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Vogelfrei

von

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ONE

Das Blut floss schneller als sonst durch meine Venen. Ich fühlte mich wie gerädert. Mein Gehirn arbeitete in doppeltem Tempo, obwohl die Gedanken nur so durch meinen Kopf schossen und das Denken so gut wie unmöglich machten.

Meine Hände zitterten nicht, sie waren ruhig, doch eiskalt. Als würden sie von all dem Blut nicht erreicht werden.

Eine Gänsehaut überzog meine Haut von den Füßen bis zum Hals. Ich konnte Stimmen in meinem Kopf hören, die immer lauter wurden.

Angstschweiß bildete sich auf meiner Stirn.

Allerdings konnte ich nicht sagen, wovor ich Angst hatte.

Mein Kopf pochte. Die Stimmen schrien und klagten, jammerten und kreischten um Vergebung, um Reue, um eine Reaktion von mir.

Aber ich stand nur da und konnte die Stimmen einfach nicht aus meinem Kopf kriegen. Ich keuchte.

Mein Blick fiel ungewollt auf den reglosen, blutüberströmten Körper vor mir auf dem Teppichboden. Kein Gefühl der Reue durchfuhr mich, nur immer diese Stimmen.

Und nun war ich mir sicher, seine Stimme zu hören. Er lag tot vor mir und doch konnte ich seine krächzende, tiefe Stimme deutlich hören.

Was bringt mein Tod, Seven? Warum hast du mich umgebracht? Du kommst nicht frei, auch wenn ich nicht mehr da bin. Das Netz ist zu stark. Und du bist schließlich schon einer von uns, auch wenn du es nicht einsehen willst. Deine Skrupellosität und dein Killer-Instinkt sitzen einfach schon zu tief.

Ich tat einen Schritt zurück. Der Schweiß auf meiner Stirn vermehrte sich.

In meinen Ohren rauschte es. Die Stimmen schrien so laut, dass ich nicht mehr konnte. Ich sackte neben die Leiche, senkte den Kopf und schrie nun selbst.

Dieser Schmerz, diese Stimmen, dieses Durcheinander in meinem Kopf…

Und dann wurde es mir schwarz vor den Augen, mein Körper kippte auf die Seite.
 

„Hallo? Sind Sie noch dran?“

Jemand schluchzte herzzerreißend.

„Ja, wenn ich es doch sage! Herr Ilparada liegt hier in seinem Arbeitszimmer… Er ist tot… Es ist wirklich … schrecklich! Sie müssen ganz schnell kommen, sonst wacht er gleich auf! Bitte!“

„Buuuuuuuhuhuhuhuuuu…“

„Ich meine den Jungen, der neben ihm liegt. Aber er sieht nicht … tot aus. Bitte, Sie müssen kommen! Der Junge hat ein Messer in der Hand und eine Pistole hat er auch in seiner Jacke. Nein, natürlich haben wir nichts angefasst! Wir trauen uns ja gar nicht in den Raum zu gehen.“

„Buuuuuuuuuuu…“

Ich schnellte auf. Mein Kopf pochte und zuerst konnte ich meine Umgebung nur verschwommen erkennen.

Ich befand mich noch immer in seinem Arbeitszimmer, noch immer neben seiner Leiche und die Stimmen kamen aus dem Flur.

Sie sprechen von mir, dachte ich geschockt, als ich das Messer in meiner Hand entdeckte.

Mein Kopf drohte zu zerspringen, als ich torkelnd aufstand. Wie viel Zeit war vergangen?

„Ja, gut, machen wir! Bis gleich!“

Ein Telefon wurde zurück auf die Gabel gelegt.

Ich schaute mich hektisch um. Ein Fluchtweg! Ich brauchte einen Fluchtweg! Sofort sprang mir der Balkon ins Auge.

„Die Polizei ist gleich da, Schätzchen! Wir sollen uns im Haus verstecken.“

Wieder schniefte jemand laut und begann zu weinen.

„Komm!“

Die Schritte aus dem Flur wurden leiser.

Ich atmete einmal tief durch. Die Polizei war auf dem Weg… Noch nie war mir so etwas passiert…

Fast stolperte ich über den starren Arm der Leiche, als ich zur Balkontür wankte. Verzweifelt versuchte ich, sie zu öffnen, doch sie war verschlossen und auch noch aus einbruchsicherem Glas. Hier konnte ich also nicht hinaus.

Jetzt bleib ruhig, sagte ich mir. Du kommst hier schon irgendwie wieder raus.

Aber im Moment sah es nicht so aus.

Da blieb nur noch die Tür hinaus in den Flur übrig. Doch dort versteckten sich nun irgendwo die Hausbewohner…

Hier bleiben und von der Polizei geschnappt werden oder an einer Heulsuse und einer Haushälterin vorbei?

Ich entschied mich verständlicherweise für die zweite Möglichkeit.

Mein Messer steckte ich besser nicht weg, das hatte ich gelernt.

Mit vorsichtigen Schritten und gespitzten Ohren schlich ich aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und befand mich nun im Wohnzimmer.

Die Tür und mich trennten noch vielleicht zwanzig Meter, wenn ich mich ein wenig zur Seite reckte, konnte ich sie sehen.

Wie vom Teufel gejagt rannte ich quer durch das Wohnzimmer, um die Ecke in die Küche und…

„AHHHHH!“

Ein spitzer Schrei ließ mich erstarren.

Unmittelbar vor mir standen die Haushälterin und ein Mädchen, nur wenig jünger als ich selbst.

Die beiden starrten mich genauso geschockt an wie ich sie. Wieder konnte ich den Angstschweiß auf meiner Stirn spüren.

Leider war die Haushälterin die Erste, die sich wieder fing. Sie trat einen mutigen Schritt auf mich zu, schien nicht zu wissen was sie tat.

Doch zu spät – ich hatte in Panik mein Messer gehoben…

„NEIN!“, schrie das Mädchen und stürzte nun ebenfalls auf mich zu.
 

In meinem Kopf pochte es immer noch, als ich das Wohnviertel schon längst hinter mir gelassen hatte. Von ganz weit entfernt konnte ich blaue Lichter sehen und Sirenen hören.

Hier konnte ich nicht bleiben. Ich musste weg, so schnell wie möglich.

Das Bild der Haushälterin und des Mädchens, wie sie fast regungslos auf dem Boden gelegen hatten, bekam ich nicht mehr aus dem Kopf. Waren sie tot oder lebten sie noch?

Ich fasste den Entschluss, solange ich noch konnte, einige meiner Sachen aus dem Heim zu holen und zu verschwinden.

Das nötige Geld konnte ich mit Sicherheit auftreiben.

Ich atmete einmal tief durch und rannte dann los.
 


 

_____________________________________________
 

„Johanna, kannst du mir bitte die Chipstüte geben?“, fragte mein Vater.

Ich gab sie ihm und schaute weiter genervt auf die Mattscheibe. Nachrichten… Ich seufzte. Es war 8 Uhr durch, dabei wollte Tom doch schon um Viertel vor kommen, um in meinem Zimmer eine DVD anzuschauen.

Und jetzt musste ich mit meinen Eltern vor der Glotze hocken und mich langweilen…

„PSCH! Seid mal leise“, fuhr mein Vater uns an, obwohl niemand etwas gesagt hatte. Er stellte den Ton des Fernsehers noch lauter.

Ich verdrehte genervt die Augen.

„Gerade geht bei uns die Meldung ein, dass der Düsseldorfer Modeschöpfer Paul Ilparada in seinem eigenen Haus ermordet wurde.“

Meine Eltern fielen vor Schreck fast von der Couch.

„Johanna, hast du gehört? Ilparada ist tot!“ Meine Mutter riss die Augen auf, als wäre ein fliegendes Nilpferd vom Himmel geschossen worden.

„Es war nicht zu überhören“, murmelte ich desinteressiert. Sollte er doch tot sein, was hatte ich damit zu tun? Noch nie hatte ich jemand anderen als Ilparadas Models in seinen Sachen gesehen, also verstand ich gar nicht, weshalb meine Eltern so taten, als ob sie ohne Ilparada-Mode nackt daständen. Er war doch bloß gewesen wie all diese anderen Wichtigtuer, die aus einer alten Tischdecke und einem aufgepusteten Sofakissen etwas machten, was sie dann „Mode“ nannten. Mit den Meisten ihrer Kollektionen passte ein Normalsterblicher kaum durch eine Tür, wie konnte das Mode sein?

„PSCH!“, machte mein Vater wieder.

„Der Mörder ist wahrscheinlich ein 16-jähriger Vollwaise. Die Tochter und die Haushälterin entdeckten Ilparadas Leiche, neben der der angebliche Mörder bewusstlos lag, und verständigten sofort die Polizei. Der Täter konnte vor Eintreffen der Polizei entkommen und verletzte die Beiden bei seiner Flucht schwer, doch inzwischen sind sie außer Lebensgefahr. Nach seiner Tat entwendete der Täter mehrere tausend Euro in dem Düsseldorfer Waisenheim, in dem er bis zu seiner Flucht wohnte. Zur Stunde läuft die Fahndung nach dem 16-Jährigen, der mit einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe zu rechnen hat. Die Polizei hofft auf Hinweise der Bevölkerung.“

„Ein 16-Jähriger!“, rief mein Vater erschrocken. „Die Schwerverbrecher werden auch immer jünger! Vielleicht merkt die verdammte Regierung jetzt endlich mal, dass die Jugend besser gefördert werden muss.“

Ich unterdrückte ein Gähnen. War das etwa etwas Neues? Mindestens einmal im Monat ließ mein Vater diesen Spruch ab.

Im Fernsehen wurde nun das Bild eines weißblonden Jungen eingeblendet.

„Der Mörder ist 16 Jahre alt, ungefähr 1.75 groß, schlank, hat blonde kurze Haare und hellblaue Augen. Seinen Namen darf die Polizei nicht weitergeben. Bei dem Mord trug er eine schwarze Hose, weiße Sportschuhe und einen dunkelblauen Pullover. Er trägt ein Messer und eine Pistole bei sich, also ist äußerste Vorsicht geboten. Die Polizei hat eine spezielle Notrufnummer eingerichtet, sollten Sie den Täter sehen. Sie lautet…“

„Sollten wir uns die nicht aufschreiben?“, fragte meine Mutter besorgt.

„Das ist in Düsseldorf, Mama“, erinnerte ich sie. „Was sollte der denn hier in Köln suchen?“

„Ja, ich weiß ja nicht“, erwiderte sie nachdenklich, doch mein Vater schüttelte ebenfalls den Kopf.

„Die wird bestimmt noch tausendmal im Fernsehen durchgegeben werden. Was meinst denn du, jetzt fangen diese ganzen Sondersendungen erst einmal an! Für die Medien ist das wie Weihnachten mitten im Frühling.“

Also gab meine Mutter sich geschlagen.

„Weiteres können Sie in der Sondersendung nach den Nachrichten erfahren.“

„Siehst du? Es geht schon los“, warf mein Vater ein.
 

In diesem Moment ertönte die Türklingel.

Ich sprang erleichtert auf und lief zur Tür.

„Tom!“, begrüßte ich den braunhaarigen Jungen, der auf der Schwelle stand und mich süß anlächelte. „Hi!“

„Hey“, entgegnete Tom und beugte sich vor, um mich zu küssen.

Als wir uns wieder voneinander lösten, bat ich ihn herein.

„Ich bin mit Tom in meinem Zimmer“, rief ich meinen Eltern zu und wollte mit Tom die Treppe hinauf verschwinden, doch das hatte mein Vater sich anders gedacht.

„Johanna?! Komm vorher mal her!“

Ich warf Tom einen genervten Blick zu. „Geh schon mal hoch, ich komme nach.“

Er nickte und verschwand die Treppe hoch in meinem Zimmer.

„Was ist denn?“, fragte ich und schlurfte ins Wohnzimmer.

„Wer ist das denn schon wieder?“ Mein Vater hob eine Augenbraue an.

„Heinz“, zischte meine Mutter warnend, doch er beachtete sie gar nicht.

„Ähm … wie meinst du das?“, wandte ich mich. Mein Vater wusste doch ganz genau, dass Tom mein Freund war. Oder?!

„Du hast meine Frage schon verstanden“, erwiderte mein Vater nur eindringlich.

Zu meiner Erlösung klingelte es wieder an der Tür.

„Ich geh schon“, flötete ich und lief aus dem Wohnzimmer, um dem unbekannten Gast aufzumachen.

Ich war baff, als ich die Tür geöffnet hatte. Auf der Schwelle standen zwei Polizisten in Uniform. Beide sahen auf eine total unterschiedliche Weise unsympathisch aus; der eine hatte fettige schulterlange Haare, die ihm in die Stirn geklatscht waren, der andere hatte ein fieses Gesicht und einen langen dünnen Hals. Auf der Straße vor dem Haus konnte ich an den beiden vorbei einen Polizeiwagen erkennen.

„Guten Tag“, grüßte der Fiese kurz und knapp. „Familie Freitag?“

Ich nickte zögernd. Hatte ich etwas angestellt? Mir fiel nichts ein.

„Ist ein Thomas Hoffmann hier?“, fragte nun der Schmierige.

„J-ja“, antwortete ich ohne nachzudenken. Was sie wohl von Tom wollten? Noch nie hatte die Polizei vor unserem Haus gestanden.

„Dürfen wir reinkommen?“

Doch da hatte der Schmierige schon den ersten Schritt in den Flur getan, der Fiese schlüpfte hinterher.

Verwirrt schloss ich die Tür hinter ihnen und zeigte dann den Weg ins Wohnzimmer.

„Ähm… Mama, Papa?!“

Meine Eltern wandten sich um und das Erste, was sie taten, als sie die Polizisten entdeckten, war, mir einen fragenden Blick zuzuwerfen.

Natürlich! Mal wieder ich!

Aber ich wusste ja schon, dass sie wegen Tom da waren. Und – verdammt – ich war erleichtert, obwohl ich es nicht wollte.

„Oh … ähm … guten Tag!“

Mein Vater stand auf und gab den Polizisten die Hand.

„Ist was mit meiner Tochter?“

Ein böser Blick traf mich, doch der Schmierige schüttelte den Kopf so heftig, dass Fett durch den Raum spritzte.

„Nein, nein, Herr Freitag. Wir sind hier wegen Thomas Hoffmann, sie kennen ihn?“

„Ja, er ist mit meiner Tochter … befreundet“, antwortete mein Vater.

Also, er wusste es doch!

„Er ist hier, oder?“, fragte der Fiese weiter, woraufhin mein Vater wieder nickte.

„Könnten Sie ihn bitte holen?“

Mein Vater wandte sich zu mir um.

„I-ich hol ihn schon…“, sagte ich zerstreut und rannte die Treppe hinauf.

In meinem Zimmer angekommen sah ich Tom auf meinem Bett sitzen. Er schaute mich überrascht an.

„Was ist los da unten?“

„Das werd ich dir sagen“, keuchte ich aufgeregt. „Da ist die Polizei und die will was von dir! Was hast du gemacht, verdammt?“

Tom starrte mich geschockt an. Der Schock war ihm ins Gesicht geschrieben.

„Scheiße“, murmelte er dann. „E-es war nicht mehr als eine CD!“

Ich brauchte einen Moment, bis ich kapierte. „Du hast also eine CD geklaut?! Wie kann man so doof sein…“ Ich atmete einmal tief durch. „Ist doch klar, dass die Polizei dir dann auf den Fersen ist.“

„Eine CD!“, rief Tom aufgebracht. „Die machen doch aus einer Mücke einen Elefanten!“

„Das kann ja sein, aber die werden nicht eher aus dem Wohnzimmer verschwinden, bis du unten bist!“, entgegnete ich.

„Und was soll ich jetzt machen?“, fragte Tom verzweifelt. „Wenn ich da runter geh, werden die mich direkt zu meinen Eltern schleppen und alles groß und breit erzählen! Die werden das dann wieder nicht verstehen und…“

„Halt die Klappe“, rief ich und öffnete mein Fenster sperrangelweit. „Los! Du musst abhauen!“

„W-wie meinst du das? Ich kann doch nicht…“

„Jetzt mach!“

Ich nahm seinen Rucksack und warf ihn aus dem Fenster.

„Da unten steht eine Mülltonne, das sind keine zwei Meter, die du da runter musst!“

Tom schaute mich immer noch zweifelnd an.

„Entweder du machst das oder die Polizei wird dich nach Hause bringen!“

„Aber dann mach ich alles noch schlimmer!“, erwiderte Tom.

„Warum? Du läufst direkt nach Hause, beichtest alles deinen Eltern und dann kann die Polizei doch kommen! Das ist doch nur halb so schlimm als wenn sie es von zweien in Uniform gesagt bekommen.“

Das sah Tom ein. „Aber denk dir bloß was aus, was du den Polizisten erzählen willst!“

Ich nickte. „Jetzt mach, sonst kommen die hoch!“

„Danke“, sagte Tom und küsste mich. Dann kletterte er vorsichtig auf die Fensterbank und hangelte sich hinunter in den Hinterhof.

In Windeseile rannte ich zurück ins Wohnzimmer.

„Wo ist er?“, fragte der Schmierige stirnrunzelnd.

Ganz so nett wollte ich aber doch nicht zu Tom sein, immerhin war es seine Schuld, dass ich jetzt für ihn lügen musste.

„Das Fenster steht auf und er ist weg!“, keuchte ich.

Alle Anwesenden starrten mich ungläubig an.

„Dann ist er abgehauen?! Als wenn er nicht wüsste, dass er alles noch schlimmer macht!“, sagte der Schmierige dann kopfschüttelnd.

Er flüsterte seinem Kollegen kurz etwas zu, dann verkündete er: „Wir werden uns noch mal kurz in deinem Zimmer umsehen. Nur so als Sicherheit, dass er wirklich nicht mehr da ist. Wir haben ja schon die dollsten Sachen erlebt.“

Ich nickte zustimmend.

Mein Vater lief den beiden hinterher, um ihnen mein Zimmer zu zeigen.

Meine Mutter inzwischen warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich wusste, dass sie mir nicht glaubte, aber das war mir egal. Hauptsache die Polizei tat es.
 

Fünf Minuten später kamen die Polizisten und mein Vater mit betretenen Gesichtern wieder die Treppe hinunter.

„Du hast Recht, er ist wirklich nicht mehr da…“, stellte der Fiese in meine Richtung fest.

„Sag ich ja“, erwiderte ich nur.

„Es tut mir wirklich Leid, meine Herren“, versuchte sich mein Vater bei den Polizisten zu entschuldigen.

Die aber zuckten nur mit den Schultern. „Kein Problem, jetzt fahren wir eben zu ihm nach Hause. Er kann uns ja nicht auf Dauer entkommen.“

Mein Vater nickte verständnisvoll. „Schönen Abend noch.“

Damit waren die Polizisten auch schon wieder draußen im Vorgarten und ich konnte wenige Sekunden später einen Wagen starten hören.
 

„Johanna“, sagte mein Vater unheilvoll, als ich in mein Zimmer verschwinden wollte, und folgte mir.

„Ja?“, antwortete ich langsam.

„Ich muss mit dir reden!“

„Warum denn?“

„Das weißt du genau.“

„Nein, sag es mir doch.“

„Weil ich ganz genau weiß, dass es nicht so war, wie du den Polizisten gesagt hast.“

„Warum sollte ich denn lügen?“

„Na, weil Tom dein Freund ist, zum Beispiel!“

„Dann sag mir doch, was denn eigentlich war.“

„Ich weiß es nicht, aber du hast ihn mit Sicherheit gewarnt.“

„Ich weiß doch gar nicht, was er gemacht hat.“

„Vielleicht schon. Er kann es dir ja erzählt haben.“

„Hat er aber nicht, weil er weg war.“

„Ich kenne dich, du bist meine Tochter. Und ich weiß auch ganz genau, dass du lügst!“

„Na und? Was willst du jetzt machen?“

„Du gibst es also zu?“

„Nein, hab ich das gesagt?“

„So hat es sich angehört.“

„So war es aber nicht.“

Da schlug mein Vater mit der Faust auf den Tisch. „Verdammt, jetzt sag mir endlich die Wahrheit und rede nicht drumherum!“

Ich schaute auf den Fußboden. „Was wäre denn so schlimm daran, wenn ich gelogen hätte?“

„Einfach die Tatsache, dass ich dir nicht vertrauen kann!“

Ich fragte mich, wo meine Mutter war. Sie hätte mir mit Sicherheit geholfen.

„Ja toll!“, schrie ich da. Ich wollte nicht weiter gelöchert werden. „Und wenn, dann hab ich eben gelogen!!! Was geht’s dich an?“

„Sehr viel, junges Fräulein!“

„Nenn mich nicht >junges Fräulein<!!! Und lass mich endlich in Ruhe!“

Unsere Stimmen wurden immer lauter und Tränen stiegen mir in die Augen.

„JETZT REICHT ES MIR ABER!!! DU WIRST TOM NICHT WIEDERSEHEN UND KANNST DAS SOMMERCAMP VERGESSEN!!! UND AUF HAUSARREST FÜR DIE NÄCHSTEN DREI MONATE KANNST DU DICH AUCH SCHON EINRICHTEN!“ Er holte tief Luft. Sein Kopf war kurz vor der Explosion. „Alles andere werde ich mit deiner Mutter besprechen...

Die Tränen tropften auf meine Jeans. Das Sommercamp! Die letzten zwei Jahre hatte ich mich schon darauf gefreut, mit meiner besten Freundin dorthin zu fahren. Und jetzt mit einem Schlag war alles vorbei.

Der Kopf meines Vaters war vor Wut knallrot angelaufen.

Plötzlich machte er einen Schritt auf mich zu, hob die Hand und schlug mir ins Gesicht.

Wie eingefroren blieb ich sitzen. Alles in meinem Gesicht fühlte sich taub an, den Schmerz vernahm ich noch gar nicht.

Ohne ein weiteres Wort verließ mein Vater mein Zimmer und schmiss die Tür so heftig hinter sich zu, dass eins meiner Bilder von der Wand fiel und auf dem Boden zersprang.

Ich fühlte mich, als wäre ich vor eine Wand gelaufen. Eine Welt war zusammengebrochen. So viel Schmerz, so viel Enttäuschung in nur wenigen Minuten.

Am liebsten hätte ich mich unter dem nächstbesten Wasserhahn ertränkt.

Da entdeckte ich meinen Eastpak neben meinem Schreibtisch lehnen. Ich war so verdammt verzweifelt und hatte einfach nur den Wunsch, dieses schreckliche Haus hinter mir zu lassen. Was sollte ich also tun? Der Eastpak gab mir die vielleicht nicht beste, aber doch effektivste Idee.

Ich sprang auf, wühlte in meinem Schrank nach ein paar Kleidungsstücken und schmiss alles auf mein Bett.

Dann stopfte ich alles in den Rucksack. Den Kleidungsstücken folgten mein Handy, mein Haustürschlüssel, meine Ersparnisse, eine Bürste, ein Notizblock mit Stift, mein MP3-Player und mein Schülerausweis.

Kaum hatte ich den Rucksack unter Drücken und Stopfen auch schon zu bekommen, rannte ich in Windeseile nach unten in den Flur, schlüpfte in die bequemsten Schuhe, die ich hatte, und zog mir eine Jacke an.

Für einen Moment lauschte ich noch, ob aus dem Wohnzimmer Stimmen kamen. Und ich konnte sogar welche hören. Die aufgeregte Stimme meines Vaters und die erboste meiner Mutter.

Zu spät, dachte ich. Jetzt bin ich weg und ihr könnt euch gegenseitig schlagen, wenn ihr wollt.

Es fiel mir überhaupt nicht schwer aus dem Haus zu verschwinden, ich wollte einfach nur weg und nichts mehr von meinen Eltern und Tom sehen.
 

Ich zog die Tür leise hinter mir zu und rannte wie vom Teufel gejagt die Straße hinunter, bis ich irgendwann im Park ankam, der um diese Uhrzeit wie ausgestorben war. Nur irgendwo am anderen Ende johlten ein paar Penner und es bellte ein Hund.

Es war stockdunkel, aber ich hatte keine Angst. Alles, was ich spürte, waren Trotz und Wut.

Ich ließ mich auf einer Parkbank nieder. Wann würden sie merken, dass ich nicht mehr da war? Würden sie mich suchen?

Meine Wange brannte nun vor Schmerz und wieder konnte ich die Tränen nicht unterdrücken.

So langsam bekam ich ein schlechtes Gewissen. Wie konnte ich so dumm gewesen sein? Doch andererseits hatte ich das Richtige getan: Ich hatte gar nichts wirklich getan und trotzdem war ich angeschrien, bestraft und geschlagen worden.

Trotzdem… Hatte ich nicht etwas überreagiert? Doch nun konnte ich nicht mehr zurück.

Jetzt saß ich hier im Park mit meinem Hab und Gut auf dem Rücken und war mir auf einmal gar nicht mehr so sicher, ob die Entscheidung, von zuhause abgehauen zu sein, richtig gewesen war.

Außerdem… Wie sollte es weitergehen? Ich hatte zwar meine Ersparnisse mitgenommen, doch die würden nicht lange reichen. Und ich konnte auch nicht bei einer meiner Freundinnen unterkommen, denn deren Eltern würden meine anrufen, da war ich mir sicher.

Ratlos scharrte ich mit den Füßen in der feuchten Erde. Verdammt!

TWO

Inzwischen war eine Woche seit dem Mord vergangen und die Polizei hatte mich immer noch nicht geschnappt. Das war dann wohl sowas wie Glück.

Ich wohnte im Keller einer Baufirma, die schon vor Jahren Bankrott gemacht hatte. Hier hatte ich es gar nicht so schlecht. Jeden Tag konnte ich im Fernsehen, den ich vor den Toren der Baufirma gefunden hatte, mitverfolgen wie die Polizei verzweifelte Hilferufe an die Bevölkerung aussprach. Die Sondersendungen füllten die Sender, ich war schon fast berühmter als Madonna.

Die Haare hatte ich mir in der Zwischenzeit pechschwarz gefärbt und ich ging nur noch in Kleidern auf die Straße, die mich anders als das Bild in den Nachrichten aussehen ließen.

Und obwohl alles so gut lief, hatte ich jeden Tag eine unglaubliche Angst. Nicht vor der Polizei. Angst vor ihnen, dass sie mich aufspürten, mich zurückholten und sich an mir für den Tod ihres Big Bosses rächten.

„Die Angst ist das wohl schlimmste Gefühl, das es gibt. Nichts kann dich so zu etwas verleiten, was du gar nicht möchtest, dass du dich selbst dafür aufgibst. Dich und dein Leben. Du wirst alles leicht überwinden können – die Wut, die Trauer, den Schmerz – aber die Angst wird dich zerfressen, bis du dich ergibst“, hatte ihr Boss einmal gezischt, als ich in seiner Nähe stand.

Genauso war es mir vor dem Mord jeden Tag ergangen. Zwar fühlte ich mich immer noch nicht frei, doch freier als zuvor war ich auf jeden Fall.
 

Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch, während ich mit den Menschenmassen durch die Innenstadt geschleust wurde.

Am Domplatz angekommen, ließ ich mich auf dem Steinrand eines Springbrunnens neben einem Hotel nieder.

Die angenehm warme Frühlingssonne schien mir ins Gesicht. Das Leben wäre einfach wundervoll gewesen, wenn ich nicht in meiner Haut gesteckt hätte.

Plötzlich hörte ich die Stimmen zweier Männer und sah mich nach ihnen um.

Erschrocken stellte ich fest – es waren Polizisten! Mit aller Ruhe der Welt schlenderten sie in meine Richtung.

Eilig zog ich eine Sonnenbrille und eine Zeitung aus der Jackentasche. Ich setzte die Sonnenbrille auf und tat, als wäre ich brennend am Käseblättchen vor meiner Nase interessiert.

Die Stimmen der Polizisten schallten deutlich zu mir hinüber.

„Findest du das auch so ätzend, Henning? Die ganze Polizeiwelt sucht nach dem Mörder von Ilparada… Und was machen wir? Wir müssen nach einem entlaufenen Teenager suchen…“

„So langsam geht mir dein Gemecker auf’n Sack, Peter! Escht, ich kriech so ‘nen Hals, wenn ich dir immer zuhörn muss, wie de dich beschwers‘. Das is‘ schon escht krankhaft, Mann! Wir könn‘ doch auch nix dran ändern.“

„Aber dieses Mädchen finden wir doch sowieso nicht mehr. Guck mal, die ist jetzt schon eine Woche weg! Wahrscheinlich wurde die längst von einem Vergewaltiger oder sowas geschnappt und lebt gar nicht mehr…“

„Sach doch nich‘ sowas!“

„Es ist aber doch so. Und wir laufen hier herum und suchen nach der Göre. Eigene Schuld, wenn sie abhaut!“

„Die arm’n Eltern.“

Peter nickte mitfühlend. Nun waren die beiden Polizisten mit mir auf einer Höhe.

„Junger Mann? Entschuldigen Sie, aber…“

Mein Herz blieb fast stehen, als Peter mich ansprach.

Ich schaute auf, nahm die Sonnenbrille aber natürlich nicht ab.

„Ist hier vielleicht ein Mädchen langgelaufen? 14 Jahre alt, so lange schwarze Haare und ungefähr 1.65 groß.“

Einen Moment lang tat ich so, als überlegte ich, doch dann schüttelte ich mit dem Kopf. „Nein, ist mir nicht aufgefallen.“

Die Polizisten wechselten einen enttäuschten Blick.

„Ich sag ja! Vergewaltiger!“, sagte Peter triumphierend.

„Oder die is‘ schon in’ner andren Stadt oder so“, ergänzte Henning und schaute dann wieder zu mir. „Joh, denn ma danke!“

Ich nickte und die Polizisten entfernten sich wieder.

Ein verstohlenes Lächeln huschte über mein Gesicht. Wenn die gewusst hätten…

Eine Weile blieb ich noch sitzen und genoss die augenscheinliche Freiheit.

Keine Frage, diese Unterhaltung mit den Polizisten hatte mir neues Selbstbewusstsein gegeben. Jetzt konnte mich nichts mehr klein kriegen. Dachte ich…
 

Zehn Tage später.

So langsam wurde es den Sendern zu doof, das Programm zu streichen, nur weil irgendein Blödmann von der Polizei einfach nicht geschnappt wurde.

Also hatten die führenden Sender den Sendeplatz für „meine“ Sondersendung einfach auf einmal am Tag um 19.00 differenziert.

Nach meiner und der so gut wie aller Staatsbürger Meinung hätte sie auch vollkommen aus dem Programm gestrichen werden können.

Nach 17 Tagen immer noch ohne die geringste Spur verschwunden zu sein hatte schon etwas für sich. Für andere wurde es vielleicht langweilig und auch ich hatte mich daran gewöhnt, während die Polizei mit Sicherheit keine so blühende Zeit durchmachte.

Ich vermied es, mir über meine Zukunft Sorgen zu machen. Schließlich konnte ich nicht mein Leben lang als flüchtender Verbrecher leben, und das war mir auch vollkommen klar.

Und trotzdem sah ich es als eine Phase an, die bald überstanden sein würde.

Wahrscheinlich hätte ich mich sonst psychisch völlig zerstört.

„Die Psyche ist das Wichtigste bei unserem Job“, hatte ihr Boss immer gesagt, während der Big Boss eifrig genickt hatte. „Wenn deine Seele nicht mehr mitspielt, kannst du dich genauso gut in der Badewanne ertränken.“

Ich hatte jedes ihrer Worte gehasst, jede ihrer Bewegungen gemissbilligt und jeden ihrer Atemstöße beenden gewollt. Und nun hing mein Leben wegen ihnen am seidenen Faden. Auch wenn ich es nicht einsehen wollte: Die Polizei saß mir im Nacken, sie warteten nur auf den richtigen Moment für ihre Rache und durch die Sondersendungen wurde mir im Prinzip ganz Deutschland auf den Hals gehetzt.
 

Im Moment saß ich auf einem von Mäusen angefressenen Teppich, eine Colaflasche in der Hand und schaute auf die Mattscheibe des Fernsehers vor mir.

Es war kurz vor 19.00 Uhr und ich wollte wie jeden Tag prüfen, was dieses Mal über mich gesagt wurde.

Zwar war es jeden Tag ungefähr der gleiche langweilige Stoff, doch trotzdem wollte ich nichts verpassen, was eventuell wichtig sein konnte.

Ich erinnerte mich noch an ein Mal, als Betreuer und meine angeblichen „Freunde“ aus dem Heim interviewt worden waren.

Natürlich waren es nicht meine Freunde gewesen, ich hatte keine Freunde im Heim. Eher hatte ich mir Feinde gemacht mit meiner abwesenden und verschlossenen Art.

Nur eins musste ich den Leuten vom Fernsehen wirklich lassen: Sie hatten eine echte Begabung darin, alle Beiträge über mich zu drehen, ohne dass mein Name genannt wurde. Das war natürlich bei einem Interview mit maßlos dummen Waisenkindern unmachbar.

Da musste mein Name wohl oder übel mit einem unschönen Piepton übertönt werden.

Auf die Frage, ob es jemals so etwas von mir erwartet hätte, hatte ein Mädchen geantwortet: „Naja, irgendwie schon. –Pieeeeep– war irgendwie immer so komisch irgendwie. Also irgendwie hat er immer irgendwie geheimnisvoll getan und so. Hat immer irgendwie nicht mit den anderen gesprochen und so. Irgendwie kannte ich –Pieeeep– aber trotzdem ganz gut. So irgendwie war er auch irgendwie nicht so oft da. Irgendwie war er immer irgendwie mit irgendwas anderem beschäftigt und ist immer irgendwo anders hingegangen.“

Ich war erstaunt gewesen, wie viel sie doch wusste, obwohl ich nie im Leben mit ihr gesprochen hatte. Damit, dass ich anderweitig beschäftigt gewesen war, lag sie ja gar nicht mal so falsch.

Im Gegenteil zu ihrer Ehrlichkeit hatte ein Kraftprotz, mit dem ich mit Sicherheit mehr als nur einmal heftige Probleme bekommen hatte, geantwortet: „Auf gar keinen Fall! –Pieeeep– ist doch einer meiner besten Freunde! Ich kapier echt nicht, wie der das machen konnte und eigentlich glaub ich das auch gar nicht so wirklich! Das ist echt total unfassbar. Und wenn du mich jetzt hörst, Alter, dann sollst du wissen, dass wir dich hier alle total vermissen und so! Und wir glauben auch nicht, dass du das echt gemacht hast, auch wenn alle das sagen!“

Bei diesen Worten hatte ich laut lachen müssen. Jaja, alle vermissten mich ja so sehr, weil mich ja auch alle im Heim total gern haben… So ein Schwachsinn! Sie wünschten mir doch alle den Tod. Auf so einen Vorfall hatten sie doch förmlich gewartet. Endlich hatte der komische Typ mal richtig Probleme am Hals und das Heim wurde auch noch jeden Tag im Fernsehen gezeigt. Konnte es besser sein?

Ich schaute auf die Uhr. Ja, nun war es 19.00 Uhr. Ich wartete auf die Titelmelodie, die bei jeder Sondersendung gespielt wurde… Und wurde enttäuscht. Die Melodie eines bekannten Liebeslieds ertönte. Ich schaute auf. Eine Telenovela? Eine Telenovela! Das hieß also, sie hatten die Sendung auf dem Sender abgesetzt!

Ich seufzte erleichtert. Ich war Schnee von gestern. Zumindest auf diesem Sender.

Also zappte ich weiter.

Schon beim zweiten Sender hielt ich an und konnte mein Foto auf dem Bildschirm betrachten. Aber immerhin einer hatte mich abgesetzt!

Ein wenig zufrieden war ich schon.

Wenn sich jetzt nichts mehr Spannendes tat, hatte ich gute Chancen, bald vergessen zu werden. Ja, wenn…
 

„20 Tage nach dem Mord an Paul Ilparada wurde der 16-jährige Täter immer noch nicht gefasst. Die Kriminalpolizei hat nach Angaben des Polizeisprechers Jan Köcher noch keine Spur, doch bleibt natürlich weiter an dem Fall. Köcher sagte weiter, es wird vermutet, dass der Jugendliche noch weitere Gewalttaten begehen könnte, doch er bleibe zuversichtlich auf eine baldige Festnahme des Jugendlichen.“

Ein mildes Lächeln huschte über mein Gesicht. Am 20. Tag wurde ich nur noch in den Nachrichten erwähnt. Das beruhigte mich und machte mich gleichzeitig nervös. Jetzt durfte ich auf keinen Fall irgendeinen Fehltritt machen, sonst war ich wieder das Thema Nummer 1.

Aber so langsam musste ich ehrlich zugeben, dass ich mich langweilte. Ja, ich war auf der Flucht und langweilte mich!

Nach einem Gähnen stand ich von dem zerfressenen Teppich auf und schaltete den Fernseher aus. Dann fischte ich meinen Mantel aus einem Berg von Kleidung, der sich neben der Hintertür, die mir als Ein- und Ausgang diente, angesammelt hatte.

Sowieso sah es in dem Keller nicht gerade ordentlich aus. Das Teppichmuster war vor lauter Getränkebechern, Essensresten und Verpackungen gar nicht mehr zu erkennen, in einer Ecke stapelten sich Tageszeitungen, vor meiner Matratze sammelten sich CDs, Comichefte und Kartenspiele, die ich gegen meine Langeweile gekauft hatte. Nur inzwischen war ich es satt, gegen mich selbst in Mau-Mau zu gewinnen.

Ich zog meinen Mantel an, schlug den Kragen hoch, setzte eine Sonnenbrille auf (zum Glück schien die Sonne) und verließ den Keller.
 

Nur wenige Minuten später war ich auch schon im Supermarkt ein paar Straßen weiter angekommen und schlenderte auf der Suche nach Tütensuppen durch die Regale.

Diese Dinger waren vielleicht nicht besonders nahrhaft, aber dafür billig und schon irgendwie ganz lecker.

Irgendwann fand ich dann auch ein Regal Tütensuppen und nahm mit zur Kasse, was ich konnte; Nudelsuppe, Mozarellasuppe, Hühnersuppe, Chinasuppe, Lauchsuppe… Und so weiter, und so weiter.

An der Kasse grummelte die fette Kassiererin irgendetwas, womit wohl sowas wie „Guten Tag“ gemeint war. Ihr Hintern war so breit, dass ich mich wunderte, dass er überhaupt auf den Ikea-Stuhl hinter ihr passte und dieser nicht auseinander brach.

Mit einem Ausdruck im Gesicht, der nicht nur ihr die Mundwinkel bis an den Erdkern hängen ließ, zog sie mit ihren Salamifingern und neonpink lackierten Fingernägeln die Suppenpäckchen über das rote Licht im Innern des Kassentisches.

Am liebsten wäre ich zu ihr hinter die Theke gekommen und hätte ihr die Mundwinkel weiter oben mit Wäscheklammern befestigt. So hätte es wenigstens ausgesehen, als ob sie versuchte, freundlich zu sein.

Aber weil das nur ein kranker Gedanke meinerseits war, verbreitete sie nur weiter ihre schlechte Laune im Laden.

Nachdem ich die Sachen also bezahlt und eine Tüte in die Hand gedrückt bekommen hatte, machte ich mich in Windeseile aus dem Staub, um meine halbwegs gute Laune nicht wieder zu verlieren.
 

Vor dem Supermarkt nahm ich meine Sonnenbrille für einen kurzen Moment ab und blinzelte in die grelle Sonne. Von Minute zu Minute wurde es wärmer. Und das in dieser Jahreszeit… Aber die Politiker konnten ja sowieso nicht genug um den Klimawandel streiten (obwohl deren dicke BMWs ja wohl die größte Umweltverschmutzung waren), also war das ja ein gefundenes Fressen.

Glück für die Politiker, Pech für mich.

In meinem Mantel sah ich nun wieder eine Spur verdächtiger aus.

Doch dies sollte nicht die Krönung des Tages bleiben.
 

Plötzlich spürte ich ein leichtes Ziehen an meiner Jacke.

Blitzartig fuhr ich herum und … „HEY!“

Aber zu spät, ich sah nur noch, wie ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren davon lief – mit meinem Portemoinee in der Hand…

„Hexe“, zischte ich noch wütend und rannte dann ohne zu zögern los, dem Mädchen hinterher. Es hatte schon einen gewaltigen Vorsprung. Ich ließ mir doch nicht mein Geld wie ein alter Knacker von einem Mädchen abziehen!

Also rannte ich schneller, spurtete einige Meter weit, sodass ich dem Mädchen immer näher kam. Für ein Mädchen konnte es wirklich schnell laufen.

Ich verfolgte es über die nächste rote Ampel und in eine kleine Gasse hinein.

Sein langes glattes Haar wehte im Wind so heftig, dass ich sie eigentlich gar nicht aus den Augen verlieren konnte.

Anscheinend hatte ich mehr Ausdauer als sie, denn beim nächsten Meter schaute es sich für eine Hundertstelsekunde zu mir um und ich konnte sein verschwitztes Gesicht erkennen.

Sie brüllte mir zu: „Hau aaaaaaaaaaaaaaaaa-“

Aber das war wohl keine gute Idee gewesen, denn das Holztörchen mitten im Weg hatte sie wohl nicht entdeckt. Im gleichen Moment rannte das Mädchen mit voller Wucht gegen das Gartentor.

Es splitterte ohrenbetäubend.

Keuchend kam ich wenige Sekunden später vor dem Mädchen zum Stehen. Es lag mit dem Kopf nach unten auf dem völlig demolierten Holztor.

Ich schaute zu ihm hinunter. Lebte es noch? Ich kniete mich neben es und drehte es auf den Rücken. Zum Glück – ich konnte deutlich seinen Atem hören.

Nachdem ich mein Portemoinee zwischen den Splittern hervorgezogen und eingesteckt hatte, merkte ich, dass sich das Mädchen bewegte.

„Beim nächsten Mal lieber nach vorne gucken“, empfahl ich grinsend und beobachtete, wie sich das Mädchen langsam und stöhnend aufsetzte.

„Lustig, echt!“, fauchte es nur zurück und warf mir einen hasserfüllten Blick zu.

„So schlecht kann’s dir dann ja nicht gehen.“

Auf einmal schien dem Mädchen etwas einzufallen und begann, in dem Splitterhaufen zu wühlen.

„Vergiss es, mein Portemoinee hab ich längst wieder“, sagte ich.

„Schön für dich“, knurrte das Mädchen, stand schwerfällig auf und musterte mich dann.

Sein Gesicht wies einige Wunden auf, die wohl von dem Zusammenprall mit dem Gartentor kamen, es trug leicht verschmutzte Kleidung, die langen schwarzen Haare erschienen auf den zweiten Blick ungekämmt und es machte überhaupt nicht den Eindruck wie eine normale Teenagerin.

„Hast du keine Angst, ich könnte die Polizei rufen?“, fragte ich.

Doch das Mädchen schüttelte mit dem Kopf. „Dann hau ich ab, wo ist das Problem? Und ich glaub auch nicht, dass du das machen würdest.“

Ich schaute auf. „Warum nicht?“ Hatte es mich etwa erkannt?

Das Mädchen musste lachen. „Weil du einfach nicht so aussiehst, als hättest du mit der Polizei was am Hut!“

„Ach ja?“, zischte ich misstrauisch. „Das werden wir gleich sehen, wenn die Polizei erstmal hier ist. Diebin!“

„Wenn die Polizei hier ist, ist das ganz klasse für die! Ich bin dann auf jeden Fall nicht mehr hier!“

„Du legst es drauf an, oder?“

„Wie kommst du darauf?“

„Es ist einfach so.“

„Ach, wirklich? Das soll dir egal sein.“

„Ist es aber nicht.“

„Dann verschwendest du deine Zeit.“

„Allerdings, das tu ich!“

„Dann hau doch ab! Na los, zieh Leine!“

„Stell dir vor, mach ich auch!“

Mit einem Ruck drehte ich mich auf dem Absatz um und tat einige Schritte in die entgegengesetzte Richtung.

Aber ich sollte nicht weit kommen.

Beim nächsten Schritt hörte ich rennende Schritte hinter mir und bevor ich mich umdrehen konnte, wurde ich auch schon von hinten zu Boden gedrückt.

Ich konnte mich noch gerade so auf den Beinen halten, doch das Mädchen, das mir nun auf den Rücken gesprungen war, gab nicht nach.

„LASS DAS!“, schrie ich wütend.

„VERGISS ES!“, schrie das Mädchen zurück und legte die Arme fest um meinen Hals.

Ich wollte etwas sagen, doch die Luft blieb mir weg. Also schüttelte ich es so heftig ab, dass seine Hand mich direkt im Gesicht traf – aber das Mädchen hatte ich nun im wahrsten Sinne des Wortes vom Hals.

Erst zu spät bemerkte ich, dass meine Sonnenbrille durch den Schlag ins Gesicht abgefallen und auf dem Boden zerbrochen war.

Ich fluchte leise und wollte mich schnell aus dem Staub machen, doch das Mädchen war schneller. Es erwischte mich am Mantel und zog mir von Neuem das Portemoinee aus der Tasche.

Jetzt war es aber genug! Ich konnte mir doch nicht alles von der gefallen lassen!

Wutentbrannt wandte ich mich zu ihr – und sie starrte mir direkt ins Gesicht.

Einen Moment lang schien sie noch nicht zu wissen, wer ich war, doch mein Gesicht kam ihr wohl bekannt vor…

Ich nutzte diesen Augenblick nicht, sondern blieb gelähmt von ihrem Blick stehen.

„Was?“, fragte ich dann schon fast gleichgültig, als ich mich wieder gefasst hatte.

„Ohohoho… Ich kenn dich! Warte…“ Das Mädchen zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf mich und kniff die Augen zusammen. Als es sie wieder öffnete, konnte ich den Schrecken förmlich auf ihrer Stirn stehen sehen. „Oh mein Gott…Nicht im Ernst, oder? Ich irre mich… Oder?! D-du bist nicht wirklich der Killer von Ilparada?! Oh nee… Du bist es!“



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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Von:  SailorTerra
2009-06-20T14:16:39+00:00 20.06.2009 16:16
Irgendwie hat dieses Weib aber schon einen an der Waffel, oder?
Ich muss zwar zugeben, dass es ein interessantes Charakterdesign ist, aber auch etwas realitätsfremd. Zumindest das sie ihn mehrfach angreift. Jede 14-Jährige wäre wohl froh gewesen, wenn sie mit halbwegs heiler Haut davon kommt, aber irgendwie passt es dann doch wieder, weil sie immer erst handelt und dann denkt.
Mehr kann ich eigentlich nicht sagen, außer das ich auch gern wüsste wie es weitergeht.
Von:  SailorTerra
2009-06-20T14:00:17+00:00 20.06.2009 16:00
Bis lang macht das ganze noch Lust zum weiterlesen. Zumindest ich möchte wissen, wie es mit den Figuren weitergeht.
Manchmal finde ich, ließt sich die Wörtlicherede etwas holprig. Aber die Figuren reden und handeln sehr realistisch. Noch hab ich nichts auszusetzen, also les ich erstmal das zweite Kapitel.
Von:  Varlet
2009-06-01T18:30:44+00:00 01.06.2009 20:30
Waaaa
warum hast du wieder an solch einer Stelle aufgehört?
Wie schon zuvor gesagt, das ist gemein. Und nun hab ichs gelesen und du hast schon so lange nix mehr hier hochgeladen, dass ich mir sicher bin, ich werde nie erfahren, wie es weiter geht
*sniff* das ist gemein
*auf diesem Punkt beharr*
....
so das wäre es nun dazu.
Ansonsten wieder ganz gut geschrieben und Beschreibungen toll, die Charas wirken wirklich wie echt, als würde es sie in der realität auch geben und als würden sie so handeln.
Von:  Varlet
2009-06-01T18:29:17+00:00 01.06.2009 20:29
Ich muss sagen, hier gefällt mir auch wieder die Handlung. Ich hab gleich im Anschluss noch das zweite Kapitel gelesen und bin gespannt, wie es weiter geht.
Aber erstmal zum ersten, ich finde es eine Gemeinheit, dass du an solch einer Stelle aufgehört hast, ich möchte, dass es weiter geht.
Zum Schreibstil kann ich nur wieder sagen, dass es mir gefällt, wie du die Sachen und BEgebenheiten darlegst und auch, dass es wirklich ein sehr schön, flüssiger übergang ist.
Von: abgemeldet
2007-05-23T16:29:00+00:00 23.05.2007 18:29
Los los weiter ich will mehr mehr mehr mehr
sonst quängel ich ;)
Gruß Sora
ps schnell weiter
Von: abgemeldet
2007-05-23T16:10:08+00:00 23.05.2007 18:10
es gefällt mir ^^
gut das es teil 2 schon on gibt ^^
Von: abgemeldet
2007-04-05T18:25:54+00:00 05.04.2007 20:25
Uhhh^^
Jetzt hab ich's kapiert^^
ICh find die Story hamma!!
ich hab ja schon den 3. Teil gelesen *qq*
Mach ma schnell den 4. !!!
:-*
Von:  Hikari-
2007-04-04T16:15:29+00:00 04.04.2007 18:15
NIch aufhöööörn......
T.T

mach schnell weiter... ich find die story spannend...^^
Von:  TKTsunami
2007-03-20T18:41:06+00:00 20.03.2007 19:41
spannend spannend XD
Wie gehts weiter?
Ich will wissen wie es weitergeht XD
man das Mädel hat ja vielleicht was XD
*kopfschuttel*
*sie knuff*
XD
Muhahahaha
WEITER
Von:  TKTsunami
2007-03-19T18:46:00+00:00 19.03.2007 19:46
Spannend...
ja wie wirds weitergehen....
ICH WILLS WISSEN XDDDDDDDDD
Hast einen schönen Schreibstil gefällt mir^^
Und das kapi ist echt toll geworden^^
Also WEITER XD


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