt und so ihren eigenen Clan erschaffen. Des Öfteren kamen Werwölfe um die Vampire zum Kampf zu fordern. Katya verlieh ihren Schützlingen durch ihr Blut mehr Macht und so konnten sie ihre Gegner erfolgreich vernichten. Doch was keiner wusste, war, dass Katya labil war. Sie litt unter Wahnvorstellungen und Depressionen. Zu allem Überfluss verliebten sich Dimitri und Ivan in sie, so dass die beiden um ihre Gunst kämpften. Doch sie ertrug es nicht, dass sich die Brüder wegen ihr zerstritten und begann Selbstmord.

„Selbstmord?“, fragte Shana verwirrt.

Rowen nickte. „Ein Vampir namens Anton schrieb im Tagebuch, dass Dimitri und Ivan Werwölfe aufsuchten und sich vernichten ließen. Sie ertrugen ihren Tod nicht. Anton vergrub ihre Leiche und die Truhe und schrieb, dass er mit den restlichen Vampiren weiterziehen würde, um die nächste Wächterin zu finden.“

„Das ist ja schrecklich.“

„Ja. Sie starben alle jung. Wobei ich mich frage, ob Katya von Geburt an krank war.“

„Du meinst, sie könnte es erst geworden sein, als sie zur Wächterin wurde?“

„Es ist nicht auszuschließen.“

„Du machst mir Angst Rowen.“

„Es ist nicht sicher, dass es wirklich so war. Ich werde Nachforschungen diesbezüglich anstellen.“

„Ist denn wenigstens eine an Altersschwäche gestorben?“

Rowen schüttelte den Kopf. „Entweder brachten sie sich selbst um oder starben im Kampf. Aber ich habe bisher acht Tagebücher gelesen. Vielleicht ändert sich ihre Todesart ja noch.“

Er wollte sie aufheitern, dass wusste sie, aber er schaffte es nicht, ihre Zweifel zu zerstreuen. Was würde mit ihr passieren? Würde sie auch wahnsinnig werden? Oder so zu Tode kommen? Sie hatte eigentlich nicht vor, so früh zu sterben. Sie war doch noch jung. Hätte man ihr das nicht mal früher sagen können? Denn dann hätte sie dankend abgelehnt. Ja klar. Als ob das möglich gewesen wäre. Sie wusste schon immer, dass sie anders war. Doch dass es so kommen würde, hätte sie im Leben nicht gedacht. Und es störte sie gewaltig, dass anscheinend ihre Hauptfunktion darin bestand, ihr Blut zu spenden. Sie war doch keine private Blutbank für Vampire. Wer dachte sich nur so was aus? Plötzlich fiel ihr noch etwas ein. Sie kramte in ihrer Hosentasche und legte etwas auf den Tisch, dass in ein Tuch gewickelt war. Sie schlug das Tuch beiseite und Rowen bekam den Schlüssel zu sehen.

„Was soll ich damit machen?“, fragte Shana.

Rowen überlegte kurz. „Du solltest ihn tragen. Soweit ich weiß, beschützt er dich auch weiterhin. Wenn du ihn ablegen willst, musst du es so machen, wie das letzte Mal.“

Shana nickte und hängte sich den Schlüssel wieder um. Er fing an zu glimmen und sofort wurde es warm zwischen ihren Brüsten. Damit hatte sie eine effektive Waffe gegen Ethan und Hunter. Perfekt.

„Ach ja.“, unterbrach Rowen ihre Rachepläne. „Kannst du eigentlich tanzen?“

„Tanzen?“ Was war denn das für eine komische Überleitung gewesen?

„Ja. Standardtänze wie Walzer oder Fox Trott.“

„Eigentlich nicht.“

„Dann muss ich dir das noch schnell beibringen.“

„Wieso das?“

„Ach. Das habe ich ganz vergessen dir zu sagen. Ich bin heute Abend in die Botschaft eingeladen. Dort findet jährlich ein Tanzball statt. Es werden Politiker, Wissenschaftler und Firmenchefs geladen. Und da ich viel für die historische Fakultät getan habe und mich des Öfteren an geschichtlichen Projekten beteilige und obendrein noch einige der Wissenschaftler kenne, bin ich ebenfalls eingeladen.“

„Und ich soll dich begleiten?“

„Ja. Du und die anderen. Ich darf außer mir noch fünf weitere Personen mitbringen. Es würde mich sehr freuen, wenn du mitkommen würdest.“

„Aber ich habe doch nichts zum anziehen und ich passe nicht zu solchen Veranstaltungen.“

„Chris wird schon was für dich haben. Und du passt perfekt da rein.“

„Aber ich-“

„Gut.“, unterbrach er sie. „Dann ist es beschlossene Sache, dass du uns heute Abend begleitest.“

So langsam wurde es mit Rowen zur Gewohnheit, dass er ständig über ihren Kopf entschied. Das gefiel ihr nicht sonderlich und war zudem auch sehr sehr ärgerlich.
 

And that’s all?
 

So. Das Kapitel mag ich nicht. Es ist so nichts sagend. Aber so sind Übergangskapitel irgendwie. Ich entschuldige mich schon mal dafür. Das nächste wird besser. Ich versuche es zumindest. Na ja… ich hoffe trotzdem, dass ihr dieses Kapitel irgendwie doch gemocht habt. Sehen uns dann im Juli wieder

Bis denn dann
 

BabyG

Tanz mit mir

Musik ist ein Phänomen. Es gibt sie schon seit tausenden von Jahren. Sie regt die Menschen zum Tanzen an oder tröstet uns, wenn wir traurig sind. Musik kann man sich aus unserem Leben nicht mehr wegdenken.

Shana mochte Musik. Doch dass sie dazu tanzen sollte, gefiel ihr weniger. Wie sollte man tanzen, wenn man zwei linke Füße hatte?
 

Tanzen. Tanzen? Tanzen! Verdammt noch mal! Shana konnte noch nicht mal fünf Meter auf einer geraden Fläche laufen und jetzt sollte sie tanzen? Hatte Rowen was genommen? War er irre geworden? Sie wollte das nicht. Ganz und gar nicht.

Und doch stand sie mitten in seinem Zimmer und tanzte. Oder wie auch immer man das nennen sollte. Dass sie bei jedem zweiten Schritt Rowen auf die Füße trampelte, störte ihn anscheinend nicht. Er lächelte nur wie ein seliges Kind und führte sie durch den Raum.

Also Rowen mit dem rechten Fuß nach vorne ging um den Part des Führenden zu dominieren, machte Shana mit dem linken Fuß einen Schritt nach vorne und trat ihm mal wieder auf den Fuß. Irgendwie kapierte sie einfach nicht, dass der Mann führte und nicht sie.

Frustriert entwand sie sich seinem Griff. „Es tut mir Leid, Rowen-san. Ich kann einfach nicht tanzen. Am besten vergisst du die ganze Sache einfach und lässt mich hier.“

Statt verärgert zu sein, lächelte Rowen nur, was Shana langsam auf die Nerven ging. Es waren bestimmt irgendwelche „Glücklichmacher“ in seinem Tee. Anders konnte sie sich das ständige Lächeln und seine Nachsichtigkeit nicht erklären. Niemand war so.

„Mach dir keine Sorgen. Du schaffst das schon. Tanzen ist eine Sache des Gefühls und nicht der Technik. Lausche einfach der Musik und lasse dich von ihr lenken. Denk einfach nicht zu viel darüber nach.“

Er ging zu seinem Plattenspieler und schaltete ihn aus, so dass die zarten Klänge von Mozart mit einem Mal verstummten. Plattenspieler! Wie altertümlich war das denn? Sie war hier wirklich in einem anderen Jahrhundert gelandet.

Rowen wandte sich ihr zu. „Nun denn. Da du die Grundlagen des Tanzens erlernt hast, gehen wir nun auswählen.“

„Auswählen?“

Doch Shana bekam keine Antwort. Rowen verließ einfach sein Zimmer und da Shana neugierig war, folgte sie ihm ins Wohnzimmer. Dort saßen Chris, Jay und Hawk und sahen fern. Während Chris auf Rowen’s Bitte Ethan und Hunter aus dem Trainingsraum holte, setzte Shana sich neben Hawk. Was hatte Rowen jetzt schon wieder vor?

Als dann alle versammelt waren, ergriff er das Wort. „Gut. Wenn nun alle anwesend sind, kann ich die frohe Botschaft ja verkünden. Heute Abend findet der alljährliche Ball statt.“

Ein kollektives Stöhnen ging um. Anscheinend war dieser Ball gefürchtet und keiner wollte daran teilnehmen. Zumindest die Männer nicht. Chris hingegen schien begeistert.

Rowen räusperte sich. „Wir müssen nun auswählen, wer die Wache in der Gruft übernimmt. Meldet sich jemand freiwillig?“

Die Hände von Hunter, Ethan und Hawk gingen nach oben. Anscheinend hatte Jay seine Meinung geändert oder er wollte Chris nicht alleine gehen lassen. Zumindest blieb seine Hand unten. Rowen seufzte, als er das Ergebnis sah. „Ich bitte euch. So schlimm ist es doch nicht.“

Offenbar doch, denn keiner wollte nachgeben. Shana fragte sich ernstlich, was das für ein Ball war.

„Also müssen wir wohl losen.“, gab Rowen sich geschlagen. Er verließ das Wohnzimmer und kam mit drei Stäbchen in seiner Hand, die er zu einer Faust geballt hatte, zurück.

„Derjenige, der den kürzesten Stab zieht, muss leider hier bleiben.“ Er hielt ihnen die Stäbe hin und die Männer zogen. Hawk hatte den kürzesten Stab in der Hand.

„Damit ist es beschlossen.“, verkündete Rowen. „In drei Stunden fahren wir ab. Also macht euch bitte fertig. Und wer noch trinken muss, der sollte dies bitte umgehend erledigen.“, mahnte er und verschwand. Auch die anderen zerstreuten sich schnell.

„Komm.“, sagte Chris zu Shana und zog sie hoch. „Wir machen uns jetzt schon fertig, bevor die Jungs das Bad blockieren. Die Zeit ist zwar etwas knapp, aber ich bin zuversichtlich.“

Shana nickte ergeben uns ließ sich von dem kleinen Vampir ins Bad schleifen. Was anderes hätte sie auch gar nicht tun können. Was das Zurechtmachen anging, war Shana mehr als nur ungeschickt. Als sie mal versucht hatte sich zu schminken, war das Make-up fleckig, ihre Wimpern verklebt und sie hätte sich mit einem Kajal beinahe das linke Auge ausgestochen. Und bei dem Versuch sich die Haare hochzustecken, kam es einem Vogelnest, verursacht durch Haarspray, gleich. Und wenn sie sich Chris so ansah, mit dem schön gemachten Make-up und der tollen Frisur, dann war sie sicher in guten Händen.

Chris frisierte und schminkte Shana wie einen Profi. Sie ließ es kommentarlos über sich ergehen und das Endergebnis konnte sich wirklich sehen lassen. Die Schminke war dezent und nicht sehr auffällig. Die Haare hatte Chris offen gelassen. Nur einige Strähnen an den Seiten hatte sie nach hinten genommen und zu seinem Zopf geflochten. Es sah zwar brav aus, aber es passte zu Shana. Obwohl es auch merkwürdig war, weil Shana sonst immer einen einfachen Zopf trug. Es war einfach praktischer. Verziert wurde sie mit silbernen Kreolen an den Ohren. Wie gut, dass sie vorweißlich einen Handspiegel dabei hatte, denn im Bad mangelte es an Spiegeln.

Da sie den Schlüssel und den Ring der Wächterin trug, war weiterer Schmuck überflüssig. Obwohl Chris sich ein wenig darüber ärgerte, weil alles nicht zusammenpasste. Aber um den Schlüssel abzulegen, hätte sie sich in den Finger schneiden müssen und das wollte sie nicht. Und den Ring wollte sie auch nicht ablegen. Er war bereits ein Teil von ihr und ohne ihn kam sie sich nackt und verletzlich vor. Außerdem war das die Standartausrüstung einer Wächterin und ließ sich nicht ändern. Da Chris sich ihre Haare schon zuvor gemacht hatte, schminkte sie sich nur noch mal nach. Shana bewunderte das.

„Wie schaffst du es, dich ohne Spiegel zu schminken?“

„Am Anfang war es schwer, aber so was übt sich.“

Als sie fertig war, gingen sie in das Zimmer von Chris und sie öffnete ihren Kleiderschrank. Eine Vielzahl von Kleidern kam zum Vorschein. Shana staunte nicht schlecht. Sie fühlte sich ein bisschen unbehaglich, da ihr Kleiderschrank spärlich bestückt war. Die Vampire hatten soviel, was sie niemals für sich in Anspruch nehmen könnte. Das traf sie tief.

„Was hättest du gerne? Schwarz? Rot? Pink? Nein… warte! Ich hab’s!“

Chris suchte kurz und zog dann ein Kleid in Flieder heraus. Der Rock war lang, leicht aufgebauscht und mit einer Korsage verbunden. Auf dieser Korsage waren hell silberne Schnörkel gestickt, so wie auch auf dem Rock. Das Kleid hatte keine Träger und war schulterfrei. Es sah einfach traumhaft schön aus.

„Das passt perfekt.“

„Das kann ich unmöglich anziehen.“

„Warum nicht?“

„Hast du dir mal deine und meine Figur angesehen?“

„Stimmt etwas damit nicht?“

„Du bist schlank wie ein Model und ich… ich eben nicht.“ Okay. Shana war fett, aber das musste sie nicht auch noch offen zugeben. Man sah es eh, also warum noch Worte daran verschwenden?

Chris lachte. „Du hast eine tolle Figur.“

Statt etwas darauf zu erwidern, kniff Shana sich in einen ihrer Rettungsringe. Chris schüttelte nur den Kopf. „Zieh dich aus.“

„Niemals!“

Shana hätte es doch wissen müssen, dass man einem Vampir nicht widersprach. Vor allem Chris nicht. In Windeseile hatte sie ihr die Kleider buchstäblich vom Leib gerissen. Sie stand nur noch in Slip und Socken vor dem Vampir. Shana verdeckte mit einem Arm ihre Brust und versuchte mit dem anderen irgendwie ihren Bauch zu verdecken. Ihr stieg die Schamesröte ins Gesicht, was ein krasser Gegensatz zu ihrem Zittern war, weil es fast nackt eiskalt in dem Zimmer war.

„Chris.“, jammerte Shana. „Ich bin so gut wie nackt und es ist verdammt kalt.“ Ihre Zähne klapperten schon.

Chris kicherte und reichte ihr das Kleid. Shana funkelte sie wütend an und zog es sich über. Entweder das oder sie hätte weiter zitternd und entblößt vor ihr gestanden. Und wie Shana es erwartet hatte, passte das Kleid nicht ganz. Zumindest war es noch nicht zu und war jetzt schon am Bauch zu eng.

„Siehst du?“, klagte sie. „Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht passt!“

„Keine Panik.“ Chris trat hinter Shana und zog die Korsage fest. Shana keuchte und stöhnte auf. Das Kleid war zwar jetzt zu, aber Shana bekam keine Luft mehr.

„Bevor ich überhaupt zum Ball gehen kann, bin ich vorher erstickt! Willst du mich umbringen?!?“

„Keine Sorge. Das Kleid dehnt sich noch.“

„Und wann?“

„Irgendwann.“

„Werde ich das noch erleben?“

Chris lachte daraufhin nur und ging einmal um Shana herum und musterte sie.

„Du brauchst andere Unterwäsche.“, war ihr hartes Urteil.

„Was?“

„Deine zeichnet sich durch das Kleid ab.“

Shana wollte sich es selbst ansehen, aber sie konnte sich keinen Millimeter beugen. Chris ging wieder zum Kleiderschrank und reichte Shana dann ein winziges Stück Stoff in Flieder.

„Was ist das?“

„Ein Slip.“

„Ich kann noch nicht mal nach unten gucken ohne Angst haben zu müssen, dass das Kleid aus allen Nähten platzt. Wie soll ich also deiner Meinung nach meine Unterwäsche wechseln?“

„Ich mach das schon.“

Chris trat auf sie zu und raffte den Rock nach oben. Shana sah zwar nicht genau, was Chris da machte, aber sie fühlte die kühlen Finger, die ihre Beine streiften.

Gerade, als Chris ihren Slip am Bündchen zu fassen bekam, ging die Tür auf und Jay trat ein. Shana erstarrte.

„Gehst du mir etwa fremd, Liebling?“, fragte er amüsiert, als er die Szene betrachtete.

„Das würde ich niemals tun.“

„Dann bin ich beruhigt.“ Er ging zu ihr und küsste Chris leicht auf die Lippen. „Und? Kommt ihr voran?“

„Klar.“

Er ging zum Kleiderschrank und suchte anscheinend etwas. Hallo? Shana stand immer noch halb entblößt rum und fing bei der Zimmertemperatur wieder an zu frieren. Als Chris Anstalten machte, ihr den Slip vor Jay auszuziehen, griff Shana nach ihren Armen. Chris sah sie verdutzt an. Verlor man seinen Verstand, wenn man zum Vampir wurde oder was lief hier schief?

Shana versuchte einen tiefen Atemzug, um nicht zu schreien, doch das Kleid ließ nur einen kurzen zu.

„Jay?“, krächzte sie. Er drehte sich um. „Würde es dir eventuell etwas ausmachen, draußen kurz zu warten?“ Shana hatte wirklich Schwierigkeiten höfflich zu bleiben. Erst jetzt schien er sich der peinlichen Situation bewusst.

„Oh… nein. Natürlich nicht. Entschuldige bitte.“ Er lächelte, küsste Chris noch einmal und ging dann nach draußen.

Schnell hatte Chris die Unterwäsche gewechselt und half Shana in die passenden Schuhe. Die Schuhe hatten dieselbe Farbe wie das Kleid, einen hohen Absatz und wurden mit einem Bändchen am Knöchel verschlossen. Shana wagte einen Schritt und stolperte prompt. Wäre Chris nicht gewesen, wäre sie der Länge nach hingefallen.

„Ich kann nicht atmen und in den Schuhen nicht laufen. Dieser Abend wird eine Katastrophe. Entweder ersticke ich oder breche mir beide Beine!“, meinte Shana sarkastisch.

Chris lachte sie nur mal wieder aus und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Jay und ich brauchen noch etwas. Warte doch so lange im Wohnzimmer, ja?“

Als Shana das Funkeln in den Augen ihrer neunen Freundin sah, wusste sie, was Chris meinte und errötete. Leicht benommen stakste sie mit vielen Stolpern ins Wohnzimmer.

Nun… hierher hatte sie es geschafft ohne sich was zu brechen, aber wie sollte sie sich hinsetzen? Im Stehen konnte sie schlecht warten. Die Füße taten ihr jetzt schon weh. Irgendwie schaffte sie es dann doch, in einer halb sitzenden, halb liegenden Position auf der Couch platz zu nehmen. Schweigend sah sie mit Hawk fern. Und als sie wieder wegen der Kälte anfing zu zittern, zauberte er eine Decke hervor und legte sie fast fürsorglich über sie. Shana dankte ihm leise.
 

Sie sahen gerade irgendeine bescheuerte Sitcom, als die Tür sich öffnete und sich alle fertig und in Schale geworfen präsentierten. Jay und Hunter trugen beide einen schwarzen Smoking, wobei der Kummerbund von Hunter golden und der von Jay rot war. Shana fiel auf, dass der Kummerbund von Jay farblich auf das Kleid von Chris abgestimmt war. Ihr Kleid war dunkelrot und schwarze Rosen waren darauf gestickt. Der Rock ging gerade herunter und war bis zum Knie geschlitzt. Das Kleid hatte dünne Träger und es schmiegte sich perfekt an den zierlichen Körper von Chris. Sie sah immer noch umwerfend aus. Shana fragte sich, ob sie das Funkeln in den Augen von Chris nicht doch falsch gedeutet hatte und zwischen ihr und Jay keine kleine Nummer gelaufen war. In so kurzer Zeit konnte Chris sich doch nicht wieder herrichten, um ihre sexuelle Ausschweifung zu verbergen. Doch die verliebten Blicke, die das Pärchen sich zuwarfen, ließen keinen Zweifel daran, was in ihrem Schlafzimmer passiert war. Bemerkenswert.

Doch am meisten bewunderte Shana Ethan und Rowen. Beide trugen einen schwarzen Frack und ließen so keinen Zweifel daran, dass sie Engländer waren. Statt einer Fliege, wie Jay und Hunter sie trugen, hatten sie ein schwarzes Band, das zu einer großen Schleife gebunden war, um den Hals hängen. Sie stammten wirklich aus einem anderen Jahrhundert. Shana kriegte den Mund kaum zu. Die Vampire sahen aus wie Models oder Filmstars. Einfach nur schmerzlich schön. Sie kam sich neben ihnen klein, unbedeutend und unglaublich hässlich vor.

„Ich gehe schon mal den Wagen holen.“, sagte Rowen in die Stille hinein und verließ die Gruft. Nachdem Shana sich mühsam in eine stehende Position gebracht hatte und sie sich von Hawk verabschiedet hatten, gingen auch sie hinaus. Doch das sollte sich als schwierig erweisen, denn Shana stolperte ständig über ihre eigenen Füße und knickte hin und wieder ein. Als sie dann die Treppe nach oben erklomm, verhedderten sich ihre Füße und sie verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Doch statt auf dem harten Betonboden zu landen, stieß sie gegen eine kalte Brust und eine Hand stützte ihre Schulter.

„Pass gefälligst auf, wohin du trittst, blöde Kuh!“, knurrte Ethan an ihrem Ohr. Shana war das peinlich und errötete. Schnell fand sie ihre Balance wieder und stakste nach oben. Sie gingen über den Friedhof und Shana merkte, dass ein Mantel von Vorteil gewesen wäre. Die Außentemperaturen betrugen vielleicht 6°C. Doch irgendwie tat ihr die frische Luft gut. Eine Wohltat, nach dem Dunst, der in der Gruft als Luft bezeichnet wurde. Als sie das Tor passiert hatten, stand dort ein nachtschwarzer Bentley. Sie hatte noch nie so ein schönes Auto gesehen und bestaunte es neugierig. Der Wagen sah wirklich so aus, wie man ihn aus England kannte. Lange Motorhaube, kleines Cockpit und ein komisches Heck. Shana hatte so ein Auto schon einmal gesehen. Aber dieses hier hatte fünf Sitze, nicht wie sie es kannte nur zwei.

„Einer muss laufen.“, bemerkte Chris und holte Shana wieder in die Realität zurück. „Wir passen nicht alle ins Auto.“

Kommentarlos sprang Ethan in die Luft und war eine Sekunde später nicht mehr zu sehen. Hunter fluchte irgendwas Unverständliches und stieg ein. Shana entnahm dem, das er „laufen“ wollte, aber Ethan war schneller. Auch die anderen stiegen ein und Shana merkte, dass nur noch der Platz des Beifahrers frei war. Etwas verwundert stieg sie ein. Sie hätte eher vermutet, dass Hunter vorne sitzen würde, anstatt im engeren hinteren Teil des Wagens. Aber ihr konnte es nur recht sein. Sie saß nicht wirklich gerne hinten.

„Ein wirklich schönes Auto.“, sagte Shana, während Rowen losfuhr. Bei dieser Bemerkung fingen seine Augen an zu leuchten.

„Danke für das Kompliment. Ich habe ihn aus England importieren und nach meinen Wünschen entsprechend fertigen lassen.“

„Daher auch die dunklen Scheiben?“

Rowen nickte.

„Aber wozu braucht ihr ein Auto? Ich meine, ihr bewegt euch ohne doch viel schneller.“

„Wohl wahr, aber für manche Veranstaltungen ist ein Auto unerlässlich.“ Er strich liebevoll über das lederne Lenkrad. „Außerdem hat es einen nostalgischen Wert für mich.“

Shana wollte darauf etwas fragen, doch Hunter unterbrach sie. „Ro! Halt an! Ich ertrage diese Turteltauben nicht!“

Shana sah nach hinten. Jay und Chris hielten Händchen und Chris hatte ihren Kopf auf die Schulter ihres Geliebten gelegt.

„Was stellst du dich so an?“, fragte Chris über Jay hinweg. „Bist du neidisch?“

„Worauf sollte ich neidisch sein?“

„Weil du und Rin nicht so offen mit euren Gefühlen sein könnt.“

„Halt die Klappe! Das geht dich nichts an!“

„Wer ist Rin?“ Die Frage konnte Shana sich nicht verkneifen. Chris hatte sie schon mal erwähnt, doch Shana konnte sich nichts unter dem Namen vorstellen. Wer war das? War sie die Freundin von Hunter?

„Rin ist-“, begann Rowen, wurde jedoch von Hunter unterbrochen, als dieser von hinten gegen den Fahrersitz schlug.

„Sei still, Ro! Das geht niemanden etwas an.“

„Warum nicht? Shana wird sie doch eh bald kennen lernen.“

„Das wage ich zu bezweifeln, Chris.“

„Rin ist ein Teil unseres Mysteriums, also wird unsere Wächterin sie kennen lernen müssen.“, mischte Rowen sich nun doch ein.

Hunter stieß ein wütendes Knurren aus. „Nein!“, zischte er.

Und damit war das Thema vom Tisch.

Die ganze Fahrt über fragte Shana sich, wer Rin war. War sie vielleicht auch ein Vampir? Oder war sie ein Mensch und war gezwungenermaßen in das Märchen gezerrt worden, so wie Shana selbst? Das Hunter und diese Rin eine Beziehung hatten, war für sie unvorstellbar. Das Mädchen hatte doch komplett den Verstand verloren, wenn sie mit Hunter was hatte. Es gab zwar schon komische Pärchen, aber Hunter war ein egoistischer Trottel, der einem hochexplosiven Pulverfass gleich kam. Wer gab sich schon freiwillig mit so jemand ab und liebte ihn vielleicht auch noch? Diese Überlegungen weckten Shana’s Neugier. Sie musste Rin unbedingt kennen lernen.

Als sie bei der Botschaft ankamen, vergaß sie allerdings alle Überlegungen über Rin. Vor dem Eingang tummelte sich die Presse und schoss Fotos von den Reichen und Schönen, die alle elegante Abendgarderobe trugen. Das war fast wie in einem Hollywoodfilm. Rowen hielt den Wagen an.

„Steigt schon mal aus. Ich bringe nur schnell den Wagen weg.“

Sie taten, wie gebeten und Rowen fuhr davon. Komisch war das schon, weil dort offensichtlich junge Männer in gelben Westen standen, die als Parkservice fungierten. Anscheinend wollte Rowen nicht, dass jemand anderes seinen Wagen fuhr. Oder er hatte etwas zu verbergen.

Shana sah sich kurz um und entdeckte Ethan fast sofort. Er stand in einer Ecke und sah wütend und bedrohlich aus. Als Rowen wieder zu ihnen stieß, gesellte sich der böse und dunkle Vampir auch zu ihnen und sie gingen Richtung Eingang, vor der sich eine kleine Schlange gebildet hatte. Sie mussten zum Glück nicht lange warten und als Rowen die Einladung beim Empfang vorzeigte, wurden sie hinein gelassen. Das Foyer schaffte Shana noch problemlos, doch als sie die Treppe nach oben zum Festsaal gingen, stolperte sie das ein oder andere Mal. Sie kam sich furchtbar linkisch vor und sehnte sich nach flachen Schuhen. Sie war so sehr auf das Laufen konzentriert, dass sie die Wände aus Marmor oder die Kristalllüster kaum wahrnahm.

Der Anblick, der sich ihr beim Festsaal bot, entschädigte sie jedoch für ihre schmerzenden Füße. Hohe Fenster umschlossen die Wände. An der Decke hing ein Kristalllüster von gewaltigem Ausmaß. Ein Streichquartett spielte sanfte Musik und einige Gäste tanzten bereits. Andere standen im Raum verteilt oder saßen auf Stühlen an den Seiten und unterhielten sich. Zwischen den Leuten liefen Kellner herum und verteilten Getränke und Häppchen.

Kaum hatten sie den Saal betreten, zerstreuten sich die Vampire. Chris und Jay gingen tanzen, Rowen entdeckte Leute die er kannte und unterhielt sich mit ihnen, sowie auch Hunter. Ethan verkroch sich in eine Ecke und versuchte böse auszusehen.

Shana seufzte. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie musterte die anderen Gäste und hoffte, dass sie nicht Mika oder deren Vater begegnete. Sie versuchten Shana ständig zu solchen Veranstaltungen zu schleppen, doch Shana verweigerte es jedes Mal. Sie fühlte sich einfach nicht wohl. So wie auch jetzt. Wenn ein Kusuragi sie jetzt hier erwischen würde, wäre die Hölle los. Doch sie hatte Glück und sah niemand Bekanntes.

Ein Kellner bot ihr ein Tablett mit Häppchen an, doch Shana lehnte dankend ab. Sie hatte zwar tierischen Hunger, aber sie würde aus allen Nähten platzen, wenn sie auch nur einen Bissen essen würde. Bei den Getränken konnte sie aber nicht nein sagen. Sie hatte keine Ahnung, was sich in den Gläsern befand und nahm einfach irgendwas. Sie starrte die rote Flüssigkeit in ihrem Glas kurz an und schnupperte. Es roch wie Fruchtsaft. Doch es schmeckte sehr viel besser. Schnell hatte sie ihr Glas geleert und genehmigte sich noch ein zweites. Das Zeug schmeckte wirklich gut.

Langsam wurde ihr warm und sie stöckelte zu einem Stuhl an einem der Fenster, wo sie sich vorsichtig niederließ.

Das Ganze kam ihr so irreal vor. Die tanzenden Leute, die Musik, die festlichen Kleider, der schön geschmückte Saal und das warme Licht. Es war wie in einem Märchen. Shana kam sich wie Aschenputtel vor. Sie hätte auch nichts gegen einen Prinzen, der sich in sie verlieben würde. Und sie würde ihm sogar freiwillig beide Schuhe überlassen, wenn sie um Mitternacht verschwinden müsste. Dann wäre sie diese Mördertreter zumindest los.

Nach einem weiteren Getränk suchte sie kurz die Toilette auf. Als Shana wieder den Festsaal betrat, entdeckte sie Ethan, der von einer Scharr von fünf Frauen umringt war. Eine war schöner als die andere. Doch Ethan schien das nicht recht zu würdigen, da er ziemlich genervt aussah. Sie beobachte ihn und die Frauen, die ihn berührten und anscheinend auf die Tanzfläche zerren wollten. Er schlug ihre Hände weg, doch seine Ablehnung störte die Frauen nicht im Geringsten und sie versuchten es weiter. Dabei kicherten sie und amüsierten sich.

Dann entdeckte Ethan Shana und nickte sie zu sich her. Sie sah sich um und als sie niemanden in ihrer Nähe sah, den er sonst hätte meinen können, deutete sie auf sich. Ethan nickte und sie ging mit bedächtigen Schritten auf ihn zu. Eigentlich wollte sie es nicht, aber ihre Füße machten einfach was sie wollten.

Als sie unmittelbar bei der Gruppe stand, bahnte Ethan sich seinen Weg durch die Frauen, legte Shana seinen Arm um die Taille und zog sie an sich.

„Da bist du ja wieder.“, säuselte er Shana laut genug zu, dass die Frauen es auch hören konnten.

„Was?“ Shana verstand nur Bahnhof. Was war denn jetzt in ihn gefahren?

„Du sollst mich doch nicht so lange alleine lassen.“ Seine Stimme war so sanft, wie die warmen Klänge der Musik. Shana wurde etwas übel. Er beugte sich vor und drückte seine Lippen auf die Senke unterhalb ihres Ohres. Shana zitterte bei der Berührung.

„Spiel mit oder ich bring dich um!“, knurrte er sie so leise an, dass nur sie es verstand. Shana schluckte und nickte kaum merklich.

Ethan wandte sich an die Frauen und lächelte. Das war auch eine Seltenheit gewesen. „Es war nett in ihrer Gesellschaft, meine Damen, aber nun muss ich meine Aufmerksamkeit wieder meiner Verlobten widmen.“

„Verlobten?“, stieß eine der Frauen aus und sagte genau das, was Shana dachte. War Ethan jetzt komplett wahnsinnig geworden? Er nahm ihre linke Hand und küsste den Ring der Wächterin. Shana’s Nackenhaare stellten sich auf. Diese Geste war so vertraut, dass Shana sich fragte, woher dieses Gefühl kam. War es eine Erinnerung von Romia? Denn im Prinzip war es ein Verlobungsring, aber er sollte sicher nicht die Verbindung zwischen Ethan und ihr bezeugen. Die Frauen musterten Shana kritisch und sie sah, dass sie Ethan kein Wort glaubten. Wie konnte sich ein so gut aussehender Mann mit so einer hässlichen Kuh abgeben? Ha!

„Also wirklich Ethan. Du nimmst uns doch auf den Arm.“, sagte die Frau, die ein Kleid in schweinchenrosa trug. „Ich meine, du könntest eine von uns haben oder gleich alle zusammen.“

Shana funkelte sie böse an und ihr Ehrgeiz war geweckt. Zu wissen, was die Frauen dachten, war ja schön und gut, aber sie mussten es nicht auch noch laut aussprechen. Das schrie nach Rache und Vergeltung.

„Ach ja?“, fragte Shana verächtlich und schlang ihre Arme um den Hals von Ethan. „Wie gut, dass mein Liebster Verstand besitzt und mich zur Frau nehmen will.“ Sie küsste ihn auf die Wange. Auf den Mund wäre wahrscheinlich überzeugender gewesen, aber dafür hätte Ethan sie umgebracht. Außerdem wäre das ihr erster Kuss gewesen und den wollte sie nicht Ethan schenken. Shana hatte da jemand anderes im Sinn gehabt.

Sie löste sich von ihm und nahm seine Hand. „Was ist mit dem Tanz, den du mir versprochen hast, Liebling?“ Sie bemerkte gar nicht, dass sie die Koseworte verwendete, die Jay und Chris immer benutzten.

Ethan hob leicht eine Augenbraue, nickte dann aber. „Natürlich.“ Er wandte sich an die Frauen. „Danke für das unterhaltsame Gespräch.“ Er verneigte sich leicht und zog Shana auf die Tanzfläche.

Shana stolperte, was den Abgang nicht so ganz glamourös machte, aber was machte das schon?

Auf dem Parkett blieb Ethan stehen und zog Shana in Tanzhaltung. Sie spürte seine kühle Hand auf ihrem Rücken und ein Schauer durchfuhr sie. Sie hatte gerade eine Show abgezogen und so getan, als ob sie Ethan lieben würde. Gott, war ihr schlecht. Aber die Panik, jetzt mit ihm tanzen zu müssen, unterdrückte den Würgereiz.

„Lass mich los!“; zischte sie. Damit war es mit den freundlichen Worten passé.

„Wir tanzen!“

„Nein! Ich kann nicht tanzen.“

„Und warum hast du dann vorgeschlagen zu tanzen?“

„Wahnsinn kann man nicht immer erklären.“

„Rowen hat dir doch gezeigt, wie man tanzt.“

„Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es auch kann!“

„Blöde Kuh!“

„Na und? Lass mich gefälligst los!“

Sie versuchte ihre rechte Hand aus seiner zu befreien, aber er hielt sie eisern fest.

„Nein!“, fuhr er sie an. „Wenn du loslässt, war die ganze lästige Show gerade umsonst.“

„Was geht mich das an? Warum warst du nicht einfach unfreundlich zu ihnen, wie sonst auch? Oder habe nur ich das Privileg?“

„Rowen kennt diese Weiber.“

Mehr sagte er nicht. Was war das denn für eine Antwort gewesen? Und Shana war nicht entgangen, dass er es nicht abgeschritten hatte, dass er nur zu ihr unfreundlich war. Ein neues Musikstück begann.

„Los jetzt!“

Ethan machte mit dem rechten Fuß einen Schritt nach vorne und Shana tat es ihm nach, nur mit dem linken und trat ihm so auf den Fuß.

„Pass doch auf, du Trampel!“

„Ich kann nicht tanzen, schon vergessen?“

„Jeder kann tanzen.“

„Ich bin eben einzigartig.“

„Hat Rowen dir nicht gesagt, dass der Mann führt und nicht die dummen Frauen?“

„Das ist ihm wohl entfallen.“

„Ich führe, nicht du!“

„Sag das mal meinen Füßen.“

Sie funkelten sich wütend an und man konnte die Luft um sie herum knistern hören.

„So hoffnungslos kannst du nicht sein.“

„Anscheinend doch.“

Ethan knurrte und zog sie an sich, so dass sich ihre Oberkörper berührten.

„Dafür werde ich dich umbringen.“, drohte er in gewohnter Art und Weise.

„Was machst du da, du Idiot?“, überging sie seine Drohung in gewohnter Manier.

„Schling deine Arme um meinen Hals!“

„Das könnte dir so passen!“

„Tu gefälligst, was ich dir sage!“

„Ich denke ja nicht dran!“

Wortlos riss Ethan ihre Arme fast brutal nach oben und legte sie sich um den Hals.

„Aua!“

„Selbst Schuld.“

„Was soll das hier werden?“

„Wir tanzen.“

Er legte seine Hände auf ihre Taille und zog sie noch fester an sich, so dass ihr Kopf an seine Brust gepresst wurde und sie seinen harten Körper mehr als nur deutlich an ihrem spüren konnte.

„Das geht zu weit!“ Shana wollte sich lösen, doch er hielt sie eisern fest. „Ethan! Lass mich los!“

„Willst du nun tanzen lernen oder nicht?“

„Nein!“

Er überging ihren Protest. „Mach die Augen zu!“

„Nein!“

„Tu es einfach.“

„Musst du eigentlich immer befehlen? Kriegst du Ausschlag, wenn du mal höflich bist und „bitte“ sagst?“

Er knurrte, doch Shana würde nicht nachgeben. Oh nein, nicht dieses Mal. Sie sah ihn herausfordernd an und wehrte sich immer noch gegen seinen Griff.

„Bitte.“ Er spuckte dieses Wort fast heraus, doch Shana war es egal, wie gepresst oder gezwungen es sich anhörte. Sie hatte über ihn gesiegt und das war das Einzige, was zählte. Gehorsam schloss sie die Augen. Sie merkte, wie Ethan sich zu ihr herunterbeugte. Sein Atem streifte sanft ihr Ohr, als er zu sprechen begann. „Denk an nichts.“, raunte er ihr zu. „Lausche einfach der Musik und lass dich von ihr leiten. Halte die Augen geschlossen. Ich passe auf, dass dir nichts passiert.“

Seine Stimme war so sanft, dass Shana am liebsten die Augen geöffnet hätte um zu sehen ob es auch wirklich Ethan war, der da zu ihr sprach. Doch sie wollte diesmal artig sein. Das Verrückte an der ganzen Sache war, dass sie Ethan vertraute. Sie glaubte ihm, dass er auf sie aufpassen und sie beschützen würde.

Shana hörte der Musik zu und spürte, wie Ethan sie nach hinten drückte. Sie machte einen Schritt zurück. Er zog sie zur Seite und Shana ging mit. Ohne es wirklich zu merken, tanzte sie Walzer. Sie bemerkte nicht mal ihre schmerzenden Füße und ignorierte die Tatsache, dass sie auf diesen Schuhen eigentlich gar nicht laufen, geschweige denn tanzen konnte. Sie spürte nur den Körper von Ethan, der an ihren gepresst war und wiegte sich leicht in der Musik. Es war angenehm und irgendwie war sie ganz ruhig und fühlte sich selig.

Als Ethan dann plötzlich anhielt und die Musik verklang, öffnete Shana die Augen und wurde brutal wieder in die Realität zurückgerissen. Beinahe hätte sie aufgeheult. Sie schaute zu Ethan hoch, doch er sah sie nicht an, sondern blickte sich nach den Frauen um. Shana folgte seinem Blick und bemerkte, dass die Frauen sie immer noch anstarrten. Das war der Grund, warum Ethan auch noch das nächste Lied mit ihr tanzte.

Doch diesmal ließ Shana sich nicht so schnell verzaubern.

„Beantwortest du mir eigentlich noch meine Frage?“, murmelte sie gegen den Stoff seines Fracks.

„Welche Frage?“

„Warum du die Frauen nicht einfach unfreundlich zurückgewiesen hast und dich dazu herabgelassen hast, mich als Vorwand zu benutzen.“

Sie wusste, dass sie sich gerade selbst niedermachte, aber es war Tatsache. Also warum sollte sie ihre Beziehung zu Ethan schön reden?

„Weil sie mit Rowen befreundet sind.“

„Aber dir sind doch sonst auch alle egal.“

Er schwieg.

„Rowen nicht?“

„Nein.“

„Warum?“

„Geht dich nichts an.“

„Natürlich. Warum mache ich mir überhaupt die Mühe und frage?“

„Ja, warum tust du es?“, fragte er sarkastisch.

„Schon gut. Ich verschwende meinen Atem nicht mehr. Lass uns einfach tanzen.“ Shana seufzte. Es hätte ihr egal sein müssen, also warum fragte sie ihn ständig wieder? Sie wusste es doch besser. Ethan hasste sie und er wollte ihr nichts anvertrauen. Vielleicht war sie ja so naiv und hatte gedacht, dass seine Berührungen ehrlich waren und er wenigstens ein bisschen vertrauen zu ihr gewonnen hatte. Immerhin hatte sie mitgespielt und ihn nicht auffliegen lassen. Aber sie hatte sich anscheinend geirrt.

„Rowen ist mein Freund.“, flüsterte Ethan nach einiger Zeit des Schweigens plötzlich. „Er hat mich gerettet und dafür schulde ich ihm was. So wie auch alle anderen. Oder was glaubst du, warum wir alle hier sind, obwohl keiner Lust dazu hat? Wir erweisen Rowen einen Gefallen.“

Shana machte schon den Mund auf um etwas zu sagen, aber Ethan war schneller.

„Belass es einfach dabei. Frag weder ihn, noch mich, noch die anderen, okay?“

Shana sah zu ihm hoch. Irgendwas spiegelte sich kurz in seinen Augen wieder. War es Qual? Trauer? Schmerz? Sie wusste es nicht, aber er war endlich mal offen zu ihr gewesen und das würde sie ihm nicht mit weiteren Fragen danken.

„Okay.“

Als das Lied endete, ließ Ethan sie los und verließ die Tanzfläche. Da Shana sich allein auf weiter Flur recht blöd vorkam, ging auch sie oder eher gesagt stolperte. Seit Ethan sie nicht mehr festhielt, ging sie wieder wie jemand, dem man nicht beigebracht hatte, wie man richtig lief. Blöde Schuhe!

Vom Tanzen durstig, peilte sie den nächsten Kellner an. Als sie ihren Fruchtsaft hatte, war sie wieder einigermaßen glücklich.
 

Der weitere Abend verlief eher ruhig. Ethan war wie vom Erdboden verschluckt. Zumindest konnte Shana ihn nirgends entdecken. Im Verlauf des Balls unterheilt sie sich mit Chris und Jay und Rowen stellte ihr einige seiner Bekannten vor. Sie bekam so langsam aber sicher das Gefühl, dass ihr von den Fruchtsäften zunehmend schwindliger wurde. Entweder das oder das Gespräch über das antike Griechenland, das sie gerade mit angehört hatte, bereiteten ihr Kopfweh. Dass Alkohol in ihrem Getränk enthalten war, daran dachte Shana nicht mal. Wie sollte sie auch, da sie noch nie so was zu sich genommen hatte?

Ziemlich schwindlig und leicht benebelt stakste sie auf die Terrasse um ein wenig frische Luft zu schnappen. Sie war allein. Müde ließ Shana sich auf eine der Bänke nieder. Sie vergaß dabei das Kleid und ließ sich einfach fallen. Anscheinend war der Stoff sehr reißfest, denn nichts ging kaputt.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Brüstung und starrte nach oben in den dunklen Himmel. Die Augen fielen ihr langsam zu und sie war schon fast eingeschlafen, als ein Geräusch sie zwang, die Augen wieder zu öffnen. Das war aber leider nicht so einfach, da ihre Augenlider schwer wie Blei waren. Shana blinzelte und sah sich um, bis sie eine dunkle Gestalt im Frack erkannte.

„Ethan.“, nuschelte sie, lächelte und schloss die Augen wieder. Shana bemerkte noch, dass er unmittelbar vor ihr stand, doch der Rest blieb ihr durch die Betrunkenheit und Müdigkeit verborgen.

Denn dann hätte sie mitbekommen, dass Ethan ihr eine Strähne aus dem Gesicht strich und ihr hinters Ohr klemmte. Er seufzte.

„Warum nur kannst du nicht so sein wie Emily?“ Zärtlich streichelte er ihr die Wange. „Dann würde es leichter für mich sein, dich zu hassen.“

Ethan beugte sich herunter und verschloss sanft seine Lippen mit ihren. Selbst das bekam Shana nicht mit. Sie träumte irgendeinen Unsinn und erwiderte den Kuss. Das ließ Ethan kurz innehalten, doch als er bemerkte, dass sie immer noch schlief, küsste er sie erneut.

Es kostete ihn ein wenig Überwindung, sich von Shana zu lösen.

„Du solltest wirklich die Finger vom Alkohol lassen.“

Seine Mundwinkel zuckten und deuteten ein kleines Lächeln an. Mit dem Daumen strich er ihr den Kuss von den Lippen und verschwand.
 

Shana erwachte in völliger Dunkelheit. Sie war etwas orientierungslos, als sie ihre Umgebung ertastete. Da waren ein Kissen und eine Decke. Und es war kalt. Sie drehte sich um und erfühlte erst etwas Hartes, dann etwas Rundes. Das Runde befühlte sie weiter, bis sie einen kleinen Knopf spürte. Verwegen drückte sie ihn rein und verfluchte sich sofort dafür. Es war ihre Taschenlampe und das Licht schmerzte in ihren Augen. Gleich darauf machten sich rasende Kopfschmerzen bemerkbar. Verstört hielt Shana sich den Kopf und ließ die Taschenlampe fallen. Jetzt erst erkannte sie, dass sie im Zimmer von Ethan war. Wie war sie hierher gekommen? Wie spät war es? Und wo war Ethan überhaupt?

Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass sie auf dem Ball war und weil ihr schwindlig gewesen war, hatte sie sich auf den Balkon verkrochen. Und dann? Nichts. Filmriss.

Shana lugte unter die Decke und stellte fest, dass sie ihren Schlafanzug anhatte. Wie zum Teufel war sie da hinein geschlüpft? Sie brauchte Antworten und nur eine kannte sie. Sie musste Chris suchen.

Doch Aufstehen war eine ganz blöde Idee gewesen. Kaum, dass Shana stand, packte sie der Schwindel und sie musste sich wieder hinsetzen. Sie brauchte einige Anläufe, bis sie halbwegs gerade stand und noch einige weitere, um aus dem Zimmer und in die Küche zu kommen. Dabei torkelte sie wie betrunken.

In der Küche entdeckte sie Rowen und Chris. Shana setzte sich zu ihnen und hielt sich dabei ihren Betonschädel. Sie war noch nie so froh gewesen, dass die Vampire von Licht nicht viel hielten und nur eine Kerze anhatten. Gequält stöhnte Shana auf. Sie fühlte sich miserabel.

Chris grinste. „Ich will dich ja nicht beleidigen, aber du siehst beschissen aus.“

„Danke, so fühle ich mich auch. Wie bin ich wieder in die Gruft gekommen? Ich habe leichte Gedächtnislücken.“

„Als wir gehen wollten, hat Rowen dich schlafend auf dem Balkon gefunden. Wir haben dich ins Auto getragen und ich habe dich dann umgezogen und ins Bett gebracht.“

„Oh. Danke.“

„Du solltest vielleicht die Finger vom Alkohol lassen.“

„Alkohol?“ Shana runzelte die Stirn. „Ich habe doch nur Fruchtsaft getrunken.“

„In dem Getränk war mehr Alkohol als Saft.“

Scheiße. Wie viel hatte sie von dem Zeug gleich noch getrunken? Doch darüber nachzudenken verursachte weitere Kopfschmerzen, also ließ sie es bleiben.

„Ich glaube, ein Kaffee würde dir gut tun.“, sagte Chris, stand auf und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.

„Wenn du gefrühstückt hast, erwartet Hunter dich zum Training.“, bemerkte Rowen und sah noch nicht mal von seiner Zeitung auf.

Training? Sie konnte noch nicht mal gerade laufen und sollte jetzt auch noch trainieren? Aber sie wollte Rowen nicht verärgern. Obwohl sie sich ernsthaft fragte ob so was überhaupt möglich war. Shana wollte es aber auch nicht drauf ankommen lassen und sagte zu.

Nachdem sie einen Kaffee getrunken und etwas gegessen hatte, fühlte Shana sich schon etwas besser. Und auch die Dusche danach trug erheblich zu ihrem Wohlbefinden bei.

Doch das nutzte alles nichts, denn das Training war die reinste Katastrophe. Sie musste mehr Schläge als beim letzten Mal einstecken und gab schon nach einer Stunde auf. Hunter war ziemlich sauer darüber und beleidigte sie auf Schärfste, doch das prallte einfach an Shana ab. Außerdem ertrug sie es nicht wenn er brüllte, weil seine laute Stimme ihren Schädel fast zum Platzen brachte. Deswegen verkrümelte Shana sich schnell, machte sich noch mal frisch und verzog sich dann ins Wohnzimmer. Vermutlich hätte sie zu Rowen gehen sollen, um von ihm unterrichtet zu werden, aber sie war nicht mal annährend aufnahmefähig. Also ließ sie es für heute gut sein. Sie setzte sich neben Hawk, der alleine im Wohnzimmer saß und fernsah. So wie immer eben.

„Stört es dich, wenn ich mich zu dir setze?“

Er schüttelte den Kopf.

„Hawk?“

Er zog die Augenbrauen hoch, ein Zeichen, dass er ihr zuhörte.

„Warum sprichst du eigentlich nicht?“

Stille.

„Ich hoffe, ich werde jetzt nicht zu persönlich.“

Schweigen.

„Jay hat mir erzählt, dass ihr von einem Vampirpärchen gebissen wurdet, als ihr abends von eurem Job nach Hause gegangen seid. Du hattest gesagt, dass sie Jay leben lassen sollen, dich aber ruhig töten könnten. Die Vampire aber wählten den Mittelweg und machten euch zu einen der ihren. Als ihr dann in der nächsten Nacht zu Vampiren erwacht seit, sagtest du ,Scheiße’. Das war das letzte Wort, was du seit 70 Jahren gesagt hast. Warum?“

Sie bekam keine Antwort.

Shana seufzte. „Weißt du, ich verstehe das alles immer noch nicht. Vampire, Werwölfe, Wächter. Es ist so aberwitzig und doch ist es wahr. Ich rede mir ein, dass das hier nur ein Traum ist, aber wache einfach nicht auf. Und das komische ist, dass ich es auch gar nicht mehr will. Zumindest nicht so richtig. Ich kenne euch alle zwar noch nicht so lange, aber ich fühle mich wohl. Klar, ich habe Angst. Angst vor den Werwölfen, Angst vor meiner Aufgabe und Angst davor zu versagen. Aber ihr seit so etwas wie eine Familie.“

Sie lächelte schwach und fing an, Hawk von ihren Problemen zu erzählen. Das sie nirgends zugehörig war, dass ihre Familie sie hasste und dass sie im Prinzip nur eine Freundin hatte.

Hawk sagte nichts, ja sah sie noch nicht mal an. Aber Shana wusste, dass er zuhörte. Es tat ihr gut, sich endlich mal alles von der Seele zu reden. Klar war es irgendwie auch armselig, aber sie wusste, dass Hawk sie deswegen nicht verurteilen würde. Ob sie es nun tat, weil sie noch Restalkohol im Blut hatte oder weil Hawk ihre keine Vorwürfe machen konnte, weil er nicht sprach, wusste sie nicht. Sie tat es einfach.

Als Shana alles erzählt hatte, merkte sie, wie peinlich ihr das dann doch war.

„Tut mir leid, dass ich dir das gesagt habe. Ich meine, du magst mich vielleicht nicht mal und ich quatsche dich voll. Vergiss einfach, was ich gesagt habe.“

Shana stand auf und wollte flüchten, doch Hawk ergriff ihre Hand und zog sie zurück. Er sah sie an und schüttelte den Kopf. Dann beugte er sich zur ihr und küsste sie leicht auf die Wange, was Shana erröten ließ.

„Danke.“, stammelte sie.

Er lächelte leicht und zog sie an sich. Shana nahm diese Einladung gerne an, kuschelte sich an Hawk und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sekunden später war sie eingeschlafen.
 

Shana war immer noch in dieser Position, als sie Stunden später unsanft aus ihrem Schlaf gerissen wurde. Verwirrt blinzelte sie und sah Hunter vor sich stehen.

„Komm mit!“, befahl er.

„Wohin?“

„Frag nicht.“

Als sie sich immer noch nicht rührte, fasste er grob ihr Handgelenk und schleifte sie nach draußen. Ein frischer Wind fuhr ihr durch die Glieder und ließ sie frösteln. Hunter ignorierte ihre Proteste, dass es kalt war und zog sie weiter über den schwach beleuchteten Friedhof.

Irgendwann blieb er stehen und drückte ihr eine Handfeuerwaffe in die Hand. Shana sah ihn verwirrt an.

„Was soll ich damit?“

„Du bist im Nahkampf ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht kriegst du schießen besser hin.“

Sie blickte auf die Waffe. „Ich denke nicht.“

„Klappe halten und zuhören!“

Hunter begann einen zehnminütigen Vortrag über die Waffe und das Schießen zu halten. Doch es waren so viele Informationen, dass Shana nur mit halbem Ohr zuhörte.

„Kapiert?“, fragte er dann, als er fertig war.

„Nein.“ Zumindest war sie ehrlich. Das sollte Hunter ihr hoch anrechen. Tat er aber nicht.

Er seufzte genervt. „Siehst du die Büste da?“

Er zeigte darauf. Shana kniff die Augen zusammen und erkannte sie dann. Sie war hässlich, aus Stein und der Kopf war komisch deformiert. Sie konnte noch nicht mal genau sagen, ob es einen Mann oder eine Frau darstellen sollte. Sie nickte Hunter zu.

„Schieß drauf.“

„Und wie?“

Er entsicherte die Waffe und zeigte ihr, wie man sie hielt. Shana sah irritiert auf die Waffe, dann auf ihr Ziel, dann zu Hunter.

„Das wird ein Desaster.“, prophezeite sie.

„Mach einfach.“

Shana zuckte mit den Schultern, zielte auf die Büste und drückte ab. Der Schuss ging meilenweit daneben und ihr klingelten die Ohren von dem Lärm, den die Waffe gemacht hatte.

„Du Volltrottel! Du solltest die Büste treffen und keinen verdammten Grabstein!“

„Das war das erste Mal für mich.“

„So wirst du keinen Werwolf treffen!“

„Wer sagt denn, dass ich das will?“

Während sie stritten, fuchtelte Shana mit der Waffe. Dabei schaffte sie es doch tatsächlich, einen Schuss zu lösen. Und sie traf. Endlich mal. Nur leider nicht die Büste, sondern Hunter.
 

And that’s all?
 

So. Das war nun das nächste Kapitel. Ich hoffe, ihr fandet es ein bisschen komisch. Zumindest war es besser, als das letzte Kapitel. An dieser Stelle wie immer vielen lieben Dank für die Kommentare. Ich glaub ohne würde ich nicht ein Wort zu Papier bringen. Ihr seit echt die Besten.

Bis denn dann
 

BabyG

Liebe? Hass? Oder beides?

Liebe und Hass sind zwei Seiten einer Medaille. Doch wie eng sind sie miteinander verbunden? Kann das eine ohne das andere überhaupt existieren?

Shana wusste, dass es Liebe und Hass gab, hätte aber nie gedacht, dass beides zusammen funktionieren konnte.
 

Oh mein Gott! Hatte Shana gerade wirklich Hunter erschossen? War sie denn komplett wahnsinnig geworden? Shana starrte regungslos Hunter an, der vor ihr auf dem Boden hockte. Lebte er noch?

„Hunter?“, fragte sie mit erstickter Stimme. Doch er zeigte keine Regung. Wie auch? Sie hatte ihn erschossen. Angewidert ließ sie die Waffe fallen. „Sag bitte etwas, wenn du noch lebst.“

Er regte sich immer noch nicht. Shana bekam Panik. Sie sollte den Vampiren doch helfen und sie nicht umbringen. Gerade, als sie sich zu Hunter herunterbeugen wollte, hob dieser seinen Kopf und starrte sie durch grüne Augen an.

„Hast du sie noch alle?“, fauchte er sie an. „Mir ist zwar klar, dass du mich nicht magst, aber deswegen musst du mich nicht gleich abknallen!“ Langsam stand er auf.

Shana musterte ihn und entdeckte Blut an seiner Wade. Sie hatte ihn nur ins Bein geschossen. Erleichtert atmete sie auf. Doch dann breitete sich wieder Panik in ihr aus.

„Ich muss dich ins Krankenhaus bringen.“

„Weswegen?“

Das fragte er noch? „Ich habe dich angeschossen. Die Kugel muss raus.“

„Und wie würdest du das einem Arzt erklären? „Hallo, ich bin eine dumme Göre und habe diesen jungen und vor allem hübschen Mann hier ausversehen angeschossen. Und nebenbei, er ist ein Vampir, also im Prinzip klinisch tot.’“

Sie hatte ihn angeschossen und er kam ihr mit Sarkasmus. Wunderbar.

„Aber die Kugel muss doch raus.“, überging sie seinen Protest. Hunter wickelte das Hosenbein auf und besah sich die Wunde.

„Herzlichen Glückwunsch. Glatter Durchschuss.“

Shana wusste nicht so recht, was er damit meinte. Hunter suchte den Boden kurz ab, hob etwas auf und drückte es ihr in die Hand. Shana starrte auf die blutige Kugel, die sie durch seine Wade geschossen hatte. Okay, jetzt wusste sie, was er meinte.

„Kannst du als Erinnerung behalten.“

Hunter hob die Waffe auf und humpelte davon. Shana hatte zwar Angst vor seinem Zorn, aber die Angst, alleine auf dem Friedhof zu sein, war wesentlich größer. Also rannte sie hinter ihm her.

„Muss die Blutung nicht gestillt werden?“

„In einer Stunde ist die Haut bereits zusammengewachsen. Ich bin ein Vampir. Wir haben gute Selbstheilungskräfte.“

Stimmt. Ethan hatte das auch gesagt, als er von den Werwölfen halb zerfetzt wurde.

„Aber durch den Blutverlust, muss ich bald was trinken gehen. Na? Was ist? Willst du dich anbieten?“

Shana erstarrte. Als Hunter das sah, lachte er auf. „Keine Sorge. Ich steh nicht auf Kinderblut. Du bist die Wächterin und hast einen gewissen Status, was das Blut trinken angeht. Was nicht heißt, dass ich dich nicht auf andere Arten umbringen kann.“

„Hunter, es tut mir-“, versuchte sie seinen Scherz zu übergehen, doch Hunter wollte das nicht hören.

„Stopp!“, unterbrach er sie. „So etwas langweilt mich, also lass es lieber bleiben. Ich vermute mal, es war keine Absicht, also was soll’s?“

Ihre Kinnlade klappte runter. „Ich habe dich angeschossen.“

„Na und? Du bist nicht die Erste.“

„Ich hätte dich umbringen können.“

„Selbst erfahrene Schützen haben das nicht geschafft. Also ist deine Chance mich umzubringen praktisch nicht vorhanden.“

„Wie kannst du das so einfach abtun?“

„Du willst, dass ich sauer auf dich bin? Zeitverschwendung. Ich überlasse es Ethan, dich zu hassen. Ich habe für so was einfach keine Zeit.“

Entweder halluzinierte Shana oder es war ihm wirklich egal. Das war doch einfach nicht zu fassen! Waren alle im Clan verrückt geworden?

„Schusswaffen sind also nicht dein Ding. Versuchen wir es morgen mal mit Bogenschießen oder dem Stabkampf. Vielleicht kriegst du das ja hin.“, bemerkte er beiläufig.

„Ich will keine Waffen mehr benutzen.“, flüsterte sie.

Hunter blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihr um. Shana hob den Kopf und starrte in die Mündung der Waffe. Sie bekam große Augen und blieb ebenfalls stehen.

„Wie hast du es überhaupt geschafft, so lange zu überleben, Gör?“

„Könntest du bitte die Waffe runter nehmen?“ Langsam wurde sie nervös, doch er ignorierte ihre Bitte einfach.

„Das hier ist kein Spiel. Der Kampf zwischen Werwölfen und Vampiren ist bitterer Ernst. Denkst du, die Werwölfe interessiert es, ob du eine Waffe benutzen willst oder nicht? Du als Wächterin bist Teil dieses Kampfes. Also spiel gefälligst nach den Regeln und benimm dich nicht wie ein Baby!“

Dann wandte er sich ab und ging weiter. Shana blieb noch einen Augenblick stehen, holte tief Luft und folgte ihm dann.

Wieder in der Gruft humpelte Hunter einfach davon und würdigte Shana keines Blickes mehr. Das sollte mal einer verstehen. Er war nicht sauer auf sie, weil sie ihn angeschossen hatte, sondern weil sie keine Waffe mehr zur Hand nehmen wollte? Wie verrückt war das?

Shana ging in das Zimmer von Ethan, legte sich ins Bett und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Am liebsten würde sie nie wieder darunter hervor kriechen. Wieso ging nur alles in ihrem Leben schief? Was hatte sie getan, um so was zu verdienen? Sie wollte keinem mehr unter die Augen treten. Die Vampire würden wahrscheinlich böse sein, weil sie Hunter, einem von ihrem Clan und so was wie ein Familienmitglied, angeschossen hatte. Wie konnte man sich nur so dämlich anstellen?
 

Shana wusste nicht, wie lange sie schon so rumlag und sich selbst bemitleidete. Es war ihr auch egal. Am liebsten wäre sie vor Scham gestorben. Shana wurde unsanft aus ihrer Lethargie gerissen, als ihr jemand die schützende Bettdecke weg riss. Dieser Angriff kam so lautlos und unerwartet, dass sie aufschrie und in das grinsende Gesicht von Chris starrte. Als die erste Schrecksekunde vorüber war, beruhigte sie sich allerdings wieder.

„Na? Wie geht es unserem Superschützen?“

Na wunderbar. Hatte sich das also schon herumgesprochen. Konnte Hunter nicht einfach seine Klappe halten? Aber Chris schien nicht böse zu sein, sondern eher amüsiert. War das nun gut oder schlecht? Zumindest war es ziemlich peinlich. Shana wollte sich wieder die Bettdecke über den Kopf werfen, aber Chris hatte diese außer Reichweite gebracht.

„Ich wusste gar nicht, dass du Hunter so sehr hasst.“

„Es war ein Versehen und keine Absicht!“

„Das sagen sie alle.“

„Chris!“

„Schon gut, schon gut. Ich höre ja schon auf.“ Trotzdem grinste sie noch von einem Ohr zum anderen.

„Wolltest du etwas Bestimmtes von mir?“

„Ich wollte deine Version der Story hören. Ob sie auch so blutig war, wie Hunter es erzählt hat.“

Shana rollte mit den Augen und stöhnte genervt auf. Chris hingegen fing an zu kichern.

„Okay, okay. Ich höre ja schon auf.“

„Danke.“

„Willst du eigentlich die ganze Nacht im Bett rumliegen?“

„Eigentlich hatte ich das vor, wieso?“

„Ich wollte etwas mit dir unternehmen. Deswegen bin ich auch hier.“

„Und was?“

„Lass dich einfach überraschen.“

Shana rollte abermals mit den Augen, stand aber auf. Ein bisschen Ablenkung wäre bestimmt nicht schlecht. Außerdem würde Chris sie so lange nerven, bis Shana ja sagte. Also konnte sie das Ganze auch gleich abkürzen.

„Lass mich vorher aber noch etwas essen, okay?“

„Klar.“

Gemeinsam gingen sie in die Küche, doch Shana fand nichts weiter, als einen Kanten Brot und einem Stück Käse. Na super! Hatte sie ihre Vorräte wirklich schon verbraucht? Oder hatten die Vampire sich darüber hergemacht? Na ja… das wohl eher nicht.

Chris bemerkte ihre karge Ausbeute.

„Viel ist das ja nicht.“

„Nein.“

„Dann können wir auch gleich noch einkaufen gehen. Es gibt doch diese Supermärkte, die 24 Stunden geöffnet haben.“

Shana überschlug im Kopf, was sie noch an Geld hatte. Viel war es nicht, aber es würde sicher für etwas Reis und einige Tütensuppen reichen.

Nachdem Shana sich warm eingepackt hatte, machten sie sich auf den Weg. Shana hatte erwartet, dass Chris mit ihr in die Stadt hüpfte, doch sie bewegten sich von der Stadt weg. Chris setzte Shana auf einer einsamen Straße ab und ging dann zu Fuß weiter.

„Wo willst du mit mir hin?“, fragte Shana irritiert.

„Wir besuchen eine Freundin von mir.“

Eine Freundin? War sie ein Mensch oder ein Vampir? Diese Fragen stellte sie auch Chris, doch anstatt zu antworten, hakte sie sich bei Shana unter und kicherte.

„Was weißt du eigentlich über Hunter?“, lenkte der Vampir das Gespräch in andere Bahnen. Das Thema Hunter war für Shana wirklich unangenehm und sie krampfte sich innerlich zusammen.

„Nicht viel.“, gab sie dann kleinlaut zu.

„Willst du was über ihn wissen?“

Wollte sie das? Wahrscheinlich aber war es besser, wenn sie etwas über ihn wusste. Bis auf Hunter und Ethan, kannte sie von jedem die Lebensgeschichte. Shana nickte.

„Wusstest du eigentlich, dass Hunter nur ein Spitzname ist?“

„Nein. Für was?“

„Mit richtigem Namen heißt er Huntington Duncan.“

Shana prustete los. Und sie dachte schon, ihr Name wäre bescheuert.

„Aber sag ihm bloß nicht, dass du ihn weißt. Er wird echt sauer, wenn man ihn so nennt.“

Shana nickte, musste aber trotzdem grinsen.

„Na jedenfalls wurde er 1874 in Bosten geboren. Schon damals war es nicht einfach dort zu leben. Es herrschte viel Kriminalität. Dort konnte man nur überleben, wenn man sich seine Daseinsberechtigung verdiente. Das musste auch Hunter sehr früh lernen. Seine Eltern hatte er kaum gekannt, weil sie erschossen wurden, als er 3 Jahre alt war. Daraufhin kam er zu seiner Großmutter. Sie war schon alt und wurde oft krank. Da sie kaum Geld für Nahrung und Medikamente aufbringen konnten, nahm Hunter schon früh Jobs an um das Geld zu verdienen. Sie war die einzige Person, die er noch hatte und kümmerte sich besonders gut um sie. Doch auch wenn er drei Jobs auf einmal hatte, konnte er kaum genug Geld aufbringen, da die Wirtschaftslage sehr schlecht war. Deswegen schloss er sich mit 17 einer Gang an. Er dealte mit Waffen, Lebensmitteln und Drogen. Das brachte ihm genug Geld, um ein recht angenehmes Leben zu führen. Er war 25, als seine Großmutter herausfand, womit er das ganze Geld verdient hatte.“

„So spät erst?“, unterbrach Shana sie. Das war für sie doch ein wenig ungewöhnlich.

Chris zuckte mit den Schultern. „Sie verließ nie das Haus, weil das ihr Gesundheitszustand meist nicht zuließ. Und sonst kümmerte Hunter sich um alles. Sie glaubte, dass er in einer Fabrik arbeiten würde. Doch eines Tages fand sie Waffen und Rauschgift in seinem Zimmer. Daraufhin verlangte sie von ihm, dass er diesen zwielichtigen Beruf aufgab und sich ehrliche Arbeit suchen sollte. Da Hunter sie wirklich liebte und ihm der Job bei der Straßenbande auch nicht mehr zusagte, stieg er aus. Doch man steigt nicht einfach so aus einer Gang aus.“

Chris machte eine dramatische Pause und holte einmal tief Luft.

„Es war abends, als Hunter von seiner Jobsuche nach Hause kam und seine Großmutter in der Küche fand. Zumindest das, was noch von ihr übrig war. Alles war voller Blut. Sie war in Stücke gerissen worden. Die Details erspare ich dir lieber. Hunter wusste, wem er das zu verdanken hatte. Er wollte die Gang aufsuchen und sie alle umbringen. Gerade, als er sich auf den Weg machen wollte, kam seine Freundin Jennifer vorbei. Sie waren noch nicht sehr lange zusammen und sie kümmerte sich um seine Großmutter, wenn er auf der Arbeit war.“

„Er hatte eine Freundin?“ Wie schon zuvor fragte Shana sich, wie eine Frau es nur bei so einem Typen wie Hunter aushalten konnte.

Chris nickte. „Als Jennifer sah, was passiert war, teilte sie Hunter mit, dass es Selbstmord wäre, Rache zu üben. Denn sie wusste etwas, was Hunter nicht wissen konnte. Doch ihm war es egal. Er wollte die Kerle bluten sehen für das, was sie seiner Großmutter angetan hatten. Um Hunter zu schützen, sah sie sich gezwungen, ihm die Wahrheit zu sagen. Nämlich, dass sie ein Vampir war und er für eine Gang von Werwölfen gearbeitet hatte.“

Shana blieb stehen. So mies konnte das Schicksal doch nicht sein.

„Das hat er nicht gewusst?“ Wie konnte jemand 8 Jahre lang für ein Rudel Werwölfe arbeiten und es nicht wissen? Wenn Shana an ihre Begegnung mit diesen räudigen Kötern dachte, wurde ihr übel. Sie stanken nach totem Fleisch. Das hätte Hunter doch auffallen müssen.

„Woher denn? Werwölfe verwandeln sich nicht jede Nacht in ihre tierische Gestalt. Sie verwandeln sich nur, wenn es notwendig ist. Und in Gegenwart von Hunter war dies nie der Fall gewesen. Sie halten sich Menschen gegenüber genauso bedeckt, wie wir. Wenn man anders ist, wird man gejagt. Damals, als die Menschen der Hexerei bezichtigt und verbrannt wurden, waren es meist Werwölfe oder Vampire, die ihr Leben ließen. Deswegen sind wir im Umgang mit Menschen sehr vorsichtig. Bei Werwölfen ist es nicht unüblich, dass sie Menschen für sich arbeiten lassen ohne dass die Menschen über deren wahren Natur Bescheid wissen.“

Chris setzte sich wieder in Bewegung und Shana folgte ihr.

„Hunter nahm diese Geschichte ganz gut auf. Und als er die Gefahr erkannt hatte und einsah, dass er als Mensch keine Chance hatte, verlangte er von Jennifer, dass sie ihn zu einem Vampir machen sollte.“

Wieder blieb Shana stehen. „Was?“

„Wenn du ständig stehen bleibst, sind wir noch hier, wenn die Sonne aufgeht“, nörgelte Chris.

„Du kannst nicht so was sagen und von mir erwarten, dass ich das so einfach hinnehme.“

„Komm weiter.“

Chris nahm sie bei der Hand und zog sie weiter.

„Jennifer weigerte sich erst, aber als Hunter drohte, sich einen anderen Vampir zu suchen, verwandelte sie ihn. In der nächsten Nacht machten sich dann beide auf den Weg und brachten die Werwölfe um. Alle erwischten sie nicht und Jennifer kam dabei ums Leben. Das war die Nacht, in der Hunter sich schwor, jeden Werwolf umzubringen, der ihm über den Weg lief. Eben ein Hunter, also ein Jäger.

Dabei reiste er durch Amerika, traf irgendwann auf Jay und Hawk und bald kamen sie nach Asien, wo sie Rowen und Ethan trafen. Das ist die ganze Geschichte.“

Shana war baff. Also deswegen hatte Hunter so einen Hass auf die Werwölfe und nahm diesen Kampf so verdammt ernst. Sie würde sich bei Hunter nie wieder wegen irgendwas beschweren. Wenn er sich schon freiwillig in einen Vampir verwandelte, nur um seine Großmutter zu rächen, was würde er dann tun, wenn er mal auf Shana selbst so richtig sauer war? Sie wollte es sich nicht mal vorstellen. Wie verzweifelt musste er gewesen sein, dass er zu so einer Entscheidung fähig war? Shana sah zu Chris. Auch sie wurde freiwillig zu einem Vampir. Aber sie wollte nur von ihren Eltern weg. Hunter opferte sich auf, um seine Großmutter zu rächen. Der Rest wurde ungewollt zu einem Vampir. Gab es denn niemanden, der sagte, dass das Leben als Vampir toll war und deswegen zu einem geworden war? Vermutlich würde sie keinen finden. Immerhin ist es bestimmt nicht lustig, sich nur von Blut zu ernähren. Wobei sie nicht wusste, wie es bei Ethan war. Wie war er zu einem Vampir geworden? Aber so wie sie ihn kannte, würde er es ihr nicht erzählen. Auch gut.

Sie bogen ab und kamen dann zu einem Tempel, der auf einem Hügel stand und von Bäumen umsäumt war. Während sie die Stufen emporstiegen, fragte Shana sich, was sie hier wollten. Wollte Chris jetzt beten gehen? Hatte sie nicht gesagt, dass sie eine Freundin von ihr besuchen wollten? Irgendwie war das seltsam. Aber was war auch schon normal, seit sie die Vampire kannte?

Oben angekommen entdeckten sie ein Mädchen, das vor den Toren des Tempels fegte. Die Lampen, die den Weg zum Eingang umsäumten, warfen unheimliche Schatten auf das Mädchen und die Bäume, unter denen sie fegte. Es war fast Mitternacht und es war kalt. Was sollte das? Wer kam auf die bescheuerte Idee um diese Uhrzeit Laub zu fegen? Sie kamen näher und als das Mädchen sie bemerkte, hob sie ihren Besen und ging damit in Angriffsstellung. Shana wollte stehen bleiben, aber Chris ging weiter auf sie zu und zog Shana mit, da sie immer noch Händchen hielten.

„Halt!“, befahl das Mädchen. Sie hatte eine schöne Stimme. So weich und flüssig wie Honig. „Noch einen Schritt weiter und ihr werdet es bereuen!“

„Achja?“, fragte Chris herausfordernd und fing an zu lachen.

„Chris-chan?“, fragte das Mädchen.

„Wer sonst?“

Dann liefen die beiden aufeinander zu und umarmten sich. Shana stand etwas perplex daneben und wartete, bis die beiden sich ausgiebig begrüßt hatten. Als sie sich voneinander lösten, betrachtete das Mädchen Shana eingehend, was Shana ihr gleichtat. Sie hatte langes rotes Haar, wobei ihr Pony bis knapp über die Augen ging. Die Augen waren faszinierend. Sie waren wie bei Shana ebenfalls blau, aber bei diesem Mädchen leuchteten sie geradezu. Unter der weiß-roten Tempeltracht ließ sich eine schlanke Figur erahnen. Sie wirkte zierlich und mit diesem offenen Lächeln, recht freundlich. Kaum zu glauben, dass sie sie vorher angreifen wollte.

„Also, Shana, darf ich dir Rin-chan vorstellen?“

Shana machte große Augen. Das war Rin? Die Rin, von der alle erzählten, Shana aber praktisch nichts von ihr wusste. Zur Hölle mit Chris!

Rin lächelte. „Hallo. Ich bin Arisawa Rin.“

Sie verneigte sich und auch Shana fiel ihr Anstand wieder ein.

„Hallo. Ich heiße Minabe Shana.“ Sie verneigte sich ebenfalls.

„Ah. Dann bist du also die Wächterin? Chris-chan hat mir schon einiges über dich erzählt.“

„Äh… ja.“

„Freut mich, dich kennen zu lernen.“

„Gleichfalls.“

„Wollt ihr vielleicht einen Tee?“

„Gerne.“, sagte Chris.

Während Rin ins Innere des Tempels verschwand, setzten Shana und Chris sich auf die Stufen vor dem Eingang.

Shana hatte so viele Fragen. Wer war Rin? War sie wirklich die Freundin von Hunter? Warum war sie mit den Vampiren befreundet? In welcher Beziehung stand sie zum Clan? Es war ungewöhnlich, da Vampire doch eigentlich als böse Dämonen angesehen wurden und deswegen nicht mit einer Dienerin des Tempels befreundet sein konnten, weil sie sie doch töten musste. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn.

Gerade, als Shana ihre Fragen an Chris richten wollte, tauchte Rin mit Tee und Keksen wieder auf und setzte sich zu ihnen. Shana nahm ihren Tee dankend an und wärmte sich daran auf. Kurz genossen alle ihren Tee und die dadurch entstehende Ruhe, doch dann fing Chris an von dem Ball zu erzählen. Natürlich konnte sie es nicht lassen und berichtete davon, wie Shana von einer betrunkenen Ballkönigin zu einer schießwütigen Verrückten wurde. Rin fand das sehr amüsant.

„Ich kenne dich zwar noch nicht sehr gut, aber allein weil du Hunter angeschossen hast, mag ich dich und du verdienst meinen Respekt.“

„Ähm… Danke?“ Shana hatte immer noch nicht erfahren, was es mit Rin auf sich hatte.

Chris grinste. „Du willst wissen, wer Rin-chan ist, oder?“, fragte sie wissend. Anscheinend konnte man es Shana vom Gesicht ablesen.

„Das wäre nett.“

„Rin-chan ist eine Jägerin.“

Jetzt war Shana völlig von den Socken. „So wie Buffy?“

Die beiden fingen an zu lachen.

„Nein. So bin ich nicht. Na ja… nicht so wirklich. Ist ein bisschen kompliziert, würde ich sagen.“

„Sie jagt Werwölfe und Vampire.“

Jetzt war Shana noch mehr verwirrt. „Aber Chris ist doch auch ein Vampir. Und ihr seid befreundet. Das passt irgendwie nicht zusammen.“

„Ich jage auch nur böse Vampire. Also solche, die Freude am Töten haben. Die Art, wie Chris und die anderen sich ernähren ist für mich akzeptabel.“

„Bis auf Hunter, versteht sich.“, mischte Chris sich ein. Als sie das sagte, wurde der Gesichtsausdruck von Rin grimmig.

„Hunter ist böse.“, behauptete Rin fest und steif.

„Er ernährt sich wie die anderen auch.“

„Er ist ein Idiot und irgendwann werde ich ihn umbringen!“

„Warum hasst du ihn?“, fragte Shana irritiert. Hieß es nicht, dass sie die Freundin von Hunter war? Warum also hasste sie ihren eigenen Freund? Oder hatte Shana da etwas vollkommen falsch verstanden?

Bevor Rin antworten konnte, kam Chris ihr zuvor. „Ich war die Erste, die auf Rin traf. Sie wollte mich umbringen, als ich einen Jugendlichen aussaugen wollte, der von einer Brücke springen wollte. Ich kann dir sagen, diese Begegnung war nicht gerade lustig. Rin hat ein paar ganze fiese Tricks drauf. Bevor wir uns gegenseitig umbringen konnten, haben wir uns dann doch irgendwie vertragen. Frag mich nicht wie. Als ich ihr alles erklärt hatte, haben wir uns sogar angefreundet. Danach habe ich ihr den Clan vorgestellt, damit sie sich nicht gegenseitig umbringen, wenn sie auf die Jagd gehen. Alle mochten Rin, nur Hunter hatte etwas gegen sie.“

„Er meinte, ich wäre noch ein Kind und keine ernst zunehmende Gegnerin.“, brauste Rin auf. „Und ich würde es niemals schaffen einen Werwolf, geschweige denn einen Vampir zu töten. Dass ich schon jage, seit ich 11 bin, also seit 5 Jahren, interessierte ihn natürlich nicht.“

„Daraufhin fingen die beiden an zu kämpfen. Rin war Hunter nur ganz knapp unterlegen. Seitdem bekriegen sie sich.“

„Er hat bei diesem Kampf mit fiesen Tricks gearbeitet! Das war kein verdienter Sieg!“, schmollte Rin.

Shana wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Verdammt! War sie nun mit Hunter zusammen oder nicht? Sie wollte aber nicht fragen, da das doch ziemlich privat war. Deswegen fragte sie etwas anderes.

„Wie kommt es, dass du eine Jägerin bist? Wusstest du das schon immer?“

Rin lächelte. „Ja, wusste ich. Jägerinnen gibt es, seit es Werwölfe und Vampire gibt. Seit es meine Familie gibt, waren alle Frauen Jägerinnen. Dieser Job ist aber nur Frauen vorbehalten. Deswegen nehmen wir auch nie den Namen des Mannes an, den wir mal heiraten. Nur eine Arisawa kann eine Jägerin sein.“

„Sind alle Jäger Tempeldiener?“

Rin fing an zu lachen. „Nein. Nicht zwangsläufig. Meine Mutter trug das Blut der Jägerin in sich, verweigerte sich dem aber. Sie meinte, sie wäre zu etwas Größerem geboren. Sie heiratete meinen Vater, der sehr viel Geld hat und bekam dann irgendwann mich. Als sie merkten, dass ich ebenfalls Jägerblut in mir trug und mich gegen die Etikette wehrte und lieber kämpfte, anstatt mich als feine Dame zu geben, schoben sie mich in den Tempel hier zu meiner Großmutter ab. Das Beste, was mir passieren konnte. Großmutter wollte sowieso, dass ich zu ihr komme, damit sie eine Jägerin aus mir machen konnte. Meine Mutter wollte das nicht, aber als ich nicht mehr zu halten war, gab sie sich geschlagen. Damals war ich sechs.“

„Siehst du deine Eltern denn noch?“

„Eigentlich nicht. Sie schicken mir immer Geld und ich muss auf eine Privatschule gehen, damit ich zumindest gebildet bin, wenn ich irgendwann mal keine Jägerin mehr sein kann. Sonst habe ich nicht viel mit ihnen zu tun.“

Das war traurig. Obwohl Rin es doch ganz gut getroffen hatte. Immerhin musste sie ihre Eltern nicht mehr sehen, so wie es bei Shana der Fall war.

Die Mädchen unterhielten sich noch eine Zeit lang über die verschiedensten Dinge. Shana merkte, dass Rin ihr wirklich sympathisch war. Sie würden bestimmt gute Freunde werden. Obwohl Shana sich nicht so ganz vorstellen konnte, wie so ein zierliches Mädchen wie Rin gegen Werwölfe und Vampire kämpfen konnte. Aber was wusste sie schon?

Irgendwann verabschiedeten sie sich dann auch von Rin. Was gut so war, da es draußen trotz des Tees kalt war. Und auch Rin musste sich fertig machen, da sie noch ihre Aufgaben im Tempel erledigen musste und danach dann noch auf die Jagd ging. Shana bewunderte das. Tagsüber ging sie bis spät in die Schule, erledigte danach ihre Aufgaben im Tempel, was meist bis in die Nacht ging und dann jagte sie auch noch. Wann schlief Rin eigentlich mal?

Da war Shana doch ganz froh, dass sie Wächterin war und nicht Jägerin. Das war ja ein richtiger Fulltimejob.

Sie verabschiedeten sich und Rin versprach, dass sie bald mal in der Gruft vorbeikommen würde. Auf der Hälfte der Treppe nach unten, schnappte sich Chris Shana und sprang in die Luft. Aber statt sich von dem Tempel zu entfernen, steuerten sie wieder drauf zu. Chris sprang auf eine hohe Eiche und ließ sich auf einen der dicken Äste nieder und setzte Shana ab.

„Was machen wir hier?“, flüsterte Shana.

„Wart es ab.“

Vom Baum aus hatten sie einen guten Blick auf den Tempelvorplatz. Rin stand dort und fegte Laub zusammen.

Sie mussten auch nicht wirklich lange warten, bis sich eine Gestalt näherte. Als Rin sie bemerkte, ging sie sofort in Angriffsstellung. Shana brauchte einen Moment, bis sie die Gestalt erkannte. Es war doch tatsächlich Hunter gewesen. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

„Hunter!“, fauchte Rin. „Kommst du sogar freiwillig, um dich von mir töten zu lassen? Wie nett von dir. Dann muss ich mir nicht die Mühe machen und dich suchen.“

„Das ich nicht lache. Ich wollte nur ein kleines Warm-up, bevor ich auf die Jagd gehe.“

„Du wirst diesen Tempel nicht mehr lebend verlassen!“

Rin erhob den Besen und rannte auf Hunter zu. Er bewegte sich nicht. Als Rin den Besen auf ihn niedersausen ließ, wich er geschmeidig aus. Schnell drehte sie sich um ihre eigene Achse und schlug erneut zu. Sie streifte ihn an der Schulter. Der nächste Schlag zielte auf seinen Bauch, doch Hunter wehrte ihn mit dem Arm ab.

„Du Bastard!“, fluchte Rin und traktierte ihn mit weiteren Schlägen. Einige trafen und andere konnte Hunter geschickt abwehren. Er selbst schlug Rin mit Fäusten und Fußtritten. Auch sie bekam einiges ab.

Shana fragte sich nicht nur, warum sie sich das ansahen, sondern auch, warum sie nicht dazwischen gingen. Offensichtlich wollten die beiden sich gegenseitig umbringen. Doch Chris schaute stillschweigend zu und lächelte. Warum lächelte sie? Fand sie es toll, wenn die beiden sich halbtot prügelten? Rin stöhnte auf und Shana konzentrierte sich wieder auf das Geschehen.

Rin hatte einen Faustschlag in den Magen abbekommen und krümmte sich leicht. Doch das ließ sie nicht auf sich sitzen und schlug ihn erneut. Als Hunter diesen Schlag abwehrte, stellte sie ihm ein Bein, sodass er rücklings zu Boden fiel. Schnell saß sie auf ihm und drückte den Besenstiel gegen seine Kehle.

„Ich hab dich, du Abschaum!“

Doch anstatt ihm den Gnadenstoß zu verpassen, schleuderte sie ihren Besen beiseite und küsste Hunter stürmisch. Er erwiderte den Kuss und schlang seine Arme um ihren Körper. Sie küssten sich sehr intensiv und konnten nicht die Finger von einander lassen. Gerade noch bewunderte Shana die Wendigkeit, die Schnelligkeit und die Präzision der beiden Kontrahenten und jetzt das!

Irgendwie schafften sie es aufzustehen ohne ihre Lippen von einander zu lösen und bewegten sich in Richtung Schuppen, der in der Nähe stand. Erst als die beiden darin verschwunden waren, wandte Chris sich an Shana.

„Die beiden sind doch süß oder?“

Süß? Shana konnte sich denken, was die beiden da in dem Schuppen machten. Und das war ganz und gar nicht süß. Waren alle Vampire so Sex besessen oder nur die Vampire innerhalb des Clans? Sie hätte von Rin ja so einiges gedacht, aber das sicher nicht. Shana stieg die Schamesröte ins Gesicht, wenn sie nur daran dachte.

„Was bitte war das?“

„Sie lieben sich.“ Als ob das eine Erklärung wäre.

„Ich habe gedacht, dass sie sich gleich umbringen würden. Hieß es nicht, dass sie sich hassen?“

„Naja, es ist so eine Art Hassliebe. Sie sind ein Paar, aber das würde keiner von beiden zugeben. Ich habe das auch nur durch Zufall herausgefunden. In ihrer verqueren Art von Liebe müssen sie sich bekämpfen und doch lieben sie sich gleichzeitig auch. Jedes Paar ist eben anders.“

„Versteh einer diese beiden.“

„Ich wusste, dass Hunter heute Nacht zu Rin kommen würde, deswegen sind wir noch geblieben. Ich wollte dir zeigen, dass sie doch ein Paar sind. Und ich wollte dir zeigen, warum Hunter nicht will, dass du Rin kennen lernst.“

„Das verstehe ich jetzt nicht. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“

„Du hast doch gesehen, wie verrückt sie nacheinander sind oder?“

Shana nickte.

„Hunter liebt Rin wirklich sehr und er will sie vor allem und jedem beschützen. Ihm passt es nicht, dass sie die Jägerin ist, weil sie sich in viele gefährliche Situationen begibt. Es ist zwar nicht so, dass sie nicht kämpfen könnte, aber Hunter hat einfach Angst um sie. Die letzte Person, die Hunter so geliebt hatte, war seine Großmutter. Und sie starb durch die Hand der Werwölfe. Er will nicht, dass das noch mal passiert.“

„Aber was hat das mit mir zu tun?“

„Wenn du dich mit Rin richtig anfreundest, könnte sie sich vielleicht mehr für dich interessieren, als für ihn. Oder aber sie würde mehr Zeit mit dir verbringen, als mit ihm. Er will sie eben ganz für sich alleine haben. Ihm passt es schon nicht, dass ich gut mit ihr befreundet bin. Denn je mehr Zeit sie mit anderen Leuten verbringt, desto weniger Zeit verbringt sie mit ihm und das will er nicht.“

„Ist das nicht ein bisschen übertrieben und Besitz ergreifend?“

„Vermutlich, aber so ist die Liebe nun mal. Da ist nichts rational und man lässt die Fünf auch mal gerade sein.“ Chris zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer. Lass uns einkaufen gehen.“

Damit kletterte Shana wieder auf den Rücken von Chris und sie erhoben sich in die Luft. Shana dachte über das nach, was Chris gesagt hatte. Liebe war nun mal so[ i]. Konnte man das einfach so sagen? Rechtfertigte Liebe das Verhalten der Menschen? Einfach so? Das konnte doch nicht alles sein. Bei rechtem Licht betrachtet hätte sie es auch nie für möglich gehalten, dass Hunter sich so benehmen würde. Immerhin redete sie hier von Hunter. Der harte Kerl, den es noch nicht einmal interessierte ob man ihn anschoss oder nicht. Aber was wusste sie schon? Sie war ja noch nie verliebt gewesen. Wie also sollte sie das Verhalten von Hunter beurteilen können? Wie würde sie sich verhalten? Würde Shana auch so werden wie er oder sich wünschen, dass ihr Partner auch so war, wie Hunter? Aber war es nicht eigentlich überflüssig sich darüber Gedanken zu machen? Immerhin würde sie wahrscheinlich nie einen Partner haben. Obwohl… vielleicht mit Yue? Shana schob diese Gedanken erstmal beiseite, weil sie vor dem Supermarkt angekommen waren.

Chris stopfte alles nur Erdenkliche in den Einkaufswagen. Als Shana ihr sagte, dass sie das alles gar nicht bezahlen könnte, winkte der kleine Vampir ab und sagte, dass sie die Rechnung übernehmen würde. Und da Shana sie nicht umstimmen konnte – Wann konnte sie das schon mal? –, sah sie einfach schweigend zu, wie der Inhalt im Wagen wuchs und wuchs. Am Ende hatten sie fünf volle Tüten, die sie in die Gruft schleppten. Sie räumten die Sachen zusammen in den Kühlschrank und in die Küchenschränke. Also verhungern würde Shana sicher nicht mehr.

Dann verabschiedete Shana sich auch, weil sie müde war. Schnell machte sie sich fertig und ging dann in das Zimmer von Ethan. Nebenbei, wo war er überhaupt? Seit dem Ball hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Das war schon sehr merkwürdig, aber es kümmerte sie auch nicht. Er machte doch eh immer nur das, was er wollte.

Im Supermarkt hatte sie eine kleine Nachttischlampe erstanden, die sie auf das kleine Schränkchen neben dem Bett stellte. Es war ein angenehmes Gefühl zu wissen, dass Licht jetzt nur noch eine Armeslänge von ihr entfernt war, wenn sie im Bett lag. Schnell schlüpfte sie unter die Decke. Während sie darauf wartete, dass ihr warm wurde, beschloss sie Mika bald anzurufen. Ihre beste Freundin machte sich bestimmt schon Sorgen.

Sie war schon fast eingeschlafen, als sie Tür leise knarrte. Sofort war Shana wieder wach. Da die Nachttischlampe noch eingeschaltet war, erkannte sie Ethan, der das Zimmer betrat. Und er sah noch missgelaunter aus als sonst.

„Was soll das da?“, fauchte er und zeigte auf die kleine Lampe.

„Das ist eine Nachttischlampe.“

„Ich weiß, was das ist, blöde Kuh! Ich will wissen, was sie hier macht!“

„Ich kann im Dunkeln nicht so gut sehen wie du und brauche Licht um mich in deinem Zimmer zurechtzufinden.“

„Ich will diesen überflüssigen Kitsch hier nicht haben!“

„Es ist nur eine Lampe.“

„Das ist mir ziemlich egal.“, brauste er auf.

Man, war er sauer. Shana verstand nun gar nichts mehr. Sie dachte wirklich, dass sie nach dem Ball nun so etwas wie Freunde waren. Doch anscheinend hatte sie sich getäuscht, denn Ethan war noch ekeliger zu ihr als sonst.

„Was ist nur los mit dir? Auf dem Ball warst du mal so was wie nett. Ich habe dir doch nichts getan.“

Anscheinend hatte sie genau das Falsche gesagt, denn plötzlich funkelten seine Augen golden und er zog die Oberlippe zurück, sodass sie seine Fänge deutlich sehen konnte. Jetzt bekam sie es schon mit der Angst zu tun.

„Das mit dem Ball war eine Ausnahme. Bilde dir bloß nicht ein, dass ich jetzt nett zu dir bin. Ich hasse dich immer noch wie die Pest!“

„Schön! Ich hasse dich auch!“, schrie sie ihn an. Das war doch echt nicht zu fassen. Dieser eingebildete Idiot! Er sollte sich mal entscheiden, was er eigentlich wollte. Entweder war er freundlich zu ihr oder fies. Beides ging nicht.

Ethan zog sich bis auf die Boxershorts aus und legte sich ins Bett. Diesmal war er darauf bedacht, sie nicht zu berühren und wahrte Abstand. Auch gut. Das war Shana nur recht. Sie machte das Licht aus und kochte vor Wut. Sie hatte nichts falsch gemacht. Warum also war er wütend auf sie gewesen? Doch darüber nachzudenken machte sie nur noch zorniger, sodass sie es schließlich aufgab und irgendwann einschlief.
 

Als Shana erwachte, war Ethan schon nicht mehr da. Umso besser. Wenn sie an ihn dachte, wurde sie wieder wütend. Wurden sie eben doch keine Freunde. Das machte aber auch nichts. Sie war nicht auf ihn angewiesen.

Bevor Shana aufstand, holte sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche und rief bei Mika an. Doch es schaltete sich die Mailbox ein. Komisch. Mika hatte doch sonst immer ihr Handy an. Sie probierte es auf dem Festnetzanschluss.

„Bei Kusuragi.“, meldete sich die Stimme des Butlers nach kurzem Klingeln.

„Hallo Yamamoto-san. Hier spricht Minabe-san.“

„Hallo. Was kann ich für dich tun?“

„Ich hätte gerne Mika gesprochen.“

„Warte bitte einen Moment.“

Es klickte. Dann war kurze Zeit später eine andere männliche Stimme zu hören. „Hallo, Shana-kun.“

„Kusuragi-sama?“

„Nenn mich doch Hiroshi.“

„Sie wissen, dass ich das nicht kann.“

Am anderen Ende der Leitung seufzte er tief.

„Es ist zwar nett, mit ihnen zu reden, aber eigentlich wollte ich mit Mika sprechen.“

„Oh. Du weißt es noch nicht?“

„Was denn?“

„Mika ist krank.“

„Was? Was hat sie denn?“ Shana war entsetzt. Da meldete sie sich ein paar Tage nicht und dann so was.

„Die Ärzte sagen, dass sie sich eine Grippe eingefangen hat.“

„Ist es ernst?“

„Eigentlich nicht.“ Eigentlich nicht?

„Kann ich sie besuchen?“

„Besser nicht. Sie ist ansteckend und du warst doch gerade erst krank.“

Langsam dämmerte es Shana. „Habe ich sie angesteckt?“

„Bestimmt nicht.“

„Doch, das habe ich. Es tut mir sehr leid.“

„Gib dir bitte nicht die Schuld daran. Sie wird wieder gesund werden.“ Warum nur glaubte Shana das nicht?

„Wirklich?“

„Aber natürlich.“

„Und ich kann sie nicht vielleicht doch besuchen?“

„Nein. So leid es mir tut. Selbst meine Frau und ich sind vorsichtig.“

„Na gut. Kann ich dann vielleicht mit ihr sprechen?“

„Sie schläft sehr viel, sowie auch jetzt. Aber ich kann ihr etwas ausrichten, wenn du möchtest.“

„Sagen sie ihr bitte, dass sie ihr Handy anschalten soll, wenn sie aufwacht.“

„Ich werde es ihr sagen.“ Herr Kusuragi hörte sich wirklich sehr niedergeschlagen an.

„Vielen Dank… Hiroshi-sama.“ Sie konnte ihm zwar nicht beistehen, aber ihm wenigstens diesen Gefallen zum Trost erweisen.

„Danke, Shana-kun.“ Fast glaubte sie, dass er kurz davor war zu weinen. Sie verabschiedeten sich und legten auf. Dann rief Shana erneut bei Mika auf dem Handy an. Sie wartete, bis die Mailbox zu Ende gesprochen hatte und es piepte.

„Hey Mika. Dein Vater hat gesagt, du bist krank. Du hast dich bestimmt bei mir angesteckt. Das hast du nun davon, dass du dich um mich kümmern musstest. Ich wünsche dir auf jeden Fall gute Besserung. Ach ja. Ich habe vor, mich noch mal mit Yue zu verabreden. Er ist echt süß. Ich glaube, ich bin ein bisschen in ihn verknallt.“

Dann teilte sie ihr noch ihre neue Handynummer mit und legte auf. Sie hoffte, dass Mika diese Nachricht ein bisschen aufheitern würde.

Als nächstes rief sie bei Yue an. Wie immer freute er sich von ihr zu hören und sie verabredeten sich für den heutigen Abend um 20:00 Uhr vor dem Kino.

Nachdem Shana gefrühstückt hatte, ging sie zu Rowen und hörte sich die nächste Wächtergeschichte an. Sie war nicht viel anders, als die anderen. Danach quälte Hunter sie beim Training mit einem Stock. Sie konnte sich aber unmöglich konzentrieren, da ihr die Bilder von Rin und Hunter einfach nicht mehr aus dem Kopf wollten. Hunter nutzte das natürlich schamlos aus. Nachdem sie sich also ihre tägliche Tracht Prügel abgeholt hatte, machte sie sich für ihr Date fertig, aß noch eine Kleinigkeit und fragte Jay, ob er sie bringen könnte. Shana wollte Chris nicht fragen, weil sie einfach zu neugierig war.

Nachdem Jay sie beim Kino abgesetzt hatte und sie ausmachten, dass er sie abholen sollte, wenn sie ihn anrief, verschwand er auch wieder. Shana wartete vor dem Kino und schaute sich die Filmplakate an. Während sie überlegte, was sie sehen wollte, klingelte ihr Handy. Sie nahm ab und es war Yue, doch durch die Menschenmassen vor dem Kino konnte sie ihn kaum verstehen, weil sie zu viel Lärm machten. Deswegen ging sie in eine Seitengasse neben dem Kino. Sie ging nur soweit hinein wie notwendig und schaute sich ständig um.

„Ich bin wieder dran.“

„Du ist also schon beim Kino?“ Irgendwie klang er traurig.

„Ja.“

„Es tut mir wirklich unendlich leid, aber ich muss dich versetzen. Ich muss heute Abend arbeiten und kann das nicht absagen.“

„Ach so. Na ist ja nicht so schlimm.“

„Du bist nicht sauer?“

„Nein. Das macht wirklich nichts.“

„Wir holen unser Date auf jeden Fall nach.“

„Okay.“

„Es tut mir wirklich leid, Shana.“

„Macht ja nichts. Arbeite nicht zu hart.“

Sie verabschiedeten sich. Na toll. Da hatte sie sich auf einen schönen Abend gefreut und dann das. Musste er wirklich arbeiten oder wollte er sie nur nicht treffen?

Shana seufzte und wählte die Nummer von Jay. Nach nur einem Klingeln hob er ab.

„Hey Jay. Hier ist Shana. Kannst du-“ Weiter kam sie jedoch nicht, denn vor ihr baute sich eine riesige Gestalt wie aus dem Nichts auf. Verflucht! Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und hatte vergessen, dass sie sich in einer Seitengasse befand.

Shana riss den Mund auf und wollte schreien, doch sie wurde von hinten gepackt und etwas Pelziges und Stinkendes legte sich über ihren Mund. Es dauerte auch nicht lange und sie hatte das Bewusstsein verloren. Das Handy glitt ihr aus der Hand.

„Shana? Hallo, Shana?“

Doch Jay bekam keine Antwort.
 

And that’s all?
 

Okay… War das nun gut oder nicht? Der Chliffhanger am Ende auf jeden Fall aber der Rest vom Kapitel? Erst wollte ich Rin ja nicht so sehr damit einbauen und ich weiß immer noch nicht so ganz genau, warum ich das getan habe. Vielleicht, weil zu jeder Vampirgeschichte eine Jägerin gehört? Keine Ahnung. Na ja. Ich hoffe, ihr freut euch trotzdem.

Danke für die ganzen Kommentare. Es gibt nix besseres für mich als diesen Lichtblick.

Lange Rede und kein Sinn…

Bis denn dann
 

BabyG

Geschwisterliebe

Wahrheit und Lüge liegen nah beieinander. Sie sind wie zwei Seiten einer Medaille. Doch wie unterscheidet man, was Wahrheit ist und was Lüge? Wie kann man mit Sicherheit sagen, dass die Wahrheit wirklich die Wahrheit ist und die Lüge wirklich eine Lüge?

Shana konnte noch nie gut Wahrheit und Lüge unterscheiden. Doch das, was sie nun erlebte, sollte ihr Empfinden für Wahrheit und Lüge gehörig auf den Kopf stellen.
 

Shana wachte auf und verfluchte sich dafür, dass sie den Kopf dabei bewegt hatte. Das war eine ganz schlechte Idee gewesen. Hatte sie schon wieder Alkohol getrunken ohne es zu wissen? Zumindest fühlte es sich so an.

Trotz des Presslufthammers, der in ihrem Kopf wütete, öffnete sie die Augen. Was gleichzeitig verwirrend, als auch ernüchternd war. Sie kannte diesen Ort nicht. Verdammt! Was war passiert? Sie schloss die Augen wieder, nur um sie kurze Zeit später wieder zu öffnen. Vielleicht war das ja ein Traum gewesen. Doch die Ansicht die sich ihr bot, änderte sich nicht.

Der Raum in dem sie sich befand, war dunkel und wurde nur schwach beleuchtet. Das Licht war hinter ihr und warf dunkle Schatten. Sie erkannte feuchte Steinwände, die in dem flackernden Licht schimmerten. Kerzen? Doch bevor sie sich umdrehte, nahm sie ihre nähere Umgebung weiter in Augenschein. Direkt vor ihr war eine Tür. Shana vermutete, dass sie aus Metall war. Sie sah zumindest rostig und sehr massiv aus. An den Wänden hingen dicke schwarze Ketten, an denen Handschellen baumelten. War das so eine Art Folterkammer? Sie versuchte hinter sich zu schauen, konnte ihren Kopf aber nicht weit genug drehen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie auf einem schmiede eisernen Stuhl saß. Ihre Handgelenke waren mit Schellen an den Armlehnen befestigt. Sie versuchte ihre Beine zu bewegen, traf aber auch hier auf Widerstand. Auch ihre Fußfesseln waren mit Schellen an den Stuhlbeinen fixiert.

Shana bewegte sich unruhig und versuchte sich zu befreien, doch sie saß fest. Der dabei verursachte Schmerz kam nur dumpf in ihrem Gehirn an. Wahrscheinlich Nachwirkungen des… Betäubungsmittels. Scheiße!

Plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Sie hatte sich mit Yue verabredet, aber er sagte im letzten Moment ab. Und dann wurde sie entführt. Scheiße, scheiße, scheiße! Sie hätte besser aufpassen müssen. Sie wusste doch, wie gefährlich Seitengassen waren.

Shana wurde panisch und versuchte verzweifelt sich zu befreien. Das Einzige, was das bewirkte, war, dass sie sich ihre Hand- und Fußgelenke wund scheuerte.

Verflucht noch mal, was zur Hölle sollte sie jetzt tun? Auf jeden Fall würde Panik sie jetzt auch nicht weiterbringen.

„Denk nach, denk nach!“, befahl sie sich, doch ihr wollte einfach nichts einfallen. Ihr Kopf war wie leergefegt. Eigentlich war das ja Normalzustand bei ihr gewesen, aber jetzt hatte sie nichts gegen einen rettenden Einfall einzuwenden.

Doch im Prinzip machte das auch nichts, denn plötzlich vernahm sie ein lautes Knarren und Quietschen und die Tür öffnete sich. Da der Raum hinter der Tür auch nur spärlich mit Kerzen beleuchtet war, erkannte sie nicht sofort, wer da zu ihr hereinkam. Himmel noch mal, was fanden die nur alle an Kerzen so toll?

Shana blinzelte kurz und dann sah sie zwei Wölfe, die anmutig und auf leisen Pfoten den Raum betraten. Wölfe, keine Werwölfe. Ob das nun gut oder schlecht war, wusste sie nicht, da die Wölfe sie anknurrten und die Zähne fletschten. Und sie hatten wirklich beeindruckende Zähne.

Shana keuchte. Die Wölfe griffen sie jedoch nicht an, sondern setzten sich links und rechts neben die Tür. Dann betrat noch jemand den Raum. Es war ein Mann, der groß, kräftig und schulterlanges dunkles Haar hatte. Den Typ kannte sie doch.

„Wie geht es dir, Süße?“, sagte er mit diesem tiefen Bass in der Stimme, von dem Shana heute noch Alpträume bekam. Das war Kato gewesen. Ein beschissener Werwolf!

Ihr wurde übel, als er grinste und eine Reihe perfekter Zähne zum Vorschein kam. Der überwältigende Gestank nach totem Fleisch stieg ihr in die Nase und sie versuchte durch den Mund zu atmen. Wie hielt er diesen Gestank nur aus?

„Du musst schon antworten, wenn ich dich etwas frage.“

„Was?“

„Ich habe dich gefragt, wie es dir geht.“

„Wie soll es mir schon gehen?“, gab sie bissig zurück. Sie hatte zwar Angst und war etwas hysterisch, aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich von einem stinkenden Köter unterdrücken ließ.

Huch. Was war das denn? Sie dachte schon wie ein Vampir. War das nun gut oder schlecht?

Kato machte ein beleidigtes Gesicht. Was sollte das denn nun wieder?

„Es macht mich traurig, dass das hier deinen Ansprüchen nicht gerecht wird, Süße.“

„Das es meinen Ansprüchen nicht gerecht wird? Bist du bescheuert oder was?“

Kato knurrte. „Vorsichtig. Reiz mich lieber nicht.“

„Tut mir ja leid, aber bei meiner ersten Begegnung wolltest du mich fressen, schon vergessen? Und jetzt bin ich in einer verfluchten Folterkammer angekettet und du denkst, ich stehe auf solch perverses Zeug? Geht’s noch?“

Statt wütend zu sein, kicherte Kato, was sich aufgrund seiner tiefen Stimme eher wie ein ersticktes Grollen anhörte.

„Du hättest mir damals doch einfach sagen können, wer du bist.“

„Ja klar. Als ob es dich davon abgehalten hätte mich zu fressen, wenn du meinen Namen gewusst hättest.“

„Nicht deinen Namen, sondern deine Bestimmung.“

„Was faselst du da?“

„Dass du die Wächterin der Blutsauger bist.“

Shana schluckte. Sie wusste zwar nicht warum, aber das war eine Information, die er sicher nicht wissen durfte.

Kato grinste. „Ja, wir wissen Bescheid. Und meine Herrin ist hocherfreut, dass du erwacht bist.“

Herrin? Erwacht? Shana selbst redete ja ab und zu mal Schwachsinn, aber Kato schoss den Vogel ab. Brachte eine Verwandlung in einen Werwolf so was mit sich? Wurde im Gehirn etwas verändert? Minderte das Fell seine Intelligenz?

„Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du überhaupt redest.“

Wieder dieses gruselige Kichern. „Keine Sorge, Süße. Das wirst du noch früh genug erfahren.“

Das Einzige, was Shana wollte, war nach Hause zu gehen. Aber das sollte sich als sehr schwierig gestalten.

Wieder erklangen Geräusche und eine weitere Person betrat den Raum. Natürlich. Da wo Kato war, war auch Jean nicht weit. Dieser blonde Europäer. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Irgendwas war hier im Gange und Shana hatte das Gefühl, dass es nichts Gutes war. Ihr Blut rauschte ihr in den Ohren und ihr Körper fing regelrecht an zu brennen.

„Sie kommt.“, sagte Jean und grinste Shana an. Kato ging auf Shana zu und sie fing an in ihrem Stuhl zu zappeln. Doch er schritt an ihr vorbei und machte irgendwas hinter ihr. Dann trat er wieder hervor und hatte einen Stuhl in der Hand. Der sah natürlich weit bequemer aus als das Ding, auf dem sie saß. Das da in seinen Händen glich eher einem Thron, als einem normalen Stuhl. Kato stellte ihn ungefähr vier Meter vor ihr auf den Boden.

Das ungute Gefühl in ihrem Inneren wurde stärker. In ihrem Mund sammelte sich mehr und mehr Speichel. Als sie ihn herunter schluckte, reizte das ihren Würgereflex, doch sie versuchte sich nicht zu übergeben. Ein leises Summen in ihren Ohren machte sie fast wahnsinnig und ihr Herz schlug bestimmt viermal schneller als normal. Schweiß trat ihr aus allen Poren. Was passierte hier? War sie dabei zu sterben? Es fühlte sich zumindest so an.

Ein silberner Wolf trat durch die Tür. Er knurrte Shana, wie seine beiden Artgenossen zuvor, an und setzte sich dann rechts neben den Thron. Das war es aber nicht, was Shana an den Rand eines Nervenzusammenbruchs trieb. Es war das Klackern von hohen Schuhen, was Shana panisch machte. Eine weitere Person betrat die Folterkammer. Shana konnte sie aber nicht genau erkennen, da sie eine Kerze in der Hand hielt und diese dunkle Schatten warf. Was sie aber eindeutig sagen konnte, war dass die Person weiblich war. So klein war kein Mann. Kato und Jean verneigten sich.

„Herrin.“, sagten sie ehrfurchtsvoll. Sie nickte und reichte Kato die Kerze. Liebevoll strich sie ihm über den Arm und berührte Jean sanft an der Wange. Die Wölfe im Raum fingen an zu winseln, so als ob sie gestreichelt werden wollten. Kato stellte die Kerze mit etwas Abstand neben Shana auf den Boden. Jetzt erst konnte sie durch das zusätzliche Licht die Frau erkennen.

Sie war wirklich klein gewesen. Von der Statur her eher zierlich. Ihr schwarzes Haar reichte ihr bis zum Kinn. Vorne war es etwas länger als hinten. Die trug schwarze Schnürstiefel mit Absatz, die ihr bis zu den Knien reichten. Dazu trug sie ein schwarzes Kleid, wobei der Rock gebauscht und mit Rüschen verziert war. Das Oberteil war eng und hatte nur zwei dünne Träger. Unter dem Kleid trug sie eine weiße Bluse, ebenfalls mit Rüschen, die ihre Arme bis zum Ellenbogen bedeckten.

Shana lief es eiskalt den Rücken herunter, als sie sie anlächelte. Diese Augen. Sie waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten und sie waren seelenlos. Nichts, aber auch wirklich gar nichts spiegelte sich in ihnen. Shana konnte sie nur anstarren. Diese Frau war wunderschön, strahlte aber eine Eiseskälte und einen leichten Irrsinn aus. Ihr Körper fing heftig an zu zittern, als die Frau langsam auf sie zuging.

„Hallo.“, sagte sie. Ihre Stimme war warm, freundlich und leicht akzentuiert. Diese Stimme war der Stoff, aus dem Shanas Alpträume waren. Die Frau, die eigentlich doch eher ein Mädchen war, weil sie nicht viel älter als Shana sein konnte, legte den Kopf leicht schief und blieb vor ihr stehen.

„Ich habe dich begrüßt. Willst du mir nicht die gleiche Freundlichkeit entgegenbringen?“

Shana schüttelte den Kopf. Das Einzige, was sie wollte, war von diesem Mädchen weg zu kommen. Ihre Augen funkelten und ehe Shana sich versah, hatte sie schon ausgeholt und ihr eine Ohrfeige verpasst. Den Schmerz merkte Shana nur dumpf und das Brennen ihrer Wange steigerte sich schnell zu einem rhythmischen Pochen.

„Sei nicht so frech zu mir!“

„Ha… Hallo.“, presste Shana hervor, worauf das Mädchen lächelte.

„Geht doch.“ Sie drehte sich um und sah zu den Werwölfen. „Lasst uns allein.“

Kato und Jean verneigten sich.

„Und sagt mir Bescheid, wenn mein Liebling wieder da ist.“

„Sehr wohl, Herrin.“

Dann verließen die Männer den Raum und schlossen die Tür. Das Mädchen setzte sich auf ihren Thron und kraulte dem silbernen Wolf hinter den Ohren, woraufhin dieser anfing leise zu wimmern.

„Du weiß nicht, wer ich bin.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Woher sollte Shana sie auch kennen? Doch sie fühlte, dass ihr diese Person nicht fremd war. Im Gegenteil. Sie war ihr merkwürdig vertraut. Komisch.

Um nicht erneut eine Ohrfeige zu kassieren, schüttelte sie den Kopf.

„Das wundert mich nicht. Mein Name ist Eve. Eve Gladstone.“

Shana keuchte und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen. Sie konnte sich nicht erklären, warum ihr Körper so auf diesen Namen reagierte. Eve kicherte über diese Reaktion.

„Dein Körper weiß, wer ich bin, nur dein Geist bleibt dieser Erkenntnis verschlossen.“

Warum redete sie nur so geschwollen wie Rowen? Aus welchem Zeitalter stammte Eve noch gleich?

„Es ist traurig, doch zugleich nicht sehr verwunderlich. Er will nicht, dass du erwachst.“

„Er?“ Shana räusperte sich, weil ihre Stimme etwas kratzig war. Sie brauchte etwas zu trinken. „Wen meinst du mit ,Er’“?

Eve fing an zu lachen. „Du tust mir wirklich leid, geliebte Schwester.“

Shana machte den Mund auf und wollte ihr schon sagen, dass sie sich ihr Mitleid sonst wo hin stecken konnte, hielt sich aber zurück. Zum einen, weil Eve unberechenbar war und zum anderen: „Schwester?“

Eve seufzte. „Ich bin deine Schwester.“

Moment mal! „Wie bitte?“

„Über dich scheinst du auch nichts zu wissen.“

„Was ist hier los?“

„Du bist Emily Gladstone. Meine ältere Schwester.“

Mhm… sicher doch. Eve war doch verrückt.

„Du glaubst mir nicht.“

„Soll ich ehrlich sein? Nein!“

„Du bist noch nicht erwacht. Darin liegt das Problem.“

„Erwacht? Als was?“

„Als die wahre Wächterin. Im Moment bist du noch weit davon entfernt eine zu sein.“

„Ich verstehe das nicht.“

„Das wundert mich nicht. So wie du die Wächterin der Vampire bist, so bin ich die Wächterin der Werwölfe.“

Shana klappte die Kinnlade herunter. Es gab noch eine Wächterin? Was für ein kranker Scheiß lief hier eigentlich ab? Wann hatte Rowen vor, ihr das zu erzählen?

„Vielleicht sollte ich von Anfang an beginnen. Du scheinst wirklich nicht die geringste Ahnung zu haben. Ich bin leicht verärgert darüber.“

Schön für dich, du Miststück, dachte Shana.

„Bevor ich dies aber tue, sollte ich mich als pflichtbewusste Gastgeberin erweisen.“

Was sollte das nun wieder heißen?

„Sascha.“ Der Wolf, der rechts neben der Tür stand, kam auf sie zu. Eve streichelte ihm über den Kopf. „Geh zu Kato und sage ihm, dass er Speis und Trank servieren soll.“

Sascha bellte kurz, ging zur Tür, richtete sich auf und drückte die Klinke herunter. Mit der Schnauze öffnete er sie einen Spalt und schlüpfte hindurch.

Shana konnte sich nicht vorstellen, dass diese Nachricht übermittelt werden konnte, doch sie ließ sich einfach überraschen. Sie würde ja sehen, was passierte.

Während sie warteten, beachtete Eve sie nicht und konzentrierte sich ganz auf den silbernen Wolf. Sie streichelte ihn und flüsterte leise Worte in sein Ohr. Der Wolf hechelte und genoss die Aufmerksamkeit.

Shana gingen bestimmt an die tausend Fragen durch den Kopf, doch sie verkniff es sich, auch nur eine einzige zu stellen. Diese Eve war ihr einfach nicht geheuer. Eine falsche Frage und Shana würde hier als Leiche verrotten. Nicht mit ihr! Wobei es doch eigentlich egal war oder nicht? Sie war sich ziemlich sicher, dass sie diese Folterkammer niemals lebend verlassen würde. Also warum sollte sie sich zurückhalten? Erschreckend fand sie, dass es ihr nicht viel ausmachte. Wollte sie denn unbedingt sterben?

Bevor sie eine Antwort auf diese Frage finden konnte, betrat Kato mit einem Tablett in der Hand den Raum. Sascha trottete vor ihm her und nahm dann wieder seinen Platz neben der Tür ein. Shana war baff.

Kato stellte das Tablett ab, holte einen kleinen Beistelltisch und legte es darauf. Shana roch Reis, Gemüse und Fleisch. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Kato reichte Eve ein Glas mit dunklem Rotwein und sie bedankte sich. „Füttere sie.“, befahl sie und nahm einen gemächlichen Schluck aus ihrem Glas.

Kato tauchte einen Löffel in den Reis und hielt ihn Shana vor den Mund. Sie hielt ihn eisern geschlossen, bis nur noch ein weißer Strich zu sehen war.

„Iss!“, fauchte Eve. Shana schüttelte den Kopf.

„Du denkst, es ist vergiftet? Glaube mir, wenn ich dich wirklich tot sehen wollte, würde mir dein Darm schon längst als Halskette dienen, aus deinem Magen hätte ich eine Handtasche gefertigt und deine Finger würden als Ohrschmuck fungieren. Dein Herz hätte ich mit Nudeln und einem süßen Rotwein serviert. Also nimm, was dir geboten wird!“

Shana versuchte heftig, ihren Würgereiz zu unterdrücken. Eve bemerkte es und fing an zu kichern.

„Du stirbst nicht. Zumindest noch nicht. Also iss. Kato ist ein ausgezeichneter Koch.“

„Das ist zuviel der Ehre, Herrin.“

Aber Shana weigerte sich immer noch. Als ob sie auf die Beteuerungen einer Verrückten hören würde. So blöd war sie nun auch wieder nicht.

Eve, anscheinend wütend über diesen Widerstand, stand auf und zog einen Dolch aus ihrem rechten Stiefel. Statt ihr die Kehle durch zu schneiden, wie Shana es vermutet hatte, ritzte sie ihr einen langen Schnitt in die linke Wange. Shana gab sie wirklich Mühe nicht zu schreien, aber dieser Schmerz war so schlimm, als hätte Eve Säure auf ihre Wange gekippt. Die Wächterin der Wölfe grinste triumphierend.

„Tu besser, was ich dir sage. Das ist gesünder für dich, Schwester.“

Tränen standen Shana in den Augen, aber sie blinzelte sie weg. Sie würde ihr diese Befriedigung nicht auch noch geben. Widerwillig öffnete sie den Mund und Kato fütterte sie. Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass das Essen wirklich gut schmeckte. Verdammt!

Nachdem Shana alles aufgegessen hatte, war sie auch schnell wieder mit Eve allein. Etwas, was ihr wirkliches Unbehagen bereitete.

„Du hast bestimmt eine Menge Fragen.“

Shana nickte.

„Ich denke, ich beginne von Anfang. Wie ich dir schon gesagt habe, sind wir Schwestern. Du bist 2 Jahre älter und somit die große Schwester. Wir haben uns nie wirklich gemocht, was daran lag, dass du die Gunst unseres Vaters genossen hast und ich eben nicht. Mutter starb bei meiner Geburt, was nicht weiter verwunderlich war. 1750 war die medizinische Versorgung noch nicht so ausgereift wie heute. Wie unsere Namen dich vielleicht erahnen lassen, wurden wir in England geboren. Winchester, um genau zu sein. Vater war der Ansicht, dass ich den Tod unserer Mutter verschuldet hatte, als sie mir das Leben schenkte. Daher hasste er mich, weil ich ihm seine Liebe nahm. Aber was konnte ich schon dafür? Ich habe nicht darum gebeten, das Licht der Welt zu erblicken. Wie auch immer.

Wir waren sehr wohlhabend. Vater besaß viele Ländereien und machte als Lehnsherr gute Geschäfte. Wir beide konnten nie richtige Geschwister werden, weil er den Hass zwischen uns tagtäglich schürte. Und wir fügten uns dieser zugedachten Rollen. Du warst die Erhabene, der ganze Stolz seines Seins. Ich war die Satansbrut. Dir machte nichts mehr Spaß, als die neuen Puppen, die er dir schenkte, zu zerstören und sie dann mir zu geben. Daher wunderte es auch niemanden, wenn ich mit einer kopflosen Puppe in Erscheinung trat. Doch sei's drum. Ich bin es müde, dir deine Grausamkeiten aufzuzeigen.

Eines Tages, ich war 16 und du 18, nahm Vater uns auf eine dienstliche Reise nach Prag mit. Ich freute mich, weil er sonst immer nur dich mitnahm und mich zu Hause ließ. Da ich das verhasste Kind war, hatte ich nicht viel Gelegenheit unser Heim zu verlassen. Er sperrte mich regelrecht ein. Vater wollte in Prag einen ganz besonderen Handel machen. Er wollte Schafswolle gegen Arbeiter tauschen. Doch der wahre Grund dieser Reise war, dass er mich verheiraten wollte, um mich endgültig loszuwerden. Umbringen konnte er mich nicht, da dies zu viele Fragen aufgeworfen hätte. Eine Heirat erschien ihm daher die bessere Lösung. Doch es kam alles anders. Der Mann, mit dem Vater den Tauschhandel mit den Arbeitern machen wollte, interessierte sich nicht mehr für die Schafswolle, als er dich sah. Er wollte, dass du statt der Wolle gegen die Arbeiter getauscht wirst. Zu unser beider Überraschung stimmte Vater dieser Abmachung zu, was dich in Rage versetzte. Doch er beruhigte dich und sagte, dass er dich niemals weggeben würde. Doch bei mir sah das anders aus. Da sein Bestreben sowieso darin lag, mich loszuwerden, kam ihm diese Vereinbarung gerade Recht. Er richtete mich so her, dass ich dir ähnlich sah und tauschte mich, anstatt deiner.“

Shana keuchte, als sie das hörte. Wie grausam konnte der Vater von Eve nur sein? Wie krank war das? Eve bemerkte ihre Reaktion und fing an zu kichern.

„Du sorgst dich um mich, Schwester? Wie rührend. Solch Gefühlsregungen kenne ich ja gar nicht von dir. Aber du musst dich nicht sorgen. Vaters Plan trug keine Früchte. Man bemerkte den Schwindel, noch bevor er mit dir und den Arbeitern von dannen ziehen konnte. Ihm blieb daher nichts anderes übrig, als uns beide zu packen und zu fliehen.

Wir waren ungefähr 2 Tage unterwegs gewesen, als wir rasten mussten, da die Pferde der Kutsche lahmten. Während wir auf das Lager achteten, machte Vater sich mit einem Diener auf den Weg in ein kleines Dorf um unsere Vorräte aufzustocken. Eine alte Frau nährte sich unserem Lager und erkannte uns als die Mädchen, die ihren Lehnsherren betrogen hatten. Sie war die engste Vertraute von ihrem Herren gewesen und ihm sehr loyal. Sie war nicht nur eine alte Frau, sondern auch eine Hexe. Sie war sehr erzürnt über den Verrat an ihrem Herren und verfluchte uns. Sie holte zwei bestimmte Seelen aus dem Seelenpfuhl und bannte diese in unsere Körper. Unsere Seelen verschmolzen aufgrund ihres Fluchs mit den Fremden und wir wurden zu zwei anderen Frauen.

Du fragst dich sicher, welche Seelen es waren. Es waren nicht irgendwelche, sondern die Seelen der Wächterinnen. So wurdest du zur Hüterin der Vampire und ich die der Werwölfe.“

Shana klappte die Kinnlade herunter. Das konnte doch nicht wahr sein. Immerhin war das hier so anders, als das, was Rowen ihr basierend auf den Tagebüchern erzählt hatte.

„Du hast ganz richtig gehört. Natürlich war dies wider der Natur. Unsere vorherige Feindschaft verwandelte sich in abgrundtiefen Hass. Der Irrsinn hatte sofort von uns Besitz ergriffen und nicht so wie sonst, im späteren Verlauf einer Wächterperiode. Kaum, dass die Seelen zu einer verschmolzen und wir sozusagen neugeboren wurden, versuchten wir uns gegenseitig umzubringen. Als Vater wieder ins Lager zurückkehrte, hatten wir uns schon halb umgebracht. Nur mit Mühe konnte er uns von einander trennen. Wir reisten weiter und Vater achtete darauf, dass du dich im inneren der Kutsche befandest und ich mich mit dem Diener auf dem Kutschbock. Während der Reise wurden wir verfolgt. Nur du und ich wussten davon, weil es keine menschlichen Wesen waren. Doch unsere Verfolger gaben sich erst zu erkennen, als wir uns wieder in Winchester befanden. Der eine war ein Werwolf und der andere war ein Vampir. Es waren die Hüter der Schlüssel. Kaum, dass wir erwachten, machten sie sich auf die Suche nach uns. Nach dem Gesetz der Wesen durften die beiden sich nicht gegenseitig umbringen, so gerne sie es auch getan hätten. Denn Wächterinnen unterliegen bestimmten Regeln. Sobald die eine erwacht, erhebt sich auch die andere aus ihrem Schlaf. Das ist unausweichlich. Sie leben in einer gewissen Koexistenz. Es müssen immer zwei sein. Niemals darf eine alleine leben. Daher genießen die Wächter der Schlüssel Immunität. Niemand darf sie angreifen.

Doch ich weiche ab. Uns wurden die Schlüssel überreicht. Allein dadurch erwachten wir vollständig und wussten, zu was wir geworden waren. Danach hielt uns nichts mehr und wir verließen unseren Vater noch in der gleichen Nacht. Ab da trennten sich unsere Wege. Was du in der Zeit getan hast, in der wir uns nicht sahen, weiß ich nicht genau. Um ehrlich zu sein, ist dies auch nicht von Interesse für mich. Ich hatte dich erst 60 Jahre nach dem Verlassen unseres Vaters wieder gesehen.“

„60 Jahre? Wie konntest du so lange überleben?“ Shana fragte, ohne nachzudenken. Eigentlich wollte sie mit Eve kein Wort wechseln, aber diese Frage konnte sie sich einfach nicht verkneifen.

„Wir altern viel langsamer als gewöhnliche Menschen. Alle 15 Jahre altern wir um ein Jahr. Daher sah ich gerade mal aus wie 21, als ich dich wieder sah. Da Werwölfe und auch Vampire nicht altern, müssen Wächterinnen dieser Lebensspanne entgegenwirken. Unser Organismus wird durch unsere Vollständigkeit einfach verlangsamt. Oder so. Woher soll ich wissen, wie so etwas funktioniert?“

Eve funkelte sie zornig an. Also hatte Shana definitiv die falsche Frage gestellt, aber ändern konnte sie es nun auch nicht mehr. Sie genehmigte sich noch einen Schluck Wein und seufzte wonnig, ehe sie weiter erzählte.

„In der Geschichte der Wächterinnen hatte noch nie jemand so lange überlebt, wie wir. Wir waren einzigartig. Aber das waren wir allein schon dadurch, dass wir mit diesen Seelen verflucht waren. Normalerweise wird man mit diesen Seelen geboren. Wir waren die Ausnahme.

Als wir uns also durch einen dummen Zufall wieder begegneten, haben wir da weitergemacht, wo wir zuletzt aufgehört hatten. Wir versuchten uns umzubringen. Aber diesmal zogen wir noch andere Menschen, Unschuldige, damit hinein. Rückblickend gesehen war dies gewiss nicht ganz fair, aber das interessierte uns nicht. Wir beide waren vom Wahnsinn befallen und schon immer recht egoistisch gewesen. Nach dieser Zusammenkunft trennten uns weitere 50 Jahre, bis es zum Krieg zwischen unseren Rassen kam. Wenn Wächterinnen erwachen, kommt es immer zwangsläufig zum Krieg. Das ist unvermeidlich. Wir beide starben dabei grausam, hatten aber unsere Aufgabe erfüllt.

Das Problem war nur gewesen, dass diese alte Hexe nicht nur uns, sondern auch alle weiteren Wächterinnen verflucht hatte durch ihr Eingreifen. Wenn eine Wächterin geboren wird und erwacht, erinnert sie sich nicht an ihr vorheriges Leben. Sie erwacht als eine eigenständige Person. Doch wir hatten den Ablauf durcheinander gebracht. Jede neue Frau, die als Wächterin erwachte, waren wir, Eve und Emily.“

„Das ist unmöglich. Ich bin Shana und nicht Emily. Ich kann mich an nichts erinnern, was du mir gerade erzählt hast.“

„Das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil du noch nicht erwacht bist. Um zu erwachen, musst du das Blut einer deiner Schützlinge trinken. Dann wird sich deine Seele entfalten und du warst die längste Zeit Shana gewesen. Dieses Bewusstsein wird verdrängt und Emily wird deinen Platz einnehmen. Alles, was du bis dahin erlebt hast, stirbt. Du wirst sterben.“

„Lüge.“, flüsterte Shana.

„Wie meinen?“

„LÜGE!“, schrie Shana sie an. „Das sind nichts weiter als Lügen!“

Eve wurde durch diesen Ausbruch erzürnt. Wütend warf sie ihr Weinglas auf den Boden. Es zersplitterte in tausend Scherben. Der Wein ergoss sich wie Blut über den Steinboden. Eve stand auf. Diese kleine und zierliche Person baute sich vor Shana auf, packte ihre Haare und riss ihr den Kopf in den Nacken. Der Dolch versetzte ihr einen weiteren Schnitt auf der Wange.

„Du bezichtigst mich eine Lügnerin zu sein?“, fragte sie wütend. Sie schlitzte ihr mit dem Dolch den Unterarm auf. Shana schrie, als das Blut aus der Wunde quoll.

„Wage es dich nie wieder, mich als eine Lügnerin zu bezeichnen!“

Noch ein Schnitt und dann noch ein weiterer. Doch es blieb nicht nur bei Dolchhieben, sondern es gesellten sich auch Schläge dazu. Shana wurde durch die Schmerzen fast bewusstlos. Die Wölfe fingen an zu heulen und zu knurren. Ihnen gefiel der Ausbruch ihrer Herrin anscheinend.

Als Eve den Dolch erneut hob, bemerkte Shana, dass ihr dieser Dolch bekannt vorkam.

„Das- “, wisperte sie den Tränen nahe.

Eve hielt inne und bemerkte den entsetzten Blick, den Shana auf den Dolch warf.

„Du siehst richtig, Schwester. Es ist derselbe Dolch, den auch du dein Eigen nennst.“

Es war genau derselbe, den auch Shana in der Truhe der Wächterin gefunden hatte. Panisch wanderte ihr Blick zu der linken Hand von Eve. Auch sie trug dort einen Ring. Er sah aber etwas anders aus, als der, den Shana trug. Der Ring war rot, statt schwarz und der Stein war schwarz, statt rot. Das genaue Gegenteil von ihrem Ring.

Dieser Schock gab Eve anscheinend Befriedigung, denn sie ließ von ihr ab. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als sich plötzlich die Tür öffnete und Kato die Folterkammer betrat.

„Herrin?“, fragte er vorsichtig. Sie nickte ihm zu.

„Er ist hier.“

Shana bemerkte, dass die Augen von Eve zu leuchten anfingen. Die erste Reaktion, die sie bei diesen seelenlosen Augen bemerkte.

„Sehr gut. Ich komme.“

Anstatt das Blut, welches an dem Dolch haftete, abzuwischen, leckte Eve es mit der Zunge von der Klinge. Shana wurde schlecht.

„Nun, Schwester. Ruhe dich ein wenig aus. Ich werde dich bald wieder besuchen kommen.“

Eve lächelte ihr noch einmal zu und verließ dann zusammen mit Kato den Raum. Shana war froh darüber, denn endlich konnte sie ihrem Bedürfnis nachgehen und zusammenbrechen.
 

Im Großen und Ganzen hielt Shana sich eigentlich ganz gut, was sie selbst überraschte. Eigentlich hätte sie vor Angst schreien oder wie ein seelisches Wrack zusammenbrechen müssen. Doch nichts dergleichen geschah. Sie war stark. Das redete sie sich zumindest immer wieder ein und es schien tatsächlich zu helfen. Wie lange ihre Gefangenschaft nun schon andauerte, wusste sie nicht. Die Folterkammer war ohne Fenster und da sie keine Uhr besaß, konnte sie keine Zeit festlegen. Sie schätzte aber, dass sie seit ungefähr 2 Tagen hier war. Aber was wusste sie schon?

Es war zumindest lange genug, um sich an den Rhythmus ihrer Geiselnehmer zu gewöhnen. Kato kam immer und fütterte sie mit wirklich leckerem Essen. Wenn sie menschlichen Bedürfnissen nachkommen musste, kamen immer zwei Frauen. Die eine kam in Gestalt eines Werwolfs und passte auf, während die andere Shana von den Fesseln befreite und ihr auf einen Eimer half, auf dem Shana sich erleichtern konnte. Am Anfang fand sie es ziemlich beschämend, sich so vor anderen zu zeigen, aber hey, warum sollte sie sich schämen, wenn es doch nur menschlich war? Außerdem freute sie sich immer, wenn ihre Blase anfing zu drücken, denn das bedeutete, dass sie von dem Stuhl aufstehen und sich etwas bewegen konnte. Durch das permanente Sitzen tat ihr der Hintern und der Rücken ziemlich weh. Wenn die Frau sie dann wieder gefesselt hatte, kam meist Eve und folterte sie. Entweder mit Geschichten aus ihrer gemeinsamen Kindheit oder sie schlug sie oder ritzte Shana mit den Dolch die Haut auf. Wie Eve eben gerade lustig war.

Shana sah ziemlich lädiert aus, ließ sich dadurch aber nicht unterkriegen. Es war ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie Schläge bezogen hatte. Sie hätte sich gerne einmal gewaschen, aber das schien nicht Teil ihrer Gefangenschaft zu sein.

Wenn sie dann alleine war, dachte sie an die anderen. Chris, Jay und Rowen waren bestimmt total in Sorge um sie und suchten sie überall. Ethan und Hunter feierten wahrscheinlich eine rauschende Party, weil sie Shana endlich los waren. Und was Hawk machte, konnte sie nicht so genau sagen. Sie stellte sich aber vor, dass er wenigstens ein bisschen besorgt war.

Shana war sich nur in einem Punkt sehr sicher. Sie würde hier niemals rauskommen. Und komischerweise hatte sie sich damit abgefunden. Dass sie sich da täuschte, war ihr bis dahin noch nicht bewusst.
 

Shana war schon längere Zeit allein. Na ja… sah man mal von den zwei Wölfen an der Tür ab. Ihr war langweilig, weil sie nichts weiter tat, als an die Tür zu starren, als sie plötzlich Geräusche vernahm. Und zwar von der Sorte, die normalerweise nicht üblich waren. Auch die Wölfe schienen die Abnormalität bemerkt zu haben, denn sie legten die Ohren an und knurrten bedrohlich. Die Tür öffnete sich und die Wölfe griffen an. Doch noch im Sprung wurden sie zur Seite geschleudert. Sie landeten unsanft auf dem Boden und heulten schmerzlich auf. Doch dadurch ließen sie sich nicht lange beeindrucken und rappelten sich schnell wieder auf. Kurz schüttelten sie die Köpfe um wieder klar zu werden. Eine Gestalt huschte in den Raum, ging erst zu dem einen Wolf und dann zu dem anderen. Beide Male war ein ekelhaftes Knacken zu hören und die Wölfe blieben regungslos auf dem Boden liegen. Alles geschah so schnell, dass Shana diesen Vorgang mit dem Auge gar nicht richtig fassen konnte.

Shana wurde nervös und sie fing an zu zappeln. Eine Abweichung ihres Tagesablaufes bedeutete immer Ärger. Zwei weitere Gestalten betraten die Folterkammer. Erst, als diese in das Kerzenlicht traten, erstarrte Shana, als sie glaubte, diese Personen erkannt zu haben.

„Hunter?“, fragte sie vorsichtig und blinzelte verwirrt. „Jay? Ethan?“ Sie kniff die Augen fest zusammen. „Das bildest du dir alles nur ein.“, murmelte sie vor sich hin. „Die sind nicht real. Herzlichen Glückwunsch, Shana. Jetzt bist verrückt geworden. Wunderbar!“

„Halt die Klappe, Göre!“

„Ich höre nicht auf Fantasiegestalten!“

„Wir sind es wirklich, Shana.“

„Du bist nur Einbildung, Jay.“

„Blöde Kuh!“

Shana riss die Augen auf. Egal, wie viel Fantasie sie hatte, das konnte sie sich nicht einbilden. Diese beiden Worte und die Tonlage konnte sie in ihrem Kopf nicht so exakt wiedergeben wie das Original.

„Ihr seit es wirklich?“, fragte sie vorsichtig.

„Ja doch.“, maulte Hunter und machte sich an ihren Fesseln zu schaffen. Einige Sekunden später war sie frei. Das war so unglaublich, dass sie die Männer einfach nur anstarren konnte.

„Beweg dich endlich!“, befahl Hunter und zog sie aus dem Stuhl. Im nächsten Moment knickte Shana ein und landete auf dem Boden. Mit einem Mal war ihre Stärke verschwunden und sie fühlte sich klein und hilflos.

Gerade, als Hunter sie wieder anblaffen und Jay ihr hoch helfen wollte, ging die Tür auf und sechs Werwölfe und Eve betraten den Raum. Die Vampire stellten sich geschlossen und schützend wie eine Mauer vor Shana. Als diese ihre angebliche Schwester sah, mobilisierte sie alle ihre Kräfte und stand selbstständig auf. Vor dieser Person würde sie sicher keine Schwäche zeigen. Niemals! Eher würde sie sterben.

Eve klatschte erfreut in die Hände. „Endlich seit ihr hier. Ich dachte schon, ihr würdet meine Schwester hier verrotten lassen.“

„Wie du siehst, sind wir erschienen.“ Ethans Stimme war so kalt, dass Shana unwillkürlich anfing zu zittern.

„Ethan.“, jauchzte Eve. „Ich habe dich schon so lange nicht mehr gesehen.“

Ethan knurrte, woraufhin Eve anfing zu kichern. Erst jetzt bemerkte Shana, dass sie es ziemlich häufig tat. Noch so eine Macke aufgrund ihres Irrsinns?

„Du bist noch genauso ein Grießgram, wie vor 130 Jahren. Ich bin entzückt.“

„Und du solltest eigentlich nicht hier sein.“

„Man kann sich sein Schicksal eben nicht aussuchen. Ich bin nur hier, weil meine Schwester gefunden wurde. Es verletzt mich, dass du nicht erfreut bist, mich zu sehen.“

„Und wie ich sehe, bist du immer noch wahnsinnig.“

Eve strafte ihn mit einem bösen Blick. „Ich war nie wahnsinnig. Emily war es, die irre war.“

„Denkst du!“

„Das steht aber auch nicht zur Debatte.“, sagte sie plötzlich zuckersüß. „Ich frage mich, warum du diesem Mädchen dein Blut nicht gegeben hast. Vermisst du Emily nicht?“

Ethan knurrte sie bedrohlich an, aber Eve lachte nur.

„Ethan, Ethan, Ethan.“, tadelte sie. „Früher oder später wird sie erwachen. Das kannst du nicht verhindern. Es ist ihre Bestimmung. Shana wird verschwinden und meine Schwester wird ihren Platz einnehmen. Die wahre Wächterin wird erwachen! Ohne sie werdet ihr den Kampf niemals gewinnen!“

„Wir werden siegen. Auch ohne sie.“

„Das bezweifle ich, aber bitte. Ich halte dich nicht auf.“

Ein kurzes Schweigen entstand, doch Ethan brach es.

„Warum Eve? Warum hast du sie entführt? Sie ist nichts weiter, als eine nutzlose blöde Kuh!“

„Hey!“, ließ Shana sich vernehmen, wurde aber ignoriert.

„Du fragst nach dem Grund?“ Eve runzelte die Stirn. „So kenne ich dich ja gar nicht. Nun. Eigentlich wollte ich sie nur kennen lernen.“

Ethan grinste. „Ach bitte. Erspare mir diesen Unsinn. Du hasst deine Schwester so sehr, dass ich dir nicht glaube, dass du sie nur kennen lernen wolltest. Was also war der Grund?“

„Ich dachte, dass du ihr schon dein Blut gegeben hättest. Ich hätte sie hier gefangen gehalten und den Befehl zum Angriff gegeben. Da sie aber noch nicht erwacht ist, ist sie nutzlos für mich. Ich will Emily und nicht diese dumme hässliche Göre.“

„Hey!“, protestierte Shana erneut. Diesmal wurde sie nicht ignoriert und Ethan war ihr einen finsteren Blick zu, der sie zum Schweigen brachte.

„Wie dem auch sei. Ihr solltet jetzt gehen. Zu kämpfen lohnt sich nicht, da es noch nicht an der Zeit ist.“

Die Werwölfe fingen an zu knurren, doch Eve hob die Hand und sie verstummten. Auch Hunter und Jay schienen sich zu wundern.

„Stellt meine Entscheidung nicht in Frage.“, sagte Eve barsch. „Ihr werdet sie schon noch in Stücke reißen können, aber im Moment haben sie andere Probleme.“ Eve lächelte zuckersüß. „Ich glaube, du hast einigen Erklärungsbedarf gegenüber deinem Clan, Ethan.“

Sie lachte gellend und nickte dann drei ihrer Werwölfe zu. „Kümmert euch um sie. Ich habe nicht gesagt, dass das Fliehen einfach wird. Wagt es euch aber nicht, meine Schwester zu töten. Verletzten ja, aber wer sie tötet, findet selbst unweigerlich den Tod!“ Sie sah zu den Vampiren zurück. „Gehabt euch wohl, Blutsauger. Schwester, wir werden schon bald wieder vereint sein.“

Damit verschwand Eve mit den drei anderen Werwölfen. Die restlichen stürzten sich auf die Vampire. Ethan jedoch kümmerte sich nicht um die Angreifer und stellte sich vor Shana.

„Kannst du laufen?“

Statt einer Antwort starrte sie ihn nur ungläubig an. Ethan knurrte und hob sie auf seine Arme.

„Beeilt euch.“, mahnte er an Hunter und Jay gewandt.

„Klappe auf den billigen Plätzen!“, gab Hunter zurück. Er durchlöcherte einen der Werwölfe auf übelste Weise mit einer Schusswaffe. Jay hingegen verletzte den Werwolf vor ihm mit Schwerthieben. Der dritte im tierischen Gespann wollte sich auf Ethan stürzen, doch Hunter war schon zur Stelle. Mit einem Ruck brach er dem Tier beide Arme. Benebelt durch die Schmerzen stürzte es zu Boden. Hunter bereitete mit einem Genickbruch dem Kampf ein Ende. Shana sah das Blut und den Tod und wurde ohnmächtig.
 

And that’s all?
 

Soa... sind wir also schon wieder am Ende des Kapitels angelangt. Wie immer hier an dieser Stelle vielen lieben Dank für die ganzen Kommentare. Hab ich gar nicht verdient. Lustig fand ich, dass euch aufgefallen ist, dass Ethan sich so sehr wegen dieser Nachttischlampe aufgeregt hat. Wenn ich ehrlich bin, ist mir das gar nicht so bewusst gewesen, dass diese Sache doch recht banal war. Find ich klasse, dass ihr mich darauf gebracht habt.

Ach ja... eine frohe Kunde noch am Ende. Kapitel 17 kommt früher. Wenn es so läuft, wie ich das haben will, dann schon ab dem 20. Aber auf jeden Fall noch vor dem 25. Wem ich ne Ens schreiben soll, soll bescheid sagen. Lange Rede und kein Sinn, wie immer eben...

Bis denn dann
 

BabyG

Wer bin ich?

Man ist, was man ist. Niemand kann jemanden die Identität rauben. Jeder Mensch ist ein Individuum und ist einzigartig.

Shana wusste nicht viel vom Leben, doch sie konnte immer sagen, wer sie war: Shana Minabe. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie selbst das nicht mehr wissen konnte.
 

Shana erwachte in einem kalten, aber zumindest mit künstlichem Licht beleuchteten Raum. Nachdem sie sich einige Sekunden der Orientierung gegönnt hatte, bemerkte sie, dass sie in Ethans Zimmer im Bett lag. Erleichtert seufzte sie auf. Sie war so glücklich, dass sie am liebsten geweint hätte. Keine dunkle und stinkende Folterkammer mehr. Keine Werwölfe oder eine verrückte Eve.

Doch bevor sie diesem Gefühlsausbruch der Freude nachgeben konnte, fühlte sie, wie sich etwas neben ihr bewegte. Shana sah zur Seite und blickte in die braunen Augen von Ethan. Sie war in Sicherheit. Sie war diesem Horror tatsächlich entkommen. Beruhigt durch diese Erkenntnis umarmte sie Ethan und schmiegte sich an ihn.

„Was denkst du, tust du da?“, fragte er barsch und auch eine Spur irritiert.

„Danke.“, überging sie seine Frage. „Danke, dass du mich gerettet hast.“

Als Antwort seufzte er genervt. „Du stinkst!“

„Halt die Klappe.“

Statt auszurasten, ihr mit dem Tod zu drohen oder sich einfach nur mit ihr zu streiten, schwieg er. Das war ungewöhnlich, aber Shana würde sich nicht beschweren.

Ethan berührte sie nicht, schob sie aber auch nicht von sich, wofür sie dankbar war. Sein Körper fühlte sich zwar wie immer kühl an, aber es war tröstlich und sehr angenehm. Es war merkwürdig, da sie so gut wie nie das Bedürfnis verspürte, jemanden zu umarmen. Doch jetzt brauchte sie das. Einfach zur Bestätigung, dass ihre Rettung nicht nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie war. Ethan war ihr Anker, der sie im Hier und Jetzt hielt. So konnte sie verhindern in den Wahnsinn abzudriften.

Sie löste sich erst wieder von ihm, als es leise an der Tür klopfte und die anderen Vampire den Raum betraten. Während Ethan aufstand, umarmte Chris sie freudig und setzte sich zu Shana aufs Bett.

„Ich bin so froh, dass du wieder da bist. Geht es dir gut? Ich wäre ja selbst zu deiner Rettung gekommen, aber Jay meinte, dass ich hier auf dich warten sollte.“

„Mir geht es gut, bis auf ein paar Blessuren.“ Ihr Körper schmerzte immer noch merklich.

„Mach dir darum mal keine Sorgen. Ich habe ein paar Kräuter, die dich schnell wieder gesund machen. Bald ist nichts mehr auf deiner Haut zu sehen.“

„Danke.“

„Tu so was ja nie wieder! Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.“

„Ich werde mir Mühe geben.“

Auch Rowen und Jay bekundeten ihre Freude darüber, dass Shana wieder bei ihnen war. Hawk nickte ihr nur zu, was wahrscheinlich seine Art von Freude war. Sie nahm es ihm nicht übel, dass er sie nicht herzelte. Hunter jedoch brannte etwas ganz anderes auf der Seele. Ihn interessierte es nicht sonderlich, dass Shana wieder da war. Er sah sie ja noch nicht mal an! Dafür funkelte er Ethan wütend an, der an der Wand gelehnt stand.

„Raus mit der Sprache, Eth! Woher kanntest du diese Eve?“

Statt einer Antwort, erhielt Hunter nur Schweigen.

„Zwing mich nicht, die Frage zu wiederholen!“

Ethan sah ihn herablassend an, was bei Hunter eine Sicherung durchknallen ließ. Ehe Ethan sich versah, hatte Hunter ihm seine Faust ins Gesicht geschlagen. Die Wucht des Schlages ließ seinen Kopf gegen die Wand knallen und Shana war sich sicher, dass etwas Beton von der Wand bröckelte.

Ethan knurrte, seine Augenfarbe wechselte von braun zu gold und er verpasste Hunter einen gut platzierten Magenschwinger. Bevor dieser Streit in einer guten, alten Prügelei ausarten konnte, hielt Jay Hunter zurück und Rowen Ethan.

„Lass mich los!“, knurrte Hunter Jay bedrohlich an.

„Beruhigt euch bitte.“, versuchte Rowen zu schlichten.

„Ich soll mich beruhigen? Ich will verdammt noch mal wissen, woher er sie kannte! Du weißt mehr über Wächter, als du zugeben willst. Das kotzt mich an! Du bringst uns alle in Gefahr, wenn du Informationen zurück hälst!“

„Jeder von uns hat Geheimnisse.“, konterte Ethan schlicht.

„Aber unsere Geheimnis bringen niemanden um.“

Shana merkte, wie Chris ihre Hand drückte. Warum fühlte der kleine Vampir sich so unbehaglich?

„Niemand ist verletzt worden. Also reg dich ab, Hunter.“

„Ach? Und dass die Göre entführt wurde, ist nicht relevant?“

„Nein.“

„Du mieser, kleiner Dreckskerl!“ Hunter versuchte erneut, sich von Jay loszumachen.

Shana wusste nicht, was sie davon halten sollte. Normalerweise interessierte Hunter sich nicht für sie. Er trainierte sie, schnauzte sie an, wenn sie mal wieder etwas falsch machte und sonst ließ er sie links liegen. Warum setzte er sich nun so für sie ein? Manche Dinge konnte man einfach nicht nachvollziehen. Doch das war im Moment unwichtig. Shana musste irgendwas tun. Sie wollte nicht noch mehr Gewalt erleben. Davon hatte sie erstmal die Schnauze voll.

„Bitte.“, flüsterte sie in der wehleidigsten Stimme, die sie zustande brachte. „Ich fühle mich noch nicht… so gut. Gönnt mir doch… ein wenig Ruhe… bitte.“

Die ganze Szenerie erstarrte und alle sahen Shana an. Sie blickte rasch zu Boden und hoffte, dass sie hilflos und wehleidig genug aussah und keiner bemerkte, dass sie nur schauspielerte. Sie wusste nicht warum, aber sie wollte Ethan beschützen. Die anderen entspannten sich.

„Natürlich.“, sagte Rowen sanft. „Kommt! Lasst uns gehen. Shana hat schon genug durchgemacht.“

„Danke, Rowen-san.“ Sie hustete, um noch mehr Drama in ihr Spiel zu bringen. Die anderen gingen, nur Ethan blieb an Ort und Stelle. Rowen sah sich nach ihm um, doch als er bemerkte, dass Ethan nicht gehen wollte, beließ er es dabei und schloss die Tür.

Ein Blick in Ethans Augen und Shana wusste, dass er ihre Farce durchschaut hatte. Natürlich. Ethan war nicht so dumm gewesen. Da sein Blick schon wieder so aussah, als ob er ihr am liebsten den Hals umdrehen würde, stand sie hastig auf.

„Du… du hast recht.“, stammelte sie. „Ich stinke. Ich gehe mich waschen.“

Fast panisch klaubte sie ein paar saubere Sachen zusammen und verließ fluchtartig das Zimmer. Sie hatte Glück und begegnete niemanden, während sie fast schon ins Badezimmer rannte.

Verdammt! Warum musste sie Ethan auch beschützen? Er war alt genug und konnte auf sich selber aufpassen. Nur weil sie sich einmischen musste, war er jetzt sauer auf sie. Nicht, dass das nicht das erste Mal vorkam. Immerhin war hier von Ethan die Rede. Doch Shana wollte nicht, dass er sauer auf sie war. Er hatte ihr das Leben gerettet. Und das schon zum zweiten Mal. Sie wollte sich doch endlich mit ihm vertragen.

Da sie das Gespräch mit Ethan nicht zu lange aufschieben wollte, duschte sie schnell. Sie war froh, dass im Badezimmer keine Spiegel hangen. Sie selbst hätte wahrscheinlich laut geschrieen, hätte sie alle Wunden sehen können. Die sichtbaren Wunden an Armen, Beinen und Bauch reichten ihr schon. Es tat gut, saubere und frische Kleidung zu tragen. Ihre nassen Haare rubbelte sie etwas trocken und band sie dann zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Als sie wieder sein Zimmer betrat, beugte Ethan sich gerade über das Bett und zog ein neues Bettlaken auf. Diese Szene war so unrealistisch, dass Shana einen Moment wie erstarrt stehen blieb. Das war so normal. Sie hatte Ethan nie so betrachtet. Es war eher das Gegenteil von normal gewesen. Ethan bemerkte sie.

„Was?“, blaffte er.

Shana zuckte zusammen. „Nichts.“

Erst jetzt bemerkte sie ein Tablett auf dem Nachttisch. Eine Schale Suppe, eine Schale Reis und eine Tasse heißen Tee. Essen! Shana nahm das Tablett, setzte sich auf den einzigen Stuhl im Raum und verschlang die Mahlzeit. Natürlich war es nicht so köstlich wie das Essen von Kato – der Gedanke bereitete ihr Unbehagen – aber Essen war Essen und sie würde sich niemals darüber beschweren. Während sie die Speise verschlang, bezog Ethan weiter das Bett.

Als er fertig war, hatte auch sie aufgegessen und setzte sich mit der Tasse aufs Bett. Vorsichtig lehnte sie sich an die Wand und genoss den Tee. Ethan setzte sich neben sie, was komisch war, weil er sonst immer Abstand zu ihr wahrte. Gemeinsam saßen sie eine Weile still da, doch das konnte ja nicht ewig so weitergehen.

„Ethan?“, fragte sie vorsichtig.

„Was?“

„Das mit Eve-“

„Ich rede nicht darüber.“, fiel er ihr ins Wort.

„Ich weiß.“

Schweigen.

„Ich habe zwar keine Ahnung, was genau zwischen euch beiden vorgefallen ist, aber es hat mit Emily zu tun oder?“

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er sich anspannte.

„Es geht mich ja auch nichts an.“, fuhr sie hastig fort. „Na ja. Vielleicht schon, aber es ist deine Entscheidung. Eve sagte, dass jemand nicht will, dass ich als Emily erwache. Ich denke, damit warst du gemeint. Also… ich will nur sagen, dass ich froh bin, dass du das nicht willst.“

Sie spürte, wie er sie anstarrte, doch Shana riss sich zusammen und sah in ihre Tasse.

„Wenn es stimmt und ich verschwinde, wenn Emily erwacht, dann will ich es nicht.“ Shana seufzte. „Ich werde den anderen nicht sagen, was Eve mir alles erzählt hat. Es war ohnehin zusammenhanglos. Und ich werde auch dich nicht nach deinen Geheimnissen fragen. Ich möchte nur, dass du mich nicht anlügst, okay?“

Sie sah ihn an. Seine Augen funkelten golden.

„Wenn du mir nicht die Wahrheit sagen kannst, dann sag lieber gar nichts.“

Er runzelte leicht die Stirn, was komisch aussah, da sich seine Haut nicht in Falten zog. Diese Reaktion war verständlich. Shana wusste ja selbst nicht ganz, warum sie ihm dieses Versprechen abverlangte. Immerhin sollte es ihr egal sein ob er log oder nicht. Und er hatte sie bestimmt schon oft angelogen. Schließlich bedeuteten sie einander nichts.

Trotzdem war es ihr nicht egal. Langsam baute sie eine Beziehung zu ihm auf und sie wollte nicht, dass er das durch Lügen zerstörte. Sie hatte nur sehr wenige Freunde und diesen musste sie vertrauen können. Sie wollte Ethan vertrauen und tat es wahrscheinlich schon längst.

Zögernd hielt sie ihm ihre Hand hin. Es dauerte einen Moment, doch dann legte er seine Hand sanft in ihre und sie besiegelten das Versprechen.

„Danke.“, flüsterte Shana und lächelte. „Das bedeutet mir sehr viel.“
 

Es vergingen zwei Monate. Zwei Monate, die nervenaufreibend und stressig waren. Die Schule hatte schneller wieder angefangen, als Shana lieb war. Zum Glück bewirkten die Kräuter von Chris wahre Wunder und es war nichts mehr von dem Aufenthalt bei den Werwölfen zu sehen. Doch Chris konnte nur die äußeren Verletzungen heilen. Ihre Angst, dass sie erneut entführt werden konnte, blieb. Daher trug sie den Dolch der Wächterin immer bei sich, wie auch Pfefferspray. Sie schlief nur noch sehr wenig, da sie ständig schweißgebadet aus ihren Alpträumen aufwachte. Sie wollte sich von diesem Trauma nicht unterkriegen lassen, aber ihr Unterbewusstsein war da anderer Meinung. Shana sorgte sich auch um Mika. Ihre Krankheit hatte sich wohl noch verschlimmert und sie wurde in eine Spezialklinik überwiesen. Shana konnte sie zwar nicht besuchen, da Mika ansteckend und unter Quarantäne gestellt war, aber sie telefonierten regelmäßig. Mika sagte, dass sie sich furchtbar langweilte, weil sie mehr oder weniger von der Welt abgeschottet war, aber es war ja nur zu ihrem Besten. Die Ärzte konnten nicht so genau sagen, was ihr nun eigentlich fehlte, aber sie gaben nicht auf. Mika vermisste Shana und Sho, aber sie hatte strengstes Besuchsverbot. Selbst ihren Eltern war es untersagt, ihre Tochter zu sehen. Sie alle konnten nur hoffen, dass es ihr bald wieder besser ging.

Seit der Entführung, wurde Shanas Training noch intensiviert. Sie trainierte nicht nur mit Hunter, sondern auch mit Ethan und Rin. Alle drei waren abartige Sklaventreiber und schindeten sie, wo sie nur konnten. Doch das harte Training zahlte sich aus. Shana konnte schon recht gut mit dem Schwert umgehen und auch das Bogenschießen lag ihr. Da Letzteres Rin unterrichtete, verbesserte sich auch Shanas Beziehung zu ihr. Sie wurden richtig gute Freunde, was komisch war, da Shana eigentlich nicht der Typ war, der schnell Freunde fand. Doch es war auch alles ziemlich anstrengend, da sie tagsüber zur Schule ging und abends beziehungsweise nachts bei den Vampiren war. Entweder trainierte sie oder Rowen ging mit ihr die Wächterlegenden durch. Doch irgendwie hielt sie durch. Sie hatten den Feind kennen gelernt und wollten ihn unter allen Umständen vernichten. Leider kam dadurch auch Yue zu kurz. Sie telefonierten ab und zu und hatten sich nach dem geplatzten Date noch zwei Mal getroffen, aber irgendwie war die Luft raus. Yue war zwar nett und freundlich, aber Shana konnte bei ihm nicht sie selbst sein. Sie hing meistens ihren Gedanken nach und war abwesend. Doch das hinderte Yue nicht daran, Shana ihren ersten Kuss zu geben. Berauschend war es leider nicht. Es fühlte sich nicht richtig an. Sie hatte weder Herzklopfen, noch Schmetterlinge im Bauch. Sie fand sogar, dass die Küsse von Yue feucht waren. Ganz anders als die von Ethan. Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, schüttelte sie sich heftig. Wieso nur kam sie auf die Idee, dass Ethan anders küsste als Yue? Sie hatte Ethan doch noch nie geküsst. Die einzige Erklärung für diesen Gedanken war, dass sie sich besser mit dem mürrischen Vampir verstand. Es war zwar immer noch fies zu ihr, aber es hielt sich in einem vertretbaren Rahmen. Doch während sich ihre Beziehung zu Ethan verbesserte, verschlechterte sich seine zu den anderen. Sie nahmen ihm die Sache mit Eve immer noch übel. Hunter redete so gut wie gar nicht mehr mit ihm und auch Rowen schien etwas distanzierter. Doch Ethan tat, was er immer tat. Er ignorierte es einfach.
 

Es war bereits Dezember. Um genau zu sein kurz vor Weihnachten. In letzter Zeit hatte es ziemlich viel geschneit, was den Weg zur Schule nicht gerade lustiger machte. Durch das Fehlen von Mika, war Shana in der Schule noch abwesender und lustloser. Mika nervte zwar, aber manchmal war es ganz angenehm, wenn sie Shana ein wenig ablenken konnte. Ab und zu schnappte Shana ein Gespräch auf, aber es drehte sich nur um Dates an Weihnachten, also hörte sie schnell wieder weg. Denn das erinnerte sie daran, dass sie selbst ein Date mit Yue hatte. Nur konnte sie sich nicht richtig dafür erwärmen. Die anfängliche Verliebtheit war verschwunden und daher sah sie Yue eher als Freund, als einen Geliebten. Und das musste sie ihm irgendwie klarmachen, da sie ihn nicht weiter hinhalten wollte. Denn er hatte mehr Interesse an ihr, als sie an ihm. Doch sie fand es gemein, ihm eine Abfuhr an Weihnachten zu erteilen. Vielleicht sollte sie sich vorher mit ihm treffen und die Sache beenden.

Das war irgendwie verrückt. Sie würde nie einen Mann wie Yue finden, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen konnte. Und dann war da jemand und sie wollte ihn nicht. Wie blöd war sie eigentlich? Hatte sie noch alle Tassen im Schrank? Aber sie konnte ihm einfach keine Gefühle vorheucheln, die nicht da waren.
 

Es war Samstag. Samstag war immer ein guter Tag gewesen, da sie keinen Nachmittagsunterricht hatte. Und der abendliche Besuch bei den Vampiren würde auch ausfallen, weil sie einfach mal eine Pause brauchte. Hunter und Ethan hatten sich ziemlich über ihre Faulheit aufgeregt, aber Shana brauchte einfach Ruhe und blieb stur. Sie war eben nur ein Mensch. Da konnten die Herren sagen, was sie wollten.

Als sie von der Schule nach Hause kam, zog sie sich bequeme Kleidung an und schlief erstmal eine Runde. Schlaf, den sie dringend brauchte.

Es war ungefähr 18:00 Uhr, als sie nach unten zum Essen ging. Nur leider stand kein Essen auf dem Tisch. Sie suchte ihre Mutter und fand sie zurechtgemacht und wartend im Wohnzimmer.

„Mutter? Gibt es heute kein Abendessen?“

„Nein.“ Weil?

„Warum nicht?“

„Dein Vater und ich essen außer Haus. Und Ken ist bei Freunden und übernachtet dort.“

Das hieß, sie war alleine zu Hause. Früher hätte sie sich darüber gefreut. Aber früher war sie auch ein normales Mädchen gewesen und hatte nicht an die Existenz von Vampiren und Werwölfen geglaubt. Wie sich das Leben doch ändern konnte.

Ihr Vater betrat das Wohnzimmer. Ihre Eltern ermahnten sie noch, nichts anzustellen und weg waren sie. Shana wurde mulmig. Rasch machte sie überall im Haus das Licht an. Seit Neustem fühlte sie sich bei Dunkelheit nicht mehr ganz wohl. Nachdem sie sich eine Fertigmahlzeit warm gemacht hatte, verputzte sie diese vor dem Fernseher. Danach rief sie bei Mika an und sie quatschten eine Zeit lang.

Gerade, als sie sich entschied, Chris anzurufen, damit sie sie doch abholen konnte, fiel der Strom aus. Wahrscheinlich waren durch den anhaltenden Schneefall die Leitungen überlastet gewesen. Zum Glück hatte sie ihr Handy schon in der Hand gehabt. Anhand des Lichts das vom Handy ausging, suchte Shana in den Wohnzimmerschränken nach einer Taschenlampe. Als sie endlich eine gefunden hatte, machte sie sich auf den Weg in den Keller. Denn leider war dort der Stromkasten.

Du hast keine Angst. Du bist stark!

Wie ein Mantra redete sie sich das immer wieder ein, während sie die Treppen nach unten ging. Shana hasste den Keller. Er war dreckig und staubig. Als sie endlich den Boden des Kellers erreicht hatte, war ihr Gesicht schon voller Spinnenweben. Bäh!

Der Keller war nur ein kleiner quadratischer Raum. Links und rechts standen Kisten an der Wand. Gegenüber der Treppe waren der Stromkasten und ein kleines Weinregal. Sie ging zum Stromkasten und versuchte den Strom wieder in Gang zu bringen, doch diese Mühe war vergeblich. Die Leitungen waren tot.

Shana erstarrte.

Hatte sie da gerade etwas gehört? Langsam richtete sie den Strahl der Taschenlampe auf das Weinregal und blickte in die dunklen Augen einer Ratte. Sie hasste Ratten!

Shana schrie auf und taumelte rückwärts. Dabei fiel sie mehr oder weniger gegen die Kartons und riss sie zu Boden, so dass sie halb unter ihnen begraben wurde, da sie die ganze Zeit die Ratte im Auge behielt. Diese ließ sich durch den Krach nicht stören und putzte sich.

Verdammt! Am liebsten hätte sie fluchtartig den Keller verlassen, aber dieses Chaos konnte sie unmöglich hier liegen lassen. Ihre Eltern würden sie umbringen. So was konnte auch nur ihr passieren. Die Kartons hatten sich geöffnet und eine Vielzahl an Papieren lag auf dem Boden verstreut. Shana stellte die Taschenlampe so, dass sie ausreichend Licht hatte und fing an, die losen Zettel zusammen zu suchen.

Eigentlich wollte sie schnell fertig werden und wieder nach oben gehen, weil hier immer noch eine Ratte war, aber es interessierte sie, was ihre Eltern hier lagerten. Sehr interessant war es dann aber doch nicht gewesen. Das Meiste waren Rechnungen, Belege oder Versicherungsunterlagen.

Shana war schon fast fertig, als ihr ein amtliches Dokument in die Hände fiel. Adoptionsbescheinigung, stand da.

Hatte sie sich verlesen? Sie nahm die Taschenlampe und sah genauer hin. Nein, sie hatte sich nicht verlesen. Da stand, dass die Adoption amtlich war. Welche Adoption? Und als sie den Namen des adoptierten Kindes las, wünschte Shana sich, dass sie nicht auf ihre Pause bestanden hätte und gleich nach Sonnenuntergang zu den Vampiren gegangen wäre. Da stand in großen Buchstaben: SHANA

Ihre Hände fingen an, unkontrolliert zu zittern und brachten das Papier zum rascheln. Das war doch ein Scherz! Das konnte einfach nicht stimmen.

Doch als sie die Dokumente weiter durch las, merkte sie, dass es sich nicht um ein Versehen oder einen dummen Witz handelte. Shana war von der Familie Minabe adoptiert worden, als sie ein Jahr alt war. In der Zeile, wo die leiblichen Eltern hätten stehen sollen, stand anonym. Das war doch eine Lüge gewesen! Sie konnte nicht adoptiert worden sein. Wie krank war das? Schnell waren die Unordnung und die Ratte vergessen. Sie ging nach oben und wartete auf ihre ,Eltern’.
 

Fast drei Stunden stand sie im Wohnzimmer. Um die Batterien der Taschenlampe zu schonen, hatte sie Kerzen angezündet. Dann endlich betraten ihre so genannten Eltern das Wohnzimmer.

„Was hast du wieder angestellt, du kleiner Nichtsnutz?“, fragte ihre Mutter, die nicht ihre Mutter war und deutete auf die Kerzen.

Shana schwieg.

„Antworte deiner Mutter gefälligst!“

Ihre Eltern, nein, Sakura und Taro Minabe, sahen sie böse an. Shana holte tief Luft.

„Warum habt ihr mich all die Jahre angelogen?“

„Was redest du da für einen Unsinn?“

„Ich weiß von eurem Geheimnis.“

„Welches Geheimnis?“ Taro wurde wütend, aber auch leicht nervös, was Shana freute. Sie hielt ihm die Adoptionspapiere unter die Nase.

„Das Geheimnis!“

Er überflog kurz die Papiere und blickte Shana finster an. Den ersten Schlag sah sie nicht kommen und die Faust von Taro traf sie mitten ins Gesicht. Shana platzte fast der Schädel und sie fühlte, wie etwas Warmes über ihren Mund lief. Sie schmeckte Blut.

„Du Miststück!“, brüllte Taro und versetzte ihr einen weiteren Schlag ins Gesicht. Shana hätte ausweichen können – das hatte man ihr schließlich beigebracht – aber sie tat es nicht.

„Warum?“, flüsterte sie stattdessen. „Warum habt ihr mich belogen?“

Sakura lachte auf. „Denkst du, wir wollten dich?“

„Sei still, Sakura!“

„Nein, Taro. Ich bin es Leid. Ich habe Shana nie gewollt, doch du musstest sie ja hier anschleppen! Ich musste schweigen. All die Jahre durfte ich nichts sagen und musste diese Missgeburt als mein Kind ausgeben! Aber damit ist jetzt Schluss. Sie hat die Wahrheit selbst herausgefunden. Also sollte sie auch die ganze Geschichte wissen. Sie soll wissen, was für eine Bürde sie war. Das ist nur fair.“

Dass Sakura von Fairness sprach, war für Shana befremdlich. Doch sie glaubte zu wissen, dass Sakura nicht fair Shana gegenüber war, sondern eher sich selbst. Wenn sie wirklich so lange schweigen musste, war es bestimmt ein Segen, sich endlich mal alles von de Seele zu reden. Shana war das eigentlich egal, aus welchen Beweggründen sie es tat, es war ihr nur wichtig, dass sie es tat und Shana die Wahrheit erfuhr.

Taro sagte nichts dazu. Das nahm Sakura als Zustimmung und sprach weiter.

„Du willst die Wahrheit wirklich wissen? Du bist die Tochter von Taros ehemaligem Chef! Taro hatte neu in der Firma angefangen. Er war fleißiger und fähiger, als die meisten Mitarbeiter in der Firma. Doch man sagte ihm, dass diese Eigenschafen nicht viel bringen würden, um aufzusteigen. Dafür müsste er Opfer bringen. Wir hatten gerade erst geheiratet und Taro musste Geld aufbringen, um unser Haus zahlen zu können. Leider bemerkte sein Chef seine Bemühungen und schlug ihm einen Handel vor. Wenn Taro dich adoptieren würde, würde Taro nicht nur sofort in eine bessere Position aufsteigen, sondern sein Arbeitsplatz wäre auf Lebzeiten gesichert. Es gab nur eine einzige Bedingung. Niemand durfte von diesem Handel erfahren. Und Taro willigte ein.“

Sakura spuckte verächtlich aus und sah Taro wütend an. „Ein niedriges Gehalt wäre mir lieber gewesen, als diese Missgeburt.“

Shana war erstarrt. Sie war nichts weiter als ein Handel gewesen? Nichts weiter als ein Gegenstand, den man gegen etwas anderes eintauschte?

„Warum wollten meine leiblichen Eltern mich nicht?“, wisperte Shana. Sie hatte das Gefühl, gleich zusammen zu brechen.

„Weil du die Ausgeburt der Hölle warst.“, zischte Sakura. „Am Anfang warst du noch normal gewesen. Das einzig Ungewöhnliche waren deine Augen. Sie waren von einem so strahlenden blau, dass das schon unnatürlich war. Doch als du zehn Monate alt warst und anfingst zu laufen, zeigtest du deine wahre Natur. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich auch deine ungewöhnliche Stärke. Du nahmst die Hand deiner Mutter und hast ihr drei Finger gebrochen. Doch das war noch nicht alles. Du wolltest Tod und Schmerzen. Als das Kindermädchen dich badete, hast du sie an den Haaren gepackt und versucht, sie in dem Badewasser zu ertränken. Du hattest Messer in die Finger bekommen und deiner Mutter in die Beine gestochen und deinem Vater die Arme aufgeschlitzt. Auch wenn man die Messer versteckte und sie aus deiner Reichweite brachte, hast du sie trotzdem noch gefunden. Jedes Mal, wenn du so etwas getan hast, haben deine Augen wie beim Teufel rot geglüht. Daher wurdest du einem Exorzismus unterzogen. Du hast dabei nur gelacht und warst immer noch vom Teufel besessen. Deine Eltern wollten dich loswerden, daher setzten sie dich aus. Doch am nächsten Tag lagst du wieder in deinem Kinderbett. In ein Heim konnten sie dich nicht geben. Das hätte ein schlechtes Licht auf deine Familie geworfen. Außerdem hätte man schnell herausgefunden, was für Fähigkeiten du hattest und man hätte dich ihnen wieder zurückgegeben. Daher kamst du zu uns. Er hat dich weggeworfen, wie ein Stück Abfall.“

Sakura grinste hämisch. „Leider verstarben deine Eltern kurz nach diesem Handel. Das war auch der Grund, warum wir dich nicht weggaben. Uns hätte es auch so ergehen können.“

„Und nun…“, Taro knackte mit den Fingern. „… sollten wir uns für die 16 Jahre, die du uns beschert hast, bedanken.“

Shana spürte die Schläge nicht. Selbst, als sie am Boden lag und Taro ihre Rippen mit Fußtritten zertrümmerte, merkte sie nichts. Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Sie konnte sich einfach nicht mehr bewegen.

Erst, als die Minabes erschöpft waren und sie vor die Tür warfen, drang die Kälte und Nässe des Schnees durch ihre Glieder und sie fing an zu zittern. Shana kannte nur noch einen Gedanken. Sie musste weg!

Also stand sie mühselig auf und rannte los. Da ihre Hauspantoffeln auf dem Schnee nicht griffen, zog sie sie aus und rannte auf Socken durch die Straßen. Tränen verschleierten ihren Blick. Ihr Körper schmerzte wie die Hölle und es fiel ihr schwer zu atmen, aber Shana verbot sich, einfach stehen zu bleiben. Zum Glück war die Kälte so beißend, dass sie bald nichts mehr spürte.

Irgendwann jedoch rutschte sie aus und landete mit dem Gesicht voran im Schnee. Eine blutige Spur zeichnete sich auf dem weiß ab, als ihre Nase erneut anfing zu bluten. Shana hielt das einfach nicht mehr aus. Die Schmerzen, die wieder einsetzten, brachten sie fast an den Rand der Bewusstlosigkeit. So konnte sie es nicht enden lassen. Fast panisch tastete sie nach ihrem Handy. Es klingelte nur einmal.

„Was?!“, kam es barsch aus dem Hörer.

„Ethan.“, flüsterte Shana und schlurzte. „Hilf mir.“

Dann entglitt ihr das Handy und sie rollte sich zu einer Kugel zusammen und weinte hemmungslos.

So fand Ethan sie eine halbe Stunde später. Ihre Haut war schon blau und Shana zitterte unkontrolliert. Sie merkte, wie Ethan ihr seinen Mantel umlegte und sie vorsichtig auf seine Arme hob. Ethan hatte sie gefunden. Er fand sie immer.
 

In der Gruft scharrten sich alle um Shana und stellten Fragen. Doch Shana konnte einfach nichts sagen. Immer, wenn sie den Mund aufmachte, schlugen ihre Zähne so heftig aufeinander, dass sie sich in die Wangen biss.

„Wasch sie!“, sagte Ethan über die Fragen der anderen hinweg und übergab Shana an Chris.

Chris nickte und brachte Shana ins Bad. Während heißes Wasser in die Wanne lief, zog Chris sie vorsichtig aus. Als die Badewanne dann voll war, ließ Chris sie ins Wasser gleiten. Ihr ganzer Körper wurde von schmerzenden Nadelstichen gepiesackt und Shana schrie auf. Sie schlug um sich und wollte raus, aber Chris ließ sie nicht.

Als ihr Körper sich endlich an das Wasser gewöhnt hatte und langsam wieder etwas Farbe bekam, wurde Shana still.

„Was ist mit dir passiert?“, fragte Chris sanft und reinigte ihr Gesicht behutsam mit einem Waschlappen. Shana öffnete ihren Mund, aber nichts kam heraus.

„Es ist okay. Du musst keine Angst haben. Hier bist du in Sicherheit. Bei uns kann dir nichts passieren.“

Shana spürte die Ehrlichkeit dieser Worte und begann stockend zu erzählen, was ihr passiert war. Als sie geendet hatte, brach sie wieder in Tränen aus. Ungeachtet von dem Wasser beugte Chris sich vor und zog Shana in eine tröstende Umarmung.

„Alles wird gut. Du musst nie wieder zu diesen Menschen zurück. Wir sind deine Familie.“

Als Shanas Haut ganz rot und schrumpelig war, half Chris ihr aus der Wanne und trocknete sie ab. Dann legte sie ihr einen Stützverband um die Rippen und kümmerte sich um die anderen Verletzungen. Das waren wieder diese geheimen Kräuter, die Wunder bewirkten. Danach zog Chris ihr ein paar bequeme Sachen von Jay an, da Shana keine sauberen Sachen da hatte und brachte sie in das Zimmer von Ethan. Vorsichtig deckte sie Shana zu, als sie sie ins Bett gelegt hatte.

„Brauchst du irgendwas? Essen oder Trinken?“

Shana schüttelte den Kopf.

„Schlaf ein wenig. Das wird dir gut tun.“

„Danke, Chris.“

Das waren die letzten Worte, die Shana über die Lippen brachte. Von da an wurde sie zum Pflegefall.
 

Shana verbrachte eine Woche in einem lethargischen Zustand. Sie aß und trank nur wenig. Und wenn, dann musste man ihr es anreichen, da sie selbstständig nicht mehr dazu fähig war. Chris hatte den anderen erzählt, was vorgefallen war und das nahm der Clan zum Anlass, Shana zu besuchen und versuchen sie aufzuheitern.

Rowen erzählte ihr Geschichten aus seiner Vergangenheit und über die Wächterinnen. Er hatte jetzt fast alle Tagebücher übersetzt und war es nicht müde, Shana immer wieder daraus vorzulesen.

Chris und Jay brachten ihr immer zu Essen und Trinken und erzählten ihr, was so Neues passiert war. Zum Beispiel, dass Hunter und Rin sich mal wieder gestritten hatten oder dass Rowen mal wieder unter seinen Büchern begraben wurde, als er ein Buch aus dem Regal zog. Hunter kam auch und bluffte sie an, dass sie sich nicht so anstellten sollte. Er beklagte sich dass sie sich so hatte übel zurichten lassen und dass sie wohl nichts beim Training gelernt hatte. Wobei man sagen musste, dass Shana schon viel besser aussah. Ihre Rippen schmerzten noch ein wenig, aber sonst fühlte sie sich körperlich gesehen gut.

Selbst Rin kam einmal vorbei und erzählte ihr von den Vampiren und Werwölfen, die sie zur Strecke gebracht hatte und regte sich über Hunter auf.

Die anderen redeten mit ihr und versuchten sie zu trösten und aufzuheitern. Shana wusste das zu schätzen, aber ihre Worte waren nur ein leises Summen in ihrem Kopf. Sie sah nichts und sie hörte auch nichts. Sie hatte sich komplett von der Außenwelt abgeschottet.

Daher war ihr der Besuch von Hawk sehr willkommen. Er versuchte nichts dergleichen. Entweder saß er auf der Bettkante und hielt ihre Hand oder er legte sich neben sie und umarmte Shana. Diese Gesten brachten ihr zwar ein wenig Trost, konnten sie aber trotzdem nicht in die Realität zurückholen.

Der Einzige, der nicht kam, war Ethan. Seit er sie hierher gebracht hatte, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Er schlief noch nicht mal mehr in seinem Zimmer. Sie konnte sich nicht mal sicher sein, ob er überhaupt in der Gruft war. Doch sie konnte ihn verstehen. Shana war gebrochen und ein Niemand. Sie hatte keine Eltern mehr und ihr ganzes Leben war eine einzige Lüge gewesen. Sie verdiente es nicht, in dieser Welt zu leben. Wer war sie auch schon? Ein Monster! Eine Ausgeburt der Hölle! Sie hatte nichts mehr, womit sie sich identifizieren konnte. Ihr war nichts mehr geblieben, außer diesem Körper. Und selbst der diente nur dazu, irgendwann von Emily übernommen zu werden. Diese Erkenntnis hätte sie eigentlich zum weinen bringen sollen, doch ihre Tränen waren versiegt. Warum konnte nicht ein Vampir ihr sein Blut anbieten? Dann wäre Emily da und Shana wäre ein für alle mal verschwunden. Doch sie schaffte es nicht, den Mund aufzumachen. Dazu war sie nicht in der Lage.

Während Shana in einer abwesenden Starre vor sich hinvegetierte, hatten Chris und Jay ihre Sachen aus ihrem ehemaligen zu Hause geholt. Klamotten, Bücher, Fotos und andere persönliche Sachen. Doch nichts davon war noch von Wert für sie. Das war alles nutzloser Plunder.

Sie wusste die Mühe der Vampire zu schätzen, doch sie wollte, dass sie damit aufhörten. Es war vergeudete Liebesmüh sie wieder in die Realität zu holen.

Sie wollte nicht, dass sie das Zimmer von Ethan mit ihren Sachen schmückten.

Sie wollte nicht, dass man sie ernährte.

Sie wollte nicht, dass Chris mit ihr zur Toilette ging oder sie wusch.

Doch Shana konnte nicht sprechen. Sie wusste einfach nicht mehr, wie das ging.
 

Chris hatte sie geduscht und ihr frische Sachen angezogen. Shana roch wie eine Blumenwiese. So frisch und rein. Am liebsten hätte sie sich im Dreck gewälzt, bis sie zum Himmel stank. Doch dazu wäre sie niemals fähig gewesen. Ihr Körper funktionierte nur noch automatisch. Sie hatte keine Gewalt mehr über ihre Handlungen.

Chris brachte sie ins Zimmer zurück. Gerade, als der kleine Vampir sie ins Bett legen wollte, wurde sie von Jay gerufen und Chris entschuldigte sich kurz. Shana stand einfach mitten im Raum und starrte Löcher in die Luft. Sie war wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen. Eine schöne Wächterin war sie.

Die Tür öffnete sich wieder und Shana dachte, es wäre Chris, doch ein männlicher Vampir mit dunklem, wirrem Haar und goldenen Augen trat in ihr Blickfeld.

„Was denkst du eigentlich, was du hier tust?“

Shana antwortete nicht auf die Frage.

„Antworte gefälligst!“

Sie starrte ihn nur mit leerem Blick an.

„Verflucht! Rowen hatte mir ja schon erzählt, dass es dir beschissen geht, aber du bist ein Wrack!“

Ethan war außer sich vor Zorn und funkelte sie wütend an. Shana reagierte nicht darauf.

„Rede gefälligst mit mir! Ist dir klar, dass du die Wächterin bist? Ist dir das bewusst? Der Clan braucht dich! Er braucht eine Wächterin, die redet und selbstständig zur Toilette geht. Der Nichtsnutz, der du jetzt bist, ist nutzlos für uns.“

Dann werft mich doch weg, wie Abfall!, schrie Shana in ihren Gedanken.

„Du blöde Kuh! Am besten sollte man dich umbringen und sich eine neue Wächterin suchen.“

Endlich sprach jemand mal aus, was wirklich getan werden sollte. Auf Ethan war eben verlass. Keine tröstenden Worte, keine sanften Berührungen. Der Tod war das Einzige, was Shana wollte.

Dadurch, dass Ethan ihren Wunsch aussprach, hatte Shana genug Kraft um ihre Arme auszubreiten und die Augen zu schließen. Diese Geste musste Ethan einfach verstehen. Doch anstatt sie umzubringen, presste er ihren Körper an die kalte Betonwand. Verwirrt öffnete Shana die Augen und sah ihn an.

„Zur Hölle mit dir!“, knurrte Ethan und presste seine Lippen auf ihre. Doch Shana erwiderte den Kuss nicht. Sie war viel zu geschockt und immer noch in ihrer eigenen Welt gefangen. Doch Ethan ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Er küsste sie so lange, bis ihre Lippen rot und ganz geschwollen waren. Er sah sie wieder wütend an.

„Zeig gefälligst mal eine Regung! So macht das keinen Spaß. Da kann ich genauso gut einen Stein küssen. Wo ist dein hitziges Temperament geblieben? Wo ist dein Kampfgeist?“

Er beugte sich vor, um sie wieder zu küssen.

Jetzt reichte es aber! Dieses selbstgefällige Arschloch! Endlich spürte Shana ihren Körper wieder. Ihre Muskeln hatten wegen ihrer Bettlägerigkeit zwar etwas gelitten, aber die Wut, die sich heiß in ihrem Körper ausbreitete, gab ihr genug Kraft, um Ethan von sich zu stoßen.

„Was bildest du dir eigentlich ein?“, fauchte sie ihn an. Ihre Stimme klang ein wenig kratzig und schwach, weil sie sie so lange nicht mehr benutzt hatte, aber es reichte aus, um ihren Standpunkt klarzumachen.

„Sieh mal einer an. Du kannst ja doch sprechen.“ Ethan grinste, was Shana nur noch wütender machte.

„Idiot!“, keifte sie und boxte gegen seinen Arm. „Perversling! Lustmolch!“ Immer weiter boxte und schlug sie Ethan und warf ihm wüste Beschimpfungen an den Kopf. Er wehrte sich nicht und ließ es über sich ergehen, bis Shana keine Kraft mehr hatte und schwer atmend von ihm abließ. Ihre Schläge waren nur noch halbherzig und statt zu keifen, weinte sie. Der Damm war gebrochen.

Ethan legte die Arme um sie und drückte Shana wieder an die Wand. Er schwieg, während sie sich an seiner Brust ausweinte. Als sie nur noch leise schniefte, hob er ihren Kopf an und wischte ihr das Gesicht mit dem Ärmel trocken.

„Besser?“

Shana nickte.

Eine Zeit lang sahen sie sich einfach nur in die Augen. Seine waren nicht golden, sondern schimmerten in diesem sanften braun, das sie so selten zu Gesicht bekam. Dann beugte Ethan sich zu ihr herunter und küsste sie erneut. Shana entzog sich dem.

„Warum tust du das?“

„Gefällt es dir nicht?“

„Darum geht es nicht. Du hasst mich und findest mich hässlich, schon vergessen?“

Ethan grinste wieder. „Heute sehe ich einfach mal darüber hinweg.“

„Ethan!“, mahnte sie.

„Du bist verletzt. Die Menschen, die vorgaben deine Eltern zu sein, haben dich dein ganzes Leben lang belogen. Ich verstehe, dass dich das mitnimmt. Hey! Fang nicht wieder an zu heulen.“

Doch Shana konnte nicht anders. Statt wütend zu sein, küsste Ethan die salzige Flüssigkeit aus ihren Augenwinkeln.

„Ist ja gut. Bleib bitte trocken, bis ich zu Ende geredet habe, ja?“

Shana nickte schwach und riss sich zusammen. Sie wollte hören, was er zu sagen hatte. Seine Stimme war so sanft und er benahm sich nicht so abweisend wie sonst. Das allein war es schon wert, nicht mehr zu weinen.

„Wo war ich? Ach ja. Niemand verlangt von dir, dass du diese Sache einfach so abtust, als wäre nichts. Doch du kannst dich nicht einfach in deinem Schneckenhaus verkriechen. Du bist die Wächterin und trägst Verantwortung. Was würde passieren, wenn die Werwölfe uns jetzt zum alles entscheidenden Kampf herausfordern und du in deiner eigenen Welt gefangen bist? Du kannst nicht einfach tun, was du willst!“

„Ich kann nicht mehr. Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Ihr wärt ohne mich besser dran.“

Ethan knurrte. „Du kannst sehr wohl noch. Von deiner Entführung durch die Werwölfe hast du dich auch nicht unterkriegen lassen. Du hast gekämpft. Also tu es jetzt auch!“

„Nein. Die Entführung war nichts im Gegensatz zu dem hier. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich bin nutzlos. Alles, woran ich je geglaubt habe, ist wie eine Seifenblase zerplatzt. Ich bin ein Niemand.“

„Du bist dieselbe blöde Kuh, wie in der Nacht, als ich dich das erste Mal traf. Du bist noch genauso frech und unverschämt und lässt dich nicht unterkriegen.“

„Nichts dergleichen bin ich. Ich bin eine Illusion. Ich bin nicht wirklich.“

„Nein, das ist nicht wahr.“

„Ethan-“

Doch er erstickte ihre Proteste, indem er seinen Mund hart auf ihren presste. Warum nur musste er sie immerzu küssen? Bevor Shana sich wehren konnte, löste er sich schon wieder von ihr.

„Vertraust du mir?“, fragte er plötzlich und lenkte völlig vom Thema ab.

„Was?“ Shana war nun völlig verwirrt.

„Vertraust du mir?“, wiederholte er.

„Ja.“, sagte sie ohne zu zögern. Es war merkwürdig, weil sie immer dachte, dass Ethan der Letzte wäre, dem sie vertraute. Doch es war nicht so. Wenn sie länger darüber nachdachte, vertraute sie ihm schon immer. Er war zwar gemein und abweisend, aber er hatte ihr nie mutwillig wehgetan.

Er griff hinter sich und holte einen Dolch aus seinem Hosenbund. Schnell und präzise stach er ihr in den Zeigefinger.

„Aua!“, protestierte sie. Komisch. Sie konnte wieder körperlichen Schmerz fühlen. Das hätte sie nie für möglich gehalten.

„Leg deinen Schlüssel ab.“

„Was?“

„Warum, zur Hölle noch mal, musst du immer, aber auch wirklich immer, alles hinterfragen?“

Shana knurrte ihn an, griff aber trotzdem unter ihren Pullover und legte den Schlüssel ab. Das funktionierte nur, wenn ihr Blut in Kontakt mit dem Schlüssel kam.

„Und jetzt?“

„Leg ihn weg.“

Diesmal hinterfragte sie ihn nicht und ließ den Schlüssel auf den Boden fallen. Fragend sah sie ihn an.

„Du vertraust mir also?“

„Das habe ich doch gesagt.“

„Vertraust du auch darauf, dass ich dir helfe jemand zu sein?“, griff er das Thema wieder auf. „Lass mich dir helfen, all deine Qualen zu vergessen.“

„Das kannst du nicht.“

Ein diabolisches Grinsen huschte über sein Gesicht. „Ach nein? Vertrau doch einfach darauf, dass ich es kann.“

„Arroganter Mistkerl!“

„Vertrau mir.“, sagte er sanft und fuhr ihr durchs Haar.

„Okay.“

Er zog ihren Kopf an sich und küsste sie leidenschaftlich. Shana erwiderte nicht sofort. Sie wusste nicht so recht, was Küsse bringen sollten. Doch Ethan hatte gesagt, dass sie ihm vertrauen sollte. Und was hatte sie schon zu verlieren? Und um ehrlich zu sein, sie mochte das Gefühl, das sie spürte, als er sie so küsste. Also erwiderte sie seinen Kuss mit gleicher Intensität. Mehr Zustimmung brauchte Ethan nicht.
 

Shana wachte auf und fühlte sich zum ersten Mal gut. Keine Schmerzen, keine Seelenqualen. Einfach nur sie und eine wohlige Wärme in ihrem Inneren. Obwohl die Wärme durch einen kalten Luftzug, der ihre rechte Seite streifte, ein wenig gestört wurde. Sie suchte und fand dann auch schließlich die Bettdecke und zog an ihr, doch sie bewegte sich nicht. Shana zog etwas energischer, doch es tat sich immer noch nichts. Zumindest nichts bei der Bettdecke. Etwas bewegte sich an ihrer linken Seite. Shana erstarrte. Was war das?

Sie tastete nach der Nachttischlampe, als sie nach dem Öffnen ihrer Augen bemerkte, dass es stockdunkel war und knipste sie an. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatte.

Dann sah sie an sich herunter und konnte nur mit äußerster Willenskraft einen Schrei unterdrücken. Warum nur hatte sie das Licht angemacht?

Sie war nackt! Splitterfasernackt! Und damit nicht genug. Ethan lag neben ihr. Ebenfalls so nackt, wie Gott ihn schuf. Er hatte einen Arm um ihren Bauch gelegt und seinen Kopf an ihrer Schulter vergraben. Ein Bein hatte sich um ihres geschlungen und sein Geschlecht presste sich an ihre Hüfte. Und verdammt noch mal, er war nicht gerade klein ausgestattet.

Shanas Körper lief auf Hochtouren, als ihr einfiel, warum sie nackt mit Ethan im Bett lag. Sie hatte mit ihm geschlafen. Und das nicht nur einmal. Sie zählte kurz nach und wurde blass. Viermal und eines war besser als das andere gewesen.

War sie jetzt komplett wahnsinnig geworden? Hallo? Verstand? Wo zum Henker bist du gewesen?

Sie sah verstohlen auf seinen nackten Körper und erinnerte sich, wie Ethan sich auf beziehungsweise in ihr angefühlt hatte. Diese Gedanken brachten ihr Blut zum kochen. Auf einmal war ihr ziemlich heiß gewesen. Ethan schien die Veränderung ihrer Körpertemperatur bemerkt zu haben, denn er regte sich und veränderte seine Position. Nun lag sein Kopf auf ihrer Brust, genau da, wo ihr Herz so furchtbar schnell schlug.

„Gerate jetzt nicht in Panik.“, nuschelte er verschlafen.

Sie sollte nicht in Panik geraten? Wie, bitte schön, sollte sie das anstellen?

„Wir haben miteinander geschlafen.“

„Ja und?“

„Ja und? Wie kannst du das so einfach abtun?“

„Es war nur Sex.“

„Ja. Mit dir und mir.“

„Also deinen Schreien nach zu urteilen, hat es dir gefallen.“

„Ethan!“, quietschte sie.

„Was denn?“

„Du hast es schamlos ausgenutzt, dass ich schwach und verletzlich war.“

„Scheint wohl so.“

Er gab es auch noch zu? Shana wusste nicht, ob sie in Ohnmacht fallen oder ausrasten sollte. Ethan seufzte und drehte ihr sein Gesicht zu. Er sah zerzaust, verschlafen und unglaublich sexy aus. Mist!

„Hör zu! Ich habe nur getan, was nötig war, um dich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Es war nur Sex. Nichts weiter. Also mach keine Szene daraus. Wir empfinden nichts füreinander, schon vergessen?“

Das war zwar ein harter Schlag, aber er hatte Recht. Sie liebten sich nicht. Und dadurch, dass sie miteinander geschlafen hatten, konnte Shana vergessen, was ihr passiert war. Sie war wieder klar im Kopf und war wieder sie selbst gewesen.

„O… okay.“, stammelte sie.

„Dann wäre das ja geklärt. Schlaf noch ein bisschen. Du hast sehr viel Kraft mit Schreien und Heulen verbracht.“

„Ich habe geheult?“ Daran konnte sie sich nicht erinnern.

„Ja-ha.“, sagte er gedehnt. „Nach dem ersten Mal. Ich fand das schon sehr fies von dir, weil ich dachte, ich habe dir wehgetan. Aber nein, du hast nur im Selbstmitleid gebadet.“

Stimmt. Jetzt wo er es sagte. Die Nacht war durchzogen von Sex, Heulkrämpfen, Sex, Gesprächen und wieder Sex.

„Schlaf jetzt!“, befahl Ethan.

„Könntest du vielleicht von mir runter? Mir ist kalt und ich will mir was anziehen.“

Statt ihrer Bitte nachzukommen, grinste Ethan frech und legte sich auf sie drauf. Neckend biss er ihr ins Schlüsselbein, ohne ihre Haut zu verletzen.

„Ich kann dich auch auf andere Weise wärmen.“

„Ethan!“ Shana lief feuerrot an und war sich seiner Erektion zwischen ihren Beinen sehr wohl bewusst.

„Was? An deinem Körper gibt es nichts, was ich nicht schon gesehen hätte.“

„Perversling!“

Sie wollte nach ihm schlagen, doch er fing ihre Faust locker ab und lachte. Sie hatte Ethan noch nie lachen hören. Zumindest nicht aus Fröhlichkeit. Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie.

„Du hast vergessen, dass ich ein attraktiver Perversling bin.“, nuschelte er an ihren Lippen.
 

Als Shana das nächste Mal erwachte, war sie allein. Gott sei dank. Sie konnte einfach nicht fassen, dass sie es schon wieder getan hatte. Ihr Verstand machte anscheinend Urlaub auf einer Südseeinsel.

Sie stand auf und zog sich an. Ihr Magen knurrte laut. Essen war definitiv eine gute Idee gewesen. Da sie endlich wieder zurechnungsfähig war, kam auch ihr Appetit wieder. Also machte sie sich auf den Weg in die Küche. Inzwischen kannte sie sich in der Gruft so gut aus, dass sie sich auch in dieser vollkommenen Dunkelheit bewegen konnte. Doch vor der Küchentür blieb sie stehen, weil laute Stimmen sie davon abhielten. Die Tür war nur angelehnt, daher konnte sie jedes Wort hören. Für sie hörte es sich wie ein Streit an.

„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“ Das war Chris.

„Das geht dich nichts an.“ Eindeutig Ethan. Diese Stimme würde sie überall wieder erkennen.

„Antworte mir gefälligst, Ethan!“

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“

„Du hast mit Shana geschlafen!“, klagte sie ihn an.

„Bitte was hast du getan?“ Das war Rowen, der ziemlich entsetzt klang. Verflucht! Woher wusste Chris das nun wieder?

„Das ist eine Sache zwischen ihr und mir. Das geht dich nichts an, Chris. Also halt dich da raus.“

„Weiß sie es?“

„Weiß sie was?“

„Kennt sie deine Vergangenheit?“

Eine Pause entstand. „Nein.“

„Du kannst nicht einfach mit ihr schlafen und ihr dein früheres Leben vorenthalten.“

„Das würde die Sache nur komplizierter machen.“

„Du hast sie nur benutzt!“

„Ich habe ihr geholfen, wieder sie selbst zu sein. Das ist etwas, was ihr nicht geschafft habt.“

„Wir hätten es schon irgendwann geschafft. Warum bist du abgehauen?“

„Hatte was Wichtiges zu tun.“

„Du widerst mich an!“, schrie Chris ihn an und irgendwas ging zu Bruch.

„Könnte mir freundlicherweise jemand erklären, was hier eigentlich los ist? Und könntest du bitte aufhören mit Geschirr zu werfen, Chris?“

„Ja, Ethan. Erkläre Rowen, was hier los ist!“

„Halt die Klappe!“

„Das tue ich erst, wenn du mit Shana reinen Tisch gemacht hast. Wirst du es ihr erzählen?“

„Nein.“

„Das ist nicht dein Ernst!“

„Wenn ich es ihr erzähle, wird es sie wieder in ein schwarzes Loch werfen. Willst du das? Wenn das passiert, wird sie niemand mehr in die Realität zurückholen können.“

„Sie ist stark. Sie wird es überleben. Shana muss die Wahrheit erfahren.“

„Gar nichts muss sie.“

„Wenn du es nicht tust, werde ich es tun.“

„Wage es ja nicht!“, drohte Ethan.

„Du machst mir keine Angst. Shana muss es wissen.“

„Du hast mir dein Wort gegeben. Ist es nichts mehr wert?“

„Angesichts dieser Entwicklung, nehme ich mein Versprechen zurück.“

„Ich töte dich, Chris. Ich habe dir dieses Leben gegeben und kann es dir genauso leicht auch wieder wegnehmen.“

„Versuch es doch!“

„Was ist hier los? Wovon redet ihr? Klärt mich endlich auf!“ Rowen geriet langsam in Rage, da er die ganze Zeit ignoriert wurde. Wieder entstand ein kurzes Schweigen.

„Ethan und Emily… das ist-“ Mitten im Satz stoppte Chris plötzlich. Schritte waren aus der Küche zu hören, die immer näher kamen. Chris öffnete die Tür.

„Wie lange stehst du schon hier?“

Shana konnte den kleinen Vampir nur anstarren. Sonst war Chris ein sonniges Gemüt, doch jetzt sah man ihr ihren Zorn an.

Shana sah an ihr vorbei und blickte zu Ethan. „Ethan?“, fragte sie vorsichtig und verwirrt. Irgendwas war hier im Gange. Der angesprochene Vampir sagte nichts und wandte sich ab.

Shana wurde übel. Sie drehte sich um und rannte aus der Gruft. Dass Chris ihr noch hinterher schrie, nahm Shana gar nicht richtig wahr. Sie wollte einfach nur weg.

Da die Sonne noch zu sehen war, konnte Shana sich sicher sein, dass kein Vampir ihr folgen würde. Sie rannte zu dem kleinen Park, der an den Friedhof grenzte. In der Mitte dieser Grünanlage war ein See. Shana ging auf den Steg, der etwas in den See hineinreichte. Sie war vorsichtig, da dass Holz von dem Wasser und dem Schnee glatt war.

Sie schlang ihre Arme um ihren Körper und sah, wie die Sonne langsam unterging. Sie zitterte, aber das ignorierte sie.

Ethan hatte sie benutzt und angelogen. Er hatte nicht mit ihr geschlafen, um sie zu retten. Er wollte irgendwas anderes damit bezwecken. Soviel war ihr jetzt auch klar. Nur was war es? Spaß an der Freude? Oder wollte er sie einfach nur demütigen? Chris wusste irgendwas. Irgendwas, was mit Ethan und Emily zu tun hatte. Also hatte es auch zwangsläufig etwas mit ihr zu tun. Nur was?

Kaum, dass die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, hörte sie das leise Knacken von Schuhen, die den Schnee zertraten.

„Geh weg!“

Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer das war.

„Hier.“

Ethan hielt Shana ihren Mantel hin. Widerwillig nahm sie ihn und zog ihn an. Aufmüpfigkeit hätte sie jetzt auch nicht weiter gebracht. Es war kalt und sie wollte nicht schon wieder erfrieren.

„Danke. Und jetzt hau ab!“

„Du hättest das Gespräch nicht hören sollen. Hat man dir nicht beigebracht, dass man nicht lauschen soll?“

„Anscheinend nicht.“

„Dumm für mich.“

„Was willst du noch von mir? Du hast bekommen, was du wolltest. Du hast mich ausgenutzt. Willst du noch auf mir rumtrampeln? Ich liege schon am Boden, also hast du, was du wolltest.“

„Du verstehst das nicht.“

„Nein!“, fauchte sie. „Tue ich nicht. Aber ist das nicht auch egal?!“

„Nein.“ Ethan seufzte und strich sich das Haar zurück. „Chris hat Recht. Ich habe einen Fehler gemacht.“

„Oho. Der große Ethan gibt zu, einen Fehler gemacht zu haben?“

„Spar dir das.“

„Geh einfach. Ich ertrage dich nicht mehr.“

„Also gut.“ Ethan verschränkte die Arme vor der Brust und stellte sich vor Shana.

„Gehen heißt laufen, nicht vor mir stehen bleiben. Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff.“ Am liebsten hätte sie ihn ins Wasser geschubst, so sauer war sie.

„Es ist an der Zeit, dir zu erzählen, wer Emily war. Du musst wissen, wer ich war und in welcher Beziehung ich zu ihr stand.“

„Das will ich nicht hören!“

„Ich habe dir versprochen, dass ich dich nicht anlügen werde. Und wenn ich die Wahrheit nicht sagen kann, sollte ich nichts sagen. Erinnerst du dich?“

Shana nickte widerstrebend.

„Doch diese Sache hier kann ich nicht totschweigen. Ich würde gerne, aber wenn ich es dir nicht sage, tut es Chris und das darf nicht passieren. Wenn sie es tut, wirst du mich richtig hassen. Deswegen ist es besser, wenn ich es dir erzähle. Ich soll dich nicht anlügen, deswegen werde ich dir die Wahrheit sagen. Es ist mir egal ob du es hören willst oder nicht! Also halt einfach die Klappe und hör zu!“

Shana öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder. Insgeheim brannte sie darauf, dass Rätsel um Ethan endlich zu lösen. Ethan wertete ihr Schweigen als Zustimmung und begann, seine Geschichte zu erzählen.
 

And that’s all?
 

Ähm... Wer mich umbringen will, kann dies gerne tun. Ich stehe zu jeglicher Art von Folter bereit. Ich weiß nicht, was ich hier noch groß sagen soll... vielleicht, dass ich mich tierisch auf Kommentare freue? Ja, ich denke das tue ich *smile* Das nächste Kapitel kommt dann Ende November. Und wie immer vielen lieben Dank für die ganzen Kommentare. Wünsche euch noch eine schöne Woche.

Bis denn dann
 

BabyG

Clair de lune

Leben geben, Leben nehmen. Nur Gott sollte dazu in der Lage sein. Genauso wie Leid zu verursachen und Freude zu schenken. Niemand sollte höher stehen, als Gott.

Shana wusste nichts über Ethan. Und als sie seine Geschichte gehört hatte, wünschte sie sich, dass man sie weiter im Unklaren gelassen hätte.
 

1816/ England/ Dover
 

„Ethan“, donnerte eine herrische Frauenstimme durch die kleine Kammer. Träge blinzelte der Angesprochene gegen die aufgehende Sonne, die durch das kleine Fenster schien. Als die morgendliche Benommenheit verschwunden war, erkannte er eine rundliche Frau, Mitte der 40-iger. Sie hatte haselnussbraunes Haar, welches schon mit ein paar grauen Strähnen durchzogen war und helle, braune Augen, die ihn zu durchbohren schienen.

„Steh endlich auf, du Faulpelz!“

Sie riss ihm das Laken, welches ihm als Bettdecke diente, vom Körper. Als er immer noch nicht reagierte, verpasste sie ihm eine Kopfnuss.

„Aua!“, wehklagte Ethan und rieb sich den Kopf. „Das tut weh, Mutter.“

Die Augen seiner Mutter wurden merklich dunkler. „Steh auf! Cain ist schon längst zum Hafen unterwegs um zu arbeiten. Und du liegst immer noch faul im Bett. Du solltest wirklich eine Tracht Prügel bekommen!“, schimpfte sie.

Ethan richtete sich auf. „Verzeih mir, Mutter.“

„Entschuldigungen melken die Kühe nicht und misten auch nicht den Stall! Du bekommst kein Frühstück, ehe du deine Aufgaben nicht erfüllt hast.“

Damit rauschte seine Mutter aus seiner Kammer.

Ethan stand vom Bett auf, gähnte und streckte sich. Seine Mutter meinte es nicht böse. Das war ihr morgendliches Ritual gewesen. Sie liebte ihn und seinen Bruder Cain sehr. Nur Ethan brauchte immer eine strenge Hand, um in die Gänge zu kommen. Er schnappte sich Hose und Hemd und ging durch das Wohn- und Esszimmer nach draußen. Eine leichte Brise wehte über die Getreide- und Kartoffelfelder. Doch sie brachte nicht genug Kühlung, um die drückende Hitze zu vertreiben.

Ethan ging zum Brunnen und schöpfte Wasser, welches er dann in einen Bottich kippte. Nachdem er sich ausgezogen hatte, wusch er sich rasch mit dem Brunnenwasser und zog sich an.

Er hielt einen Moment inne und betrachtete die aufgehende Sonne. Er mochte es, ihr beim Auf- und Untergehen zuzusehen. Es hatte irgendwie etwas Tröstliches. Die Sonne gab einem Kraft und wärmte und erhellte die Erde.

„ETHAN!“, brüllte seine Mutter von drinnen, als sie ihn wieder trödeln sah. Erschreckt zuckte er zusammen, wandte hastig den Blick von der Sonne ab und machte sich an die Arbeit.

Nachdem er die Kühe gemolken hatte, wobei sie ständig nach ihm traten und die Hühner um ihre Eier erleichtert hatte, wobei sie mit den Schnäbeln nach ihm hakten, ging er wieder nach drinnen und überreichte seiner Mutter Milch und Eier. Sie hatte inzwischen Brot, Wasser und etwas Käse aus dem Tisch für ihn bereit gestellt.

Ethan seufzte leise und setzte sich. Immer gab es nur Brot, Wasser, Käse, Eier und Kartoffelsuppe. Fleisch gönnten sie sich nur, wenn eine Kuh von ihnen geschlachtet wurde. Und selbst dann aßen sie nur die schlechten, unverkäuflichen Stücke. Mehr konnten sie sich nicht leisten. Sie waren sehr arme Bauern gewesen und konnten nur von dem leben, was sie sich selbst erwirtschafteten. Das, was sie neben dem Selbstverzehr verkauften, brachte auch nur wenig ein. Von dem Geld konnten sie gerade mal die Pacht für ihr Land bezahlen.

Doch die Familie Orwell brauchte wirklich dringend Geld. Ihre Mutter war krank. Mit jedem vergangen Tag konnte Ethan sehen, wie ihr die einfachsten Bewegungen immer schwerer fielen. Ihr Rücken schmerzte und ihre linke Hand wurde zunehmend steifer. Bald schon würde diese Hand nutzlos für sie werden. Sie hatte Husten, der sie schon seit einigen Wochen plagte. Doch nie reichte das Geld, um einen Arzt aufsuchen zu können.

Nachdem Ethan gefrühstückt hatte, trieb er das Vieh auf das Feld und mistete den Stall aus. Danach fing er an, den Acker umzugraben.

Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, beendete er seine Arbeit auf dem Feld und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Luft drückte und das Atmen fiel ihm schwer. Er ging ins Haus und sah seiner Mutter einige Sekunden dabei zu, wie sie in der Küche den Brotteig knetete. Immer wieder Brot!

„Ich gehe dann jetzt, Mutter.“

Sie sah nicht mal von ihrem Teigfladen auf, als sie antwortete: „Benimm dich und streng dich an. Bereite Cain keine Schande.“

„Natürlich nicht.“

Ethan ging zu ihr und drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.

„Überanstrenge dich nicht.“, sagte er grinsend.

Seine Mutter verstand, dass er auf ihr Alter anspielte und fuchtelte wild mit ihren bemehlten Händen durch die Luft.

„Raus aus meinem Haus!“

Ethan lachte und ging nach draußen. Er liebte seine Mutter wirklich. Er holte ein Pferd aus dem Stall, saß nach anfänglichen Schwierigkeiten auf und machte sich auf den Weg.

Dover lag ungefähr eine halbe Stunde mit dem Pferd von seinem zu Hause entfernt und war somit gut erreichbar. Die Hafenstadt war recht beliebt und belebt. Verständlich, da Schiffe aus China oder Russland anlegten und exotische Waren mit sich brachten. Doch durch die Überbevölkerung war Dover auch verdreckt und hier und da lagen Abfälle oder tote Tiere auf den Straßen. Niemand kümmerte sich um den Unrat, der in der schwülen Hitze dünstete. Warum auch? Jeder war sich selbst der Nächste.

Ethan schauderte, wie immer, wenn er durch die Straßen ritt. Es roch regelrecht nach Tod. Er mochte den Tod nicht. Er war endgültig und er hatte etwas Unreines an sich. In der Kirche erzählte man, dass der Tod natürlich war und Gott seine geliebten Kinder zu sich holte, doch Ethan sah den Tod als Werk des Teufels an. Er wusste, dass auch er irgendwann sterben musste, doch er hoffte, dass er es aufgrund hohen Alters und nach einem erfüllten Leben tat und nicht an einer Krankheit starb.

Sein Vater verstarb vor neun Jahren, Ethan war gerade mal elf, an einer Krankheit. Sie hatten natürlich kein Geld für einen Arzt gehabt und so musste er hilflos mit ansehen, wie sein Vater schwächer und schwächer wurde. Es fing mit einer leichten Erkältung an. Dann wurde sein Husten schlimmer und hohes Fieber kam hinzu. Und eines Morgens wachte er nicht mehr auf. Ethan hatte seinen Vater sehr geliebt und sein Verlust schmerzte noch immer. Nie würde er die Worte vergessen, die sein Vater sagte, bevor er einen Tag später starb.

„Ethan! Ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn. Höre auf das, was deine Mutter und Cain dir sagen und gebe gut auf sie Acht. Sei immer artig, rechtschaffend und reinen Herzens. Ich liebe dich, mein Sohn.“

Sein Herz krampfte sich zusammen, als er an seinen Vater dachte. Sein alter Herr hatte ihn so vieles gelehrt und so vieles gegeben. Es war ungerecht, dass er sterben musste. Er hoffte, dass er seine Familie vom Himmel aus bewachte und stolz auf sie alle war.

Sein Blick schweifte über die Stände mit Lebensmitteln, Kleidung, Vieh und Trödel, an denen er vorbei ritt. Die Ernte in diesem Jahr fiel schlecht aus. Die Bauern hatten nicht genug Ware, die sie zum Verkauf anbieten konnten. Auch seine Familie hatte sehr damit zu kämpfen. Durch den schlechten Ertrag mussten sich viele bei ihren Lehnsherren hoch verschulden. Doch einige konnten diese Schuld nicht zurückzahlen und mussten ins Gefängnis. Um diesem Schicksal zu entgehen, verschrieben sich viele der Schafszucht. Dies taten sie, weil die Textilindustrie den Markt beherrschte. Viele verkauften ihre Kinder an diese, um an Geld zu kommen. Meist schufteten Frauen und Kinder 14 bis 16 Stunden täglich in den Fabriken. Kinderarbeit war nicht verboten, so dass die Industrie gute Geschäfte machte.

Ethan hatte Glück, dass seine Mutter ihre Kinder liebte. Zwar schimpfte sie ständig mit ihnen, würde aber nie auf die Idee kommen, sie zu verkaufen.

Das Pferd verfiel in eine langsame Gangart, bis Ethan an den Zügeln zog und den Hengst zum Stehen brachte. Umständlich stieg er ab und machte das Pferd an einem Holzbalken fest. Normalerweise würde er sein Pferd niemals unbeobachtet irgendwo stehen lassen, doch der Pub am Hafen, vor dem er stand, war relativ sicher vor Diebstehlen. Das lag daran, dass ein alter Mann draußen vor dem Pub saß und auf die Pferde aufpasste. Dafür, dass er das machte, bekam er von dem Besitzern des Pubs freies Essen und Getränke. Ethan nickte dem Alten zu, was er in gleicher Manier erwiderte. Dann bewegte er sich auf den Hafen zu, der mit Menschen überfüllt war. Reiche Leute, die eine Fahrt nach Übersee machten, arme Leute, die um Geld und Nahrung bettelten, Diebe, die sich ihr Geld auf andere Weise verdienten, Arbeiter, die ihr Geld auf den Schiffen verdienten und Ausländer, die von Übersee kamen, waren zu sehen. Am Hafen fand man wirklich alle Gesellschaftsschichten.

Ethan suchte die anliegenden Schiffe ab, bis er vor der `Viktoria II’ stehen blieb. Er hatte Cain schon vom Weiten gesehen und betrat das Schiff über den Steg.

„Hey, Eth!“, begrüßte Cain ihn und stellte eine Kiste ab. Er hatte die gleiche Haarfarbe wie seine Mutter, nur, dass seine kurz geschnitten waren. Seine Augen sahen aus wie flüssiger Karamell. Ethan kam mit seinen schwarzen Haaren und den dunkelbrauen Augen nach seinem Vater.

„Hallo, Bruder.“, sagte Ethan und betrachtete seinen älteren Bruder, wie er sich streckte. Cain war groß, schlank und muskulös. Cain zerwuschelte ihm das Haar und versetzte ihm einen Boxhieb gegen den Oberarm.

„Du bist spät. Du hast bestimmt wieder vor dich hingeträumt.“ Cain lachte. „Mach dich nützlich und hilf beim Aufladen.“

Cain ärgerte ihn ständig. Er boxte oder trat ihn oder sagte, dass Ethan ein Träumer oder ein Weichei wäre. Doch Ethan wusste, dass Cain anders war. Im Grunde waren es nur geschwisterliche Kabbeleien und deswegen nahm er ihm das nicht übel. Cain musste autoritär sein, weil er das älteste, männliche Mitglied der Familie war. Er war nur ab und zu etwas kindisch. Ethan war neidisch auf ihn. Ihre Mutter liebte sie zwar beide, aber Cain noch ein klein wenig mehr. Er bekam das bessere Essen und auch größere Portionen. Er bekam neue Kleider, während Ethan immer die abgetragenen Sachen von ihm anziehen musste. Während Ethan den ganzen Vormittag auf dem Feld arbeitete, verbrachte Cain den ganzen Tag am Hafen und be- und entlud die Schiffe. Von dem Geld, was er verdiente und das sie nicht an den Lehnsherren abtreten mussten, kauften sie Medizin für ihre Mutter und ab und zu ein gutes Stück Fleisch oder neue Kleidung. Es war zwar nicht viel, aber immerhin. Damit es etwas mehr Geld wurde, half Ethan ebenfalls auf dem Schiff.

Doch er tat sich mit dieser Arbeit immer schwer. Ethan war von der Statur her eher schmächtig und besaß kaum Kraft und Muskeln. Trotzdem strengte er sich an, so gut es eben ging.

Ethan verließ das Schiff und half es zu beladen.
 

Nach getaner Arbeit – die Sonne würde bald untergehen - gingen Cain und Ethan zum Pub, wo ihre Pferde standen. Sie ritten aber nicht nach Hause, sondern betraten die Hafenkneipe. Dicke Rauchschwaden hingen in der Luft. An den Tischen saßen die Seemänner und Arbeiter und spielten Karten, unterhielten sich, tranken und aßen. Der Pub war durch das Kerzenlicht nur spärlich beleuchtet, doch dadurch gewann es an Charakter. Ethans Augen brannten und juckten und das Atmen machte ihm zu schaffen. Cain und Ethan setzten sich an den Tresen. Eine Frau tauchte vor ihnen auf. Sie hatte braunes Haar, grüne Augen, ein herzförmiges Gesicht und eine rundliche Statur. Ihre Hemdsärmel waren hochgekrempelt und ihr üppiger Busen platzte fast aus dem Kleid. Sie war 30 Jahre alt und leitete zusammen mit ihrem Mann den Pub.

„Na, wenn das nicht die Orwell-Brüder sind.“, sagte sie mit rauchiger Stimme.

„Hallo, Kate.“, begrüßte Ethan sie freundlich. Er mochte Kate, was man von Cain nicht gerade behaupten konnte.

„Als Frau hast du nichts in einem Pub zu suchen.“, knurrte er.

Kate grinste. „Und eigentlich sollte ich so einen Halbstarken wie dich rauswerfen.“

„Versuch es doch!“

„Ähm… Kate? Dürfen wir etwas zu Essen bestellen?“

Für diese Höflichkeit haute Cain Ethan ein runter, wofür Cain von Kate eine Ohrfeige kassierte.

„Hör auf, deinen Bruder zu schlagen!“, schimpfte sie.

„Hör auf, mich zu schlagen!“, knurrte Cain.

Kate kicherte und stellte ihnen je einen Teller Gemüsesuppe vor die Nase.

„Schon wieder diese Suppe.“, stöhnte Cain. „Kannst du eigentlich auch etwas anderes kochen?“

„Kann schon, ich will es aber nicht. Iss oder ich ziehe dir die Ohren lang!“

„Versuch es doch.“

„Danke für die Suppe, Kate. Sie sieht köstlich aus.“, versuchte Ethan die Situation zu retten.

„Siehst du, Cain? Ethan ist höflich. Du solltest dir mal eine Scheibe von ihm abschneiden.“

Cain stieß einen unflätigen Fluch aus und löffelte seine Suppe. Ethan lächelte entschuldigend in Kates Richtung und begann ebenfalls zu essen.

Während sie ihre Suppe verzehrten, wusch Kate Gläser ab und bediente andere Gäste. Eigentlich mochten Kate und Cain sich. Kate hatte damals in der Nähe von ihnen gewohnt. Doch dann verliebte sie sich in Earl, ihren jetzigen Ehemann und sie zogen nach der Hochzeit in die Stadt. Earl war zwar rund zehn Jahre älter als Cain, aber sie verstanden sich gut. Earl half der Familie Orwell, als ihr Vater starb. Cain nahm es Kate übel, dass sie ihm ihren Freund genommen hatte. Und das ließ er sie durch die täglichen Sticheleien immer wieder spüren.

Doch Kate war nicht nachtragend und im Grunde machte ihr der Zank auch Spaß.

Nachdem sie aufgegessen hatten, stellte sie jedem ein Ale vor die Nase.

„Wo ist eigentlich Earl?“, fragte Ethan beiläufig. Kate seufzte.

„Er liegt oben. Er hat sich heute Morgen den Fuß verletzt, als das Pferd ihn abgeworfen hat.“

„Was?“, brauste Cain auf. „Warum sagst du das erst jetzt?“

„Du hast nicht gefragt.“

„Duuu!“, drohte er und zeigte mit dem Finger auf sie.

„Mäßige dich, Cain Orwell! Ich bin eine Dame, daher behandele mich mit Respekt!“

Cain schnaubte nur verächtlich und versteckte sich hinter seinem Glas.

Als sie ausgetrunken hatten, standen sie auf und wollten gehen.

„Ethan? Macht es dir etwas aus, noch kurz zu bleiben? Ich muss etwas mit dir besprechen.“ Kate sah Cain scharf an. „Unter vier Augen.“

Cain zuckte nur mit den Schultern. „Lass dich nicht von ihr fressen, Eth. Wir sehen uns dann zu Hause.“ Mit diesen Worten war Cain verschwunden.

Ethan setzte sich wieder und Kate zapfte ein weiteres Bier für ihn.

„Kate. Wir hatten doch eine Abmachung. Cain und ich bekommen eine Mahlzeit und ein Ale umsonst. Dafür laden wir eure Ware von den Schiffen, ohne Geld dafür zu nehmen. Ich kann mir das nicht leisten.“

„Mache dir darüber bitte keine Sorgen. Das geht auf mich.“

„Das kann ich doch nicht annehmen.“

„Du kannst und du wirst!“, herrschte sie ihn an und Ethan musste sich wohl oder übel seinem Schicksal fügen. Kate widersprach man nicht.

„Worüber wolltest du mit mir sprechen?“, fragte er und nippte an seinem Ale. Er hörte sie leise seufzen.

„Hast du von dem Ball gehört, der morgen Abend stattfinden soll?“

„Du meinst bei Lord Fudge? Ich habe gehört, wie die Arbeiter darüber gesprochen haben.“

Kate nickte. „Genau den. Earl wurde zu diesem Ball geladen, doch der verletzte Fuß wird ihm hinderlich beim Tanzen sein. Daher möchte ich dich bitten, mich an seiner Stelle zu begleiten.“ Ethan verschluckte sich fast an seinem Bier.

„Wie bitte?“

„Ich kann sonst niemanden darum bitten. Und du kannst dir sicher denken, dass man schlecht über mich reden wird, wenn ich dort ohne Begleitung erscheine.“

„Aber warum fragst du mich und nicht Cain?“

Ihr Blick war Antwort genug.

„Aber ich kann doch gar nicht tanzen.“

„Das ist eine Lüge. Der Pater in der Sonntagsschule hat euch einige Tanzschritte beigebracht.“

„Ich habe keine angemessene Robe für solch einen Ball. Mein Sonntagsanzug ist zu schäbig dafür.“

„Earl und du habt dieselbe Größe. Sein Frack wird dir sicher passen.“

„Ich weiß nicht, ob ich wirklich die beste Wahl wäre.“, versuchte Ethan es weiter.

„Natürlich bist du das. Ich bitte dich, Ethan.“

Er seufzte. Kate schien wirklich verzweifelt und er war einfach zu nett, um nein zu sagen.

„Wenn du es wünschst, Kate, dann werde ich deiner Bitte mit Freuden nachkommen.“

„Vielen Dank. Das bedeutet mir viel.“

Ethan trank sein Ale aus und ritt dann nach Hause. Es war bereits dunkel geworden und der Weg wurde von dem halbvollen Mond nur schwach beleuchtet. Zwar waren die Temperaturen etwas gesunken und es war nicht mehr so heiß, dafür war es aber immer noch stickig. Aber dies war ihm lieber, als die rauchige Luft in der Hafenkneipe.

Nachdem Ethan noch einige Arbeiten zu Hause verrichtet hatte, ging er zu Bett. Er hatte seiner Mutter und Cain von dem Ball erzählt. Seine Mutter war begeistert gewesen und betete den ganzen Abend Regeln, an die er sich halten sollte, herunter. Cain jedoch war wütend gewesen. Er konnte einfach nicht verstehen, warum Kate Ethan so etwas aufbürdete. Ethan wusste, dass Kate von Cain deswegen sicher noch etwas zu hören bekommen würde. Alle Versuche, seinen Bruder zu besänftigen, schlugen fehl. Kate konnte sich auf etwas gefasst machen.
 

Der nächste Abend kam schneller, als Ethan lieb war. Als sie nach der Arbeit im Pub gegessen und Cain sich wie immer mit Kate gestritten hatte, verließ sein älterer Bruder den Pub. Hätte Ethan gewusst, was dieser Abend noch mit sich bringen würde, wäre er mit Cain nach Hause gegangen.

Kate übergab den Pub an ihre Aushilfe Molly und ging zusammen mit Ethan in ihre Wohnung, die über dem Pub lag.

Während Kate alles für die Körperpflege zusammenstellte und den Frack für Ethan raussuchte, unterhielt dieser sich mit Earl und fragte ihn nach seinem Befinden. Er mochte Earl. Er hatte der Familie durch eine schwere Zeit geholfen und er erinnerte ihn an seinen Vater. Earl war genauso warmherzig und hilfsbereit gewesen und er konnte verstehen, warum Cain ihn als eine Art Vaterersatz ansah. Ethan würde das aber nicht passieren. Für ihn gab es nur einen Vater.

Als Kate fertig war, wusch Ethan sich rasch und zog sich den schwarzen Frack an. Und Kate hatte Recht. Er passte. Auch Kate machte sich schnell fertig. Sie trug ein bodenlanges, dunkelblaues Kleid mit weißer Spitze. Der Rock war weit und das Korsett drückte ihren Busen empor. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt und sie trug Schmuck aus Messing.

„Du siehst bezaubernd aus, Kate.“, sagte Ethan, als er sie sah.

Sie lächelte, ging auf ihn zu und band ihm die Schleife um seinen Hals richtig. Dann fuhr sie ihm einige Male durch sein Haar, so dass es ein wenig unordentlich, aber trotzdem gut aussah.

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.“

Sie verabschiedeten sich von Earl und fuhren mit der Kutsche zum Anwesen von Lord Fudge. Fast wie ein Palast thronte das Anwesen in der Stadt. Es war von einer Mauer umzogen und mehrere Wachen waren zu sehen. Sie wurden durch das Tor gelassen und fuhren eine lange Auffahrt hinauf. Nachdem sie vom Kutschbock abgestiegen waren, gingen sie über eine Treppe ins Innere. Kate nannte ihren Namen und zeigte ihre Einladung. Nachdem ein Butler sie geprüft hatte, wurde ihnen Einlass gewährt. Sie hakte sich bei Ethan unter und sie wurden in den Ballsaal geleitet. Ethan kam aus dem Staunen nicht mehr raus. An der Decke, die hoch über ihnen war, waren verschiedene Fresken gezeichnet. Sechs Kristalllüster hingen herab und tauchten den Saal durch die eingefassten Kerzen in ein helles Licht. Die Fenster waren deckenhoch und der Boden war aus Marmor. Frauen in den schönsten Kleidern und Männer in den edelsten Fracks standen oder tanzten im Saal. Ein Streichquartett spielte sanfte Musik. Bedienstete liefen zwischen den Gästen umher und verteilten Getränke. Lord Fudge hatte wirklich keine Kosten und Mühen gescheut.

Kaum, dass sie den Saal betreten hatten, löste Kate sich von Ethan und ging auf eine Gruppe von Frauen zu. Allein kam er sich irgendwie verloren vor. Da er an der Frauenunterhaltung von Kate nicht teilhaben wollte, ging er zu den leer stehenden Stühlen und setzte sich. Bald schon kam ein Bediensteter und brachte ihm Wein.
 

Ethan wusste nicht, wie lange er da schon saß, an seinem Wein nippte und den Gästen zuschaute, wie sie sich unterhielten und tanzten, doch nach seinem Gefühl war es eine Ewigkeit. Er fand keinen Gefallen daran, unnütz herumzusitzen, aber er wollte Kate auch nicht stören. Also musste er wohl weiter ausharren.

Doch mit einem Mal verstummten die Gespräche. Ethan sah von seinen Füßen auf. Eine Frau, begleitet von zwei Männern, betrat den Saal. Alle sahen zu ihr hin und fingen an zu tuscheln. Da Ethan sie nicht kannte, was natürlich kein Wunder war, senkte er wieder seinen Blick und starrte seine Schuhe an. Das tat er so lange, bis ein schwarzer Rocksaum in sein Blickfeld geriet. Langsam sah er nach oben.

Der Rock war schwarz und mit dunkelroten Schnörkeln verziert. Das Korsett war ebenfalls so beschaffen, die Arme wurden von Stoff bedeckt. Ihm fiel auf, dass die Frau einen interessanten Ring an ihrer linken Hand trug. Er war schwarz und der Stein, der darin eingefasst war, funkelte rot. Er sah weiter hinauf. Die Frau trug eine Kette, doch der daran befindliche Anhänger war in ihrem Dekollete versteckt. Sie hatte helle Haut, einen schlanken Hals und ein zartes Gesicht. Ihre schwarzen Haare fielen in dunklen und sanften Wellen bis zu ihrer Hüfte hinab. Faszinierend jedoch waren ihre Augen. Sie strahlten in einem unglaublichen Blau. So was hatte Ethan noch nie gesehen.

Als er bemerkte, dass er sie regelrecht anstarrte, senkte er rasch den Blick wieder zu Boden und errötete leicht. Und dabei hatte ihm seine Mutter doch ausdrücklich gesagt, dass er die Gäste nicht anstarren sollte.

„Warum schaut ihr zu Boden, werter Herr?“, fragte sie mit sanfter und glockenheller Stimme. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Diese Stimme war umwerfend.

„Ich… ich…“ Er räusperte sich. „Es ziemt sich nicht, eine Frau so lange anzublicken.“

„Nein? Und wenn ich es Euch gestatten würde?“

„Mit Verlaub, werte Lady, aber selbst dann würde ich es nicht wagen, das Antlitz eines Engels mit meinen Blicken zu beschmutzen.“

Sie fing an zu lachen, was Musik in seinen Ohren war.

„Wie lautet Euer Name?“

Wie es sich gehörte, stand Ethan auf und verneigte sich.

„Ethan Orwell, werte Lady.“

„Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Ich bin Emily Gladstone.“

Sie reichte ihm ihre Hand und er küsste leicht ihren Handrücken. Danach senkte er wieder den Blick.

„Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich Euch bei Eurem Vornamen nenne und mich nicht formell ausdrücke?“

„Natürlich nicht, Lady Gladstone.“

„Bitte, nenne mich Emily.“

„Ich habe nicht den Stand, um Euch so respektlos anzusprechen.“

Sie lachte wieder.

„Würdest du mir die Ehre eines Tanzes erweisen, Ethan?“

„Es tut mir Leid Euch enttäuschen zu müssen, aber ich kann nicht tanzen.“

„Sieh mich bitte an.“

Es dauerte einige Sekunden, bis er den Blick heben konnte. Diese blauen Augen raubten ihm den Atem.

„Bitte, erweise mir diesen Tanz.“

Sie lächelte und hielt ihm ihre Hand hin. Ihre Bitte auszuschlagen, wäre unhöflich gewesen. Außerdem war er sich der Blicke der anderen Gäste gewahr. Würde er nicht annehmen, würde er sie in Verlegenheit bringen, weil er sie abgewiesen hatte. Also nahm er ihre Hand. Sie fühlte sich weich und warm in seiner an.

Langsamen Schrittes führte er sie auf die Tanzfläche. Die Musik setzte gerade wieder ein. Ethan hatte wirklich keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Emily schien es bemerkt zu haben, denn sie trat ganz nah an ihn heran und nahm seine Hände in ihre.

„Du kannst tanzen.“, flüsterte sie. „Lausche der Musik und bewege dich einfach nach deinem Gefühl.“

Sie zeigte ihm die richtige Haltung der Hände und Ethan versuchte sich zu konzentrieren. Dabei runzelte er angestrengt die Stirn und schaute die ganze Zeit auf seine Füße. Ihm wollte einfach nicht mehr einfallen, was er in der Sonntagsschule gelernt hatte.

„Ethan.“, vernahm er sanft ihre Stimme und sah auf. „Sieh nur mich an.“

Er tat es. Zaghaft machte er einen Schritt nach vorne. Er war so in ihre Augen vertieft, dass er gar nicht merkte, dass er tanzte. Er schien in diesen blauen Augen regelrecht zu versinken. Waren seine Schritte am Anfang noch recht unbeholfen, so waren sie jetzt leichtfüßig und er schien durch den Raum zu schweben. Sein einziges Bestreben lag plötzlich darin, Emily in die Augen zu schauen. Er vernahm die Musik nicht mehr und auch die Blicke der anderen Gäste störten ihn nicht. Sie lächelte ihn stetig an, wodurch ihm ganz warm ums Herz wurde. Verliebte er sich etwa gerade? So dumm konnte er doch nicht sein. Emily Gladstone war eine Frau von Adel und er nur ein einfacher Bauer. Nie würde er ihre Gunst gewinnen können. Er war kein Mann von Welt und es gab seiner Meinung nach Männer, die besser aussahen. Sie nahm sich seiner bestimmt nur aus Mitleid an.

Das Musikstück endete. Sie gingen auseinander, verneigten sich und klatschten leicht in die Hände. Damit hatte Ethan getan, was sie von ihm verlangt hatte und wollte wieder zu seinem Stuhl zurück, doch sie hielt ihn zurück.

„Wäre es unhöflich von mir, wenn ich dich um einen weiteren Tanz bitten würde?“

Sie sah ihn vorsichtig, ja sogar zaghaft in die Augen. Ethan lächelte, beflügelt vom dem Glück, welches sie ihm zuteil werden ließ und nahm ihre Hand.

„Ihr könntet mir gegenüber niemals unhöflich erscheinen.“

Und so tanzten sie. Ethan hätte niemals gedacht, dass Paartänze so schön sein konnten. Er kannte nur Gruppentänze, die man auf den Dorffeiern tanzte und selbst da hatte er niemals so viel Spaß gehabt, wie jetzt. Das Tanzen mit Emily war mit nichts zu vergleichen.

Irgendwann waren beide ermattet, da es nicht bei einem Tanz geblieben war und sie verließen die Tanzfläche. Ethan spürte jetzt wieder die Blicke der anderen Gäste auf sich und schämte sich sofort, dass er das Tanzen mit einer Adeligen so sehr genossen hatte. Aufgrund ihres Standesunterschiedes hätte er sie noch nicht einmal ansehen dürfen.

Kaum, dass sie die Tanzfläche verlassen hatten, kamen die Männer, die Emily begleiteten und reichten ihr und Ethan etwas zu trinken. Sie hatten gerade mal einen Schluck ihres Weines getrunken, als Lord Fudge, der Gastgeber, zu ihnen kam und Emily den Handrücken küsste.

„Lady Gladstone.“, gurrte er. „Es ist mir eine Ehre, dass ihr meiner Einladung gefolgt seid. Eure Schönheit erhellt den Saal und macht das Fest glanzvoller.“

Emily kicherte. „Also bitte, Lord Fudge. Ihr schmeichelt mir. Bringt mich doch nicht so in Verlegenheit.“

Ethan seufzte. Damit hatte er wohl seine Gunst bei Emily verloren. Lord Fudge sah gut aus, besaß einen beträchtlichen Reichtum und hatte bessere Umgangsformen. Ethan wollte sich heimlich entfernen, doch Emily hielt ihn zurück.

„Warte bitte, Ethan.“

Er blieb stehen.

„Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, Lord Fudge, aber ich muss mich entschuldigen. Sir Orwell hat mich zu einem Spaziergang in Euren prächtigen Garten eingeladen und ich kann ihm dies unmöglich ausschlagen.“

Sie ließ den perplexen Lord Fudge einfach stehen, hakte sich bei dem verblüfften Ethan unter und trat mit ihm auf den Balkon hinaus.

Die Luft hatte sich ein wenig abgekühlt, was Ethan aber nicht weiter störte, weil Emily lieber mit ihm zusammen war, als mit dem Gastgeber. Sie zog den Pöbel dem Adel vor. Er führte Emily über eine Treppe in den Garten, der durch Fackeln in ein sanftes Licht getaucht wurde. Das war auch gut so, denn der halbvolle Mond spendete nicht genug Licht.

Während sie durch die Grünanlage spazierten, folgten ihnen die Begleiter von Emily mit gebührendem Abstand.

„Verzeih bitte, dass ich dich so habe stehen lassen. Und hab Dank, dass du mich aus den Fängen von Lord Fudge gerettet hast.“

„Aus den Fängen? Ist er ein so unangenehmer Zeitgenosse?“

„Ich habe ihn schon des Öfteren auf anderen Festen gesehen. Er versucht immer auf aufdringliche Weise mir den Hof zu machen. Seine Einladung habe ich nur angenommen, weil er mich ausdrücklich darum bat. Und er hat mir die Einladung nicht durch einen Boten geschickt, sondern war persönlich bei mir vorstellig. So konnte ich unmöglich ablehnen.“

„Verzeiht, wenn ich anmaßend bin, aber wäre er nicht eine gute Wahl?“

Emily seufzte. „Ich mag ihn nicht. Er schmückt sich mit Glanz und Gloria. Für ihn sind Frauen nichts weiter als Objekte, mit denen er sich schmückt. Zu solch einer Verbindung würde ich mich niemals einlassen. Ich bin kein Objekt. Außerdem erkenne ich in ihm keine Ehrlichkeit.“

Sie gingen einige Zeit schweigend und gemächlichen Schrittes weiter.

„Bitte, Ethan. Erzähle mir doch etwas über dich. Wo lebst du? Wie ist es mit deiner Familie bestellt? Ich bin neugierig.“

„Ich lebe in einem Vorort von Dover. Mein Vater starb vor einigen Jahren und ich lebe mit meiner Mutter und meinem Bruder auf dem Gut meines Vaters.“

Er musste nicht sagen, dass er zur Arbeiterklasse gehörte. Sein geliehener und abgetragener Frack und seine schwieligen Hände verrieten ihn. Doch Emily verstieß ihn nicht wegen seiner Herkunft. Im Gegenteil. Sie schmiegte sich ein wenig mehr an seine Seite und Ethan errötete.

„Wer ist deine Begleitung?“

„Sie ist eine alte Freundin aus Kindertagen. Eigentlich war sie mit ihrem Mann zu diesem Fest geladen, doch er verletzte sich den Fuß und ich trat an seine Stelle.“

„Ich sollte das eigentlich nicht sagen, aber ich bin froh, dass du deine Freundin begleitet hast und nicht ihr Mann.“

Ethan schluckte, als Emily ihren Kopf an seine Schulter legte. Was sollte er nur tun? Machte Emily ihm gerade wirklich Avancen? Mit so was konnte er nicht umgehen.

Schweigend gingen sie weiter und entfernten sich Stück für Stück vom Haus. Irgendwann blieb Emily stehen und da sie immer noch eng aneinander geschlungen waren, hörte auch Ethan auf zu laufen. Leicht fragend sah er sie an, als sie ihn losließ. Wahrscheinlich würde sie ihn jetzt verlassen. Immerhin hatte sie sich schon viel zu lange mit ihm abgegeben. Zwar war es schade, aber die paar Stunden, die er mit dieser wundervollen Frau verbringen durfte, waren mehr, als er sich je zu träumen gewagt hätte. Ohne ersichtlichen Grund traten ihre Begleiter vor.

„Brandon.“, sagte sie nur. Der dunkelhaarige Mann schoss regelrecht vor und umklammerte Ethan von hinten, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Er versuchte seine Arme zu befreien, aber der Griff von Brandon war eisern. Durch den Angriff fiel sein Glas zu Boden und der Erboden saugte den Wein gierig auf. Emily leerte ihr Glas und betrachtete Ethan.

„Was hat das zu bedeuten?“, keuchte er.

„Ich mag dich.“, beteuerte sie. „Du bist wie eine Blume, die noch nicht aufgegangen ist. Ich möchte dir helfen, zu erblühen. Ich will, dass du mein wirst.“

Ethan verstand kein Wort.

„Kyle.“

Der blonde Mann trat vor.

„Bitte erweise du Ethan die Ehre.“ Sie lächelte. „Aber sei sanft zu ihm.“

Kyle nickte und kam auf Ethan zu. Mit jedem Schritt veränderten sich seine blauen Augen und wurden plötzlich grün. Sie glühten regelrecht. Und als er den Mund etwas öffnete, ragten zwei spitze Eckezähne hervor. Ethan riss die Augen auf und wand sich. Er wollte nur weg von diesem Ungeheuer. Doch Brandon hatte ihn fest im Griff. Kyle beugte sich herunter und biss Ethan ohne Federlass in den Hals. Ethan schrie schmerzerfüllt auf und spürte, wie das Blut aus seinem Körper gesaugt wurde. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Er versuchte erneut sich zu befreien, aber je mehr er sich bewegte, desto fester wurde der Griff von Brandon.

Ethan hatte Geschichten über Vampire und Hexen gehört, sie aber nie für bare Münze genommen. Wie man sich doch täuschen konnte. Tränen traten ihm in die Augen und liefen ihm über die Wangen. Ein heißer Schmerz wand sich durch seinen Körper. Er hatte das Gefühl, als ob heiße Glut durch sein Blut fließen würde. Er unterdrückte seine Schreie. Sie waren fiel zu weit vom Anwesen entfernt. Niemand würde ihn hören.

Er schloss die Augen und fing an zu beten. Er betete, dass Cain und seine Mutter auch ohne ihn auskommen mögen und dass ihre Trauer nicht zu groß wurde. Er hoffte, dass seine Mutter wieder gesund werde und seine Familie ein erfülltes Leben haben würde. Und er wünschte sich, dass er seinen Vater im Himmel wieder sehen konnte, wenn er starb.

Der Schmerz in seinem Inneren wurde unerträglich, aber er versuchte es wie ein Mann zu tragen. Außerdem hatte er kaum genug Kraft um Schreie ausstoßen zu können.

Ethan öffnete die Augen erst wieder, als Kyle von ihm abließ. Er sah Ethan an, als er sich in sein Handgelenk biss und ihm die blutende Wunde an den Mund presste. Ethan jedoch verschloss seine Lippen. Er wusste, was Kyle vorhatte. Die Geschichten über Vampire schlossen das Verwandeln eines Menschen in ein Geschöpf der Nacht mit ein. Sobald er das Blut trinken würde, würde er selbst zu einem werden. Und das war etwas, was er niemals tun würde. Eher würde er sterben.

„Trink!“, befahl Kyle, doch Ethan schüttelte nur den Kopf, wovon ihm schwindelig wurde. Auch, als Kyle ihm die Nase zuhielt, nahm Ethan den Erstickungstod in Kauf, statt das Blut des Vampirs zu trinken.

„Halte ein, Kyle!“, befahl Emily und trat vor. Kyle gehorchte sofort. „Niemand widersetzt sich mir!“ Emily klang verärgert.

Einen Moment war es still. Ethan wurde nur noch von Brandon aufrecht gehalten. Er hatte keine Kraft mehr um selbstständig stehen zu können. Warum nur dauerte sein Tod so lange? Warum konnte es nicht endlich vorbei sein?

„Kyle. Lass dein Blut in dieses Glas fließen.“

Sie hielt ihm ihr leeres Weinglas hin und er ließ sein Blut aus der Wunde in das Glas fließen. Als das Glas zur Hälfte gefüllt war, nahm sie es unter seinem Handgelenk weg und Kyle leckte sich über seine Wunde. Dann reichte sie ihm das Glas, raffte ihren Rock und zog aus einem Lederband, welches um ihren Oberschenkel gewickelt war, einen Dolch heraus. Sie ließ ihren Rock wieder fallen, schnitt sich ohne zu zögern selbst ins Handgelenk und ließ ihr Blut ebenfalls in das Glas fließen.

Als es gut gefüllt war, nahm sie ihr Handgelenk darüber weg und hielt es Kyle hin. Er blickte sie ehrfürchtig an.

„Ich erteile dir die Erlaubnis.“

„Hab Dank für diese Ehre.“

Er leckte vorsichtig über die Wunde. Ein Schauer lief durch Kyles Körper und er seufzte zufrieden. Als die Blutung gestillt war, tauschte sie ihren Dolch gegen das Glas und ging zu Ethan. Er war kaum noch bei Bewusstsein. Die Schmerzen wurden immer schlimmer und er wimmerte leise. Emily strich ihm einige Strähnen von seiner kaltschweißigen Stirn.

„Wehre dich nicht dagegen.“

Sie hielt ihm das Glas an seine Lippen, doch er presste sie weiterhin fest zusammen. Er war selbst erstaunt darüber, dass er noch so viel Kraft besaß. Ärger huschte über das wunderschöne Gesicht von Emily.

„Widersetzte dich mir nicht! Es nützt dir nichts. Ich bekomme immer, was ich will!“

Sie nahm einen Schluck von dem Blutcocktail und drückte ihre Lippen auf die seine. Ethan war geschockt, da es sein erster Kuss war. Und das von so einer schönen und gleichzeitig grausamen Frau. Diese Erkenntnis schwächte seinen Willen etwas ab und seine Lippen öffneten sich ungewollt ein wenig. Mehr brauchte Emily nicht. Einige Tropfen Blut berührten seine Zunge. Er wollte sie ausspucken, als ihn die Erkenntnis traf, doch Emily hatte zusätzlich eine Hand in seinen Nacken gelegt, damit die Verbindung ihrer Lippen unter gar keinen Umständen unterbrochen wurde. Mit ihrer Zunge öffnete sie seine Lippen weiter und dass Blut rann seine Kehle herab. Es linderte seine Schmerzen schlagartig. Sein Körper gierte nach mehr, aber sein Verstand wollte sich dem verweigern. Doch sein Fleisch war stärker. Er drängte seine Zunge zwischen ihre Lippen und saugte das Blut aus ihrem Mund heraus. Als er nichts mehr von dem wohltuenden Lebenssaft schmecken konnte, löste er sich keuchend von ihr, was ihm diesmal gelang, da auch Emily von ihm abließ. Sie lachte.

„So ist es brav.“

Sie hielt das Glas an seine Lippen und Ethan leerte es willig. Die Reaktion auf das Blut setzte sofort ein, als er den letzten Tropfen aus dem Glas getrunken hatte.

Ethan legte den Kopf in den Nacken und schrie wie noch nie in seinem Leben. Diese Schmerzen schienen ihn zu zerreißen. Das Letzte, was er sah bevor er ohnmächtig wurde, war Emily, wie sie lächelte.
 

Als Ethan erwachte, war es nicht wie das übliche Erwachen. Normalerweise war er nur schwer aus dem Bett zu kriegen und er brauchte einige Zeit, bis er richtig wach war. Doch das hier war völlig anders. Er war hellwach. Er schlug die Augen auf, nur um sie gleich wieder zu schließen. Es war zwar dunkel, aber für seine Augen war es trotzdem zu grell. Seine Sinne reagierten über. Seine Ohren hörten so viele Dinge gleichzeitig, dass er die Geräusche nicht zuordnen konnte. Gerüche, die in der Luft schwirrten, nahm er viel zu intensiv wahr. Der Geruch von Kerzenwachs, Wasser, Schweiß und der Duft von Blumen. Eben diese Gerüche schmeckte er auch auf seiner Zunge. Er spürte Fasern eines Lakens unter sich und Fasern einer Decke über sich. Panisch strampelte er die Decke weg, doch das brachte nicht fiel. Seine Muskeln schmerzten und sein Körper fühlte sich falsch an. Diese Sinneseindrücke waren viel zu intensiv für ihn. Er schrie gellend auf und sank wieder in die Bewusstlosigkeit.
 

Eine Woche verging, ohne dass sich bei Ethan eine Besserung einstellte. Jedes Mal, wenn er aufwachte, schrie er vor Schmerzen auf und driftete wieder in Bewusstlosigkeit, wenn die Schmerzen und auch die Reizüberflutung zu viel für seinen Körper waren. Er flehte, dass der Tod endlich kam, doch er wurde nicht erhört. Des Öfteren hörte er Stimmen im Zimmer oder er spürte die Anwesenheit von Personen. Wenn das geschah, rastete er völlig aus. Er schlug um sich und schrie sich die Seele aus dem Leib. Er konnte es einfach nicht ertragen.

Er hatte in den kurzen Phasen, in denen er wach war, erfasst, dass er in einem pompösen Bett lag. Es war riesig und das Holz des Bettrahmens war mit Schnitzereien verziert. Die Wände in seinem Zimmer waren aus grauem Stein. Fenster vom Boden bis zur hohen Decke waren mit dicken Vorhängen verdeckt. Es befanden sich ein Schreibtisch, ein kleines Bücherregal und eine Waschgelegenheit in dem Zimmer. Außerdem ein Kleiderschrank aus dunklem Holz.

Ethan wusste, dass jemand kam, noch bevor sich die dunkle Holztür öffnete. Er hatte die Schritte schon von weitem vernommen. Er wollte nicht, dass jemand das Zimmer betrat. Er hatte sich endlich soweit im Griff, dass er nicht mehr schrie oder ohnmächtig wurde, wenn er wach war. Andere Personen würden seine eh schon gespannten Nerven überstrapazieren. Doch er konnte sich nicht dagegen wehren. Er hatte einmal versucht aufzustehen, doch er war einfach zu schwach.

Die Tür öffnete sich und Emily betrat den Raum. Er roch Rosen, Schweiß und Seife. Und irgendein anderer Geruch, den er nicht zuordnen konnte. Angst? Erwartung? Hoffnung? Der Geruch kitzelte ihn in der Nase. Es war irritierend, dass er Gefühle riechen konnte. Er hörte ihren Herzschlag und ihre langsame und regelmäßige Atmung. Der Stoff ihres dunkelroten Kleides raschelte, als sie die Tür leise schloss. Ihre Anwesenheit war zu viel für ihn. Er schrie auf und kroch in die Ecke des Bettes, die am Weitesten von ihr entfernt war. Dort machte er sich ganz klein. Er hatte nicht nur angst vor ihr, sondern auch von den ganzen neuen Sinneseindrücken.

„Wie geht es dir?“, fragte sie sanft. Doch für ihn hörte es sich so an, als ob sie neben ihm stehen würde und ihm direkt ins Ohr schrie. Er legte sich die Hände auf die Ohren. Emily lachte und er zuckte zusammen.

„Ich weiß, es ist am Anfang nicht leicht, aber wenn du gelernt hast, damit umzugehen, dann wirst du es lieben.“

Am liebsten hätte er verächtlich gelacht. Sie hatte ihn zu einem Vampir gemacht. Und das sollte er lieben?

„Bitte.“, krächzte er. Seine Stimme war zwar rau, aber sehr melodiös, wie er fand. „Bitte geh!“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe hier etwas, was deine Schmerzen lindern wird.“

Ethan sah sie an. Würde sie ihn endlich töten? Bei Gott, er hoffte, dass sie das im Sinn hatte. Doch sie enttäuschte ihn. Statt einem Dolch hielt sie eine Karaffe mit einer dunkelroten Flüssigkeit hoch. Erst jetzt schien Ethan es zu bemerken, dass sie noch etwas in der Hand hatte. Der Geruch von Blut stieg ihm in die Nase. Es war wie Ambrosia. Seine Augen verengten sich und er ließ ein leises Knurren verlauten. Er richtete sich etwas auf und kauerte sich hin. Emily lachte leise.

„Ich wusste, dass dir mein Geschenk gefallen würde.“

Sie ging auf das Bett zu und setzte sich auf die Kante. Ethan krabbelte Eilens über das Bett und riss ihr die Karaffe regelrecht aus den Händen. Er trank wie ein Verdurstender. Einiges lief daneben und tropfte auf seinen nackten Oberkörper, doch das interessierte ihn nicht. Das Blut dämpfte seine verschärften Sinne. Er fühlte sich schon fast wieder wie ein Mensch. Nur mit dem Unterschied, dass er keiner mehr war. Als der die Karaffe geleert und auch die danebengegangen Tropfen abgeleckt hatte, strich er sich mit der Zunge über die Lippen und war sich seiner spitzen Eckzähne gewahr. Es schockierte und beruhigte ihn gleichermaßen.

Emily sah ihn interessiert an. So, als wäre ein besonderes interessantes Tier. Er knurrte.

„Beruhige dich bitte. Ich werde dir nichts tun.“

„Ihr habt mich in einen Vampir verwandelt!“, klagte er sie an.

„Ich gebe dir Recht. Das habe ich getan. Du bist so prachtvoll, dass ich dich in meinen Reihen aufnehmen musste.“

„In Euren Reihe? Seit Ihr auch ein Vampir?“

Sie lachte. „Nein. Ich bin die Beschützerin der dunklen Wesen und deine Herrin.“

„Meine Herrin?“

„Gewiss. Und du bist ein außergewöhnliches Exemplar. Es wird sich sicher bald zeigen, wie außergewöhnlich du bist.“

„Warum gerade ich?“

„Wie ich bereits sagte, ich mag dich. Du hast Besseres verdient, als dein Leben als gewöhnlicher Bauer zu fristen. Daher habe ich beschlossen, dich zu verwandeln. Jeder, der zu mir gehört, lebt ein besseres Leben.“

„Aber warum tatet Ihr es, obwohl ich es nicht wollte? Ich mochte mein Leben als einfacher Mensch. Doch wenn man den Geschichten und Sagen über Vampire Glauben schenken kann, dann bin ich nicht einmal mehr das.“

„Du warst ein armer, einfacher Mann, Ethan. Ich habe dich zu etwas Besserem gemacht.“

„Aber ich war niemanden unterstellt. Niemand hat mich als `Seins´ bezeichnet oder Besitz an mir geltend gemacht. Ihr sagtet doch, dass Ihr meine Herrin seid. Somit bin ich nichts weiter, als euer Diener.“

Er hatte sie verärgert. Früher hätte er so etwas nicht einmal gedacht, doch er hatte sich verändert. Er spürte es. Ein starres Herz ließ auch die wärmsten und nettesten Gefühle erkalten. Er spürte ihre Verärgerung deutlich, konnte sie riechen.

Er wehrte sich nicht gegen ihre Ohrfeige. Er spürte sie kaum.

„Sprich nicht in diesem Ton mit mir! Ich habe dir dieses neue Leben geschenkt, also sei gefälligst dankbar dafür. Denn du solltest nicht vergessen, dass ich es dir genauso leicht wieder nehmen kann.“

Er wollte ihr schon sagen, dass dies sein sehnlichster Wunsch war, doch er schwieg. Wenn sie es wusste, hätte sie etwas gegen ihn in der Hand und würde ihn niemals sterben lassen.

„Verzeiht, dass ich anmaßend war.“ Er senkte ergeben den Kopf.

Ihre Züge wurden weicher und sie streichelte die Wange, die sie geschlagen hatte. Er fühlte, wie eine Eiseskälte seinen Rücken hinauf kroch, als sie ihn berührte, aber er bewegte sich nicht.

„Verzeih mir diesen Ausbruch meines Zornes.“

Er nickte. Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft auf die Lippen. Ethan war nicht versiert in solchen Dingen und eigentlich wollte er nicht geküsst werden. Zumindest nicht von ihr. Trotzdem erwiderte er den Kuss. Es war wie ein Drang, dem er unbedingt nachgeben musste. Es fühlte sich einfach gut an. Sie löste sich lächelnd von ihm.

„Ruhe dich noch ein wenig aus. Dein Körper muss sich erst an die Veränderung gewöhnen.“

„Sehr wohl.“

Sie verließ ihn. Ethan streckt sich auf dem Bett aus und bemerkte erst jetzt, dass er nicht nur nackt, sondern auch erigiert war.
 

Nachdem Ethan ihren Rat befolgt und sich ein wenig ausgeruht hatte, stand er einige Stunden später auf. Zum ersten Mal hatte er keine Schmerzen, wenn er sich bewegte. Er spürte, dass er kräftiger war, als zuvor. Frische Kleidung und eine Waschschüssel standen auf der Kommode bereit. Er erlitt einen mittelschweren Schock, als er in den Spiegel sah und sich selbst nicht sehen konnte. Und ihm wurde bewusst, dass er sich nie wieder im Spiegel sehen würde. Bisher brachte ihm das Dasein als Vampir nur Nachteile.

Das Wasser in der Schüssel war zwar kalt, aber es störte ihn nicht. Er spürte die Kälte kaum und zu Hause war das Wasser aus dem Brunnen auch immer kalt gewesen.

Als er an sein zu Hause dachte, seufzte er schwer. Er vermisste seine Familie. Musste er denn zwangsläufig bei Emily bleiben? Konnte er nicht wieder zurück nach Hause? Seine Familie würde seinen neuen Zustand bestimmt verstehen. Und wenn er jetzt wirklich mehr Körperkraft besaß, wäre er zu Hause auch viel nützlicher. Er müsste seine Arbeiten zwar in der Nacht verrichten, aber damit würde er schon klarkommen.

Er zog sich an und verließ seid der Verwandlung zum ersten Mal sein Zimmer. Das Blut, welches er Stunden zuvor getrunken hatte, half ihm, die neuen Sinneseindrücke zu dämpfen, um nicht schreiend vor Schmerzen auf dem Boden zu liegen. Der Flur war dunkel, doch Ethan konnte perfekt sehen. Düstere Bilder hingen an den Wänden. Sie zeigten Tod, Schlachten, Kriege und noch mehr Tod. Er ging nach rechts und stieß bald auf eine steinerne Freitreppe. Als er sie langsam nach unten gegangen war, befand er sich im Foyer des großen Herrenhauses. Alles war groß und imposant. Ihm war aufgefallen dass er sich nicht mehr wie ein Tollpatsch bewegte, sondern geschmeidig wie eine Katze. Es war merkwürdig, aber nicht unangenehm.

Zielstrebig ging er nach links und stieß auf eine dunkle Eichentür. Er wusste, dass Emily sich dahinter befand. Er konnte sie durch die Tür hindurch nicht nur riechen, sondern in gewisser Weise auch spüren. Es war wie eine Art Summen, das durch seinen Körper ging, je mehr er sich ihr nährte.

Er öffnete die Tür und das Bild, was sich ihm dann bot, ließ ihn erstarren. Sie saß an einer langen Tafel und aß. Er roch Fleisch und Gemüse. Neben ihr saß der blonde Vampir, Kyle, wenn er sich nicht irrte. Links und rechts an der Wand standen jeweils viel weitere Männer. Ein Blick genügte und er wusste, dass alle männlichen Personen im Raum Vampire waren. Das konnte er so genau bestimmen, weil er den Tod an ihnen `sehen´ konnte. Emily umgab ein roter, leicht pulsierender Schimmer. Der Schimmer der Männer jedoch war von tiefster Schwärze. Ethan sah auf seine Hand. Sein Schimmer war schwarz und golden. Eine eigenartige Mischung. Doch was wusste er schon?

Emily sah auf. „Ethan. Es ist erfreulich, dass du dein Zimmer verlassen konntest.“

„Verzeiht, wenn ich Euch beim Essen störe.“

„Aber nicht doch. Setzte dich bitte.“

Sie deutete auf den freien Platz neben sich. Ethan nickte und bewegte sich auf den Stuhl zu. Als er sich setzte, war er sich den Blicken der anderen Männer bewusst. Er fragte sich, warum sie stehen mussten. Und warum Kyle als Einziger sitzen durfte.

„Hast du Durst? Möchtest du etwas Blut? Am Anfang ist der Hunger immer groß, aber mit der Zeit wird es weniger.“

„Nein, ich möchte nichts. Aber danke, dass Ihr gefragt habt.“

Sie runzelte leicht die Stirn, sagte aber nichts und nahm weiter ihr Mahl zu sich.

Erst, nachdem sie zu Ende gespeist hatte, verließen die anderen Vampire auf einen Wink von ihr das Esszimmer. Alle gingen, bis auf Kyle.

„Ich spüre, dass du Fragen hast.“

„Wenn es mir erlaubt ist.“

„Bitte.“ Sie nippt an ihrem Wein und sah ihn aufmerksam an.

„Was genau seid Ihr?“

Emily lachte. „So direkt hat mich noch keiner meiner Zöglinge gefragt.“

„Verzeiht, wenn ich Euch verärgert haben sollte.“

„Mit Nichten. Im Gegenteil. Deine offene Art ist erfrischend. Und ich möchte deine Frage gerne beantworten. Ich bin die Wächterin der Vampire. Mein Blut ist die Essenz ihrer Stärke.“

Ethan sah sie fragend an, woraufhin Emily lächelte.

„Vampire sind starke Wesen. Sie können ohne große Anstrengung ein Pferd hochheben. Doch sie haben auch Feinde und da bedarf es etwas mehr Stärke. Denn Werwölfe haben die gleiche Körperkraft wie sie auch. Daher brauchen sie mehr Macht. Diese Macht stelle ich dar. Mein Blut ist kraftvoller, als gewöhnliches Menschenblut. Aus meinem Blut beziehen sie mehr Kraft. Deswegen gebe ich ihnen mein Blut, damit sie die Stärke besitzen, um ihre Feinde besiegen zu können.“

„Werwölfe?“

„Ja. Sie gibt es genauso lange, wie es auch Vampire gibt. Und seitdem bekriegen sie sich auch. Dieser Krieg zieht sich schon seit Jahrhunderten hin. Beide Spezies wollen die alleinige Macht und dulden niemanden, der mit ihnen konkurrieren könnte.“
 

In den nächsten Stunden klärte Emily ihn über Vampire und Werwölfe auf. Sie be- oder widerlegte Mythen und Sagen und gab Ethan so viele Informationen wie nur möglich. Er nahm alles in sich auf. Im Moment war alles noch ein wenig viel, aber wenn er Zeit hatte, würde er sich intensiv mit den Informationen befassen. Immerhin war er jetzt auch ein Vampir und musste anscheinend eine Weile damit leben, dass es nicht ganz einfach war, einen Vampir zu töten. Das schreckte ihn jedoch nicht ab, seinen Tod zu wollen. Emily sagte zwar, dass das Leben als Vampir das Beste war, was einem passieren konnte, aber Ethan war da anderer Meinung. Vampire waren Dämonen, Ausgeburten der Hölle und er wollte nicht als so etwas Unreines auf Erden wandeln.

„Die anderen Vampire, die du gerade gesehen hast, gehören zum Clan. Ich werde sie dir bei Gelegenheit vorstellen. Du wirst dich bestimmt gut mit ihnen verstehen. Und wenn du noch weitere Fragen hast, kannst du sie mir oder Kyle stellen.“

Sie strich dem blonden Vampir zärtlich über den Unterarm. Die Augen von Kyle fingen an zu leuchten.

„Kyle war es, der mich fand, als ich als Wächterin erwachte. Er war der Hüter des Schlüssels. Und seitdem ist er mir ein treuer Freund und Gefährte.“

„Verzeiht meine Unwissenheit, aber was meint Ihr mit Schlüssel und den Umstand des Erwachens?“

„Ich wurde verflucht. Eigentlich war ich nicht dazu erwählt, Wächterin zu werden. Eine Hexe hat mich mit der Seele der Wächterin verflucht. Als ich erwachte, fand Kyle mich. Er hütete den Schlüssel, der zu der Truhe der Wächterin führte. In dieser Truhe sind Tagebücher und Besitztümer einer Wächterin enthalten. Seine Aufgabe war es, mir diesen Schlüssel zu überreichen und nicht mehr von meiner Seite zu weichen. Er führte mich in die Welt der Vampire ein und half mir, die Truhe an mich zu bringen.“

„Wann war es, als Ihr erwachtet?“

„Das passierte im Jahre 1766. Ich zählte gerade 18 Lenze.“

Ethan stockte der Atem. „Verzeiht, aber dies war vor 60 Jahren. Wie kann es sein, dass ihr noch so jung ausseht?“

Emily lachte und erzählte ihm gern alles, was sie über Wächterinnen wusste. Zu diesem Zeitpunkt jedoch verschwieg sie, dass der Wahnsinn sie befallen hatte und dass sie eine Schwester hatte, deren Geisteszustand ähnlich war. Das sollte er erst später erfahren.

Ethan hatte viel gehört und musste diese Umstände erstmal verarbeiten. So wie er das sah, war er an Emily gebunden. Ihm behagte es nicht sehr, da er sie nicht einschätzen konnte. Er wollte nicht irgendjemandes Untertan sein.

„Ich möchte dir aber noch etwas erzählen.“, unterbrach sie seine Gedanken. Ethan sah sie aufmerksam an.

„Du bist nicht wie die anderen im Clan. Dadurch, dass bei deiner Verwandlung auch mein Blut floss, bist du anders geworden. Ich kann es spüren. Und nehmen wir nur mal den Umstand nach deiner Verwandlung. Es ist nicht üblich, dass sich Vampire so lange durch die Veränderung ihres Körpers quälen. Sie brauchen meist nur eine Nacht, bis sie sich an ihren neuen Körper gewöhnt haben. Du hast jedoch eine ganze Woche gebraucht. Ebenfalls ist es verwunderlich, dass du nicht nach mehr Blut verlangst. Im ersten Monat trinken Vampire fast täglich und sind in ihrem Durst unstillbar. Du jedoch scheinst nicht das Bedürfnis nach Nahrung zu verspüren. Könntest du dich verwandeln? Vielleicht sind dann Andersartigkeiten zu erkennen.“

„Verwandeln?“

„Kyle. Sei so gut und erkläre es ihm.“

Ohne Widerworte erzählte er Ethan, was Emily gemeint hatte. Er wusste, worauf Kyle anspielte. Er meinte die Veränderung, die er gespürt hatte, als der das Blut getrunken hatte. Ihm war nicht klar, dass man das auch willentlich hervorrufen konnte.

Er konzentrierte sich. Er spürte, wie er sich veränderte. Seine Muskeln spannten sich an und seine Eckzähne verlängerten sich.

„Faszinierend.“, rief Emily ehrfürchtig aus. „Vor ein paar Stunden, als ich dir das Blut brachte, war es im Zimmer zu dunkel, als dass ich deine Veränderung bemerkt hätte.“

„Was ist passiert?“

„In der Regel bekommen Vampire grüne Augen, wenn sie sich verwandeln. Deine jedoch sind golden. Es ist erstaunlich.“

Ethan entspannte sich wieder und machte so seine Verwandlung rückgängig. Er wollte sie nach dem Schimmer fragen, den er an den Personen sehen konnte, doch er hatte eine dringendere Frage.

„Was ist mit meiner Familie? Kann ich zu ihnen zurück?“

„Nein.“ Emily klang entschlossen. „Das ist leider nicht mehr möglich. Du bist nicht mehr Teil ihres Lebens. Du bist kein richtiger Mensch mehr. Sie können dir nicht das geben, was ich dir geben kann. Außerdem würden sie es nicht verstehen.“

Ethan schluckte. „Kann ich… kann ich mich wenigstens von ihnen verabschieden? Bitte räumt mir diese Möglichkeit ein.“

Sie schwieg einen Moment und dachte nach.

„Eigentlich ist mir bei diesem Gedanken nicht ganz wohl, aber ich denke, ich muss dir diesen Wunsch gewähren. Aber nur, wenn du versprichst, dich an mich zu binden.“

„Ich schwöre es bei meinem Tod.“ Ihm war alles recht, so lange er seine Familie noch einmal sehen konnte.

Emily lachte. „Eine weise Wortwahl. Und so treffend. Es ist noch Tag, daher ist es dir nicht möglich mein Haus zu verlassen. Aber sobald die Sonne der Nacht gewichen ist, werden wir deine Familie besuchen.“

„Ihr wollt mich begleiten?“

„Gewiss.“

Ethan fand das merkwürdig, aber er würde sein Missfallen darüber nicht zum Ausdruck bringen.
 

Die Stunden, die Ethan warten musste bis die Sonne untergegangen war, vertrieb er sich damit, das Haus zu erkunden. Er zählte 12 Schlafzimmer, 3 Gästezimmer, eine große Küche, die Schlafzimmer der Dienstboten, 3 Speisesäle und einen Ballsaal. Er fragte sich wirklich, wie Emily solch ein Anwesen als Frau ihr eigen nennen konnte. Sie sagte zwar, dass ihr Vater reich war und sie nach seinem Tod sein Vermögen geerbt hatte, aber konnte es wirklich so eine beträchtliche Summe gewesen sein?

Als er sich mit dem Haus vertraut gemacht hatte, ging er wieder in sein Zimmer. Interessiert musterte er die Bücher in dem Bücherregal. Er hatte in der Sonntagsschule Lesen, Schreiben und auch Rechnen gelernt, aber da seine Familie kein Geld hatte, konnten sie sich keine Bücher leisten und somit hatte er es nie gelernt, flüssig zu lesen. Da er jetzt eine Weile länger leben würde und bei vornehmen Leuten wohnte, sollte er den Makel des schlechten Lesens ausmerzen.

Er nahm sich einen Folianten aus dem Regal, setzte sich aufs Bett und begann zu lesen. Er zündete eine Kerze an, damit er es gemütlicher hatte. Er brauchte nicht zwingend Licht, um lesen zu können. Er sah auch in vollkommener Dunkelheit.

Wie es sich herausstellte, war es eine Abenteuergeschichte. Die hatte er schon immer geliebt. Erstaunt bemerkte er, dass er auf einmal flüssig lesen konnte. Er las einige Seiten laut und geriet nicht ein einziges Mal ins Stocken. Lag es an seinem Dasein als Vampir, dass er kein dummer Bauernbengel mehr war?

Doch bevor er sich weiter darüber Gedanken machen konnte, klopfte es an der Tür.

„Herein.“, sagte er und die Tür öffnete sich. Ein junges Mädchen betrat sein Zimmer. Sie trug die Kleidung einer Bediensteten. Ihr braunes Haar hatte sie unter einer Haube versteckt. Sie war blass und sah ausgemergelt aus. In der Hand hatte sie ein Tablett, worauf sich ein leeres Glas und eine Karaffe gefüllt mit Blut befanden. Sie machte einen Knicks.

„Lady Gladstone bat mich, Euch dies hier zu reichen. Wo soll ich es für Euch anrichten?“

Ihre Stimme zitterte ein wenig und er konnte förmlich ihre Angst riechen. Ihm würde es wahrscheinlich auch so ergehen, wenn er als Mensch einen Vampir bedienen musste. Einen Moment war er verwirrt. Er hatte zwar schon oft mit Bediensteten verschiedener Adelshäuser geredet, aber er befand sich dabei nie in der Position eines Höhergestellten. Er sah sich um.

„Stelle es bitte auf den Nachttisch.“

Sie machte wieder einen Knicks und kam seiner Bitte nach. Sie füllte das Glas mit der dunkelroten Flüssigkeit und entfernte sich wieder.

Eigentlich verspürte er nicht das Bedürfnis zu trinken, tat es dann aber doch, weil er es als unhöflich empfand, es nicht zu tun. Das Blut schmeckte köstlich, wobei es sich vom Geschmack seiner vorherigen Mahlzeit unterschied. Seine erste Mahlzeit schmeckte etwas bitter. Dieses Blut hier war süßer und irgendwie blumiger.

Er spürte, wie sich sein Körper durch das Blut erwärmte. Ein angenehmes Gefühl.
 

Kurze Zeit später kam Kyle und holte ihn ab. Im Foyer wartete auch schon Emily. Sie trug einen schwarzen Umhang, der bis zum Boden reichte. Die Kapuze hatte sie sich über den Kopf geworfen und war fast nicht zu erkennen. Neben ihr standen Brandon und ein weiterer Vampir, mit schwarzen, lockigen Haaren und braunen Augen. Kyle stellte ihn als Nigel vor.

Gemeinsam gingen sie nach draußen. Ein Stallbursche hatte eine Kutsche und zwei Pferde bereitgestellt. Nigel und Brandon bestiegen die Pferde, während Kyle die Zügel der Kutschpferde in die Hand nahm. Emily und Ethan setzten sich in die Kutsche. Ethan empfand es als ein bisschen sehr viel Aufwand. Er wollte sich doch nur von seiner Familie verabschieden.

Er wollte seiner Mutter sagen, dass er bei Lady Gladstone Anstellung gefunden hatte und von nun an bei ihr leben würde. Trotzdem würde er seiner Familie monatlich Geld schicken, damit sie über die Runden kamen. Dass er diese Lüge umsonst gesponnen hatte, war ihm bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar gewesen.

Die Fahrt dauerte nicht sehr lange. Die Kutsche hielt und Kyle öffnete die Tür. Ein komisches Gefühl beschlich Ethan, als er aus der Kutsche stieg. Es war zwar schön wieder zu Hause zu sein, aber irgendwas stimmte hier nicht. Doch das bildete er sich wahrscheinlich nur ein. Seit er ein Vampir war, nahm er vieles anders war. Wahrscheinlich war dies der Grund, dass er hinter jeder Ecke etwas Böses vermutete. Das hier war sein zu Hause. Ein ruhiger und fröhlicher Ort.

Ungeachtet seiner Begleiter, machte er die Tür des Hauses auf. Doch kaum, dass er einen Schritt ins Innere gewagt hatte, erstarrte er. Das Bild, was sich ihm da bot, würde er auf Lebzeiten nicht mehr vergessen.

Überall war Blut. An den Wänden, auf dem Boden und auf den Einrichtungsgegenständen. Die Bänke, die um den Esstisch gestanden hatten, waren umgekippt. Auf dem Tisch selbst lag seine Mutter. Zumindest das, was noch von ihr übrig war. Arme und Beine waren nicht zu sehen. Ihr Kopf lag abgetrennt etwas entfernt von ihrem Torso. Die linke Gesichtshälfte fehlte und ihr rechtes Auge hing nur noch an einer fleischigen Sehne. Das entstellte Gesicht war ihm zugewandt. Der Torso war aufgerissen. Die Gedärme lagen auf und unter dem Tisch oder baumelten über der Tischkante. Neben seiner Mutter auf dem Tisch saß ein Mädchen. Sie schien jünger als er selbst zu sein. Sie hatte kurzes, schwarzes Haar und dunkle Augen. Sie trug ein braunes, kurzes Kleid. Sie grinste Ethan an und hielt etwas Blutiges in der Hand, aber er konnte nicht erkennen, was es war.

Sein Blick schweifte weiter und er sah zwei Männer, die am brennenden Kamin standen. Durch das Feuer konnte er sehen, dass beide stattlich gekleidet waren und adelig aussahen. Zu den Füßen der Frau saß ein weißer Wolf. Als Ethan ihn ansah, richtete er sich auf. Er stand nicht auf vier, sondern auf zwei Beinen, wie ein Mensch. Er war bestimmt zwei Meter groß. Seine Augen waren blau und strahlten eine gewisse Intelligenz aus. Sein weißes Fell war durch das Blut seiner Mutter rot gefärbt. Er zeigte seine messerscharfen Zähne und knurrte leise.

Ethan wollte schreien, aber da trat Emily mit ihrem Gefolge ein. Sie blickte sich kurz und distanziert um und wandte sich dann an das Mädchen.

„Musste das sein?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern.

„Ich habe meinen Liebling nicht dazu veranlasst es zu tun. Es war sein eigener Antrieb, der ihn leitete.“

Der weiße Wolf stupste das Mädchen an und sie streichelte seinen Kopf.

„Du hättest es verhindern können, Eve.“

„Warum sollte ich das tun, Schwester? Diese Frau bedeutete mir nichts.“

Ethan keuchte. Das war Eve, die Schwester von Emily? Warum war sie hier? Was hatte das alles zu bedeuten?“

„Was tust du hier, Eve?“

„Ich bin auf der Durchreise und wollte mir nur ein bisschen die Stadt ansehen.“

„Und hast du etwas Schönes entdeckt?“

„Gewiss.“

Sie kraulte den Werwolf hinter den Ohren.

„Du weißt doch, dass ich immer etwas finde, was mir gefällt.“

„Warum?“, flüsterte Ethan. „Warum habt ihr meiner Mutter das angetan?“

Er wollte weinen, aber keine Flüssigkeit trat aus seinen Augen. Es war, als ob er innerlich vertrocknet wäre. Eve zuckte abermals die Schultern.

„Das musst du nicht mich fragen, sondern ihn.“

Sie deutete auf den weißen Werwolf, woraufhin dieser bedrohlich knurrte.

„Du solltest dich wieder verwandeln. Sie sind Vampire. Sie verstehen dich in dieser Form nicht, Liebling. Du bist noch nicht lange genug ein Werwolf, um in deiner Tiergestalt sprechen zu können.“

Der Werwolf nickte und trat einen Schritt zurück. Sein Kopf fiel in den Nacken und er stimmte ein furchtbares Geheul an. Knochen knackten und der Werwolf veränderte sich. Die Ohren wurden kleiner, wie auch seine Schnauze und seine Zähne. Die Haare seines Fells rieselten zu Boden und auch sein Körper schrumpfte. Der Mann, der vor ihnen stand, war nackt. Seine Haut war an einigen Stellen rot von dem Blut und es klebte noch etwas Fell daran. Er schüttelte sein braunes, kurzes Haar und hellbraune Augen sahen Ethan kalt an.

„Cain?“, flüsterte er.

„Hallo, Bruder.“

Eve kicherte. Emily schien weniger amüsiert.

„Was soll das Eve? Warum hast du seinen Bruder in einen Werwolf verwandelt?“

„Warum sollte ich nicht das Recht dazu haben? Du hast Ethan zu einen von deinen untoten Monstern gemacht. Daher nahm ich es mir heraus, Cain zu meinem Schützling zu machen. Außerdem hättest du es dir doch denken kennen. Warum sonst bist du persönlich hier erschienen?“ Sie kicherte wieder. „Wir beide wurden durch das Schicksal getrennt und zu Feinden gemacht. Warum sollten nicht auch diese Brüder vom Schicksal geschlagen werden?“

Das brachte für Ethan das Fass zum Überlaufen. Waren sie nur Spielzeuge, die von den Geschwistern Gladstone geschaffen wurden, um sich an ihnen zu ergötzen?

Er verwandelte sich und wollte sich auf Eve stürzen, aber bevor er auch nur einen Schritt machen konnte, wurde er von Kyle gepackt.

„Lass mich los!“, schrie Ethan ihn an. Eve kicherte wieder.

„Du hast dein Spielzeug aber nicht sehr gut unter Kontrolle, Em.“

„Das lass ganz meine Sorge sein.“

„WARUM?“, schrie Ethan seinen Bruder an und wehrte sich weiter gegen den Griff von Kyle.

„Das fragst du noch? Es ist deine Schuld, dass Mutter sterben musste. Du bist vom Ball nicht wieder heimgekehrt. Mutter hatte sich schreckliche Sorgen gemacht. Auch Kate konnte sich das nicht erklären. Sie sagte, dass du mit einer Dame von Adel das Anwesen verlassen hast. Mutter drängte mich, dass ich dich finden solle. Also habe ich mich in der Stadt herumgefragt und erfahren, dass du mit Lady Gladstone zusammen warst. Doch statt Emily, fand ich Eve. Ich erzählte ihr, was passiert war und fragte sie ob du dich bei ihr aufhalten würdest. Sie verneinte. Als ich mich wieder auf den Weg machen wollte, griff mich auf ihren Befehl hin einer der Werwölfe an und machte mich selbst zu einem. In gewisser Weise muss ich dir auch danken, Eth, denn ich bin jetzt stärker und mächtiger denn je.“

Emily nickte zustimmend, obwohl Cain gar nicht mit ihr geredet hatte.

„Du wusstest, dass ich Ethan zu einem Vampire gemacht habe.“ Sie sah ihre Schwester an.

„Es war offensichtlich. Und da Ethan nicht alleine mächtig und unsterblich sein sollte, ließ ich Cain diese Ehre auf meine Weise zuteil werden.“

Ethan jedoch interessierte das alles nicht.

„Warum hast du Mutter getötet?“

„Weil sie mich nicht in Ruhe gelassen hat. Ständig fragte sie nach dir. Außerdem, wir hätten sie beide überlebt. Sie war sterblich und musste irgendwann sterben. Und so konnte ich ihr den Tod durch Krankheit ersparen.“

„Du hast sie grausam ermordet!“, klagte Ethan ihn an.

„Vielleicht. Sie hatte es verdient.“

„Sie war unsere Mutter! Sie hat dich geliebt. Wie konntest du ihr das antun?!?“

„Immer hieß es nur Ethan, Ethan, Ethan. Seid du weg warst, hatte sie kein anderes Thema mehr. Ich musste sie dafür bestrafen.“

„Du Monster!“

„Nein, Eth. Wir beide sind Monster. Sieh es ein, dass wir beide Menschen töten werden, um überleben zu können! Du bist keinen Deut besser als ich!“ Er knurrte. „Ich möchte dir noch eine letzte brüderliche Geste zuteil werden lassen.“

Er nahm das blutige Etwas aus den Händen von Eve.

„Dies ist das Herz unserer Mutter.“

Ohne große Kraftanstrengungen riss er es in zwei Hälften und warf eine davon Ethan zu. Er fing sie auf.

„Von nun an sind wir Feinde, Eth. Wenn ich dich das nächste Mal sehe, scheue ich mich nicht, dich zu töten. Leb wohl.“

Er reichte Eve die Hand und half ihr, vom Tisch zu kommen.

„Leb wohl, Schwester.“, sagte sie noch, als sie an Emily und den anderen vorbei nach draußen ging.

Ethan stand regungslos da, die Herzhälfte an seine Brust gedrückt und trauerte. Er konnte nicht weinen, zumindest nicht äußerlich. Sein Herz wurde starr.
 

Er wusste nicht, wie er zurück zum Anwesen von Emily gekommen war. Es war ihm auch egal gewesen. Die Herzhälfte legte er in Alkohol, damit sie nicht verweste. Man wusch Ethan und brachte ihn zu Bett. Es war zu nichts mehr fähig gewesen. Er wollte nur noch den endgültigen Tod. Früher hatte er sich davor gefürchtet, doch diese Furcht erschien ihm plötzlich irrational. Er hatte nichts mehr. Seine Eltern waren tot und seinen Bruder hasste er und wollte ihn tot sehen. Es war einfach nicht fair.

Irgendwann öffnete sich die Tür und Emily trat ein. Sie trug nichts weiter als ihr Unterkleid. Sie fragte nicht, wie es ihm ging oder sagte tröstende Worte. Sie legte sich zu ihm ins Bett und küsste ihn. Während des Kusses entkleidete sie ihn.

Das war sein erstes Mal gewesen und er hätte am liebsten nur geweint.
 

50 Jahre gingen ins Land.

Ethan lebte sich gut in der Gemeinschaft des Clans ein. So mehr oder weniger zumindest. Seid der Nacht, in der Cain ihre Mutter getötet hatte, hatte er sich immer mehr zurückgezogen und wurde zum stillen Einzelgänger. Er lachte so gut wie nicht mehr und sprach nur, wenn es unbedingt notwendig war. Nichts war mehr von dem lebensfrohen, höflichen jungen Mann geblieben, der tollpatschig und mit einem Lächeln auf den Lippen durchs Leben ging.

Mit Kyle hatte er sich ein wenig angefreundet, da beide immer zusammen trainierten und er war es auch, der Ethan alles Grundlegende beibrachte.

Emily war verrückt. Das hatte er bald bemerkt. Und sie war eine Hure. Sie schlief nicht nur mit ihm, sondern auch mit jedem anderen Vampir im Clan. Sie hatte keine speziellen Vorlieben für irgendwen und niemand schien sich daran zu stören, dass sie die Vampire nur benutzte. Als Ethan sie einmal abwies, verließ sie kommentarlos sein Zimmer und vollführte den Beischlaf mit jemand anderen. Sie war in diesem Punkt nicht wählerisch.

Ethan liebe und hasste sie gleichermaßen.

Er liebte sie, weil sie ihm ein zu Hause gab und es ihm an nichts fehlte. Sie schützte ihn so gut sie konnte und tröstete ihn mit ihrer Wärme und ihrem Lächeln. Sie war ihm eine Freundin und gab ihm Halt.

Doch er hasste sie auch, weil sie es war, die ihn in das Leben eines Vampirs gestoßen hatte. Dadurch wurde Cain sein Feind und sein Bruder brachte seine Mutter um. Bald schon fand er heraus, dass Emily wusste, was seine Schwester getan hatte. Deswegen hatte sie ihn auch begleitet, als er seine Mutter besuchen wollte. Wäre er alleine dorthin gegangen, hätte man ihn getötet. Außerdem hasste er es, dass Emily mit jedem das Bett teilte und die Vampire sich wie einen Harem hielt. Manchmal war ihr Wahnsinn so stark ausgeprägt, dass es kaum auszuhalten war. An solchen Tagen wählte sie sich ein Opfer unter den Vampiren und peitschte ihn aus oder folterte ihn auf andere Art und Weise. Meist wurde Ethan diese Ehre zuteil, weil er nicht so folgsam war, wie die anderen. Wenn es ihm zu viel wurde, verreiste er für ein oder zwei Wochen ohne sich zu verabschieden. Dies machte Emily immer besonders wütend. Denn Ethan war etwas Besonderes gewesen.

Vampire konnten nur in der Nacht wandeln. Ein Sonnenstrahl und sie bekamen einen heftigen Sonnenbrand. Setzten sie sich weiter der Sonne aus, verbrannte die Haut und sie wurde nekrotisch. Ethan konnte die Morgen- und Abenddämmerung ertragen, was normalerweise nicht üblich war. Außerdem konnte er Gefühle von Personen spüren. Wenn jemand fröhlich war, kribbelte es in seiner Wirbelsäule. War jemand traurig, dann wurde ihm kalt. Wahrscheinlich lag es an dem Blut von Emily. Ihm war das ziemlich egal, doch Emily und Kyle interessierten sich sehr dafür.

Da es auffiel, dass Emily und ihr Gefolge nicht alterten, zogen sie öfters um.
 

Zurzeit lebten sie in Winchester, im Elternhaus von Emily, um genau zu sein. Jahrzehnte lang lebten sie in Frieden, doch wenn Wächterinnen geboren waren, kam es immer zwangsläufig zu einem Kampf. So wie auch dieses Mal.

Kaum, dass sie sich in Winchester niedergelassen hatten, kamen auch schon die Probleme. Emily lag bei Ethan im Bett. Sie ruhten sich gerade von gewissen Aktivitäten aus, als Kyle ins Zimmer gestürmt kam.

„Emily! Zieh dich an! Wir müssen dich in Sicherheit bringen. Die Werwölfe sind hier!“

Kaum, dass er das gesagt hatte, erklagen auch schon die ersten Schreie. Schnell zogen sie sich an und rannten nach unten. Kyle und Ethan blieben bei Emily und schützen sie so gut sie konnten. Doch die Werwölfe waren in der Überzahl. Emily versuchte so vielen Vampiren wie möglich ihr Blut zu geben, damit sie stärker wurden, doch nur Kyle und Ethan bekamen etwas davon ab. Dadurch konnten sie sich verteidigen und auch Emily schützen, doch der Rest des Clans hatte weniger Glück und wurde gnadenlos von den Werwölfen gerissen. Doch sie gaben nicht kampflos auf und schickten auch einige der Werwölfe in den Tod. Sobald Ethan seinen Bruder erblickt hatte, vergaß er Emily und griff seinen Bruder an. Doch sie konnten ihren Kampf nicht zu Ende führen, denn auch Emily und Eve hatten sich in einen Kampf verwickelt. Beide stießen sich gegenseitig die Dolche der Wächterin in die Brust. Ethan rannte zu Emily, sowie auch Cain zu Eve.

„Em.“, flüsterte er. „Stirb nicht!“

„Ethan.“ Sie lächelte und spuckte Blut. „Verzeih mir… dass ich dich… deines Lebens beraubt… habe. Ich liebe dich… mein-“ Sie konnte ihren Satz nicht mehr zu Ende führen, da ihr Körper in seinen Armen leblos wurde. Er schrie auf. So durfte es nicht enden. Er wollte nicht, dass sie starb. Er wollte sie selbst töten. Er wollte ihr all seinen Hass entgegenschleudern und sie gleichzeitig in den Armen halten.

Auch Cain schrie auf, als Eve ihr Leben genau im selben Moment aushauchte, wie Emily. Tränen benetzten sein weißes Fell.

„Dafür werde ich mich rächen!“, schrie er seinen Bruder an und verschwand mit der Leiche von Eve.

Der Kampf war vorbei. Kyle nahm Emily den Ring, den Dolch und den Schlüssel ab und verschwand. Kurze Zeit später kam er mit einer Truhe wieder.

„Wir sollten Emily begraben.“, sagte er mit gebrochener Stimme.

Doch statt zu gehen, blieben sie, wo sie waren und sahen zu, wie das Anwesen nieder brannte. Durch den Kampf waren Kerzen umgekippt und hatten brennbare Gegenstände, wie die Vorhänge oder den Teppich entzündet. Doch das Feuer erregte die Aufmerksamkeit der Bewohner der Stadt und sie verschwanden mit der Leiche.

Sie begruben Emily und die Truhe unter einem Rosenbusch. Sie liebte Rosen sehr und hätte es sicher so gewollt. Kyle und Ethan wünschten ihr Frieden.

„Was hast du jetzt vor, Ethan?“

„Ich weiß noch nicht.“

„Ich werde mich meiner Aufgabe wieder annehmen und zum Hüter des Schlüssels werden. Schon bald wird die neue Wächterin erwachen. Willst du mich begleiten?“

„Nein.“

„Aus welchem Grund?“

„Ich will einfach nichts mehr mit Wächterinnen zu tun haben.“

„Ich verstehe. Dann wünsche ich dir weiterhin viel Glück.“

Ethan nickte und war verschwunden.
 

Er reiste allein durch England und fand sich irgendwann auf einem Schiff zum Festland wieder. Dort begegnete er Rowen zum ersten Mal. Doch er interessierte sich nicht für andere Vampire. Er wollte durch Einsamkeit seiner Trauer Tribut zollen. Vielleicht würde ihn das irgendwann ja umbringen.

Er bereiste viele Länder. Deutschland, die Schweiz, Österreich, Frankreich, Italien und auch Spanien.

Der Kalender schrieb das Jahr 1950, als er Rowen wieder begegnete. Er lebte zu dieser Zeit in Spanien. Er besaß ein Haus und einige Angestellte. In seiner Zeit auf Reisen hatte er mal hier und mal dort gearbeitet und ziemlich viel Geld angehäuft, da er es nicht für Lebensmittel ausgeben musste. Und der Umstand, dass er seine Opfer, die er tötete, beklaute, sicherte ihm ein gutes Leben.
 

Ethan saß auf der Terrasse seines Hauses und genoss die laue Sommernacht, als Maria, seine Bedienstete, ankündigte, dass ein gewisser Rowen Hayford ihn zu sprechen wünschte. Ethan war diesem Besuch nicht abgeneigt. Es war lange her, dass er einem Landsmann begegnet war.

„Ethan Orwell. Es freut mich, dich wieder zu sehen.“, begrüßte Rowen ihn und setzte sich.

„Rowen. Ich hätte niemals erwartet, dich je wieder zu sehen.“

Es war angenehm, endlich mal wieder englisch zu sprechen. Vampire hatten keine Probleme damit neue Sprachen zu lernen. Doch es gab kaum jemanden, der englisch mit ihm sprach.

„Wie ist es dir ergangen? Seid der Überfahrt auf das Festland haben wir uns nicht mehr gesehen.“

„Ich bin viel gereist. Aber warte einen Moment. Maria?!“

Sie folgte seinem Ruf und trat nach draußen.

„Serviere Tee.“

Sie nickte und verschwand. Während sie warteten, genossen sie den Ausblick. Der Garten war mit verschiedenen Blumen bepflanzt und durch den Gärtner von Ethan sah er gepflegt aus.

Bald darauf brachte Maria den Tee. Rowen schnupperte an der Tasse.

„Earl Grey? Wie kommst du zu solch einem Gut? Seid ich England verlassen habe, habe ich keinen englischen Tee mehr getrunken.“

„Beziehungen.“, antworte Ethan knapp.

„Allein dafür hat es sich gelohnt, dich zu besuchen.“ Rowen trank lächelnd seinen Tee. „Ah… wirklich vorzüglich. Das weckt Erinnerungen an vergangene Zeiten.“

„Warum bist du hier?“

„Sagte ich das nicht? Ich habe erfahren, dass du hier wohnst und wollte dich besuchen.“

Seid Ethan ein Vampir war, war er misstrauisch gewesen und er kaufte Rowen diese Lüge nicht ab.

„Verschwende nicht meine Zeit. Ich bin nicht in Stimmung für deine Lügen.“

Rowen seufzte. „Du hast mich durchschaut. Vortrefflich. Es stimmt. Ich komme mit einer besonderen Bitte zu dir. Bist du mit dem Thema der Wächterinnen bewandert?“

Ethan schwieg. Natürlich wusste er alles, was es über Wächterinnen zu wissen gab, aber das würde er Rowen sicher nicht erzählen. Er wollte damit nichts zu tun haben.

„Nein.“, sagte er schlicht.

„Nein? Wirklich nicht? Nun. Ich habe herausgefunden, dass eine Wächterin Vampire vor Werwölfen schützt. Und dass es einen Schlüssel gibt, den die Wächterin erhält und dieser Schlüssel eine Truhe öffnet, der Aufschluss über die Wächterin gibt.“

Das war ja nicht sehr viel, was auch besser so war. Ethan wollte wirklich einen großen Bogen um dieses Thema machen.

„Und was habe ich damit zu tun?“

„Ich wollte dich bitten, mir bei der Suche der Wächterin zu helfen.“

„Nein!“

„Warum nicht?“

„Das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen. So etwas gibt es nicht. Ich jage keinen Mythen hinterher.“

Seit Emily war er Wächterinnen aus dem Weg gegangen. Immer, wenn eine Wächterin in dem Land erwachte, in dem er sich gerade befand, reiste er weiter und brachte soviel Abstand wie nur möglich zwischen ihnen. Er hatte nämlich den Drang, die Wächterinnen zu treffen. Doch er musste dieses Bedürfnis unterdrücken, da er die Wächterinnen wahrscheinlich getötet hätte. Er hasste sie. Einmal hatte er eine getroffen. Und das war der größte Fehler überhaupt gewesen. Denn dieses Mädchen war keine individuelle Person, sondern Emily höchstpersönlich. Es war, als ob sie nie gestorben wäre. Sie sah zwar anders aus, hatte aber den gleichen Charakter und denselben Wahnsinn wie seine Emily. Das schlimmste war jedoch, dass sie sich an ihn erinnerte. Sie wusste, wie er hieß, wie er zum Vampir geworden war und einige andere Dinge, die nur Emily wissen konnte. Ohne zu zögern brachte er sie um. Seitdem mied er diese Frauen. Daher würde er sich nicht mit Rowen verbünden, um gerade Wächterinnen zu finden.

„Aber wäre es nicht interessant herauszufinden, ob es wirklich ein Mythos ist oder vielleicht doch der Realität entspricht?“

„Nein. Frag jemand anderen.“

Rowen seufzte und trank schweigend seinen Tee.

Doch Ethan änderte seine Meinung ganz schnell, als eine Welle der Übelkeit durch seinen Körper ging. Verdammt! Dadurch, dass das Blut einer Wächterin mitverantwortlich für sein Dasein als Vampir war, spürte er unweigerlich, wenn eine Wächterin erwachte. Und genau das passierte gerade in diesem Augenblick.

Rowen schien es nicht zu bemerken, aber Ethan würde es immer spüren. Jetzt war schnelles Handeln gefragt. Wenn Rowen sich wirklich auf die Suche nach einer Wächterin machte - wovon er ausging – würde diese Frau genauso wie alle anderen mit der Seele Emilys bestraft sein. Unweigerlich würde Rowen dann herausfinden, in welcher Beziehung Ethan zu den Wächterinnen stand. Doch dies war sein dunkles Geheimnis. Er musste unter allen Umständen verhindern, dass Rowen das herausfand. Warum nur war ihm dies nicht schon früher klar geworden? Wenn er Rowen begleitete, konnte er verhindern, dass der Vampir etwas fand. Er würde seine Suche sabotieren und konnte so sein Geheimnis wahren.

„Also gut.“, sagte er und Rowen blickte auf. „Ich habe darüber nachgedacht und werde dich begleiten.“

„Wirklich?“

„Ja. Morgen Nacht brechen wir auf.“

„Und wohin?“

„Vielleicht nach Frankreich. Dort ranken sich viele Mythen.“

Rowen lächelte und der Pakt war besiegelt.
 

So wurden die beiden nicht nur zu Reisegefährten, sondern auch zu Freunden. Sie reisten durch die Länder und Ethan sabotierte Rowen, wo er nur konnte.

5 Jahre später reisten sie nach Asien. Weitere 15 Jahre verstrichen, bis Rowen und Ethan auf Hunter, Jay und Hawk trafen. Ethan hasste diesen Umstand. So viele Vampire auf einmal versetzten ihn in die Zeit zurück, als er noch bei dem Clan von Emily lebte. Außerdem hatte man nie seine Ruhe.

Das veranlasste ihn, sich etwas abzusetzen und er reiste 1979 nach China und traf auf Chris. Sie war die Erste und Einzige, die er in einen Vampir verwandelte. Er fand es eigentlich grausam, Menschen in solche Monster zu verwandeln. Doch Chris war ein besonderer Fall. Es war ihr Schmerz, der ihn zu ihr geführt hatte. Und sie hatte keine Einwände gehabt, also hatte er sich hinreißen lassen. Doch der Umstand, dass Chris durch sein Blut sein ganzes Leben in sich aufnahm, hinderte ihn daran, weitere Zöglinge zu schaffen. Es reichte, dass sie wusste, was mit ihm passiert war. Andere sollten das nie erfahren. Als eine Wächterin in Asien erwachte, half Ethan, dass sie aufgrund mysteriöser Umstände verstarb. Doch er konnte seinem Schicksal nicht ewig entfliehen.

Eines Nachts, er war auf der Jagd, spürte er die Anwesenheit einer vertrauten Person in einer nahe gelegenen Gasse. Der Umstand, dass diese Person im Sterben lag, machte ihn misstrauisch und er sah nach. Es war Kyle, der blutüberströmt im Dreck lag und im Begriff war endgültig zu sterben.

„Ethan?“, fragte er vorsichtig, als er ihn aus dem Schatten heraustreten sah. „Du lebst?“

„Du anscheinend auch. Zumindest noch.“

„Gut, dass ich dich treffe.“

Er hielt etwas in die Höhe. Als Ethan es erkannte, zischte er und wich zurück.

„Bitte.“

„Nein!“

„Ich sterbe. Du musst es für mich tun.“

„Ich bin dir nicht verpflichtet.“

„Dann tue es für Emily.“

„Schon gar nicht für Emily!“

„Du hast keine Wahl.“ Kyle hustete. „Ich, Kyle Elwood, Hüter des Schlüssels der Wächterin der Vampire, übertrage dir, Ethan Orwell, die Pflicht meine Aufgabe weiterzuführen.“

„Nein!“

„Du kannst dich dieser Aufgabe nicht verwehren.“

Ethan knurrte und nahm den Schlüssel, was Kyle ein Lächeln abrang. Dieser Bastard wusste, dass Ethan Wächterinnen getötet hatte. Mit der Aufgabe des Schlüsselhüters war es ihm verboten, die Frauen zu töten. Und er musste sich an die Gesetzte halten.

„Und nun verschwinde. Werwölfe sind hinter mir her.“

So was hatte Ethan sich schon fast gedacht, daher hatte er auch nicht gefragt, wer Kyle diese Verletzungen beigebracht hatte. Da Kyle ihm immer ein guter Freund gewesen war, erwies Ethan ihm die letzte Ehre und schlug ihm den Kopf ab.

Dann rannte er weg, weil die Werwölfe schon sehr nahe waren. Es dauerte auch nicht lange und er stieß mit Shana zusammen. Und so nahm die Geschichte ihren Lauf.
 

And that’s all?
 

Na ja. Meiner Meinung nach hätte es besser sein können, aber es zählt eure Meinung. Wie man gesehen hat, war Ethan nicht immer so, wie er jetzt ist. Also mein Beta hasst die Gladstones. Ich mag sie. Die sind so schön irre. Ich hoffe, es konnten einige Fragen in Bezug auf Ethan geklärt werden. Freu mich wie immer auf eure Meinung.

Also bis denn dann
 

BabyG

Blutiges Silvester

Das Schicksal nimmt manchmal komische Wege. Mal sind diese Wege mit Glück gepflastert, mal legt das Schicksal einem Steine in den Weg. Doch wenn man stark genug ist, dann kann man sein Schicksal ändern.

Das Schicksal bedachte Shana mit mehr Pech als Glück. Sie musste lernen, an sich zu arbeiten, um ihr Schicksal ändern zu können.
 

Shana starrte den Rücken von Ethan an. Sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte. Zu viele Gefühle in ihrem Körper rangen um die Oberhand. Wut, Angst, Trauer, Entsetzen, Unglauben. Sie wusste nicht, welchem Gefühl sie nachgeben sollte. Von so vielen Gefühlen wurde ihr übel. Am liebsten hätte sie sich übergeben.

Ethan drehte sich um.

Mit einem Mal wusste sie, was sie fühlen musste. Seine Augen leuchteten golden und seine Haltung war wie immer arrogant, was Shana in ihrem Gefühl nur noch bestärkte. Sie beugte sich herunter und nahm etwas Schnee. Langsam formte sie ihn zu einer Kugel und warf. Da Ethan nicht damit gerechnet hatte, erwischte sie ihn an der Stirn.

„Spinnst du?“, knurrte er.

„DU ARSCHLOCH!“, schrie sie ihn an und bewarf ihn weiter mit Schnee. Dabei stieß sie wüste Beschimpfungen aus. Wut war doch etwas herrliches gewesen.

Ethan war jetzt vorbereitet und wich ihren Geschossen geschmeidig aus. Shana interessierte das im Moment aber nicht und sie warf immer weiter. Langsam wurde Ethan wütend.

„Hör auf damit!“

„Niemals!“

Sie keuchte und war von der Anstrengung außer Atem. Ihre Wangen waren gerötet und ihr wurde zunehmend wärmer.

„Was hast du für ein Problem?“

„Du bist mein Problem, du Mistkerl!“

Ethan verengte seine Augen zu Schlitzen. „Hüte deine Zunge, blöde Kuh!“

„Ich denke ja nicht dran.“ Sie warf einen weiteren Schneeball. „Du hast mir gar nichts zu sagen.“

Ethan verschränkte die Arme vor der Brust und wich ihren Geschossen weiter aus.

„Bleib gefälligst mal stehen!“ Langsam ärgerte sie sich darüber, dass er ständig auswich. Er knurrte sie als Reaktion nur an.

„Du hast mich angelogen!“, beschuldigte sie ihn.

„Gar nichts habe ich.“

„Warum hast du nie etwas gesagt? Warum hast du alle belogen, du Mörder?!“

„Das ist eine Geschichte die man nicht jedem auf die Nase binden muss. Ich bin kein Mörder.“

„Doch. Das bist du. Du hast Wächterinnen umgebracht. Na, was ist? Willst du mich nicht auch umbringen? Das willst du doch schon, seit wir uns kennen.“

Ethan schwieg.

„Was ist los? Fällt dir dazu nichts mehr ein? Hat dir die Wahrheit die Sprache verschlagen?“

Shana hörte auf, Schnee nach ihm zu werfen und ballte ihre kalten Hände zu Fäusten. Ihren Blick hielt sie gesenkt. Etwas war ihr bewusst geworden.

„Du hast mich ausgenutzt. Was für ein perverses Spiel spielst du eigentlich? Hast du nur mit mir geschlafen, weil ich die Wächterin bin? Oder wolltest du dir damit nur irgendwas beweisen? Vielleicht, dass du Emily überlegen bist? War es das? Wolltest du ihr zeigen, dass du dich ihr nicht unterwirfst? War es nur ein dämlicher Akt der Rache? Zu deiner Information: ICH BIN NICHT EMILY!“, schrie sie. Dann drehte Shana sich um. Sie wollte nur noch weg von Ethan. Doch sie hatte vergessen, dass der Steg glatt war. Sie rutschte aus. Eigentlich hätte sie in den See fallen müssen, doch anstatt die Eisdecke zu durchbrechen und ins eiskalte Wasser zu tauchen, schlang sich etwas um ihren Bauch und sie wurde ruckartig nach oben gerissen. Im nächsten Moment hatte Ethan sie an sich gepresst.

Shana brauchte einen Augenblick um zu begreifen, was gerade hätte passieren können. Ethan hatte sie mal wieder gerettet. Als sie die ersten Schrecksekunden überwunden hatte, wurde ihr bewusst, dass Ethan sie umarmte. Heftig versuchte sie sich aus seinem Griff zu befreien.

„Lass mich los!“, befahl sie. Doch aus Erfahrung wusste sie, dass Ethan ihre Befehle grundsätzlich ignorierte. Er hielt sie weiterhin fest.

„Ich meine es ernst! Lass mich gehen.“

Ethan drückte sie nur fester an sich, so dass Shana sich kaum noch bewegen konnte.

„Ich weiß, dass du nicht Emily bist. Für wie blöd hälst du mich überhaupt? Dass du so was überhaupt nur denkst, ist lächerlich. Emily war eine Frau von Welt. Sie war anmutig, erhaben, schön und redegewandt. Niemals könnte ich sie für dich halten. Euch trennen Welten.“

Shana schnaubte. „Ich weiß, dass ich ein hässlicher Trampel bin. Das musst du mir nicht noch unter die Nase reiben.“ Inzwischen hatte sie aufgehört sich zu wehren, aber Ethan hielt sie weiter fest.

„Du sollst begreifen, dass ich in dir nicht Emily sehe. Sie und du könntet unterschiedlicher gar nicht sein. Denkst du, ich habe dir meine Geschichte zum Spaß erzählt? Denkst du, ich finde es witzig, an Emily zu denken? Es hatte einen anderen Grund.“

„Du wolltest mich mit deiner Geschichte demütigen.“

Ethan lachte verächtlich. „Um dich zu demütigen, muss ich meine Vergangenheit nicht offen darlegen. Das schaffe ich auch auf andere Weise.“

„Warum hast du es dann getan?“ Das interessierte sie wirklich.

„Du sollst begreifen, dass Wächterin zu sein nicht nur irgendein Job ist. Es ist gefährlich. Und auch ich bin gefährlich. Du misst unserem Beisammensein mehr bei, als du solltest.“

„Denkst du, ich weiß das nicht? Natürlich bist du gefährlich. So oft, wie du schon versucht hast mich umzubringen. Ich weiß, was es heißt, Wächterin zu sein.“

„Tust du das wirklich? Bisher hast du deine Aufgabe nicht sehr ernst genommen.“

„Wenn du mal früher mit der Sprache herausgerückt wärst, dann hätte ich sie ernster genommen. Und außerdem ist es mir egal, dass wir miteinander geschlafen haben.“

„Ach wirklich?“

„Natürlich.“

„Warum bist du dann abgehauen, als du das Gespräch zwischen Chris und mir belauscht hast?“

Shana schwieg. Ja, warum war sie weggelaufen? Sie hatte Angst gehabt. Angst, dass Ethan sie auch wegwerfen würde, wie die anderen es alle getan hatten. Er hatte sie benutzt und nun war sie nicht mehr von Wert für ihn gewesen. Sie wusste, dass seine Geschichte irgendwas offenbaren würde, was Shana gar nicht wissen wollte. Das teilte sie Ethan auch mit.

„Blöde Kuh.“

„Was?“

„Denkst du wirklich, dass ich so ein Dreckskerl bin?“

„Warum hast du sonst mit mir geschlafen?“

„Ich wollte dich wieder in diese Welt zurückholen. Es ist fatal für den Clan, wenn die Wächterin nicht ihre Aufgabe erfüllen kann.“

„Und das hättest du nicht auch anders tun können?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe es nicht anders gelernt.“

„Wie bitte?“

„Hast du mir nicht zugehört? Auch ich war in einer ähnlichen Lage wie du gewesen, als meine Mutter ermordet wurde. Emily hat mir geholfen.“

Shana erinnerte sich. Emily hatte ihm dadurch geholfen, dass sie mit ihm geschlafen hatte. Verständlich, dass Ethan dachte, dass man nur so solche Probleme lösen konnte. Sie sah zu ihm hoch. War er wirklich so naiv gewesen?

„Du musst es doch besser wissen.“

„Es hat funktioniert. Mehr war nicht von Bedeutung für mich.“

Shana seufzte. Er war so naiv gewesen.

„Warum dachte Chris, dass du mir deine Vergangenheit erzählen musstest? Ich meine, dass war doch nicht wichtig gewesen.“

Ethan knurrte. „Sie dachte das, was du dir auch eingebildet hast. Sie denkt, weil du die Wächterin bist, würde ich zwangsläufig Emily in dir sehen. Chris ist der Ansicht, dass ich alte Zeiten wieder aufleben lassen will.“

Shana wusste, was für alte Zeiten er meinte und sie schauderte. Wie er es überhaupt geschafft hatte, so lange mit dieser Frau zu leben, war ihr schleierhaft.

„Liebst du Emily noch?“ Shana wusste nicht genau, warum sie diese Frage stellte. Es konnte ihr doch egal sein. Ethan war ein freier Mann und konnte lieben, wen er wollte. Und was bildete sie sich überhaupt ein? Vielleicht, dass Ethan sie lieben würde? Das war ja lächerlich. Trotzdem hatte sie Angst vor seiner Antwort. Denn wenn er Emily wirklich noch lieben sollte, dann war es nicht ausgeschlossen, dass er die Zeiten mit Emily durch Shana wieder aufleben lassen wollte.

„Nein. Ich liebe Emily nicht mehr.“

Shana atmete auf. „Aber du hast sie geliebt?“ Sie konnte es einfach nicht lassen.

„Ich habe sie geliebt und ich habe sie gehasst.“

Shana nickte wissend. „Willst du mir deswegen dein Blut nicht geben? Weil du nicht willst, dass Emily wieder zum Leben erwacht?“

„Was?“ Er sah sie überrascht an.

„Eve hat mir gesagt, dass Emily erwacht, wenn ich das Blut von einem Vampir trinke.“ Es war offensichtlich gewesen.

Ethan schwieg einen Moment. „Ja.“, sagte er dann leise. „Ich will nicht, dass Emily erwacht. Sie ist die Ausgeburt der Hölle. Wenn sie erwachen würde, würde ich sie sofort töten.“

„Deswegen hast du auch alle nachfolgenden Wächterinnen umgebracht? Du wolltest nicht, dass die Zeiten mit Emily wieder von vorne anfangen?“

Ethan nickte. „Sie hat mir alles genommen und das kann ich ihr nicht verzeihen. Sie war ein ekelhaftes Weib.“

Zumindest verstand Shana jetzt, warum er ihr gegenüber immer so abweisend war. Er hatte einfach Angst, weil sie die Wächterin war. Jetzt kannte sie endlich den Grund für seinen Hass. Doch eine Sache interessierte sie noch.

„Warum hast du mich nicht getötet?“

„Ich durfte nicht, weil ich der Hüter des Schlüssels war.“

„Ich meine danach. Als ich den Schlüssel hatte, hattest du doch deine Aufgabe erfüllt und nichts hat dich mehr daran gehindert, mich umzubringen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich aus einer Laune heraus.“

„Was?“ Sie schlug gegen seine Schulter und versuchte sich loszumachen. Ethan ignorierte ihren Schlag und hielt sie weiterhin fest.

„Was glaubst du, warum ich gerade dir den Schlüssel gegeben habe? Ich hatte so eine Ahnung, dass du die Wächterin der Vampire warst. Und als ich dein Blut getrunken hatte, wusste ich es fast sicher. Ich wollte dich töten, als ich dich traf, doch ich hatte keine Zeit mehr dazu. Als ich in der darauffolgenden Nacht zu dir kam und der Schlüssel auf dich reagierte, wollte ich abermals töten.“

Shana erstarrte und ein eiskalter Schauer durchlief ihren Körper. Das hatte sie nicht gewusst.

„Doch ich konnte nicht. Im Laufe der Zeit habe ich viele Wächterinnen kennen gelernt. Und du warst nicht wie sie. Die Anderen waren erhaben und sittsam. Du aber warst aufmüpfig und hast dich völlig falsch verhalten. Statt um dein Leben zu betteln, hast du mich angeschrien. Ich wusste zwar, dass es ein Fehler war, dich am Leben zu lassen, aber ich konnte nicht anders.“

„Warum?“

„Wie gesagt, ich weiß es nicht. Ich habe rein aus Instinkt gehandelt. Also beschwer dich nicht und freu dich, dass du noch lebst.“

Shana wusste nicht so recht, wie sie darauf reagieren sollte. Sollte sie sich freuen, dass er sie am Leben gelassen hatte? Oder sollte sie ihn hassen, weil er ihr Leben als so unwichtig ansah? Doch im Grunde war es ihr egal gewesen. Es ging ihr nicht darum, warum er es getan hatte. Er hatte sie nicht umgebracht und damit war die Sache für die erledigt. Denn er konnte sagen, was er wollte - er hasste nicht sie, sondern Emily.

„Warum hast du mir deine Geschichte nicht schon früher erzählt? Ich hätte alles viel besser verstanden und wir hätten nicht so aneinandergeraten müssen.“

Statt eine Antwort zu geben, ließ er sie los und ging auf Abstand. Er drehte sich von ihr weg und starrte auf das gefrorene Wasser.

„Ethan?“, fragte Shana vorsichtig.

„Das ist keine Geschichte die man einfach so erzählt. Es ist nicht gut, wenn jemand weiß, wer ich bin. Ich war über fünfzig Jahre lang der Spielball von Emily gewesen. Sie hat mich gedemütigt und mich zu einem ganz anderen Menschen gemacht. Denkst du, das ist etwas, was ich jedem gerne erzähle?“

„Nein.“ Shana verstand es. Er hatte gelitten. Ethan war niemand, der eine Schwäche zeigte. Dann drehte er sich zu ihr um und holte etwas aus seiner Manteltasche. Es war ein silbernes Medaillon, das er ihr da hinhielt. Sie nahm es und ließ es aufschnappen. Darin war eine Fotographie. Sie war schwarzweiß. Darauf war eine junge Frau zu erkennen. Sie trug ein dunkles, hochgeschlossenes Kleid. Ihre dunkle Mähne floss in sanften Wellen über ihren Rücken. Sie saß und blickte ausdruckslos in die Kamera. Sie sah aus wie ein Engel.

„Ist das Emily?“

Ethan nickte. Shana sah sich wieder das Bild an. Ethan hatte recht. Sie hatte kein bisschen Ähnlichkeit mit Emily gehabt. Wie konnte sie nur so naiv sein und so etwas denken? Diese Frau war es gewesen, die Ethan zu einem gefühllosen Vampir gemacht hatte. Hass stieg in ihr auf. Wie konnte Emily es nur zulassen, dass aus dem lieben und netten Ethan so ein misstrauischer und abweisender Mann wurde? Nur warum ging Shana das so nahe?

Sie schloss das Medaillon wieder und gab es Ethan zurück. Als er es an sich nahm, berührten sich ganz kurz ihre Hände. Plötzlich machte sich ein Gefühl in ihr breit, womit sie nie im Leben gerechnet hätte. Es machte klick und Shana wusste, warum sie sich das alles so sehr zu Herzen nahm. Sie hasste Ethan nicht, sondern liebte ihn. Diese Erkenntnis kam so plötzlich und unerwartet, dass sie schwankte und leicht anfing zu zittern.

„Es ist kalt. Ich bringe dich zurück in die Gruft.“, interpretierte Ethan ihre Reaktion völlig falsch. Ohne eine Antwort von ihr abzuwarten, hob er sie auf die Arme und machte sich auf den Weg. Zaghaft schmiegte sie sich an ihn. Warum nur war das Schicksal so unfair zu ihr gewesen? Sie konnte Ethan nicht lieben. Doch als sie in sich hineinhorchte, war nur Liebe zu finden. Es war nicht irgendeine dumme Verliebtheit- schön wäre es gewesen. Nein, sie liebte ihn. Ihre Beziehung zueinander war ohnehin schon kompliziert genug und durch ihre Liebe zu ihm, machte sie alles nur noch schlimmer.

Das hast du ja mal wieder toll gemacht, Shana.
 

Im Wohnzimmer saßen alle, bis auf Hunter und sahen fern. Als Chris Shana sah, stand sie auf und ging auf sie zu. Ehe der kleine Vampir sie umarmen konnte, hatte Shana schon ausgeholt und verpasste Chris eine Ohrfeige. Jay war schon aufgesprungen, um seine Freundin zu beschützen, doch im selben Moment umarmte Shana Chris.

„Tut mir leid, aber das hattest du verdient. Ich weiß, dass du es nur gut gemeint hast, aber ich treffe meine Entscheidungen selbst. Misch dich in dieser Beziehung nicht mehr ein. Du wolltest mich nur beschützen, aber ich bin schon groß und kann auf mich selbst aufpassen.“

Chris umarmte sie fest. „Okay. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass dir noch mehr wehgetan wird.“

Shana gab ihr einen Kuss auf die Stirn und lächelte. „Ich habe Hunger. Was gibt es zu essen?“

Alle starrten sie einen Moment verwundert an und fingen dann an zu lachen.
 

Eine Woche verging und Shana hatte ihr Problem immer noch nicht gelöst. Sie liebte Ethan immer noch. Warum konnte sie diese Gefühle nicht einfach abstellen? Bei Yue hatte es doch auch funktioniert. Na ja, aber Yue hatte sie auch nicht geliebt. Sie war lediglich ein bisschen verknallt in ihn gewesen. Leider konnte man das in Ethans Fall nicht sagen. Sie versuchte sich all seine schlechten Seiten vor Augen zu halten, doch sie verwandelten sich alle in gute Seiten. Das war doch nicht mehr normal. Seine ständige schlechte Laune interpretierte ihr verliebtes Herz als Coolness. Seine Beleidigungen nahm sie gar nicht zur Kenntnis, sondern nur die Tatsache, dass er mit ihr redete. Dabei war es ihr egal, was er zu ihr sagte. Chris hatte mal zu ihr gesagt, dass Liebe so war, wie sie eben war, aber das hier konnte sie nicht einfach so abtun. Sie benahm sich total untypisch. Sie versuchte zum Beispiel Ethan aus dem Weg zu gehen. Sie versuchte es wirklich, doch daraus wurde nichts, denn sie verspürte ein abartiges Bedürfnis nach Nähe zu ihm. Es war aber nicht so sehr das Bedürfnis nach Zärtlichkeiten oder Sex. Da konnte sie lange warten. Immerhin war hier von Ethan die Rede. Nein, sie wollte einfach nur bei ihm sein. Seine Nähe reichte ihr schon aus, um glücklich zu sein.

Wenn er aufstand und in die Küche ging, um Tee zu trinken, dann folgte sie ihm. Wenn er dann geduscht hatte und zum Training ging, folgte sie ihm. Zwar musste sie dann selbst auch trainieren, aber das nahm sie in Kauf. Manchmal war sie so befangen von ihm, dass sie ihre Deckung vergaß und Hunter sie nach Strich und Faden verprügelte. Er schrie sie dann immer an und beleidigte sie. Shana aber ignorierte das. Ihr war es egal, was sie auf sich nehmen musste, um bei Ethan zu sein. Wenn Ethan nach draußen ging, wenn es dunkel wurde, dann saß sie wie auf heißen Kohlen. Sie machte sich die ganze Zeit seiner Abwesenheit sorgen und kontrollierte ständig ihr Handy. Sie wollte sichergehen, dass er sie immer erreichen konnte. Wenn sie dann zu Bett gingen, tat Shana immer so, als ob sie schlafen würde und schmiegte sich an ihn. Ihr Herz setzte immer aus, wenn sie seine Haut berühren konnte. Das waren die glücklichsten Momente für sie gewesen. Erfreulich war es auch, dass Ethan sie gewähren ließ. Er umarmte sie zwar nicht, stieß sie aber auch nicht von sich.

Sie fragte sich, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Schließlich konnte sie nicht ewig den liebestollen Groupie spielen. Auf Dauer würde ihr das auch keine Befriedigung verschaffen. Nur leider wusste sie, wie Ethan reagieren würde, wenn sie ihm ihre Liebe gestehen würde. Dann würde sie ihn ganz verlieren und das wollte sie auf keinen Fall riskieren.

Doch wie immer kam alles anders, als erwartet.
 

Sie saß mit Ethan und Rowen in der Küche und frühstückte. Rowen und Ethan waren sich in letzter Zeit nicht gerade wohlgesinnt. Rowen hatte ein paar Mal versucht herauszufinden, was Shana und Ethan besprochen hatten und warum sie miteinander geschlafen hatten und so weiter. Doch Ethan schwieg wie immer und Shana konnte es ihm einfach nicht sagen. Sie fand, dass es nicht fair war. Nicht sie sollte es ihm sagen, sondern Ethan. Daher sagte sie auch nichts zu der kühlen Distanz, die beide zueinander wahrten. Es war sowieso merkwürdig, dass Rowen sauer war. Immerhin war er doch der Verständnisvollste im Clan gewesen und erschien nie neugierig. Doch Shana würde sich da gepflegt raushalten.

Sie nahm gerade einen Schluck von ihrem Tee, als Chris vollkommen aufgebracht in die Küche stürmte.

„Silvester.“, rief sie freudig aus.

Alle sahen sie verwirrt an.

„Was ist mit Silvester?“, fragte Shana irritiert. Warum nur war Chris so aufgebracht? Was hatte das alles mit Silvester zu tun?

„Heute ist Silvester.“

„Ja?“ Seit Shana in der Gruft wohnte, hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.

„Ja. Lasst uns Silvester feiern.“

„Feiern?“ Rowen sah von seiner Zeitung auf.

„Ja, feiern. Wir feiern so selten.“

„Tun wir das?“

„Ja, Rowen. Selbst Geburtstage feiern wir nicht mehr.“

„Es ist auch etwas schwierig, so viele Kerzen auf eine Torte zu bringen.“

„Lasst uns Silvester feiern. Richtig mit Feuerwerk und so.“, überging Chris den misslungenen Scherz von Rowen.

„Aber warum ausgerechnet Silvester?“

„Na, weil man das so macht. Das haben wir noch nie gefeiert. Außerdem ist es für Shana. Es ist wichtig, dass sie normale, menschliche Feste feiert.“

„Also wegen mir musst du das nicht machen.“ Shana maß diesem Ereignis nicht viel bei. Doch als sie den mörderischen Blick von Chris sah, lenkte sie ganz schnell ein. „Andererseits wäre es sicher eine nette Abwechslung.“

„Da habt ihr es. Wir feiern Silvester! Teilnahme ist Pflicht!“ Dabei sah sie Ethan streng an. „Ich könnte doch auch noch die anderen Clans einladen. Je mehr, desto lustiger.“

„Andere Clans?“, fragte Shana. Davon hatte sie ja noch nie was gehört.

„Hat Rowen dir nichts davon erzählt?“

„Nein.“

Beide Frauen sahen zu Rowen. Er wurde doch tatsächlich etwas verlegen. „Ich muss es in der ganzen Aufregung wohl vergessen haben.“

„Aber Sa und Derek wissen von Shana, oder?“

„Natürlich.“

„Und warum waren sie noch nicht hier?“

„Soweit ich weiß, hatte Derek viel zu tun und Sa hatte einige Rivalitäten im Clan, um die sie sich kümmern musste.“

Shana räusperte sich. „Könnte mir mal jemand sagen, wer diese Leute sind?“

„Gewiss. Es gibt nicht nur unseren Clan in dieser Stadt. Noch zwei weitere Ansiedlungen von Vampiren sind hier zugegen, die eine ähnliche Ernährungsphilosophie haben, wie wir.“

„Und dieser Derek und diese Sa sind wer?“

„Derek gehört der Clan im Norden der Stadt. Er ist Kanadier und führt ein strenges Regiment in seinem Clan. Sa kommt aus Vietnam. Sie ist die einzige weibliche Clanführerin, von der ich bisher gehört habe. Sie ist stark, was sie auch sein muss, da sie sich in ihrem Clan behaupten muss.“

„Und die stört es nicht, dass ihr die Wächterin für euch beansprucht?“

„Nein.“ Die Art, wie Rowen das sagte, ließ Shana stutzen. Man sah ihm an, dass er etwas verschwieg. Nervös rückte er seine Brille zurecht.

„Was ist los, Rowen-san?“

„Nun... Derek sagt, dass er auf Frauen verzichten kann. Er meint, dass eine Frau niemals solche Macht hat, wie sie der Wächterin zugeschrieben wird. Und Sa erklärte mir, dass sie eine Wächterin für uninteressant hält. Sa ist stark genug und braucht keine weitere Kraftquelle.“

„Aha.“, meinte Shana nur. Sie hatte wirklich keine große Lust, die anderen Clans kennen zu lernen.

„Ich rufe sie gleich an.“, verkündete Chris, zückte ihr Handy und ging aus der Küche.

Shana seufzte. Das konnte ja lustig werden.
 

Der Rest des Tages verlief ereignislos. Shana wahrte heute Abstand zu Ethan. Ihr war aufgefallen, dass er sie komisch ansah. Hatte er etwas bemerkt? Sie hoffte nicht. Sie würde es nicht verkraften, wenn er sie zurückweisen würde. Dann würde sie endgültig zerbrechen. Daher beschloss sie, sich von ihm fern zu halten. Es fiel ihr auch nicht schwer, weil sie genug zu tun hatte. Erst quatschte sie eine Weile mit Mika und versuchte ihre Freundin aufzuheitern. Mika fand es natürlich blöd, dass sie nicht richtig Silvester feiern konnte, aber Shana konnte ihr da auch nicht helfen. Dann redete sie noch kurz mit Yue. Er fragte sie, ob sie beide nicht zusammen Silvester feiern wollten, aber Shana lehnte ab und sagte, dass sie schon anderweitig eingebunden war.

Nach den Telefonaten nahm Chris sie vollständig in Beschlag. Sie bastelten Deko, machten Essen und planten, wie sie den Friedhof gestalten sollten. Außerdem hatte Chris noch eine Überraschung für Shana. Sie schenkte ihr eine Waffe. Die Großmutter von Rin fertigte Waffen und Chris hatte eine für Shana in Auftrag gegeben. Es war eine Hellebarde gewesen, die man zusammenstecken konnte, so dass man sie handlich verpacken konnte. Chris wollte sie Shana schon vorher geben, aber da sie sich mit Jay beschäftigt hatte, hatte sie es vergessen. Shana bedankte sich und steckte ihre neue Waffe ein.

Sobald es dunkel wurde, schickte Chris die Brüder los um Feuerwerkskörper zu kaufen. Währenddessen stellte sie zusammen mit Shana Fackeln und Kerzen auf den Friedhof und sie gestalteten alles etwas festlich.

Nachdem sie sich zurechtgemacht hatten, versammelten sich alle draußen. Bald darauf erschienen auch die anderen Vampire. Dem Clan von Derek gehörten acht Vampire an, darunter zwei Frauen. Derek war ein Hüne von einem Mann. Er war muskelbepackt, groß, hatte helles Haar und Augen und einen grimmigen Gesichtsausdruck. Narben zierten sein Gesicht, was ihn hart erschienen ließ. Und da er nicht lächelte, sah er zum fürchten aus. Sa hingegen waren sechs Vampire unterstellt. Drei Frauen und drei Männer. Sie war wie eine Amazone. Groß, schlank, muskulös und wunderschön. Auch sie lächelte nicht.

„Es freut mich, dass ihr unserer Einladung gefolgt seid. Die Zusammenkunft ist von großer Bedeutung für uns.“

„Herrgott, Rowen.“, knurrte Derek. „Wir haben nicht mehr das Jahr 1850. Rede so, dass man dich versteht.“

„Verzeih.“

„Sei nicht so gemein, Derek. Wir sind nicht hier, um zu streiten.“ Die Stimme von Sa war leise und ruhig. Shana gefiel das nicht.

„Darf ich euch die Wächterin vorstellen? Das hier ist Shana. Shana? Das sind Derek und Sa.“

Shana trat vor. Sollte sie sich verneigen oder ihnen die Hand geben? Sie wusste es nicht genau. Sie wollte zu einer Begrüßung ansetzten, aber Derek war schneller.

„Das ist also die Kleine?“ Derek nahm ihr Gesicht in seine große Hand und drehte es hin und her. „Sehr spektakulär sieht sie ja nicht aus. Eher unbedeutend.“

„Hey!“, protestierte Shana.

„Willst du mich dumm von der Seite anmachen, Kleine?“

Shana schlug seine Hand weg und funkelte ihn wütend an. „Ich bin weder unbedeutend, noch bin ich eine Kleine. Mein Name ist Shana! Soll ich es noch buchstabieren oder geht das über deinen Horizont hinaus?“

Alle starrten sie an. Derek sah sie einen Moment mit großen Augen an und fing dann an zu lachen.

„Du gefällst mir.“ Er grinste, was sein Gesicht ein wenig attraktiver erscheinen ließ. Er legte einen Arm um Shana und sah Rowen an. „Vielleicht mache ich ja doch Anspruch auf sie geltend, Rowen.“

Shana entzog sich seiner Umarmung und baute sich vor ihm auf. „Ich bin niemandes Eigentum! Ich entscheide, was ich will und zu wem ich will!“ Dabei bohrte sie ihren Zeigefinger unaufhörlich in seine Brust.

Derek lachte erneut, nahm dann ihre Hand und küsste sanft ihren Handrücken.

„Du musst mich auf jeden Fall besuchen kommen. Ich liebe Frauen die Mumm haben.“

Bevor Shana wieder den Mund aufmachen konnte, trat eine Frau vor und haute Derek auf den Hinterkopf.

„Soweit kommt es noch!“, schimpfte sie. „Sie kann gerne zum Tee kommen, mehr aber auch nicht, du Schwerenöter!“

Derek grinste. „Darf ich dir meine reizende Frau vorstellen? Das ist Heather.“

Daraufhin mussten alle lachen.
 

Es wurde ein lustiges Fest. Shana wurde jedem vorgestellt. Sie hätte nie gedacht, dass es so viele verschiedene Nationalitäten in den Clans gab. Da waren Spanier, Australier, Russen, Franzosen und sogar Deutsche und Afrikaner. Alle sahen blendend schön aus und waren sehr nett. Sie verstand sich gut mit ihnen. Als dann auch Rin kam, war die Feier perfekt.

Bis auf einige kleine Streitereien waren alle friedlich.

Shana ließ den Blick über die Menge schweifen. Man unterhielt sich oder tanzte sogar. Als sie das Gesamtbild betrachtete, fiel ihr auf, dass von überallher etwas bei den Vampiren aufblitzte. Als sie genauer hinsah, erkannte sie Waffen. Es waren Handfeuerwaffen, Dolche, Schwerter und Äxte. War das eine reine Vorsichtsmaßnahme gewesen oder steckte mehr dahinter? Sie wusste es nicht genau. Aber sie konnte den Vampiren auch keinen Vorwurf machen, denn sie selbst trug ihre neue Waffe auch bei sich. Chris hatte darauf bestanden und Shana hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Außerdem hatte sie auch ihren Dolch dabei. Man konnte ja nie wissen.

Shana hatte gerade eine Runde gedreht und mit jedem ein wenig geplaudert, als sie Ethan entdeckte, der allein und etwas abseits an einem Grabstein lehnte. Sie holte einmal tief Luft und ging zu ihm.

Vorsichtig lehnte sie sich an den Grabstein neben ihn. Er sagte nichts, beachtete sie noch nicht einmal. Shana seufzte. Sie hätte ihn gerne gefragt, was mit ihm los war, aber da sie seine Standardantworten schon zu genüge kannte, ließ sie es bleiben.

Nach einiger Zeit brach Ethan zu ihrer Verwunderung das Schweigen. „Wenn du dich an mir rächen willst, solltest du subtiler vorgehen.“

„Was? Wie kommst du darauf, dass ich mich an dir rächen will?“

„Du hängst an mir wie eine Klette. Soll diese Nerverei als Rache dafür gelten, was ich dir angetan habe?“

„Nein.“

Ethan schnaubte. „Nein. Natürlich nicht.“

„Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen.“

„Warum gehst du mir dann auf die Nerven?“ Er musste sich ja wirklich sehr von ihr gestört fühlen, wenn er sie sogar nach dem Grund dafür fragte.

„Das tue ich nicht.“

Er sah sie von der Seite her böse an und Shana zuckte zusammen. Erwischt.

„Tut mir leid, wenn dich meine Anhänglichkeit nervt.“

„Das ist eine Entschuldigung und kein Grund.“

Ach? Wirklich? Shana musste es sich verkneifen, damit sie ihre Gedanken nicht laut aussprach. „Du bist meine Bezugsperson.“, sagte sie stattdessen.

„Deine was?“

„Ich habe niemanden mehr. Die Familie, von der ich glaubte, sie wäre mein Fleisch und Blut, ist nicht blutsverwandt mit mir. Mein Leben war eine einzige Lüge. Ich weiß nicht mal, wer ich eigentlich bin. Bin ich Shana oder Emily? Ich habe jegliches Gefühl für Realität verloren. Es hört sich zwar merkwürdig an, aber wenn ich in deiner Nähe bin, ist für mich die Realität klar erkennbar. Es ist nicht alles nur schwarz und weiß, sondern farbig. Ich weiß nicht, wie du das machst, aber du bist mein Anker. Ohne dich würde ich wahrscheinlich wahnsinnig werden.“

Shana sah zu Boden. Was redete sie da eigentlich? Da konnte sie auch gleich sagen, dass sie ihn liebte und ihn so vertreiben. Ethan war für solche Gefühle nicht geschaffen. Warum nur fühlte sie sich dann so von diesem Vampir angezogen?

Vorsichtig sah sie ihn an. Er sah nachdenklich aus. Dann huschte so etwas wie Erkenntnis über sein Gesicht. Es war zwar nur ganz kurz, aber Shana hatte es gesehen. Er wusste, was sie für ihn empfand. Verfluchter Mist!

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Ich kann nichts dagegen machen.“

Ethan wollte etwas sagen, doch plötzlich erstarrte er. Shana spürte es auch. Ihr Schlüssel fing regelrecht zu brennen an und sie zuckte zusammen.

„Was für eine nette Party. Warum habe ich keine Einladung bekommen?“

Shana bekam eine Gänsehaut bei dieser Stimme. Alle Vampire, einschließlich Shana und Ethan, sahen in die Richtung, aus der diese grauenvolle Stimme kam. Auf einem Grabstein saß Eve. Am Fuße des Grabsteins saßen zwei Wölfe.

„Ethan. Shana. Kommt doch bitte näher.“

Hinter sich hörte Shana ein Knurren und ein Werwolf trat aus der Dunkelheit. Es war nicht irgendwer, sondern ihr guter, alter Freund Kato.

„Komm!“, sagte Ethan und sie gingen näher an Eve heran. Auch die anderen Vampire wurden zusammengetrieben. Eve klatschte erfreut in die Hände.

„Endlich sind wir alle vereint.“ Sie lächelte und schlug ihre Beine übereinander. „Ich hoffe, ich habe eure Feier nicht zu sehr gestört.“

„Was willst du?“

„Also bitte, Ethan. Sei doch etwas freundlicher zu mir. Willst du mir nicht etwas zu trinken anbieten?“

„Tut mir leid, aber das Arsen ist uns ausgegangen.“

„Lass die Witze.“

„Komm zur Sache.“

Eve seufzte. „Musst du mir immer den Spaß verderben?“

Ethan schwieg.

„Nun gut. Wie du weißt, muss es zu einem Kampf kommen. Ich habe mir gedacht, dass heute Nacht perfekt wäre. Mein Liebling war auch einverstanden und deswegen sind wir hier.“

„Emily ist nicht erwacht. So lange das nicht passiert ist, darfst du einen Kampf in diesem Ausmaße nicht einleiten. Es gibt Regeln.“

Eve schnaubte. „Regeln. Ich habe es satt mich an die Regeln zu halten. Du musst ihr nur dein Blut geben und dann hat alles wieder seine Ordnung.“

„Du weißt doch, dass er Emily nicht erwecken will. Das würde er nicht verkraften.“, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. Shana kannte diese Stimme. Ein junger Mann trat hinter dem Grabstein hervor und küsste Eve auf die Wange. Dann wandte er sich an die anderen. Shana stockte der Atmen. Er hatte braunes Haar und seine Augen hatten einen sanften Karamellton. Das konnte doch nicht sein.

„Yue?“, fragte Shana leise.

Eve grinste. „Du hast deine Rolle perfekt gespielt, Liebling.“

„Danke für das Kompliment.“

„Was hat das zu bedeuten?“, verlange Shana zu wissen. Was hatte Yue mit den Werwölfen zu schaffen?

Er überging ihre Frage. „Hallo, Eth.“

„Cain.“, knurrte Ethan bedrohlich.

Shana schlug die Hand vor den Mund. Cain lachte.

„Wir haben uns seit über hundert Jahren nicht mehr gesehen. Wie wäre es mit einer Umarmung?“ Cain breitete seine Arme aus.

„Eher würde ich mir die Arme abhaken, als sie um dich zu legen.“

„Wann bist du nur so verbittert geworden?“

„Vielleicht, als du Mutter zerfetzt hast?“

Cain lachte. „Das trägst du mir immer noch nach?“

„Bitte sag mir, dass das nicht dein Bruder ist.“, flehte Shana.

„Was glaubst du wohl, blöde Kuh?“

Oh. Mein. Gott. Sie hatte nicht nur einen Werwolf, sondern auch einen Mörder unzähliger Menschen geküsst. Shana wurde schlecht. Ihr erster Kuss - und das von Cain. Konnte es noch schlimmer werden? Es konnte!

„Wie geht es dir, geliebte Shana?“

„Geliebte?“ Ethan sah sie erstaunt an.

„Hast du ihm etwa nichts von uns erzählt? Du böses Mädchen.“

„Was meint er damit?“

„Ich... das... ich...“, konnte Shana nur stammeln.

„Wir sind ein paar Mal miteinander ausgegangen, Bruder.“

„Was?“

„Woher sollte ich denn wissen, wer er ist? Er hat gesagt, dass er Yue heißt.“, versuchte Shana sich zu verteidigen.

„Du hast mit Cain rumgemacht?“ Ethan war kurz vorm explodieren.

„Woher sollte ich das denn wissen?“

Ethan knurrte. „Das gehörte alles zu deinem Plan, nicht wahr?“ Dabei sah er Cain wütend an.

„Natürlich wusste ich, wer sie war. Hälst du mich für dumm? Und es war amüsant mich ein wenig mit deiner Wächterin zu vergnügen. Wobei ich sagen muss, dass sie nicht sehr aufregend war.“

„Halt die Klappe!“, schrie Shana fast. Am liebsten wäre sie im Boden versunken.

Cain lachte. „Gräme dich nicht. Ethan und ich sind Brüder und teilen gerne.“

„Du bist nicht mehr mein Bruder! Dieses Recht hast du schon vor langer Zeit verwirkt!“

„Seit ihr fertig?“, fragte Eve gelangweilt. „Das hier sollte mein großer Auftritt werden.“

„Verzeih mir bitte, Liebste.“

„Natürlich tue ich das.“

Von diesem Liebesgeplänkel wurde Shana wieder übel.

„Da wir schon bei Enthüllungen sind, sollte auch ich mich zu erkennen geben.“ Eve lachte. „Oder was meinst du dazu, Liebling?“

„Gewiss solltest du das. Ich denke, dass du dadurch vielleicht sogar deine Schwester wiederbekommst.“

„Wovon redet ihr?“

„Sei nicht so unhöflich, Ethan. Ich unterhalte mich gerade mit deinem Bruder.“

Ethan spuckte verächtlich aus um zu zeigen, wie wenig ihn das interessierte.

Eve lächelte und schnippte mit den Fingern. Eine weitere Person trat aus der Dunkelheit. Shana musste schlucken, als sie Sho erkannte. Das konnte doch nun wirklich nicht sein. Der Freund von Mika gehörte auch dazu? Er hielt etwas glänzendes in der Hand und warf es Shana dann vor die Füße. Sie zuckte etwas zurück, doch dann sah sie zu Boden. Ihre Hände zitterten, als sie das Armband vom Boden aufhob. Es war aus Leder und in der Mitte war eine silberne Platte, auf der ein Datum eingraviert war.

„Nein.“, flüsterte Shana.

„Doch.“, hielt Eve dagegen.

„Was hast du mit Mika gemacht?“

„Was soll ich schon mit ihr gemacht haben?“

„Dieses Armband habe ich Mika vor fünf Jahren geschenkt.“

„Ich weiß. Das Datum war der Tag, an dem ihr Freunde geworden seid. Ich finde das ziemlich sentimental. Das passt überhaupt nicht zu dir, Schwester.“

„Woher hast du das Armband? Was hast du Mika angetan?“

„Ich habe sie verschwinden lassen.“

„Du lügst! Ich habe heute noch mit ihr gesprochen. Sie ist nicht verschwunden!“

„Ich glaube, du hast mich nicht ganz verstanden. Ich bin erwacht und habe ihren Körper übernommen. Mikas Geist ist tot!“

„NEIN!“, schrie Shana. „Mika ist im Krankenhaus. Ich habe mit ihr telefoniert!“

„Wenn ich den Körper eines Mädchens übernehme, dann kann ich mir ihre Eigenschaften nach Belieben aneignen.“, sagte Eve mit der Stimme von Mika. Um ihre Behauptung noch zu untermauern, zeigte sie Shana eine blassrosa Narbe auf dem Unterarm. Diese Narbe hatte Mika sich im Kochunterricht in der Schule zugezogen, als sie sich am Backofen verbrannt hatte.

„Nein!“ Shana brach in Tränen aus. „Gib sie mir zurück“, schrie sie und wollte sich auf Eve stürzen, doch Ethan hielt sie zurück. „Gib mir Mika wieder!“

„Mika ist tot.“

„Ich hasse dich!“ Nun konnte Shana nichts mehr halten. Sie hatte endgültig alles verloren. „Du verdammte Irre! Ich hasse dich abgrundtief! Du bist ein Ungeheuer! Du-“ Shana wollte ihr noch weitere Beleidigungen an den Kopf werfen, doch Ethan hielt ihr den Mund zu.

„Halt die Klappe, blöde Kuh!“, fuhr er sie an.

Doch es war schon zu spät. Die Augen von Eve glühten rot auf.

„Niemand beleidigt mich!“, schrie sie. „Vernichtet sie alle!“, gab sie den Befehl und die Werwölfe traten aus der Dunkelheit und griffen an. Dann brach die Hölle los.

Ethan packte Shana und schleuderte sie in ein Gebüsch. Tränen rannen ihr im Überfluss über die Wangen. Sie hatte alles verloren. Ihre Familie, ihre Freunde, ihr Leben. Einfach alles. Sie hatte das Gefühl, als ob man ihr das Herz herausgerissen hätte. Warum? Warum nur war das Schicksal so grausam zu ihr? Womit hatte sie das verdient? Sie war nichts mehr. Sie sollte den Rat von Eve befolgen und das Blut eines Vampirs trinken. Dann wäre Shana endlich tot. Emily wäre sicherlich nützlicher als sie.

Langsam stand sie auf. Sie sah, wie die Vampire und die Werwölfe gegeneinander kämpften. Sie hörte Schreie, Beschimpfungen und das Klirren von Waffen. Sie sah den Clan. Sie kämpften mit Inbrunst gegen ihre Feinde. Warum nur kämpften sie? Warum musste es immer einen Kampf geben?

Shana wischte sich über die Augen. Dabei fiel ihr Blick auf den Ring. Romia hatte nicht so einfach aufgegeben. Auch sie war ein Nichts, doch sie kämpfte für ihre Überzeugungen und verteidigte, was sie liebte. Shana sah abermals zu ihrem Clan. Rowen, Chris, Jay, Hawk, Hunter und Ethan. Sie waren nicht nur einfach ihr Clan, sie waren ihre Familie. Sie waren alles, was sie noch hatte. Und das, was sie noch hatte, musste sie unter allen Umständen verteidigen. Sie war zwar nicht so stark, wie die Vampire, aber kampflos würde sie sich nicht ergeben.

Geschickt schraubte sie ihre Hellebarde zusammen und stürzte sich in den Kampf. Sie sah Rowen, der gegen einen Werwolf kämpfte. Doch der kluge Vampir war am verlieren. Der Werwolf drängte ihn mehr und mehr in die Enge. Shana fasste ihre Hellebarde fester und rammte ihre Waffe zwischen die Schulterblätter des Werwolfes. Dieser brüllte auf und Shana erkannte an der Stimme, dass es Kato war. Endlich konnte sie dieses ekelhafte Subjekt fertig machen!

Shana zog ihre Waffe heraus und Blut quoll aus der Wunde. Kato drehte sich um und wollte Shana eine verpassen, doch sie duckte sich unter dem Schlag hindurch und stieß erneut zu. Diesmal war es ein gezielter Stich ins Herz. Kato sah einen Moment geschockt aus. Dann rollten seine Augen nach innen, so dass man nur noch das Weiße sah und er stürzte zu Boden. Dort blieb er regungslos liegen.

„Nenn mich nie wieder Süße!“ Ha! Das war doch mal etwas geistreiches gewesen.

Sie drehte sich zu Rowen. „Alles okay bei dir?“

„Das war beeindruckend.“

„Hast du eine Waffe?“

„Gewiss.“

Er zeigte ihr einen Dolch.

„Gib ihn mir.“

Statt zu tun, was sie sagte, starrte Rowen sie nur an. Sie seufzte genervt und nahm dann ihren eigenen Dolch. Ohne Umschweife schnitt sie sich in den Arm.

„Trink.“

„Was?“

„Mein Blut macht dich stärker. Immerhin bin ich die Wächterin. Also diskutier jetzt nicht mit mir. Mach es einfach!“

Rowen wollte etwas sagen, doch dann klappte er den Mund zu und nickte. Vorsichtig leckte er über die Wunde und das anschließende Saugen war etwas unangenehm, doch sie würde es überleben. Als Rowen sich von ihr löste, leuchteten seine grünen Augen intensiv.

„Das ist faszinierend.“

„Pass auf dich auf.“

Shana stürzte sich wieder in den Kampf. Sie half, wo sie nur konnte und spendete den Vampiren Blut. Eigentlich hätte ihr durch den Blutverlust schwindelig werden müssen, aber das Adrenalin, was durch ihren Körper jagte, ließ sie nichts spüren. Selbst die angeknacksten Rippen, die ein Werwolf zu verschulden hatte, als sie einen Moment nicht aufgepasst hatte, spürte sie kaum. Sie fühlte sich einfach großartig.

Shana sah sich um und hielt Ausschau nach weiteren Vampiren. Was sie sah, erschreckte sie. Jay und Chris waren bereits tot. Ihre Körper lagen regungslos auf dem Boden. Sie unterdrückte ihre Trauer so gut es ging. Damit würde sie sich später befassen müssen. Auch Hawk schien sich nur noch schlecht als recht auf den Beinen halten zu können. Gerade, als sie ihm zur Hilfe eilen wollte, ertönte ein fürchterliches Gebrüll. Shana sah in die Richtung, aus der es kam. Es war Cain, der schrie. Sein ganzer Körper zitterte und sein Maul war weit aufgerissen. Auf dem Boden neben ihm lag Eve. Sie regte sich nicht mehr. Ethan stand in unmittelbarer Nähe. Er hatte einen Dolch in der Hand, von dem Blut auf den Boden tropfte. Er hatte Eve doch nicht etwa umgebracht?

„STIRB!“, schrie Cain und dann ging alles ganz schnell.

Er schoss auf Ethan zu und versenkte seine messerscharfen Zähne in die linke Schulter von Ethan. Er riss ihm das Fleisch regelrecht vom Körper, als Cain sich zurückzog. Ethan schrie schmerzerfüllt auf und taumelte, während Blut aus der Wunde spritze. Shana setzte sich in Bewegung, doch es war schon zu spät.

Cain rammte seine Klauen in die Oberschenkel von Ethan und riss ihm mit seinen Zähnen den Bauch auf. Ethan fiel leblos zu Boden. Cain ließ von ihm ab, als er sich versichert hatte, dass sein Bruder nicht mehr aufstehen würde, und ging dann zu Eve, um sie zu betrauern.

Shana kam schlitternd zum stehen und fiel neben Ethan auf die Knie. Es war durchlöchert und zerfetzt. Überall war Blut.

„Ethan?“, fragte sie mit zittriger Stimme. Tränen benetzten ihre Wangen. Langsam öffnete er ein Auge.

„Du heulst... schon wieder.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Ich kann nicht anders.“

„Das macht... macht dich hässlich.“

„Ich weiß. Sprich nicht so viel und schone dich.“

„Eve ist...“, überging er ihre Bitte.

„Ja. Sie ist tot.“

„Gut.“

„Bitte stirb nicht.“

„Nerv... mich nicht.“

Shana lächelte und strich ihm einige Strähnen aus dem Gesicht. „Du darfst mich nicht verlassen. Ich habe doch nur noch dich.“

„Blöde... Kuh!“

„Ethan!“

„Wir sehen uns... wieder.“

„Was?“

„Bleib du selbst... dann... sehen wir... uns wieder.“

„Versprochen?“

„Versprochen... Shana...“ Sein Körper erschlaffte.

„Ethan?“

Er reagierte nicht.

„ETHAN!“

Er war tot.

„Nein, nein, NEIN! Du darfst mich nicht alleine lassen, du Mistkerl! Warum tust du mir das an?“

Sie sah auf ihn herab und konnte durch die Tränen kaum noch etwas erkennen.

„Lass mich frei.“

Shana zuckte zusammen und sah sich um. Wer hatte das gesagt? Wer störte sie in ihrer Trauer?

„Lass mich frei.“, hörte sie wieder eine Stimme.

„Wer ist da?“

Sie wollte Ethan beweinen und nicht gestört werden.

„Ich bin es.“

„Wer ist ich?“

„Emily.“

Das war doch jetzt ein Witz.

„Ich beliebe nicht zu scherzen.“

Shana sah sich suchend um, konnte aber niemanden entdecken.

„Ich bin in dir drin. Mit den Augen vermagst du mich nicht zu sehen.“

Shana wurde wahnsinnig. Ganz eindeutig.

„Du bist nicht dem Wahnsinn verfallen.“

„Hör auf mit mir zu reden!“

„Lass mich frei.“

„Was?“

„Trinke das Blut von Ethan und lass mich frei. Dich hält hier nichts mehr. Du hast niemanden mehr.“

„Ich soll verschwinden?“

„Gewiss. Es ist deine Bestimmung mir Platz zu machen. Ich werde erwachen. Mein Blut ist stärker als deines. Ich werde die Vampire zum Sieg führen.“

„Dann werde ich sterben.“

„Ist dies nicht dein Wunsch? Dein Liebster ist tot. Willst du ihm nicht folgen?“

Shana dachte darüber nach. Alles wäre so viel einfacher. Sie würde das Blut von Ethan trinken und sterben. Die Schmerzen hätten ein Ende. Die ganze Qual wäre vorbei. Sie würde einfach Emily ihren Platz einnehmen lassen und die Anderen würden gerettet werden. Sie konnte endlich die Verantwortung abgeben und musste sich um nichts mehr kümmern.

Shana ließ den Blick über das Schlachtfeld gleiten. Sie sah Rowen. Er lag auf dem Boden und sein Kopf stand in einem merkwürdigen Winkel ab. Hawk hatte man den Kopf vom Körper gerissen. Auch Hunter und Rin lagen regungslos am Boden.

Sie sah wieder zu Ethan. Er hatte gesagt, dass Shana sie selbst bleiben musste. Nur dann würden sie sich wiedersehen.

„Nein!“, sagte sie bestimmt.

„Wie bitte?“

„Du bist nichts weiter, als eine verrückte, grausame Hure. Niemals werde ich dir meinen Körper überlassen!“

„Wenn du nicht weichst, wirst du verlieren.“

„Ich werde so oder so sterben. Und ich sterbe lieber im Kampf, als abzutreten, wenn ich dir meinen Körper überlasse.“

„Unterwerfe dich mir!“

„NEIN!“, schrie Shana und auf einmal war es still in ihrem Kopf. Sie konnte die Anwesenheit von Emily nicht mehr spüren. Gott sei dank.

Sie beugte sich zu Ethan herunter und küsste den Teil seiner Stirn, der nicht blutverklebt war.

„Warte auf mich. Ich komme gleich wieder.“ Sie lächelte, wischte sich die Tränen weg und stand auf. „Cain!“

Der weiße Werwolf sah auf.

„Stell dich mir. Ich werde dich umbringen für das, was du getan hast!“

Cain stand auf, schüttelte sich und fing an zu lachen. Es hörte sich so an, als ob man mit den Fingernägeln über eine Tafel kratzen würde.

„Du willst mich umbringen? Überschätze dich nicht.“

„Ich werde mich dafür rächen, dass du mich betrogen hast und mir meinen ersten Kuss geraubt hast! Wenn ich nur daran denke, wird mir übel.“

„Ich war es nicht, der die Unschuld deiner Lippen geraubt hat. Leider war mein Bruder schneller als ich.“

„Was?

„Ich bin ein übernatürliches Wesen. Ich weiß, wovon ich rede.“

Shana musste sich zusammenreißen, um ihre Freude zu verbergen. „Dann werde ich mich eben dafür rächen, dass du mich geküsst hast.“

Sie ging in Kampstellung, so wie Hunter es ihr beigebracht hatte.

„Ich kann dir nicht vergeben, dass du Ethan getötet hast! Dafür werde ich dich töten!“

„Das ist lächerlich.“

„Unterschätze niemals eine Frau, die verzweifelt ist und nichts mehr zu verlieren hat.“

Ohne weitere Worte griff sie ihn an. Sie hatte den Überraschungsmoment auf ihrer Seite und traf Cain mit ihrer Waffe am Oberarm. Er knurrte und schlug nach ihr. Shana wurde voll getroffen und flog einige Meter über den Boden. Doch davon ließ sie sich nicht beeindrucken, rappelte sich schnell wieder auf und griff erneut an. Cain war ein harter Gegner. Sie musste mehr einstecken, als sie austeilen konnte. Irgendwann nahm Cain ihr die Waffe ab und schleuderte sie außer Reichweite.

„Was willst du jetzt ohne deine Waffe machen?“, fragte er spöttisch.

Shana keuchte. Lange würde sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Sie musste es jetzt beenden. Langsam holte sie ihren Dolch hervor.

„Denkst du, der Zahnstocher kann mir was anhaben?“

Shana ignorierte ihn, schrie auf und rannte auf ihn zu. Den Dolch hielt sie im Anschlag. Auch Cain machte sich bereit. Sie verletzten sich gleichzeitig. Cain hatte ihr seine Klauen in Hals und Brust gerammt. Sie hatte mit ihrem Dolch mitten in sein Herz gestochen. Sie ließen von einander ab und kamen zeitgleich zum Erliegen.

Shana lag da und starrte in den Himmel. Sie hörte einen Glockenschlag und eine bunte Lichterpracht zerplatzte über ihr. Das neue Jahr hatte begonnen.

„Ich habe mich an unsere Abmachung gehalten. Also halte du auch dein Versprechen, Ethan.“, dachte Shana und lächelte. Dann schloss sie die Augen und starb. Sie starb als der Mensch, der sie schon immer gewesen war.

Shana.
 

And that’s all?
 

Okay... ich hoffe, dass die meisten Fragen jetzt geklärt werden konnten. Wer sich fragt, warum das Update so früh kommt... ich hatte Zeit zum Schreiben und mein Beta war ebenfalls schnell fertig und ich wollte euch einfach nicht länger auf die Folter spannen. Das letzte Update (Ja, letztes Kapitel XD) kommt am 27.12. also Freitags.

Wer mich umbringen will, weil alle sterben... nun... lasst euch nicht aufhalten *grins* Aber da kommt ja noch was XD

Wer Unhappyendings mag, sollte nach diesem Kapitel nicht mehr weiter lesen. Ich hoffe, ihr hattet sonst Spaß und ich konnte euch etwas überraschen. Dann noch fröhliche Weihnachten und an dieser Stelle wie immer danke für die lieben Kommentare.

Bis denn dann
 

BabyG

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute

Es ist egal, wer man ist. Man muss nicht gut aussehen oder klug sein, um etwas Besonderes zu sein. Es reicht, wenn man an sich glaubt und Menschen um sich hat, die einen lieben und an einen glauben. Mehr braucht man nicht, um glücklich zu sein.
 

Shana wachte auf. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie starrte an eine weiße Decke. Moment mal! Sie war doch tot. Wo waren die Engel mit ihren Harfen und wo waren die flauschigen Wolken? Oder war sie gar nicht im Himmel? War sie am Ende doch in der Hölle gelandet? Aber es sah hier nicht gerade wie in der Hölle aus.

Langsam sah sie sich um. Das sah nach ihrem alten Zimmer bei den Minabes aus. Okay. Sie nahm alles zurück. Sie war doch in der Hölle.

Sie stand auf, verfing sich aber in den Unmengen von Deckenschichten und fiel der Länge nach auf den Boden.

„Aua.“, wehklagte sie. Langsam fand sie das nicht mehr lustig. Vorsichtig richtete Shana sich auf. Ihre Beine zitterten und ihre Arme fühlten sich schlaff an. Wo war nur ihre ganze Körperkraft geblieben? Irgendwie war nichts mehr davon übrig.

Sich an den Wänden festhaltend schaffte sie es ins Badezimmer. Der Blick in den Spiegel war ernüchternd. Sie sah einfach grauenhaft aus. Ihre Haare waren verfilzt, die Augenringe waren schon keine Ringe mehr, sondern Krater und im Allgemeinen war sie sehr blass. Nur wo waren ihre Verletzungen? Sie wusste, dass sie viele Kratzer im Gesicht abbekommen hatte. Hastig machte sie ihren Oberkörper frei. Da war nichts! Rein gar nichts. Ihre Hals und ihre Brust waren makellos. War sie denn verrückt geworden? Cain hatte ihr die Kehle und die Brust aufgeschlitzt. Und wo war ihr Schlüssel? Schnell sah sie zu ihrer linken Hand. Kein Ring. Träumte sie noch? Sie war tot. Ganz eindeutig tot! War sie vielleicht jetzt ein Geist gewesen? Gab es so was überhaupt?

Sie wusch sich das Gesicht, doch das machte die ganze Situation auch nicht klarer. Sie zog sich etwas über und ging in die Küche. Sie brauchte einfach Gewissheit.

Als Shana in der Küche angekommen war, saßen dort Sakura und Ken Minabe und frühstückten. Shana machte sich auf alles gefasst.

„Shana.“, sagte Sakura eindringlich und gleichzeitig besorgt, was Shana irritierte. Aber sie konnte ihr nichts tun. Immerhin war sie nicht ihre leibliche Mutter. Shana war stark.

„Warum bist du aufgestanden?“, fragte ihre ehemalige Mutter mit sanfter Stimme. Wieso redete sie so beruhigend? Und warum war sie so freundlich? Wo war der ganze geballte Hass geblieben? Was für ein Film lief hier eigentlich ab?

„Hä?“, fragte Shana perplex. Zwar konnte sie jetzt ausschließen, dass sie ein Geist war, aber trotzdem verstand sie nicht das Geringste.

„Geht es dir wieder besser, Schwester?“

Schwester? Okay. Jetzt war Shana komplett verwirrt.

„Was ist hier los?“, brachte sie auf den Punkt.

„Kannst du dich an nichts mehr erinnern? Du hast plötzlich hohes Fieber bekommen und drei Tage geschlafen.“

„Was? Du lügst! Warum seid ihr alle so freundlich? Was soll das? Du bist noch nicht mal meine leibliche Mutter, Sakura. Du hast mich verprügelt und vor die Tür gesetzt. Du hasst mich! Und du, Ken? Du hasst mich ebenso. Ihr wollt mich doch nur fertig machen!“ Shana holte tief Luft. Das war doch ein ganz übler Scherz.

„Hast du vielleicht noch Fieber?“ Sakura wollte ihre Hand auf Shanas Stirn legen, doch sie schlug sie beiseite.

„Fass mich nicht an!“, zischte sie.

„Bitte beruhige dich. Das musst du alles nur geträumt haben. Du bist mein leibliches Kind und wir lieben dich. Ken hasst dich auch nicht. Er blickt zu dir auf.“

Das war ja mal was ganz Neues.

„Es ist meine Schuld.“, sagte Ken traurig. „Kurz bevor du richtig krank wurdest, hatte ich dich doch gebeten, mit mir für eine wichtige Prüfung zu lernen. Dir ging es an diesem Tag schon nicht gut, aber du hast mir trotzdem geholfen. Es tut mir leid.“

Das war zuviel für Shana gewesen und sie musste sich setzten. Die Minabes waren zwar gute Schauspieler, aber so gut waren sie auch wieder nicht. Es hörte sich alles nicht so wie sonst an. Sagten sie die Wahrheit? Sollte das alles wirklich nur ein Traum gewesen sein? Die letzten Monate, alles in drei Tagen und Nächten zusammengeträumt? Das konnte doch nicht wahr sein. Was war mit den Vampiren und den Werwölfen? Alles nur ein Traum? Und Ethan? Nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie? Shana war zum Heulen zumute. Es fühlte sich doch alles so echt an. Und was war mit Mika? War sie nicht die Reinkarnation von Eve gewesen und ihre Feindin? War Mika dann vielleicht doch nicht tot? Sie brauchte Bestätigung.

Schnell stand sie auf und ging nach oben. Nachdem sie sich ihre Schuluniform angezogen hatte, ging sie wieder nach unten.

„Du willst zur Schule?“, fragte Sakura. „Du bist doch gerade erst aufgewacht. Bleib doch bitte noch im Bett liegen. Es macht nichts, wenn du noch etwas in der Schule fehlst.“

Und das aus dem Munde dieser Frau. Okay, so besonders fühlte sie sich wirklich nicht, aber sie musste mit Mika sprechen. Von Angesicht zu Angesicht.

Als Sakura bemerkte, dass Shana nicht nachgeben würde, seufzte sie. „Dann nimm wenigstens etwas zu Essen mit.“ Sie gab Shana ein Bento. Sie hatte noch nie ein Bento für sie gemacht.

„Danke.“ Auch wenn diese Freundlichkeit nur gespielt war, war Shana trotzdem noch höflich.

Dann machte sie sich auf den Weg.

In der Schule angekommen, ging sie zielstrebig in ihre Klasse. Sie fühlte sich zwar immer noch wackelig auf den Beinen, aber ihre Entschlossenheit trieb sie an. Aber Moment! Wenn das alles wirklich nur ein Fiebertraum gewesen war, war sie dann wirklich mit Mika befreundet? Kannten sie sich überhaupt? Ging Mika mit ihr in eine Klasse? Existierte Mika eigentlich? Es waren so viele Fragen und Shana brauchte unbedingt Antworten.

Sie setzte sich auf ihren Platz. Normalerweise kam Mika immer sofort. Shana blickte sich um. Nichts war von Mika zu sehen.

Plötzlich kam ein Mädchen mit gebleichten, kurzen Haaren und braunen Augen herein. Es war Mika und sie sah ziemlich abgehetzt aus. Würde sie mit Shana reden? Oder würde sie Shana gleich umbringen? Ohne ihren Dolch fühlte sie sich nackt und hilflos. Sie war nervös, als Mika auf sie zu kam und vor ihr stehen blieb.

„Guten morgen, Süße.“ Süße? So hatte Mika sie noch nie genannt.

„Morgen, Mika.“

„Schön, dass du wieder gesund bist. Geht es dir auch wirklich besser? Du siehst blass aus. Hat deine Mutter dich freiwillig gehen lassen? Sie ist doch immer so überfürsorglich, wenn es um dich geht.“

Das war Mika, wie sie leibte und lebte. Sie redete wie immer, ohne Luft zu holen. Zwar konnte Shana mit den Wortschwall von Mika wie immer nichts anfangen, aber was machte das schon?

„Ähm... mir geht es soweit gut.“

„Das freut mich. Es war ziemlich langweilig ohne dich.“ Sie lächelte, so wie immer, doch Shana hatte noch immer nicht ganz den Durchblick.

„Wie geht es Sho?“, versuchte sie es.

„Sho? Mit dem bin ich doch schon lange nicht mehr zusammen. Das weißt du doch.“

„Ach ja, richtig. Hatte ich vergessen.“

„Hast du vielleicht noch Fieber?“

„Nein, nein. Es geht schon. Kennst du vielleicht Cain? Oder Eve?“

Mika befühlte ihre Stirn. „Du scheinst noch leichtes Fieber zu haben.“

„Bitte, Mika.“

„Ich weiß nicht, wer das sein soll. So langsam mache ich mir Sorgen um dich.“

„Musst du nicht. Tut mir leid, dass ich gefragt habe.“

„Ist irgendwas passiert?“

„Nur ein Traum. Ein sehr schöner, aber auch schmerzhafter Traum.“

„Erzähl mir später davon.“

Mika strich ihr über den Kopf und setzte sich dann auf ihren Platz, da die Lehrerin kam.

Als der Unterricht begann, hörte Shana schon nicht mehr zu. Mika war also so, wie sie immer war. Wobei das ‚wie immer’ relativ war. Shana wusste nicht, was genau jetzt real war und was nicht. Wer sagte denn, dass das hier nicht ein Traum war? Vielleicht spann sie sich diese Welt ja nur zusammen. Sie hatte ziemlich viel Blut verloren. Vielleicht war sie ja gar nicht tot, sondern lag im Koma und träumte sich diese Welt hier zusammen. Denn ihr angeblicher Fieberwahn-Traum kam ihr realer vor, als das hier. Alles hier war so unreal. Sie fühlte sich leer und vermisste ihren Clan.
 

Der Unterricht verging langsam und zog sich wie Kaugummi in die Länge. Shana entdecke ganz neue Seiten an sich, während sie in der Schule war. In dieser Welt hier war sie eine gute Schülerin. Sie schrieb gute Noten und gehörte mit zu den Besten ihrer Klasse. Schlimmer noch, ihre Mitschüler mochten sie. Und zu allem Überfluss zeigten auch einige Jungs Interesse an ihr.

Shana fühlte sich unwohl. Sie war froh, als sie nach Hause gehen konnte.

Da die Bahn um diese Uhrzeit voll war, ging Shana zu Fuß nach Hause. Das Fieber war auch wieder etwas gestiegen und die frische Luft tat ihr gut. Außerdem fühlte sie sich elendig. Diese Welt hier war ja schön und gut, doch es fühlte sich nicht richtig an. Mit dieser Freundlichkeit und Aufmerksamkeit kam sie einfach nicht zurecht. Ihr fehlten die Anderen so sehr.

Rowen, der immer über Geschichte und Bücher sprach und ein angenehmes Wesen hatte.

Chris, der kleine Vampir, der ohne Punkt und Komma redete und sehr liebenswert war.

Jay, der zu allem und jedem nett war und sich um einen kümmerte.

Hawk, der zwar nicht sprach, aber mit seiner ruhigen Art ein angenehmer Zeitgenosse war.

Ja selbst Hunter, der sie ständig verprügelte und sie runter machte. Sie sehnte sich geradezu nach diesen Streitereien.

Und schließlich Ethan. Dieser blöde Perversling, den sie liebte. Zwar auf eine sehr merkwürdige Art und Weise, aber sie liebte ihn. Leider konnten sie nicht mehr klären, was er für sie empfand, doch sie wusste, dass er sie nicht hasste.

Doch das alles war nur ein Hirngespinst. Klar! Vampire, Werwölfe und Wächterinnen gab es auch nicht wirklich. Sie lächelte bitter. Das war doch alles mist.

Plötzlich und ohne jede Vorwarnung traf sie etwas am Hinterkopf. Das Wurfgeschoss flog über ihren Kopf und landete vor ihren Füßen. Es war eine zusammengepresste Dose gewesen. Das reichte! Erst diese blöde Erkenntnis und jetzt das!

Shana hob die Dose auf, drehte sich um und warf. Doch erst, als die Dose ihr Ziel getroffen hatte, erkannte sie, wer da vor ihr stand. Ihr Gesicht wurde kreidebleich.

„Du blöde Göre! Ich bringe dich um!“, sagte der Getroffene gereizt.

„Nun beruhige dich doch bitte.“

„Halt die Klappe, Ro. Mit dir redet keiner!“

Shana konnte es nicht glauben. Da waren sie. Ihr Clan. Und es war helllichter Tag. Sie schloss die Augen. Das war alles nur ein Traum. Ein Traum, verflucht noch mal. Nichts weiter als eine Ausgeburt ihrer blühenden Fantasie! Ja, denkste.

Als sie die Augen wieder öffnete, standen sie immer noch da. Shana bewegte sich langsam auf sie zu. Ihr Körper fing an zu zittern und ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Hunter und Rowen hörten auf zu streiten und sahen sie an.

„Shana!“, kreischte Chris und umarmte sie fest.

„C... Chris?“ Chris war tot. Sie hatte ihren leblosen Körper am Boden liegen sehen.

„Wie geht es dir? Gut? Ich habe dich schrecklich vermisst. Du siehst blass aus. Du solltest mal in die Sonne gehen. Oder leg dich einfach ein bisschen hin. Du siehst müde aus.“

„Wa... Wie? Warum? Wieso?“ Shana war immer noch total verwirrt. „Ihr seit doch tot! Nein! Ihr seid nur ein Traum. Ihr seid nicht real. Ich... ich-“ Shana brach ab.

Jay und Chris lächelten. Hawk sah unbeteiligt aus. Rowen stand die Faszination ins Gesicht geschrieben und Hunter sah grimmig aus. Shana war den Tränen nahe. Rowen legte ihr seine Hand auf die Schulter.

„Es ist alles gut. Mach dir keine Sorgen.“

„Wieso, Rowen-san? Wieso lebt ihr? Wieso seid ihr hier? Wieso könnt ihr in der Sonne rumlaufen? Und komm mir nicht damit, dass ich mir keine Sorgen machen soll! Was ist hier los?“

Statt zu antworten, lächelte Rowen sanft, was sie fast wahnsinnig machte. Am liebsten hätte sie jemandem Gewalt angetan. Warum auch nicht? Das war doch eh alles nicht real. Sie knuffte Hunter in den Oberarm, woraufhin er gegen ihre Schulter boxte. Es tat weh. Wenn es wehtat, war es doch kein Traum. Sie war immer noch verwirrt. Vor allem, alle waren da. Rowen, Jay, Chris, Hawk und Hunter. Doch wo war Ethan?

Gerade, als sie fragen wollte, kam Jay ihr zuvor.

„Wir sollten los. Rin wartet sicher schon auf uns.“

„Was?“, fragte Shana entsetzt. Sie konnten doch jetzt nicht so einfach gehen. Und doch taten sie es. Sie gingen an ihr vorbei und Shana drehte sich um.

„Wartet!“, flehte sie.

Chris lächelte, als sie sich im Gehen umdrehte. „Wir sehen uns nachher noch.“

Und dann waren sie um die Ecke gebogen und aus ihrem Blickfeld verschwunden. Shana hätte am liebsten losgeheult. Ihre Gefühle und ihr Verstand fuhren Achterbahn. Warum lebten sie? Sie hatte gesehen, dass alle gestorben waren. Jeden einzelnen hatte sie sterben sehen. War es nun ein Traum oder war es real?

Plötzlich hörte sie ein Geräusch hinter sich. Was kam jetzt? Vielleicht Cain, der sie wieder umbringen wollte? Zaghaft drehte sie sich um. Erst dachte sie, es wäre wirklich Cain, doch er hatte keine schwarzen Haare.

„E... Ethan?“, fragte sie mit zittriger Stimme. War er es wirklich?

„Wer sonst, blöde Kuh?“ Jetzt hatte sie Gewissheit.

„Ethan!“, jubilierte sie und ging auf ihn zu. Sie wollte ihn umarmen, doch er ging auf Abstand.

„Komm mir nicht zu nahe.“

„Warum?“

„Ich wollte dir nur etwas geben.“

Er hielt ihr ihre Sachen hin. Den Schlüssel, den Dolch und den Ring. Shana musste ihre Tränen wirklich unterdrücken.

„Danke.“ Sie drückte die Sachen einmal liebevoll an sich und verstaute sie dann in ihrer Tasche.

„Damit habe ich meine Schuldigkeit getan.“ Er sah sie nicht mehr an und drehte sich um, bereit zu gehen.

„Warte!“, rief sie und er hielt in seiner Bewegung inne.

„Was?“, fragte er genervt. Sie konnte ihm ansehen, dass er weg von ihr wollte.

„Was ist passiert?“

„Was soll passiert sein?“

Fragte er das wirklich? „Verdammt! Wir sind alle gestorben. Warum leben wir wieder? Warum könnt ihr am Tage raus? Gib mir endlich eine Antwort!“

„Ist das wichtig?“

Shana sah ihn bloß erstaunt an. Was war denn das für eine bescheuerte Frage gewesen?

„Musst du unbedingt verstehen, was passiert ist? Freu dich doch, dass du wieder lebst.“

Er drehte sich um und ging. Sie wusste, dass wenn sie ihn jetzt gehen lassen würde, würde sie ihn für immer verlieren. Schnell brachte sie ihre Beine in Bewegung und rannte hinter ihm her. Dann griff sie ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. Shana dachte nicht nach und küsste Ethan einfach. Sie brauchte eine Bestätigung dafür, dass sie nicht verrückt war. Und Ethan zu küssen war für sie das einzig Logische. Erste regte er sich nicht und sie bekam Angst. Doch dann bewegten sich seine Lippen sanft auf ihren und ihr Herz zersprang fast vor Glück und Freude.

Für sie hätte der Kuss ewig so weitergehen können. Ihr war es egal, ob es nun Traum oder Realität war. Allein seine Lippen berühren zu dürfen, war genug Bestätigung für sie. Langsam lösten sie sich. Shana ließ ihre Hände in seine gleiten und hoffte, dass Ethan sie nicht von sich stoßen würde. Er tat es nicht.

„Ist das dein Ernst?“, fragte er nachdenklich. Sie nickte.

„Und wenn ich nicht will?“

„Dann werde ich es akzeptieren müssen. Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Seid ihr noch Vampire oder nicht? Ist das alles nur ein Traum oder Realität? Was ist Wahrheit und was ist Lüge? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, was ich fühle und daran kannst du nichts ändern. Du weißt, wie ich zu dir stehe. So lange du und auch die anderen bei mir sind, ist es mir egal.“

Ethan lächelte. Er lächelte sie doch tatsächlich an.

„Blöde Kuh!“, sagte er liebvoll.

„Kannst du nicht wieder Shana zu mir sagen? Einmal hast du es doch schon geschafft.“

Er grinste „Niemals.“

Es war nicht so, dass sie sich ihre Liebe gestanden hätten oder so. Natürlich nicht. Ethan war nicht der Typ, der so ein Geständnis von sich geben würde. Aber sie brauchte das auch nicht. Allein das Gefühl, das er ihr gab, wenn er ihre Hand hielt oder sie ansah, reichte ihr schon. Sie wusste, dass er sie auch liebte. Dafür brauchte sie kein Liebesgeständnis.

Hand in Hand gingen sie um die Ecke, wo die anderen gewartet hatten und Shana musste lächeln.

Das war ihre Familie. Vampire oder nicht, diese Menschen fingen sie auf, wenn sie fallen würde. Sie trösteten sie, wenn sie traurig war. Sie würden sie nicht abweisen, sondern mit offenen Armen empfangen. Das waren die Menschen, für die sie alles tun würde.

Alles, auch bis in den Tod.
 

And that’s all!
 

Na? Habt ihr eine schöne Weihnacht gehabt? Ich hoffe, ihr habt schöne viele Geschenke bekommen XD

Okay… ich glaube mich werden alle wegen des Endes hassen, was ich durchaus verstehen kann. Tja… warum leben sie wieder? Sind sie nun Vampire oder nicht? War es nur ein Traum oder nicht?

Nun… ich denke, diese Fragen kann ich nicht beantworten. Ich mag offene Enden ganz gerne und vielleicht macht ihr euch ja selbst eure Gedanken, was denn nun genau passiert ist *smile*

Meine Beta hasst dieses Ende auch, aber ich war nicht bereit es zu ändern. Mir gefällt es so.

Ich kann an dieser Stelle nur danke sagen. Danke, dass ihr mir so lange treu geblieben seid. Ich finde es komisch, dass es jetzt zu Ende ist. Es war eine lange Zeit. Ein großes Lob an alle, die mich so lange ausgehalten haben. Ihr seid super Leute. Danke, danke, danke.

Bis denn dann
 

BabyG



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Von:  Tsatura
2009-11-23T00:39:42+00:00 23.11.2009 01:39
So, ich sollte eigentlich im Bett liegen, aber deine FF hat mich so gefesselt, dass ich die letzten Kapitel unbedingt noch lesen musste!
Ich muss ganz ehrlich sagen, verdammtnochmal das is die beste FF die ich jemals hier gelesen hab *-*
Dein Schreibstil is echt mega schön & du kannst so toll beschreiben *.*

Die Geschichte im Allgemeinen hat mich auch gut gefallen. Und die Charas erst :D
Shana war echt eine Hauptperson wie ich sie noch nicht erlebt hab, echt spitze! Und Ethan war genauso perfekt, ich mochte ihn von Anfang an x3
Hunter hat mir auch richtig gut gefallen und seine Liebesbeziehung zu Rin war zum wegschmeißen :D
Ich mochte Rowen nicht, ich weiß selber nicht wieso, vllt war er ZU nett. Und Jay und Chris auch nicht.
Dafür Hawk umso mehr (: obwohl er nicht geredet hat, seine Gesten waren so schnuckelig (:
Auch Mika mochte ich nicht, und als sie sich so verändert hat, hab ich echt gedacht sie wurde auch in einen Werwolf verwandelt ^^
Das mit Yue, omg i-wie war mir klar das er dieser Cain war, ich hab mir die Beschreibung von seinem Aussehen durchgelesen, als er und Shana sich das erste mal getroffen hatten & mit dem Bild von Cain in der Charakterübersicht verglichen und irwie hatte ich da sone Vorahnung.
Aber das er mit Ethan verwand war, hätte ich nie gedacht.
Die Gladstone Schwester Emily und Eve waren jawohl mal voll Psycho ô.O wobei ich sagen muss, dass ich Emily noch weniger mag als Eve xD

Das Ende wo alle gestorben, verdammt ich hab so übertrieben geheult :(
Mein Vater kam nur rein und hat mich gefragt warum ich weine xD war echt ziemlich peinlich ...aber egal ^^

Das Letzte Kapitel hat mich extrem verwirrt und ich möchte soooo gerne wissen was jez wirklich war, sind sie Vampire? Warum können sie bei Tag raus? Oder hat Shana das alles nur geträumt? Doch woher kannte sie dann den Clan? >.<
Verdammt ich kann gleich sicher nicht schlafen weil ich mir den Kopf zerbreche xD
Und auch die Minabes sind auf einmal so scheiße freundlich xD
Oha was soll ich noch sagen?
Vielen Dank, dass das Kpitel "Blutiges Silvester" nicht das Ende der FF war! Ich steh nämlich auf Happy-Ends :D
Und auch Danke für des süße Ende von Shana und Ethan x3 ich freu mich so für die beiden ! x3

so und zum Schluss noch ein kleines Wort an dich:
Ich werde aufjedenfall morgen mal deine anderen FF's durchstöber ^.^
werde sicherlich noch interessante Sachen finden ;P
Schreib schön fleißig weiter, das kannst du echt gut !
Wenn du mal ein Buch rausbringen solltest, sag mir Bescheid, es wird in mein Bücherregal aufgenommen (:
und auch fals du eine Fortsetzung hierzu schrieben solltest, worüber ich mich riiiiiiesig freuen würde, wäre es sehr lieb wenn du mir Bescheid gebene würdest (:
genauso wenn du andere FF's schreibst - du hast einen neuen Fan! :D
In dem Sinne
lieben Gruß
Tsatura
Von: abgemeldet
2009-08-28T15:32:18+00:00 28.08.2009 17:32
Ich kann nur sagen: WOW!
Dein Schreibstil ist echt hammer und die Geschichte auch! ...Wenn du jemals ein Buch schreibst, ich kauf's mir! xD
Das Ende war meiner Meinung nach auch wirklich passend, da in den vorigen Kapiteln ja auch die 'Verschwommmenheit' (weiß grad nich, wie ich mich ausdrücken soll^^) zwischen Lüge und Wahrheit bzw. Realität und Traum thematisiert wird. Außerdem isses ganz nett, dass Shana nach ihrem ganzen Leid endlich mal ein besseres Leben führen kann, auch wenn es wirklich etwas gruselig war (ihre Family)! Oo
Deine Geschichte war wirklich gut durchdacht und meiner Meinung auch ganz gut verständlich.
Shanas Charakter mochte ich auch besonders, auch wenn sie sich manchmal wirklich etwas kindisch aufgeführt hat...aber wer ist das nicht mal?! xD Ihre Beziehung zu Ethan war auch süß! <3 Ich mag, wie sich die beiden immer streiten. xD
Der Schreibstil hat auch super zur Geschichte gepasst! Es war schön sarkastisch (genau wie ich's mag xD), düster aber auch lustig, deine Sprüche sind echt abgefahren! xD Ich mag es wirklich wie du so viele Elemente miteinander verbinden kannst!

Zum Schluss noch etwas konstruktive Kritik, da gibt's nicht viel, keine Sorge. xD
Dein Erzähltempo war echt genau richtig, es ging weder zu schnell, noch hat man sich gelangweilt...jetzt kommt das 'aber', meiner Meinung nach ging der Kampf zwischen den Vampiren und Werwölfen irgendwie zu schnell zu Ende (was vielleicht daran liegen mag, dass du dich schwer tust längere Kampfszenen zu schreiben, also meine Vermutung, so geht's vielen Leuten, mich eingeschlossen xD) und auch hätte ich mir auch noch eine Eve - Shana-Szene gewünscht oder hatte sie auch erwartet, da die Handlung ja im Prinzip nur auf diesen 'finalen' (ok, wahrscheinlich wird er sich in der Zukunft dann mit den Reinkarnationen der beiden wiederholen) Kampf abgestimmt war.
und dann noch eine Sache, die mich wirklich etwas beim Lesefluss (der sonst wirklich echt gut war!) gestört hat: Wenn du wie in dieser Geschichte im Perfekt schreibst, kannst du nicht einfach Plusquamperfekt verwenden, ohne es als Vorzeitigkeit zu verwenden, das hast du meiner meinung nach (fast) immer bei 'war gewesen' getan. (Oh Gott, ich komm mir hier echt kleinlich vor, aber ich wollte es trotzdem ansprechen, schließlich ist Kritik die Möglichkeit seinen Schreibstil immer weiter verbessern zu können, so seh' ich das jedenfalls^^)

Was ich noch sagen wollte: Als ich mich auf die Suche nach ner Vampir-Story begeben hatte, hatte ich echt nicht erwartet sowas Tolles zu finden, du hast mich echt glücklich gemacht! ;D
Ich denk, ich schau mir auch mal deine anderen FF's an und hoffe, du schreibst bald wieder was über Vampire!
...Ach ja, und tut mir Leid, dass ich nicht bei jedem Kappi einen Kommi hinterlassen hab, war einfach zu fasziniert von der Geschichte! (Dafür ist dieser hier vermutlich so ungefähr der längste Kommi, den ich jemals hinterlassen hab xD)

Lg
Kyuu
Von: abgemeldet
2009-04-20T11:57:12+00:00 20.04.2009 13:57
ich muss sagen, ich habe mich, während ich dieses FF las, mehrere male krumm und schief gelacht. Lustig war zB "Seife war wohl auch nur eine Modeerscheinung für sie gewesen", oder "Blöder Ethan. Konnte er überhaupt lachen? Er war so komisch wie ein Sack Reis".

Beim ersten mal lesen kannte ich den ganzen Bis(s)-Zirkus nicht, aber im nachhinein springen einem die Parallelen zum Original schon ins Auge (aua!) ^^
aber ich muss sagen, Ethan ist mir sympathischer als Edward. Und Shana ist sowieso lustiger als Bella. Und nich so ne Heulsuse...
aber egal. Ich will jetzt nich rumschleimen, deshalb: toll! *__*
Von:  Lady_Moonlight
2009-04-12T18:03:02+00:00 12.04.2009 20:03
Eigentlich wollte ich ein Kommi zu der gesammten FF verfassen..wollte wohl nicht^^'
*drop*
so viel dazu
und nu zur FF

Die ist einfach nur Hammer mässig geil. Ich habe schon immer regelrecht auf das Neue Kapitel gewartet..ich finde den Streit zwischen Ethan und Shana immer cool XD
ich habe mich immer weggelacht dabei^^
Ich finde dir richtig geil^^
Habe die dann, wo ich sie gelesen hatte sofort in meine Favos reingemacht^^

Von: abgemeldet
2009-01-03T14:57:34+00:00 03.01.2009 15:57
Hmmm...
Das Kapitel war...
Komisch? Gut? Fragen aufbringend?
Ich weiß nicht genau xD
Aber warum ist die Familie von Shana jetzt so nett? Ist sie im Himmel gelandet?
Vielleicht ist es ja das Leben, das sie jetzt nach dem Tod führt? Vielleicht ist sie ja tatsächlich im Himmel? Vielleicht ist der Himmel der Ort an dem man kriegt was man verdient? Respekt? Liebe?
Gott...Aber das ihre Mutter so nett war war echt abscheulich xD
Brr...
Die anderen leben wieder. :D Jaaa!
Und Ethan...
Ich dachte schon ich würde nie wieder etwas über ihn lesen.

Das war ein sehr...schönes aber merkwürdiges Ende. Toll, dass sie alle im "Himmel" gelandet sind.

LG meloO :3

Ach, ja und sag Bescheid wenn du an einer neuen Geschichte schreibst, ja? ;D
Von:  Kooriko_Cosplay
2008-12-31T08:22:16+00:00 31.12.2008 09:22
*lach*
ah! das ende ist echt geil^^ voll gut geschrieben^^ hoffe du schreibst bald wieder eine Story^^(am besten über Vampire)^^ guten Rutsch^^
Von:  P-Chi
2008-12-29T08:52:34+00:00 29.12.2008 09:52
Uiiii xDDD *schwelg* Das ist schön...
Aber ich fände es viel lustiger, wenn sie sich in einem anderem Leben wieder getroffen hätten. *schulterzuck* Wie auch immer, auch das Ende hat mir sehr gut gefallen ... naja. Die Minabes waren ziemlich psycho drauf. Warum waren die so...so ...NETT ?!!? o_O'
Ich verstehe das nicht, und ehrlich gesagt ich will's nicht wissen.
Shana, oh du Glückliche, endlich mit Ethan vereint! Hurray! ;3
Bin total Happy deswegen! Auch der Clan ist wieder da, mit dem schnuckligen Hunter xDD Klasse!
Das war echt gut geschrieben, ich konnte mich total in Shanas Verwunderung hineinversetzten.^^
Ich finde es aber sooooo traurig das es jetzt zu Ende ist T_T Eine Ära ... vorbei. *heul*
Schreibst du vielleicht bald wieder eine Vampirgeschichte? Sagst du mir dann bescheid? Bitte! Das wäre so toll ...>///<

SuperMegaLiebeGrüße by VampBraut *^-^*


Von: abgemeldet
2008-12-27T13:41:56+00:00 27.12.2008 14:41
*heul*
so ein ende gefällt mir ^^
das hast du großartig gemacht und mir is es egal warum sie wieder leben hauptsache sie tun es und sind glücklich^^
schade das diese geschichte jetzt vorbei ist >.<
ich wäre sehr froh wenn du mir ne ens schreibt falls du ne neue geschichte anfängst^^

ich wünsche dir noch einen guten rutsch ins neue jahr
lg bloodyangel
Von: abgemeldet
2008-12-27T13:25:03+00:00 27.12.2008 14:25
Oh mein Gott !!! *erleichtert*
sie leben wieder.. *luftsprung*
das ist ja echt toll.. aber leider hattest du mit deiner vermutung recht.. ich bin völlig verwirrt von dem ende.. da bleibt noch so viel offen.. *nörgel*... und ich will doch unbedingt wissn, warum jetzt alles os ist, wie es ist.. maanooo *schmoll*
aber trotz alledem fand ich das kapitel ganz toll.. ethan und shana.. *seufz* ich bin echt glücklich, dass sies endlich geschafft haben, zusammen zu kommen <33
eich hoch auf die zwei!! ( und auf die anderen nadürlich auch)

es hat echt spaß gemacht deine geschichte zu lesen.. ich hoffe doch, dass war nicht deine letzte und wir werden in nächster zeit noch mehr von dir zu lesn bekommen ;)
Guten Rutsch ins neue Jahr!

LG
Von: abgemeldet
2008-12-26T20:25:10+00:00 26.12.2008 21:25
Ohhhhhhhhhhhhhhhhh......wie süüüüüß...........
Shana und Ethan habens endlich geschafft..........
Um ehrlich zu sein als ich das erfahren hab war mir auhc egal ob sie noch vampire sind oder sonst was....oder ob das ein traum war......
Hauptsache es ist gut ausgegangen.......ich liebe Happy Ends.......
Total toll geworden das ende.......
Und irgendwie freu mich auch für Shana das sie jetzt ne nette Familie hat........
Du kannst soo toll schreiben....ich hätte die Story noch ewig weiter lesen können.......
Ich hoffe du schriebst bald noch mal einen neue Story......
Würd mich freuen......
Ich war ne treue Leserin und werd auch deine neuen Geschihcten ganz bestimmt lesen.......
Ich wünsch dir aufjedenfall noch nen guten rutsch und hoffe du hattest schöne Weihnachtstage........

Bis im neuen Jahr.....
gggggglG Snow


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