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Der Untergang von Emeranea

Ein Augenzeugenbericht
von

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Prolog

Disclaimer: Meiiiiins, meins, meins.... Alles meine Ideen, ich bin niemandem mehr Rechenschaft schuldig - und den Mythos um Emeranea habe ich mir ausgedacht. (Der Disclaimer bleibt nur aus meiner alten Zeit des Fanfictionschreibens übrig... Nostalgie *schnüff*...)

Author's Note: Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist und bleibt ein Zufall... Selbst wenn ich durch selbige in irgendeiner Weise inspiriert worden sein sollte, was natürlich nicht der Fall ist, wo denkt ihr hin?

"My wishes are paramount, aren't they?" *muahaha* (Ist ein Insider....) I wish, they were, I really do...

Gewidmet ist sie: Meinen Eltern und dem Dorschmann Jan auch wenn es sie überhaupt nicht interessiert, dem sich pummelnden und unglaublich hilfreichen Alex (danke für deine vernichtenden Kritiken, das meine ich ernst...), Dennis (Eternal Darkness Buhuuuu!), dem Kathi (P'inz F'ido... *muhar* - danke für deinen tollen Entwurf von Arianne *knuffz*), Stefan und Nicole (und ja, du kriegst die Fortsetzung). Und nach wie vor meiner niemals endenden und unglaublich inspirierenden Winamp Playlist... (Ich sage nur: In the year 2525...und in diesem Fall auch Donovans: "Atlantis" - nein wirklich.)

Ebenfalls gewidmet: einer verrückten Besitzerin eines Dalmatinermischlings , die es kilometerdick hinter den Ohren hat (schwarzer Spitzen-BH, "schwarze Messen"... *dreckig lach*) und die sich garantiert in dieser Geschichte nicht wiederfinden wird. (Der Name ist nur der Redaktion (und einer Reihe anderer Leute) bekannt, hyaaargh, hyaaaaargh, hyaaargh....)

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Die Taverne ist schmutzig. Wenn ich schmutzig sage, dann meine ich auch genau das. Trotzdem hindert mich dieser Umstand nicht daran, auf meinem abgewetzten hölzernen Hocker sitzen zu bleiben, das Treiben zu beobachten und mir einen Krug Met nach dem anderen zu bestellen. Es ist draußen bereits dunkel geworden und die meisten Gäste sind schon gegangen, nur ein paar hartnäckige, so wie ich, sind geblieben. Die Öllampen, die an der Decke hängen, geben lediglich ein gedämpftes, flackerndes Licht ab, das den Raum so gut, wie überhaupt nicht ausleuchten kann. Wenn ich es mir recht überlege, ist das vielleicht auch ganz gut so, allerdings bin ich nach zwei Krügen Met nicht mehr ganz in der Verfassung überhaupt noch groß zu überlegen. Mein Kopf schwimmt.
 

Hinter mir höre ich das laute Gegröle der anderen Gäste, die so wie ich erkannt haben, daß man Kummer und Sorgen zumindest temporär im Alkohol ersäufen kann. Trotzdem sitze ich alleine am Tisch. Ich weiß genau, daß man mir hier reserviert begegnet, aber solange ich für das, was ich mir bestelle, zahlen kann, läßt man mich in Frieden - auch wenn ich die Blicke der anderen Männer bisweilen auf mir spüren kann. Ich ignoriere sie vollends, schließlich ist der gefüllte Krug vor mir viel zu verlockend. Mit zitternden Händen ergreife ich ihn und setze ihn, einiges verschüttend an meinen Mund. Als das Getränk meine Kehle herunterrinnt, fühle ich mich sogleich besser. Die Leichtigkeit, die ich schon zuvor beim Trinken verspürt habe, setzt erneut ein und mit einem Mal fühle ich mich wieder glücklich. Nach einigen Sekunden verfliegt dieses Gefühl wieder, wie auch bereits zuvor, und statt dessen wird mir schwindlig. Ungeschickt setze ich das Gefäß ab und sinke in mich zusammen. Ich möchte weinen, fühle mich aber zu elend und kraftlos dazu und so verharre ich einfach in meiner momentanen Position, bis die Übelkeit und das Schwindelgefühl verfliegen, was allerdings nach meinem dritten Krug nicht mehr geschieht.

Ich packe ihn erneut, verschütte dieses Mal trotz meiner zitternden Hände nichts mehr und trinke ihn mit einem Zug leer. Es tut einfach gut...

Bevor er mir aus der Hand fällt setze ich ihn unsanft auf den Tisch auf und wische mir mit meinem rechten Arm den Mund ab.

Noch einen! Ich möchte die Hand heben und einen weiteren Behälter Met bestellen, aber mein Arm und meine Stimme versagen mir den Dienst.

Ich kenne dieses Gefühl bereits von den unzähligen anderen Abenden, die ich hier schon verbracht habe und lasse mich bereitwillig fallen.

Tatsächlich, kurz darauf falle ich in tiefen Schlaf - aaaaaah süßes Vergessen...
 

...um nach einer mir unbekannten Zeitspanne wieder von dem geduldigen Wirt der Taverne wachgerüttelt zu werden. Es ist ein altbekanntes Ritual und jeder kennt seinen Part. Meine Lider sind schwer und es bereitet mir Mühe sie zu öffnen. Als es mir schließlich doch gelingt, werde ich von dem dunklen Licht der heruntergebrannten Öllampen geblendet. Ich habe Kopfweh und mir ist übel. Auch dieser Teil ist mir nicht ganz unbekannt, ist es doch jede Nacht das gleiche Spiel.

"Es tut mir leid, dich wecken zu müssen, aber ich mach' den Laden jetzt dicht..." "Ist in Ordnung..." murmele ich, noch immer nicht ganz wach, und versuche mich aufzurichten. Er hilft mir auf die Füße und klopft mir auf die Schulter. "Nimm's nicht so schwer..." Hat der eine Ahnung! Ich entscheide mich dafür, ihn mit alledem nicht zu belasten und nickte daher nur. Dann ergreife ich mein Bündel und wanke aus der Taverne auf die Straße.

Die kühle Nachtluft des kleinen Fischerdorfes ist sehr angenehm und hilft mir, meine Sinne wieder zusammenzubekommen. Anstatt zu meiner Herberge zurückzukehren, schlendere ich noch ein wenig durch die nächtlichen Gassen und sehe mir die dunklen Häuser an.

All die Narren, die hier so friedlich schlafen haben keine oder nur wenig Ahnung, von dem was passiert ist. Ist vielleicht auch besser so...

Nach einiger Zeit des Umherwanderns komme ich an den Marktplatz in dessen Mitte ein Springbrunnen mit kunstvoll gefertigten Steinstatuen steht. Ich verlangsame meinen Schritt, um mir den Brunnen näher anzusehen und bin beeindruckt. Steinerne Pferde stehen wild aufbäumend auf einem Gekränz von Blüten und Ornamenten. Um ehrlich zu sein hätte ich den hiesigen Künstlern nicht ganz so viel zugetraut - aber auf der anderen Seite könnte mir meine Wahrnehmung einen Streich spielen. Ich bin noch nicht ganz nüchtern.

Erschöpft lasse ich mich auf den Brunnenrand sinken und tauche meine Hände in das kühle Naß, um dann durch mein Gesicht und meine Haare zu fahren. Das kalte Wasser tut gut und hat eine belebende Wirkung.

Was für eine Ironie: ich versuche mein komplettes Leben in Alkohol zu betäuben und freue mich dann doch jedes Mal wieder, wenn meine Lebensgeister zurückkehren.

Wie dem auch sei: die Nacht ist jung und ich verspüre keinen Drang, mein Zimmer aufzusuchen. Statt dessen bleibe ich sitzen und lasse meine Blicke über den leeren Platz schweifen.

Ich bin mir sicher, daß hier an den Markttagen die Hölle los ist und an allen anderen Tagen scheint hier die ideale Versammlungsstätte für die Frauen und ihre Kinder zu sein.

Wie schön, kein Teil davon zu sein! Darüber bin ich längst hinaus! Was gehen mich die Geschicke dieses Volkes an?

Ich gebe zu, sie sind bereits recht fortgeschritten, aber was verloren ist, bleibt auf ewig verloren!

Die Holzhütten, die diesen Ort umrahmen sind dunkel und wirken ein wenig unheimlich. Einzig das Mondlicht erhellt den Platz ein wenig. Ich kann schon nicht mehr erkennen, wohin die schmalen Gassen zwischen den Gebäuden führen.

Ich fühle mich alleine, irgendwie isoliert, als wäre ich der einzige Mensch auf dieser Welt. In gewisser Weise trifft das ja auch zu. Ich spüre, wie mir die Männer aus dem Weg gehen, mich jedoch mustern, wenn sie denken ich würde es nicht registrieren und ich bemerke die kalte Reserviertheit der Frauen, die mit jemandem wie mir nicht viel anfangen können. Einzig die Kinder sind noch unbedarft, bis auf die Tatsache, daß sie feststellen müssen, daß ich anders bin, als ihre Mütter.

Ich verziehe meinen Mund zu einem bitteren Lächeln. Natürlich! Natürlich bin ich anders als ihre Mütter, wahrscheinlich komplett anders, als jede Frau hier. Aber das ist eine andere Geschichte.
 

Ich lege mich langsam auf den Brunnenrand und lasse meinen rechten Arm in das Wasser hängen, während ich die Sterne betrachte, die so weit entfernt ihr ewiges kaltes Licht erstrahlen lassen.

Nein, die Sterne haben sich nicht geändert - aber das war es auch schon!

Es gab eine Zeit, da hatte ich das Gefühl, diese hellen Punkte am Nachthimmel hätten mir etwas zu sagen, wenn ich nur genau hinhörte. Jeden Abend, wenn ich nicht gerade etwas anderes zu tun hatte, betrachtete ich sie, immer das Gefühl habend, noch etwas Neues zu entdecken.

Sie waren und sind auch jetzt noch ein großes Mysterium und wahrscheinlich meine letzten Freunde.

Wieder werde ich von dieser großen Traurigkeit gepackt, die ich in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder überfallen hat. Sofort sehne ich mich in die Taverne zu meinem Krug Met zurück - meinem Seelentröster. Leider ist der gerade nicht zur Hand und so bleibt mir nichts anderes übrig, als mich meinen Problemen dieses Mal direkt zu stellen.

Ein lauter Seufzer entweicht mir und ich atme noch einmal geräuschvoll aus. Ich bin am Leben, gesund und - man sollte es meinen - im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Trotzdem fühle ich mich nutzlos und fehl am Platz. Es gibt nirgends einen Ort, an den ich gehen kann und in der Masse untertauchen. Ich werde immer hervorstechen, aus dem einfachen Grund, daß ich mich weigere, mich der patriarchalischen Mentalität dieser Gesellschaft anzupassen. Ich kenne meine Kräfte und meine Fähigkeiten und es gibt nichts, aber auch rein gar nichts, was mich von einem der Männer hier unterscheidet - von meinem Körperbau einmal komplett abgesehen.

Momentan ist meine Börse noch gut gefüllt mit Talern, aber Temeth weiß, wie lange das noch so bleibt. So lange ich Geld habe, werde ich wohl keine größeren Probleme bekommen, so lange werde ich akzeptiert, aber wenn ich erst einmal meine letzte Münze ausgegeben habe, dann wird es sehr düster aussehen.

Ich widerstehe der Versuchung, mein Bündel zu greifen und mein Vermögen nachzuzählen. Die Nacht ist viel zu schön und klar um sich auch noch darum zu sorgen. Die Realität wird mich sicher schon wieder früh genug einholen, das hat sie immer getan. Ich lache bitter auf und beschließe dann, es gut sein zu lassen. Meine Zukunft ist nicht rosig, aber meine Gegenwart ist es.

Ich ziehe meinen Arm aus dem kühlen Wasser und fahre mir damit über die Stirn, dann bleibe ich ganz ruhig liegen, genieße den Nachthimmel und dämmere vor mich hin...
 

....... Eine Hand packt mich brutal und holt mich aus meinen Träumereien. Bevor ich reagieren kann, werde ich mit dem Gesicht in das Brunnenbecken getaucht um kurz bevor ich glaube, ersticken zu müssen, wieder herausgezogen und zu Boden gestoßen zu werden. Keuchend und prustend schnappe ich nach Luft und gebe mir Mühe, so schnell wie möglich wieder aufzustehen.

Aus dem Augenwinkel registriere ich, daß der Mond ein gutes Stück gewandert ist, der Morgen also nicht mehr allzu fern ist, aber das ist momentan meine geringste Sorge. Die bewaffneten, vermummten Gestalten vor mir, die stellen allerdings in der Tat ein Problem dar.

"Was macht eine Frau wie du noch um diese Zeit auf den Straßen?" höre ich einen von ihnen mit unverhohlenem Hohn sagen. Er tritt einen Schritt auf mich zu und irgend etwas sagt mir, daß er es war, der mich ins Wasser getaucht hat.

"Das soll unser Goldstück sein?" fragt einer der anderen darauf unsicher. Der erste nickt und geht einen Schritt auf mich zu, um mich zu packen und mir das Messer an die Kehle zu halten. Dies wäre sicher der Moment gewesen in Panik auszubrechen, ich bleibe jedoch aus irgendeinem Grunde seelenruhig. Es ist ja auch alltäglich in der Nacht von Räubern angefallen zu werden, noch dazu mitten in einem kleinen Dorf - vielleicht aber habe ich auch schon so mit mir abgeschlossen, daß mich ein Ereignis wie dieses hier nicht mehr beeindruckt.

"Wir haben ja schon einiges von dir gehört..." erklärt mir derjenige, der mich bedroht. "Zum Beispiel, daß du verflucht sein sollst..." "...oder daß du komplett alleine bist. Zumindest wurdest du schon des öfteren einsam in der Taverne beobachtet...," ergänzt ein anderer. Ich nicke. Es ist zwar eine ziemlich dumme Geste, aber irgendwie möchte ich ihnen signalisieren, daß ich zuhöre.

"Ich weiß nicht," wirft der Unsichere wieder ein. "Mir gefällt das Weibsstück nicht. Sie verhält sich nicht wie eine Frau und...," er mustert mich, "....besonders hübsch ist sie auch nicht." Na danke! Wenn das nur nicht mal einer zu dir sagt! "Laßt uns lieber eine gewöhnliche Prostituierte suchen und das hier ganz schnell vergessen. Vielleicht ist sie wirklich verflucht? Und ist es uns das wert?"

Wenigstens ein Vernünftiger unter diesen Irren. Ich bin neugierig, was sie nun zu tun gedenken und verhalte mich deswegen vorerst noch still.

Derjenige der mich bedroht, wohl der Anführer, scheint von dem Vorschlag seines Untergebenen nicht sehr begeistert zu sein und drückt das Messer ein wenig dichter an meine Kehle. Ich spüre, wie es die ersten Hautschichten durchdringt.

"Glaubst du wirklich einen solchen Unfug?" knurrt er und sieht mir dann direkt in die Augen. Ich weiche seinem Blick keine Sekunde aus, was ihn anscheinend irritiert. Er wendet sich abrupt um, wobei er mich packt und an seinen Bauch preßt, das Messer nach wie vor an meiner Kehle. "Idiot! Sag mir, wann das letzte Mal eine solche Frau in der Stadt war? Sie hat nicht nur eine gut gefüllte Geldbörse sondern auch einen starken Willen und sie reist vollkommen alleine!" "Aber...." "Kein Aber! Sie ist eben eine Ausländerin. Behandele sie mit dem entsprechenden "Respekt"!" Er nimmt das Messer von meiner Kehle und stößt mich erneut zu Boden, direkt auf seine Kumpane zu.

So absurd es klingt, aber ich muß grinsen. Ich senke den Kopf, damit sie es nicht bemerken, aber nichtsdestotrotz bin ich amüsiert. Es ist bei weitem nicht das erste Mal, daß ich in eine solche Situation gerate, aber dieses Mal habe ich ausnahmslos alle Fäden in der Hand.

Einer der anderen Räuber ergreift mich und versucht mir die Kleider vom Leib zu reißen und ich muß gestehen, daß mein Humor auch Grenzen hat. Eine davon ist gerade eben erreicht worden.
 

"Es genügt jetzt!" sage ich deshalb laut und sehr zu ihrer Überraschung. "Bitte laßt mich los und verschwindet, bevor es hier ungemütlich wird." Der Anführer grinst breit und tritt auf mich zu. "Hat die Dame vielleicht sonst noch irgendwelche Wünsche?" Er fährt mir mit der Hand über die Wange und streift leicht meine Haare. "Nein," entgegne ich, "nur diesen!" Wie ich mir gedacht habe, fängt er an zu lachen. Er glaubt mir nicht, aber das habe ich auch nicht erwartet. Zumindest habe ich sie gewarnt, doch wie es scheint, muß ich zu härteren Maßnahmen greifen, um einfach in Ruhe gelassen zu werden. Etwas, das ich eigentlich vermeiden wollte....

"Gut," ich fixiere ihn. "Du hast es so gewollt!"

Dann schließe ich die Augen und murmele etwas in einer Sprache, die nicht mehr meine eigene ist. Augenblicklich werden sie von einem Windstoß erfaßt und einige Meter von mir fort gepustet und zu Boden geworfen.

Nun ist es an mir, zu lachen. Ich beobachte, wie sie mich beim Aufstehen entsetzt anblicken.

"Zauberei!" "Hexerei!" "Spuk!" "Sie ist verflucht!" Das sind die letzten Worte die ich vernehme, bevor sie voller Angst das Weite suchen.

Zufrieden richte ich meine Kleidung zurecht und nehme mein Bündel wieder auf. Es ist Zeit nach Hause zu gehen, bevor noch großes Aufsehen um den Vorfall gemacht wird. Eigentlich möchte ich meine Kräfte ja geheim halten, aber es sollte sich auch niemand ungestraft mit Arianne Schwarzherz der ehemaligen Hohepriesterin von Emeranea anlegen... Zumindest diesen gemeinen Dieben war es eine Lehre, hoffe ich.

Daß es auch mir eine sein würde, wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht....
 

Ein lautes, energisches Hämmern an der Zimmertüre reißt mich aus dem Schlummer. "Aufmachen!" Irgendwie habe ich es letzte Nacht zurück in meine Herberge geschafft und mich ins Bett sinken lassen. Um so überraschter bin ich, daß es nun scheinbar jemanden gibt, der dringend mit mir sprechen will. Mürrisch drehe ich mich auf die andere Seite und brabbele etwas in meinen nicht vorhandenen Bart. Ich glaube, es soll so etwas Ähnliches, wie "Herein!" heißen, allerdings bin ich im Halbschlaf nicht wirklich zurechnungsfähig zu nennen.

Das Hämmern wird lauter und von draußen kann ich ungeduldiges Murmeln vernehmen. "Aufmachen, habe ich gesagt!" Wahrscheinlich hat niemand mein Genuschel gehört.

Unwillig stehe ich auf und ziehe mir schnell ein Hemd über meinen ansonsten leicht bekleideten Körper - eine Tatsache, die ich im Dämmerzustand einfach negiert habe - bevor ich die Tür öffne.
 

Wahrscheinlich sind die draußen stehenden Soldaten der Stadtgarde mindestens genauso überrascht, mich zu sehen, wie umgekehrt. Ich widerstehe gerade noch der Versuchung, die Tür vor ihrer Nase wieder zuzuschlagen und atme statt dessen tief durch. "Ja?" sage ich. "Kann ich bei irgend etwas behilflich sein?" Ich versuche freundlich zu lächeln, aber ich glaube, es sieht aus, wie eine Grimasse. Auch gut...
 

Derjenige, den ich anhand seiner Rangabzeichen als ihren Befehlshaber identifiziere, sieht mich durchdringend an und setzt dann einen skeptischen Gesichtsausdruck auf. "Hast du dich letzte Nacht auf dem Marktplatz herumgetrieben, Frau?" "Ich heiße Arianne," helfe ich ihm auf die Sprünge, dennoch habe ich das dumpfe Gefühl, daß ihn das nicht sehr interessiert. Schließlich nicke ich. "Ja, das habe ich. Obwohl ,herumgetrieben' nicht ganz der richtige Ausdruck dafür ist." Er wirft mir einen eisigen Blick zu, ignoriert meinen Einwand jedoch vollends. Dafür setzt er seine Fragerei fort: "Bist du dabei auf jemanden getroffen?" Ich zucke mit den Schultern. "Das kommt darauf an, wie man die Situation sieht. Wenn diese Kerle, die mich vergewaltigen wollten, als jemand zählen, dann wahrscheinlich schon, ansonsten wohl nicht." Er nickt knapp. "Ich verstehe..." Dann herrscht einen Augenblick Stille zwischen uns. Ich weiß nicht recht, wie ich reagieren soll - wenn ich das überhaupt tun sollte - und beschränke mich somit darauf sein Minenspiel zu beobachten, das auf konzentriertes Nachdenken hinweist. Schließlich klärt er mich auf: "Bist du, wie man uns mitteilte, Anwenderin von seltsamen Kräften?" Aha! Darum geht es also! Hat es einen Zweck zu lügen? Einen Moment lang überlege ich es mir ernsthaft, entscheide mich aber dagegen. Früher oder später holen mich meine Fähigkeiten ein, deshalb ist es wohl besser jetzt gleich reinen Tisch zu machen. "Das bin ich in der Tat. Jedoch möchte ich hinzufügen, meine Kräfte nur zur Selbstverteidigung eingesetzt zu haben. Ich war diejenige, die man angegriffen hat!" Kaum habe ich meinen Satz zu Ende gesprochen, weicht er ein Stück vor mir zurück, Ich kann Angst in seinen Augen erkennen und seufze so leise, daß man es nicht hören kann. Warum nur? Warum? Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß man, wie in jeder anderen Kultur in der Kräfte wie meine keine Selbstverständlichkeit sind, einem solchen Phänomen eher mißtrauisch gegenübersteht, trotzdem bin ich der Meinung, man sollte das Unbekannte nicht sofort verurteilen.

Dennoch, ich bin unter anderem auf die Gastfreundschaft dieser Leute hingewiesen und kann es mir nicht leisten, sie zu erschrecken, weswegen ich demonstrativ die Arme vor der Brust verschränke. "Ich verstehe, daß diese Situation einigen Klärungsbedarf hat und daß Sie verständlicherweise um die Sicherheit des Dorfes und seiner Einwohner besorgt sind. Aber ich kann Ihnen versichern, es handelte sich um einen einmaligen Zwischenfall." Das Mißtrauen weicht nicht aus seinen Augen, aber irgendwie habe ich das auch nicht wirklich erwartet.

Weder er noch ich scheinen so recht zu wissen, wie es nun weitergehen soll. Unter seinen angespannten Gesichtszügen sehe ich sein Pflichtbewußtsein gegen die Angst, die er vor mir empfindet, kämpfen.

So ergreife ich erneut das Wort: "Die gesamte Geschichte ist ein wenig verworrener, als es auf den ersten Blick erscheint. Ich bin jedoch gerne bereit - wenn es zur Klärung dieser Angelegenheit beitragen kann - darüber Rechenschaft abzulegen." Er mustert mich, aber offensichtlich zieht er mein Angebot tatsächlich in Erwägung. Schließlich nickt er, sichtlich erleichtert. Bevor ich jedoch etwas erwidern kann, verdüstern sich seine Züge erneut. "Deine Kräfte?" fragt er schließlich streng. "Ich gebe mein Wort, ich werde sie auf keinen Umständen einsetzen..." beruhige ich ihn. Ich möchte wirklich keine Bedrohung darstellen, im Gegenteil. Mir liegt sehr viel daran, die Sache so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. "Einverstanden..." "Nur noch eine Kleinigkeit: Ich bitte darum, mir noch etwas Ordentliches anziehen zu dürfen, bevor Sie mich mitnehmen werden." Wie bereits erwähnt - mein Humor hat Grenzen und ich habe kein Interesse daran von der Stadtgarde halbnackt durch den Ort geschleift zu werden. Er nickt erneut knapp und läßt mich in Begleitung eines seiner Männer in mein Zimmer zurückkehren, wo ich mir eilig meine restlichen Kleider, oder besser gesagt, das was davon übrig ist, überziehe. Ich schnappe mir noch schnell mein Bündel, deute meiner unfreiwilligen Begleitung an, fertig zu sein und mache ich daran, mein Zimmer zu verlassen.

Kaum bin ich aus der Tür getreten, winkt der Hauptmann einen seiner Untergebenen herbei, der mir Fesseln um die Handgelenke schnürt. Ich lasse es geduldig geschehen, wohl wissend, mein Wort gegeben zu haben. Wenn es diesen Männern ein gewisses Sicherheitsgefühl gibt, so soll es mir recht sein.

Man führt mich ab....
 

.... Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich von dieser Garnison halten soll, in die man mich gebracht hat. Sicher, sie ist die einzige des Dorfes und der Garde ganzer Stolz, aber nichtsdestotrotz wirkt das Gebäude ein wenig schäbig auf mich. Ich verdränge sofort die Erinnerung der Garnisonen aus meiner Heimat, um nicht wieder dieses stechende Gefühl des Heimwehs zu spüren. Man zwingt mich noch früh genug, mich zu erinnern. Es muß nicht früher, als notwendig sein, soviel ist sicher...

Der Raum des Kommandanten, in den man mich gebracht hat, ist düster und aufgrund der dicken Steinmauern ebenso kühl. Durch ein kleines Fenster recht nah an der Decke, fällt ein wenig Tageslicht herein und malt sich in einem Muster auf dem Boden ab. Die restliche Beleuchtung stammt von an der Wand hängenden Fackeln, die beim Verbrennen ein knisterndes Geräusch von sich geben. Der beißende Geruch von Ruß steht mir schon die gesamte Zeit in der Nase.

Ich frage mich ernsthaft, wie man in einer solchen Atmosphäre richtig arbeiten kann, aber möglicherweise ist das alles einfach eine Frage der Gewöhnung...

Außer einem massiven hölzernen Tisch, der mich von dem argwöhnisch blickenden Kommandanten trennt, gibt es hier noch zwei robuste, ebenfalls hölzerne Stühle, auf denen wir sitzen und an der Wand hängende Waffen. Ansonsten ist der Raum nicht möbliert.

Ich atme einmal tief ein, gespannt, was nun als nächstes passieren würde. Man hat mich alleine mit dem Kommandanten gelassen, der wohl darauf wartet, daß ich ihm meine Geschichte erzählen werde.

Wenn ich mir diesen feisten Mann ansehe, bin ich mir jedoch nicht mehr allzu sicher, ob das eine so gute Idee ist, vermutlich bleibt mir jetzt aber keine andere Wahl mehr....
 

Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und sieht mich durchdringend an. Und dann fange ich an, zu berichten.... Von daheim.... von früher.... von meiner Heimat.... von Emeranea.

Eine andere Zeit

Bevor ich damit beginne meine eigene Geschichte zu erzählen, mag es möglicherweise ganz sinnvoll sein, etwas über meine Heimat im Allgemeinen vorauszustellen.

Emeranea war einzigartig, zumindest aus meiner Sicht und ich glaube nicht, daß es jemals noch etwas Vergleichbares wird geben können, nun, da der die Dinge so kamen, wie sie gekommen sind.
 

Das Reich war in 5 Provinzen untergliedert, die die meiste Zeit miteinander rivalisierten, ohne dabei kriegerisch tätig zu werden.

Eles, die südliche Provinz war zum größten Teil von dichten, grünen Mischwäldern bedeckt. Lediglich an den Küstenregionen, die fast ausschließlich aus Steilklippen bestanden, hatten sich größere Siedlungen gebildet, die über ein dichtes, an den Klippen entlangführendes Straßennetz miteinander und mit anderen Provinzen verbunden waren.

Mahar befand sich im Südosten der Insel und war wohl der kleinste der fünf Bezirke. Auch hier erstreckten sich noch Ausläufer der Wälder von Eles, doch begann die Landschaft schon in Heidegebiete überzugehen, die von den Bewohnern besser bewirtschaftet werden konnte. Daher war diese Provinz bereits dichter besiedelt. In Küstennähe gab es viele Fischerdörfer, durch die die ,Breite Handelsstraße' führte, die alle Provinzen untereinander und mit der Hauptstadt Andria verband.

Wanas wurde die Provinz im östlichen Teil der Insel genannt. Hier gab es das beste Weideland und so war es nicht weiter verwunderlich, daß in diesem Gebiet viele Bauernhöfe anzutreffen waren, die für die Nahrungsversorgung der Bevölkerung aufkamen.

Naltar war der Name der nördlichen Provinz. Dieser Bezirk war der einzige der Insel, innerhalb dessen Grenzen man Berge antreffen konnte. Das ,Blaue Gebirge', erstreckte sich von der Ost- bis knapp über die Westgrenze der Provinz und war ziemlich weit im Süden anzutreffen. Für einen einzelnen Wanderer konnten sich die Berge leicht als unpassierbar erweisen, doch mit sachkundiger Führung und mehreren Begleitpersonen boten sie eine willkommene Abkürzung, wenn man sich auf dem Weg nach Andria befand. Zudem zeichneten sie sich durch außerordentliche, landschaftliche und tierische Vielfalt aus sodaß es für einen Wanderer, der sich die Zeit dafür nahm, mehr als genug zu sehen geben konnte.

Im Westen schließlich war die Provinz Entaria, auch das ,Goldene Land' genannt, anzutreffen. Sie war die Heimat der besten Handwerker der Insel, da in den Westausläufern des Gebirges reiche Erzvorkommen zu finden waren. Damit war Entaria, aufgrund ihres Reichtums auch die unabhängigste der fünf Provinzen, während die anderen mehr auf den Handel, der aufgrund der Rivalitäten nicht immer regelmäßig ablief, angewiesen waren.

Andria schließlich war die zentral gelegene Hauptstadt. Hier befanden sich die wichtigsten Regierungsgebäude, der Königspalast, sowie der Hohetempel und zahlreiche Akademien der Künste und des Wissens. Die Stadt war durch ihre streng geometrische Lage sehr übersichtlich angelegt, ihre Erbauer hatten sehr viel Planung und Liebe in die Anordnung gesteckt.
 

Ich war mit Leib und Seele ein Kind aus Wanas, wo meine Eltern einen mittelgroßen Bauernhof bewirtschafteten. Ich wuchs gemeinsam mit zwei Geschwistern auf und bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr hatte ich niemals einen Fuß innerhalb der Stadtgrenzen Andrias gesetzt, dazu war ich viel zu sehr mit der Arbeit auf dem elterlichen Gut und anderen Dingen beschäftigt.

Mein Vater war ein einfacher Bauer. Das Einzige, was ihn wirklich kümmerte war, ob es dem Vieh gutging und ob es eine gute Ernte geben würde. Er war gutmütig und einem guten Glas Met oder Wein nur in den seltensten Fällen abgeneigt. Philosophische Dinge interessierten ihn nur wenig und wenn man ihn danach fragte, so lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, seufzte und murmelte: "Warum die Welt unnötig verkomplizieren, wenn es doch vollkommen zum Leben reicht, zu wissen, was es am nächsten Tag zu essen gibt."

Meine Mutter war ein wenig anders. Sie war praktisch, kurz angebunden, energisch und die eigentliche Herrin des Hofes. Sie achtete auf die für den Haushalt und das Auskommen wichtigen Dinge, während mein Vater sich auf den Feldern vergnügen konnte und wenn ihr etwas nicht gefiel, so trieb sie ihn an. Ohne ihre zupackende Art wäre vieles sicher anders gekommen, trotzdem war sie manchmal nicht zu bremsen, was ihren Ehrgeiz anging.

Es ist also leicht ersichtlich, daß ich ein wirkliches Landei war... Trotzdem war irgend etwas anders mit mir...
 

"Arianne! Ri!" Meine jüngere Schwester Avariel schrie sich beinahe die Kehle aus dem Leib, während sie über die Wiese rannte, ihr langes, blondes Haar wehend und glänzend im Wind und Sonnenschein. Ich saß in meinem Versteck im Apfelbaum und machte nicht die geringsten Anstalten mich bemerkbar zu machen. "Ri, wo steckst du?" Suchend wandte sie den Kopf und ich hatte Mühe, nicht zu kichern. Wenn ich nicht wollte, daß sie mich fand, dann fand sie mich nicht, ich wußte nicht weshalb. Langsam kam sie unter den Schatten des Apfelbaumes und sah sich um, entdeckte mich jedoch nicht. Wie sehr wünschte ich mir, daß ein Apfel sie jetzt am Kopf treffen würde, als Strafe für ihre Neugierde...
 

"Aua!" Ungehalten rieb sie sich den schmerzenden Hinterkopf und blickte unglücklich auf das Obst das plötzlich neben ihr im Gras lag. Ich konnte es von meinem Versteck aus nicht glauben. Wie war es möglich? Gerade eben hatte ich mir gewünscht, daß ein Apfel sie traf, da war es geschehen...

Ich schluckte und ein seltsames Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Das war nur ein Zufall, oder?

Avariel blickte nach oben, in die Richtung, aus der der Apfel gekommen war und entdeckte mich. Wütend verzog sie das Gesicht und zeigte auf mich. "Warum bewirfst du mich?!"

Ich schüttelte den Kopf und antwortete, zumindest mit der halben Wahrheit. "Ich habe dich nicht beworfen." Entrüstet stemmte sie die Hände in die Hüften und starrte mich an. "Und das soll ich dir glauben?!" Ich zuckte die Schultern. "Es stimmt." Naja, zumindest teilweise, aber als elfjähriges Kind hat man seine eigene Vorstellung von Realität...

Vielleicht war es wirklich nur ein Zufall gewesen, aber ich wollte Gewißheit. Demonstrativ klammerte ich die Hände an den Zweig, auf dem ich saß und wünschte mir erneut, ein Apfel würde fallen.

Ich konzentrierte mich förmlich auf die Früchte, bis sie vor meinem Blickfeld verschwammen, dennoch, nichts geschah.

Ungeduldig kniff ich die Augen zusammen und versuchte es erneut, aber alle Äpfel blieben hängen - es war wohl doch Zufall gewesen.

Sie schüttelte noch einmal den Kopf und knurrte: "Jaja, wer's glaubt...", beließ es aber ansonsten dabei.

Ich seufzte und ergriff einen waagrecht hängenden, stabil aussehenden Ast, und hängte mich mit den Kniegelenken ein, sodaß ich kopfüber baumelte.

"Ri, laß die Scherze und komm endlich hier herunter." Avariel wurde ungeduldig, was mich dann doch zu einem Lächeln zwang. Ich umgriff den Baumstamm so gut es ging und löste dann vorsichtig meine Beine von dem Ast über mir. Mich um die eigene Achse drehend landete ich auf dem Boden, ließ den Stamm los und klopfte mir die Hände ab. "Schon gut, schon gut..."

Sie blickte mir beleidigt in die Augen. "Es macht keinen Spaß, mit dir Verstecken zu spielen. Erst findet man dich nicht und dann machst du dich noch über einen lustig."

Ich grinste und strich mir meine langen Haare aus dem Gesicht. "Das sagst du jedes Mal, und trotzdem spielen wir dann wieder..." "Mit wem soll ich denn sollst spielen?" In ihrer Stimme schwangen Vorwürfe mit. "Kell verbringt seine Freizeit ja lieber mit Vater oder beim Fischen und auf Perris kannst du auch nicht zählen, der ist viel zu sensibel." Perris! Ich erinnerte mich, diese Diskussion schon unzählige Male mit meiner Schwester geführt zu haben und ich mochte es nicht, wenn sie sich über meinen besten Freund lustig machte. Dieses Mal jedoch beließ ich es bei einem gequälten Seufzen, ich hatte einfach keine Lust, es auf einen Streit ankommen zu lassen. "Wie sieht es aus?" fragte ich statt dessen. "Willst du dich jetzt verstecken und ich suche dich?"

Sie schien zu überlegen, aber bevor sie Antwort geben konnte, hörte ich von fern meinen Vater rufen. "Arianne! Avariel! Kommt nach Hause! Kathal ist eingetroffen!"

Wir blickten uns kurz an und liefen dann so schnell wir konnten zu Vaters Haus zurück, denn keine von uns beiden wollte es verpassen, wenn Kathal kam.
 

Niemand wußte so richtig, woher er stammte, aber es interessierte auch eigentlich niemanden. Er kam und ging, wie es ihm beliebte, kam an einem Tag und reiste an einem anderen ganz unvermittelt ab, ohne daß jemand sein Ziel kannte.

Die Bezeichnung, die ihn noch am treffendsten beschrieb, war wohl die des fahrenden Händlers. Als solcher bereiste er sämtliche Provinzen des Reiches, kaufte und verkaufte Waren und brachte immer die neuesten Nachrichten von der Hauptstadt oder den anderen Gebieten mit sich.

Für uns Kinder war es natürlich immer ein Festtag, wenn er in unser Haus kam. Wie gebannt lauschten wir seinen Geschichten, träumten von den fernen und wundersamen Provinzen und bestaunten die Dinge, die er uns mitbrachte, eines fremder als das andere.

Wir fragten niemals, woher er ausgerechnet unseren Vater so gut kannte, wir nahmen es einfach als gegeben hin.

Als wir das Haus erreichten, saß er bereits in der Wohnstube, zog an seiner fremdartigen Pfeife, einen Krug Apfelwein vor sich stehend. Die von ihm ausgehenden Rauchschwaden füllten den ganzen Raum mit einem süßlichen, weder gut noch schlecht riechenden Duft aus.

Ich blickte zuerst ihn an, bevor ich mich umsah und feststellte, daß außer meinen Eltern auch noch mein jüngerer Bruder Kell und mein bester Freund Perris mit Schwester und Eltern anwesend waren. Ich hauchte einen atemlosen Gruß in die Runde und setzte mich dann gemeinsam mit Avariel so leise wie möglich zu Perris, da wir das Gespräch nicht unterbrechen wollten.

Ich bemerkte, daß Kathal noch immer so aussah, wie immer. Alterslos und nicht einschätzbar. Er war noch immer groß gewachsen und drahtig. Unter dem engen Wams waren kräftige Muskeln zu erkennen. Auch sein Gesicht hatte sich nicht verändert: seine unheimlichen blauen Augen unter den buschigen Augenbrauen und dem vollen grauen Haar. Einen Bart hatte er nie getragen, dafür jedoch stets Bartstoppeln. Auch die Falten um seinen Mund und der Stirn waren noch dieselben.

"... Ich kann dir leider nicht mit Sicherheit sagen, was dort vorgeht, aber es gibt etwas anderes, das mir weitaus mehr Sorgen macht." Wie es schien, hatte er seinen Bericht schon begonnen. Mit einem Nicken bedeutete mein Vater Kathal weiterzumachen und er fuhr fort. "Wir alle wissen, daß unser König nicht mehr allzu lange an der Macht bleiben wird. Noch hat er das Zepter fest in der Hand, aber er ist auch nicht mehr der Jüngste und scheint inzwischen sehr krank zu sein. Das Problem ist, daß er keinen Nachfolger hat, da sein einziger Sohn vor langer Zeit verunglückt ist." Eine Zeitlang wagte niemand etwas zu sagen, da jeder über das Gesagte nachdachte, oder im Falle von uns Kindern es einfach nicht wagte, die Erwachsenen zu unterbrechen.

Ich beobachtete Kathals Rauchschwaden, die in der Stube seltsame Muster ergaben und versuchte versteckte Bilder in ihnen zu erkennen. Die Stimme meines Vaters unterbrach mich schließlich in meiner Gedankenspielerei: "Früher oder später mußte dies passieren, das wußten wir alle von dem Tag an, an dem Jonthal vom Pferd stürzte."

"In gewisser Weise magst du damit recht haben, Borris. Aber haben wir nicht alle gehofft, er würde es noch irgendwie schaffen, einen Nachkommen zu zeugen? Es ist das erste Mal seit über einhundert Jahren, daß ein König ohne Nachkommen verstirbt. Und wenn man den Chroniken Glauben schenken darf, stürzte dies das Reich damals in eine große Krise." "Gibt es denn keine Anwärter auf den Thron?" mischte sich meine Mutter ein.

Kathal zog ein weiteres Mal an seiner Pfeife und nickte dann. "Die gibt es in der Tat und zwar nicht zu wenig. Die größten Chancen werden allerdings Rhodius, dem Neffen des Königs zugebilligt, da er der einzige verbliebene Blutsverwandte ist."

"Nie von ihm gehört..." brummelte mein Vater und damit hatte er nicht ganz Unrecht. Hohe Politik drang erst als Letztes zu uns nach Wanas vor und ohne Kathal wüßte er wahrscheinlich überhaupt nicht, was sonst noch so vorging in der Welt.

"Das wundert mich nicht..." entgegnete Kathal geduldig. "Er hat sich noch keinen Namen in der Politik genannt und bisher ist sein Name lediglich in Andria einigermaßen bekannt. Wir wissen wenig über ihn, aber er scheint nicht ganz so umsichtig zu sein, wie König Mahas."

"Wir werden es ja früh genug sehen. Momentan interessiert mich nur, ob ich diesen Sommer genügend Vorräte für den Winter ernten kann..."

Typisch mein Vater! Machtwechsel und Ähnliches tangierten ihn peripher. Der Hof, das war wichtig... die Hauptstadt viel zu weit weg.

Kathal schien genauso darüber zu denken. Zumindest lachte er laut und herzlich und damit war das Thema "Hohe Politik" für diesen Abend vom Tisch.

Dafür tischte meine Mutter nun das sorgfältig bereitete Abendmahl auf und Kathal erzählte uns Kindern die heiß ersehnten Mythen über das Blaue Gebirge und die Provinz Entaria.

Der Abend ging so noch schneller vorbei und ich erinnere mich todmüde ins Bett gefallen zu sein, um am nächsten Morgen früh aufzustehen.
 

Die Geschichte mit dem Apfel war mir nach wie vor nicht geheuer. Es war nicht das erste Mal, daß ich mit meinen Gedanken Dinge bewegt hatte, wie mir jetzt auffiel. Es war nur das erste Mal, daß es mir so bewußt wurde. Zufall oder nicht?

Kathal kannte sich besser in solchen Dingen aus und ihn hatte ich vor zu fragen, bevor er abreiste. Vorher jedoch, wollte ich es noch auf einen Versuch ankommen lassen.

Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen und die Wiesen unseres Hofes erstrahlten im noch matten Licht der Dämmerung. Es war fast windstill und so bewegten sich die Grashalme kaum, bis auf diejenigen, an denen ich vorbeirannte.

Nach kurzer Zeit hatte ich mein Ziel erreicht: den Apfelbaum. Mit zwei Klimmzügen schwang ich mich auf meinen Lieblingsast und betrachtete das Blattwerk und die Äpfel um mich herum.

Na schön! Dann mal los.

Ich ließ meinen Blick über das dichte Geflecht von Zweigen streifen, bis ich endlich einen schönen großen Apfel fand, der mir für meine Zwecke angemessen schien.

Ich fixierte die Frucht so lange, bis sie vor meinen Augen verschwamm und konzentrierte mich darauf, so gut ich konnte.

Fall herunter... Fall herunter... Fall herunter...

Nichts geschah... Und irgendwann konnte ich dem Drang zu Blinzeln nicht mehr widerstehen. Unwillig schüttelte ich den Kopf. Sollte ich mir das wirklich eingebildet haben?

Von Kathal wußte ich, daß es einige wenige Leute auf Emeranea gab, die Dinge mit Kraft ihrer Gedanken bewegen konnten, das Feuer oder Wasser beherrschen und Ähnliches... Man nannte sie Adepten und sobald ihre Begabung entdeckt wurde, dauerte es nicht lange, bis der- oder diejenige von den Priestern Temeths mitgenommen wurde und eine umfassende Lehre erhielt.

Man sagte den Priestern eine nicht zu unterschätzende Macht nach. Sie waren nach der Königsfamilie die bedeutendste Kaste im Land und immer darauf bedacht, Temeth, unseren Gott, nicht zu erzürnen, waren ihre Fähigkeiten doch sein Geschenk.

Mehr wußte ich damals noch nicht über die diese Gruppe, doch es schien mir Anreiz genug zu sein, solche Fähigkeiten bei mir zu erkennen. Ich hätte endlich eine Möglichkeit aus diesem langweiligen Dorf und dem eintönigen Leben auf dem Hofe meiner Eltern zu entfliehen und so wie Kathal ganz Emeranea zu bereisen...

Abenteuer! Abwechslung! Mystische Kräfte!.... oder so ähnlich....

Frustriert und enttäuscht ließ ich den Kopf hängen, denn wie es aussah war es nur Zufall gewesen, das Wunschdenken eines törichten Kindes, das sich so sehr nach Abenteuern sehnt... Ich seufzte schwer und schüttelte den Kopf... als ich ein dumpfes Geräusch, von einem Aufschlag herrührend vernahm.

Abrupt wandte ich mich um und bemerkte, daß der Apfel, auf den ich mich sosehr konzentriert hatte, nicht mehr hing. Sollte ich etwa...? Wie war das möglich? Ich hatte doch gar nicht...?

Einen erneuten Zufall konnte ich ausschließen, doch was war der Auslöser gewesen? Allein die Konzentration war es sicher nicht, denn das hatte zweimal nicht funktioniert, aber sowohl bei meiner Schwester als auch eben, als ich den Apfel nicht mehr fixiert hatte, war es geschehen... Wieso?
 

"Arianne!!!!" Dieses Mal war es Perris, der mich suchte und mich damit aus meinen Überlegungen riß. Ich hörte seine Schritte im raschelnden Gras und sah ihn dann von unten zu mir hoch blicken. "Warum wußte ich nur, daß du hier stecken würdest, Ri?" Ich zuckte mit den Schultern und grinste.

"Könntest du wohl... Ich meine könntest du bitte..." Unsicher sah er mich an und ich verstand. Behende schwang ich mich auf den Boden neben ihm und er lächelte dankbar. "Danke Ri." "Kein Problem..."

"Ri..." Erst jetzt sah ich, dass seine Augen gerötet waren und seine Nase noch immer lief. Er hatte geweint.

Wahrscheinlich gab es wieder Probleme mit seinem Vater.

Mein bester Freund war der Sohn des Dorfschmiedes, einem muskelbepackten und grobschlächtigen Mann.

Es war wohl die größte Enttäuschung für Perris' Vater gewesen, dass sein Junge eher nach der Mutter kam und daher kein bisschen männlich und verwegen war, sondern still, schmächtig, und blass.

Oft gab es deswegen Streit und Schläge, wenn Perris sich dem Willen des Vaters nicht fügte, wobei es mehr aus Angst als aus Bösartigkeit geschah.

Inzwischen war sich sein Vater sicher, dass aus ihm nie mehr etwas werden konnte...

Behutsam nahm ich ihn den Arm und strich ihm über das Haar.

"Es wird schon wieder gut, glaube mir..." flüsterte ich.

"Ich würde dir gerne glauben, Ri..." Seine Stimme zitterte und ich drückte ihn noch fester. "Du bist immer so mutig, so stark... Ich wünschte, ich wäre wie du... Vater wäre viel zufriedener mit mir, aber was soll ich nur tun? Ich gebe mir solche Mühe seinen Lektionen zu folgen, aber wenn er mir etwas aufträgt, fällt es mir so schwer, seinen Wünschen nachzukommen. Ich.. ich kann doch nichts dafür, dass ich den Hammer nicht heben kann oder dass ich es nicht übers Herz bringe ein Tier zu töten... Und er hält mich für einen schwächlichen Nichtsnutz..."

"Du bist kein Nichtsnutz, Perris. Immerhin kannst du lesen und schreiben, was nur wenige im Dorf können. Du kennst Temeths Lehren auswendig und ich kenne niemanden, der so viel über Pflanzen weiß."

"Er weiß nichts von dem zu würdigen und macht sich über mich lustig. Und heute hat er all meine Bücher ins Schmiedefeuer geworfen, als Mutter fort war. Diese nutzlosen Papierhaufen würden mich nur noch mehr verderben, schrie er. Dann hat er mich geohrfeigt. Oh, Ri, was soll ich nur tun?"

Ich ließ ihn los und seufzte, dann schüttelte ich den Kopf.

"Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, Perris..."

Entmutigt ließ er sich ins Gras sinken und nahm den Apfel in die Hand, mit dem ich vorhin experimentiert hatte. Ich setzte mich neben ihn.

"Vielleicht kannst du bei jemand anderem im Dorf eine Lehre beginnen? Wie sieht es zum Beispiel mit der alten Sabeth aus? Sie könnte bestimmt jemanden brauchen, der ihr zur Hand ginge und du wärst zunächst einmal von Zuhause fort. Niemand hat so viele Bücher, wie sie... und niemand weiß so gut darüber Bescheid. Ich selbst wollte sie nachher besuchen und kann ja mal fragen, wenn dein Vater einverstanden ist.

Es ist zwar keine Schmiedearbeit, die du lernst, aber vielleicht etwas anderes, das er als nützlich erachtet..." Nachdenklich biss er in den Apfel, kaute und schluckte dann, bevor er nach langem Schweigen endlich murmelte. "Es könnte funktionieren..."
 

Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich vielleicht anders auf Perris' Trauer reagiert und versucht, ihn auf eine andere Art und Weise zu trösten, doch damals nahm ich ihn einfach an der Hand, stand mit ihm auf und machte mich auf den Weg ins Dorf.

Nach meinem zweiten Erlebnis im Apfelbaum hatte ich dazu entschlossen, zuerst Sabeth zu fragen, bevor ich mich tatsächlich an Kathal wenden wollte, denn sie war die einzige im Dorf, von der man sagte, sie habe Erfahrungen mit seltsamen Kräften und Temeths Priesterkaste.

Und nach meinem Gespräch mit Perris war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich wirklich Kapital daraus schlagen sollte, denn dies bedeutete ihn zu verlassen und nicht mehr für ihn da zu sein, was besonders schwer wog, da ich wohl außer seiner Mutter der einzige Mensch war, an den er sich wenden konnte.

Gemeinsam überquerten wir die Wiese und nahmen den staubigen Feldweg in Richtung Dorf, der durch die sommerliche Hitze noch einmal trockener war, als sonst. In den Feldern, die links und rechts davon aufragten, hörten wir Grillen zirpen und bisweilen das Kreischen eines Raubvogels über uns.

Perris neben mir war ungewöhnlich still geworden und ich fragte mich schon, ob er es sich anders überlegt hatte, als er mich ansah mit seinen nachdenklichen blauen Augen.

"Bist du sicher, dass wir zuerst zu Sabeth gehen sollten, bevor ich es meinem Vater sage?"

Ich überlegte einen Augenblick.

"Wenn sie dir eine Absage erteilt, brauchst du das Thema gar nicht erst bei deinen Eltern anzuschneiden und wenn sie bereit ist, dich aufzunehmen, hast du immer noch Zeit, dir zu überlegen, wie du es deinem Vater am Besten sagst."

Er hob gerade an, mir eine Antwort zu geben, als wir laute Stimmen aus der Richtung des Dorfes vernahmen.

Was wir hörten, verhieß nichts Gutes, denn es klang allzu sehr nach Geschrei und Klage.

Wir blickten uns kurz an und rannten dann los, von Neugier übermannt.

Kurze Zeit später erreichten wir, ein wenig außer Atem den Dorfplatz. Eine riesige Menschenmenge hatte sich versammelt und wären diejenigen, um die es ging, nicht ein wenig erhöht auf dem Podest, das der Bürgermeister für seine Ansprachen benutzte, gestanden, hätten wir wohl niemals gesehen, um wen es sich handelte, denn auf uns Kinder nahm niemand besonders Rücksicht.

Außer uns konnte ich auch niemanden in unserem Alter erkennen und mich beschlich das dumpfe Gefühl, dass das, wovon wir nun Zeugen wurden, eigentlich nicht für unsere Augen bestimmt war.

Die Menschen auf dem Podest erkannte ich als Sinya, die Tochter des Schankwirts, sowie ihre beiden Eltern, den Bürgermeister, den Priester und noch einen Mann in dunklen Kleidern, den ich niemals zuvor gesehen hatte.

Wie es aussah, verlas er gerade etwas von einem riesigen Pergament, doch ich verstand nur die Hälfte von dem was er sagte, aufgrund des Lärmpegels.

"... wegen Verstoß gegen den Kodex... verbannt... ... erst zurückkehren ... wiedergefunden hat..."

Sinya, welche vorher schon nicht besonders glücklich ausgesehen hatte brach in Tränen aus und ihre Eltern fielen sich kummervoll in die Arme.

Die Menschenmenge brach in noch größeres Gemurmel aus und im Vorübergehen hörte ich zwei Frauen miteinander reden.

"... früher oder später musste das passieren."

"Ich habe gleich gesagt, das Mädchen flirtet zu sehr mit den Reisenden in der Schankstube."

"Das ist nur die Konsequenz. Jetzt muss sie das Dorf verlassen und kann vielleicht nie wieder zurückkehren."

"Das hat sie sich selbst zuzuschreiben, sie hat Schande über ihre Familie und Temeth gebracht..."

Da sich die Menge nun auflöste, versuchte ich einen letzten Blick auf die Schankwirtsfamilie zu werfen, um vielleicht verstehen zu können, was vor sich ging. Vor leider Aufregung bemerkte ich die Gestalt nicht, die sich Perris und mir von hinten näherte.
 

"Was habt ihr hier zu suchen?!"

Erschrocken schrie ich auf und drehte mich um. Erst jetzt erblickte ich Harian Starkarm, Perris' Vater.

Es überraschte mich immer wieder, wie groß und muskelbepackt er war und nun, da er mit dem Rücken zur Sonne stand, wirkte er noch größer und bedrohlicher durch das Licht, das mich blendete. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah uns beide, aber besonders seinen Sohn Perris mit wutverzerrtem Gesicht an.

Ich brauchte meinen Freund nicht einmal anzusehen, um zu wissen, dass er vor Angst zitterte und so ergriff ich das Wort.

"Wir waren gerade auf dem Weg ins Dorf, als wir diese Menschenmenge erblickten..."

"Was ihr gesehen habt, war nicht für eure Augen bestimmt. Schert euch fort!"

Ich spürte tief in mir zwei Gefühle erwachen. Das eine war eine tiefe, zerfressende Neugierde zu erfahren, von was wir nun eigentlich Zeugen geworden waren, das zweite eine tiefe Wut auf den Schmied der uns so angefahren hatte.

"Woher hätten wir das wissen sollen?" entgegnete ich patzig. "Es ist das allererste Mal, dass so etwas wie dies in unserem Ort vorkommt und niemand hat uns gewarnt nicht zu kommen."

"Was wollt ihr überhaupt im Dorf?"

Unsicher schielte ich zu Perris, der immer noch zitterte und sich angestrengt auf die Unterlippe biss, während er nach unten starrte.

"Die alte Sabeth besuchen," entgegnete ich daher ausweichend.

"Das hätte ich mir denken können...!" Seine Stimme klang höhnisch. "Nicht genug, dass ich einen weibischen Nichtsnutz als Sohn habe. Nein, er muss auch noch mit einer aufmüpfigen Göre, wie dir befreundet sein, die mit ihren Flausen nichts weiter als einen schlechten Einfluss auf ihn ausübt."

Grob packte er mich an der Schulter und obwohl ich spürte, wie sich seine Finger in mein Fleisch gruben, stieß ich keinen Schmerzensschrei aus.

"Ich wünsche nicht, dass du ihn fortan noch einmal belästigst," zischte er mir zu. "Wehe ich erwische dich noch ein einziges Mal mit ihm."

"Das ist nicht gerecht, Vater!" Perris' Stimme, dünn und ängstlich. "Sie ist meine beste Freundin und würde es nicht wagen, mich zu beeinflussen. Sie möchte mir nur helfen, im Gegensatz zu dir... Lass sie los..."

In der Tat löste der Schmied seinen eisernen Griff von meiner Schulter, aber nur um seinem Sohn eine so heftige Ohrfeige zu verpassen, dass er zu Boden ging.

"Widersprich mir nicht!" schrie er.

Es tat mir weh mitanzusehen, wie Perris nur noch ein zitterndes Bündel am Boden war, der nicht die geringste Chance gegen seinen Vater hatte, einen Mann, der in der Tat keinen Widerspruch duldete.

Aber was sollte ich tun? Noch immer den brennenden Schmerz in meiner Schulter spürend, stellte ich mich zwischen ihn und seinen Vater.

"Hören Sie auf, ihn zu schlagen. Sie haben Recht, es war ganz alleine meine Idee. Ich wollte Perris eine Lehrstelle bei Sabeth beschaffen, damit er von Zuhause fortkommt und vielleicht etwas lernt, das nichts mit dem Schmieden zu tun hat. Ich war es, die ihn auf den Marktplatz geführt hat, um diese Verhandlung anzusehen... Sie können mir an allem die Schuld geben."

Harian funkelte mich an und zog seinen Sohn dann grob auf die Beine. Ihn immer noch festhaltend zeigte er auf mich.

"Wag dich nie wieder in seine Nähe. Er soll in seinem Bücherunsinn nicht noch bestätigt werden." Und damit verließen er und Perris den Marktplatz, während ich alleine zurückblieb.

Erst als ich wusste, beide waren außer Sichtweite, sank ich auf den Boden und ließ meinen Tränen freien Lauf.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Menschenmenge schon wieder verlaufen und niemand schenkte mir noch Beachtung.

Ich wusste nicht genau, warum ich eigentlich weinte.

War es Wut oder Trauer? Wahrscheinlich beides. Perris nicht mehr wiedersehen zu dürfen, war die härteste Strafe, die sein Vater sich je ausgedacht hatte und dagegen zu verstoßen, wagte ich mich auch nicht, denn im Falle des Erwischtwerdens, würde er die Strafe zu tragen haben und nicht ich.

Ich schluchzte und mein ganzer Körper erbebte von der Macht dieses heftigen Gefühlsausbruches. Ich war einfach nur verzweifelt und es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte.

Wie lange ich auf dem Boden gelegen hatte, wusste ich danach nicht mehr, nur dass ich danach noch entschlossener war, Sabeth aufzusuchen, das wusste ich...
 

Die Hütte lag am äußersten Rand des Dorfes und war bereits ein wenig vom angrenzenden Wald überwuchert. Sträucher säumten ihre Steinmauern und die Zweige einer breiten Eiche überragten das strohgedeckte Dach. Es war das erste Mal, dass ich Sabeth ohne Begleitung meiner Eltern einen Besuch abstattete und ein wenig mulmig war mir schon.

Man erzählte sich die abenteuerlichsten Geschichten über sie und ihre Vergangenheit und niemand konnte sagen, wann und warum sie eigentlich hierher kam. Es wurde immer behauptet, sie sei eine Hexe, aber da sie keine bösen Absichten zu hegen schien, war man ihr gegenüber nicht feindselig eingestellt. Im Gegenteil, ihr enormes Wissen in der Heilkunde war für den einen oder anderen schon zur Rettung geworden - und auch ich gehörte dazu.

Vor über einem Jahr hatte ich mich beim Spielen so schwer am Kopf verletzt, dass meine Eltern schon Sorge trugen, ich würde das nicht überleben. Beim Planschen am Bach war ich auf dem Geröll ausgerutscht und so feste aufgeschlagen, dass ich das Bewusstsein verloren hatte. Perris war es, der mich gefunden hatte und Sabeth diejenige, die mich gerettet hatte, auch wenn sie niemals preisgegeben hatte, wie sie das getan hatte...

Zwar waren meine Eltern damals verwundert, aber da sie weder eine Gegenleistung verlangte noch ging es mir danach schlechter, hatten sie den Vorfall schnell vergessen. Auch mir kam er erst jetzt wieder in den Sinn als ich vor der schweren Holztür stand und einen kurzen Moment zögerte, bevor ich anklopfte.

Komm schon, sie wird dich nicht fressen!

Es dauerte einen kurzen Moment, bevor ich schlurfende Schritte im Inneren der Hütte hörte und dann das quietschende Geräusch der sich öffnenden Tür.

Ich atmete tief durch und blickte dann in das warme Gesicht einer recht kleinen und dicklichen alten Frau, die sich nun hell vom dunklen Inneren der Hütte abhob.

Bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte, lächelte sie mich freundlich an.

"Ich habe dich bereits erwartet, Arianne..." Sie wies mich an einzutreten.

Als ich zögerte, vergrößerte sich ihr Lächeln.

"Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Sei beruhigt, ich werde alle deine Fragen beantworten..."

Ich beschloss, ihr einfach Vertrauen zu schenken und betrat das Haus.
 

Es war recht dunkel und durch den angrenzenden Wald fiel nur wenig Licht durch die Fenster. An den Dachbalken waren deshalb neben Kräuter- und Gewürzbündeln auch Kerzenlampen befestigt, die eine flackernde Beleuchtung erzeugten, obwohl es noch Tag war.

Den allgegenwärtigen Geruch konnte ich mit nichts mir Bekanntem in Verbindung bringen, vermutete aber die Kräuterbündel als die Ursache.

Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich einen massiven Holztisch in der Mitte des Raumes und vor einem steinernen Kamin stehen. Auf dem Tisch befand sich eine Schüssel mit einigen Früchten darin. Links und rechts davon waren zwei Holzstühle. Sabeth zeigte auf einen der beiden und ich setzte mich gehorsam hin.

Sie zog den verbleibenden Stuhl zu sich heran und platzierte sich mir gegenüber. Eine Weile schwiegen wir uns an, doch dann fasste ich mir ein Herz.

"Ich habe tatsächlich einige Fragen. Es kommt mir so vor, als könnte ich manchmal Dinge nur mit meinen Gedanken bewegen... Aber wenn ich es bewusst versuche, will es mir nicht gelingen. Habe ich mir diese Kräfte vielleicht nur eingebildet?"

Sie lächelte erneut und erwiderte dann: "Nein, Arianne, das hast du nicht."

"Heißt das, ich bin ein Adept, eine Auserwählte Temeths?" Aufregung überkam mich und wieder sah ich all meine Möglichkeiten vor mir - bis ich mir Perris schmerzlich ins Gedächtnis rief.

"Es heißt, dass Temeth dich gesegnet hat. Mit Adepten hat das nichts zu tun..." Sie wirkte plötzlich ein wenig zurückweisender.

"Aber es heißt doch..."

"Ich weiß was es heißt... Aber hier nach Wanas dringen Neuigkeiten als Letztes durch."

"Was bedeutet das? Kümmert sich nicht die Priesterkaste um Adepten und bildet sie aus?"

"Doch, darin besteht ihre Aufgabe..."

"Aber?" Ich war noch zu jung, um den Schmerz auf ihrem Gesicht zu sehen, ich war viel zu neugierig, um darauf zu achten und viel zu aufgeregt, mir all dies nicht eingebildet zu haben...

"Du bist noch zu jung, es zu verstehen, mein Kind. Noch ist nicht der rechte Augenblick dafür gekommen..." Sie wich mir aus.

"Was heißt das?" Immer noch drängte ich. "Heißt das, ich kann Kathal davon berichten und vielleicht sogar Perris helfen, wenn ich mich ausbilden lasse?"

"Es heißt, dass du mit niemandem, hörst du, niemandem außer mir darüber sprechen wirst."

"Aber wieso denn nicht?"

Empörung stieg in mir hoch. Ich kannte diese Frau doch überhaupt nicht, wieso konnte sie mir einfach so Vorschriften machen?

Mit erstaunlicher Geschwindigkeit stand sie auf und stand nun plötzlich vor mir, bedrohlich und Respekt einflößend.

"Weil ich dich ausbilden werde!" Ich schluckte und wagte nicht zu widersprechen....
 

Auf dem Nachhauseweg, nachdem sie mir noch einige Dinge erklärt hatte, fühlte mein Kopf sich an wie Watte, und ich mich, als wäre ich nicht ich selbst. Ich hatte das Gefühl, etwas stimmte nicht hier und doch hielt ich es nach einigem Nachdenken aus irgendeinem Grunde für ratsam, dieser Frau zu vertrauen. Ich war noch so von diesem Besuch beeindruckt und beeinflusst, dass ich ihre humpelnde, unnormale Gangart überhaupt nicht bemerkt hatte, genau wie die Tatsache, wieso sie mich denn erwartet hatte.
 

Als ich an jenem Abend Zuhause eintraf, war ich noch immer durcheinander. Es war so vieles geschehen und nur auf das Wenigste konnte ich mir wirklich einen Reim machen.

Erst diese seltsame Szene auf dem Marktplatz um Sinya, dann meine Trennung von Perris und schließlich die alte Sabeth, die so gar nicht gewesen war, wie ich gedacht hatte. Ich hätte niemals geglaubt, einem Menschen zu begegnen, der gleichzeitig verbittert und sanftmütig war. Ich war sosehr in Gedanken versunken, dass ich den Einbruch der Dunkelheit gar nicht bemerkt hatte.

Kaum hatte ich das Haus betreten, brach daher die Hölle los.

Mein Vater war der erste, dem ich begegnete und er sah wenig gut gelaunt aus.

"Wo in Temeths Namen hast du nur gesteckt, Arianne?" fuhr er mich an und die Verwendung meines vollen Namens, verhieß nichts Gutes.

"Ich war mit Perris unterwegs..." wich ich ihm aus...

"Du lügst!" Er zitterte vor Wut und selten hatte ich ihn so aufgebracht erlebt. "Harian Starkarm war hier und hat sich über dich beschwert. Er verbittet sich deinen weiteren Umgang mit seinem Sohn! Du hättest schlechten Einfluss auf ihn. Was hat das zu bedeuten?"

Ich hielt den Kopf gesenkt und murmelte meine Antwort an der Grenze des Hörbaren.

"Ich... ich wollte Perris überreden von Zuhause fortzugehen, eine Lehre bei Sabeth anzufangen, weil ich von ihren vielen Büchern hörte... und er erneut von seinem Vater gedemütigt worden war, aber auf dem Weg zu ihr gerieten wir in eine Art Verhandlung.. auf dem Marktplatz hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die Sinya, die Wirtstochter zu verurteilen schien oder etwas Ähnliches.... Dort hat uns Perris' Vater erwischt und wurde sehr zornig. Er schrie uns an und verbot mir daraufhin jeglichen Umgang mit seinem Sohn...."

"Und weiter?" Vater ließ nicht locker, auch wenn ich bemerkte, wie ihn eine plötzliche Unruhe befiel.

"Was weiter... Das ist alles.."

"Wo hast du danach gesteckt?"

Ich beschloss ihm nichts von meiner Begegnung mit Sabeth zu erzählen und log ihm statt dessen vor, im Wald gewesen zu sein und aus Wut und Trauer über Harian die Zeit vergessen zu haben.

Auch wenn Vater bei dem Gedanken, ich sei alleine im Wald gewesen, nicht glücklich war, so glaubte er mit die Geschichte schließlich und entließ mich aus meinem Verhör.

Doch nun war ich an der Reihe.

"Was hat diese Geschichte mit Sinya zu bedeuten, Vater? Warum sind alle so aufgebracht deswegen und weshalb wird daraus ein solches Geheimnis gemacht?"

Er schnappte nach Luft und im ersten Moment befürchtete ich schon, er würde mir damit antworten es ginge mich nichts an.

Statt dessen ging er auf mich zu und sah mir fest in die Augen.

"Sinya ist eine Yemathea, eine Unberührbare geworden. Sie erwartet ein Kind, ohne verheiratet zu sein und hat damit die Ehre ihrer Familie beschmutzt."

"Und was geschieht nun mit ihr?" Ich erzittere innerlich, denn ich konnte noch immer nicht ganz nachvollziehen, was das Verbrechen des Mädchens gewesen sein sollte.

"Für ihre Familie ist sie nach dem Urteil nicht mehr existent. Sie wird in die Verbannung geschickt. Sollte sie jedoch den Vater des Kindes finden und ehelichen, stellt sie damit die Ehre ihrer Familie und von sich wieder her und darf zurückkehren."

"Ist das nicht ein wenig hart? Wenn sie den Vater nicht mehr finden kann, so darf sie nie wieder in ihre Heimat zurück und ob sie in der Fremde akzeptiert wird, ist mehr als fraglich..."

Vater zuckte mit den Achseln und seufzte dann auf.

"Du empfindest zu viel Mitleid Ri. Sie hat sich dies selbst zuzuschreiben, außerdem ist ein solches Verhalten ein eindeutiger Verstoß gegen unseren Kodex und das weißt du auch."

"Das mag ja sein. Aber wäre es nicht angebrachter, ihr in einer solchen Situation beizustehen, anstatt sie fortzuschicken?"

"Es ist nun einmal das Gesetz!" Er sagte dies mit einer solchen Vehemenz, dass ich erkannte, jeder Widerspruch war zwecklos.

Damit war das Gespräch für ihn beendet und für mich auch.

Er hatte seine Standpauke Perris betreffend gehalten und ich hatte meine Frage Sinya betreffend gestellt.

Ich verließ ihn daher und ging in mein Zimmer, um noch einmal gründlich über diesen Tag nachzudenken. Eines war sicher: Ich hatte viel dazugelernt - vieles, dass sich in allzu naher Zukunft als ausschlaggebend erweisen würde.

Kapitel 2 - Yemathea

Kapitel 2

Yemathea
 

Die danach folgenden Jahre waren von wenigen Veränderungen geprägt. Ich half meinen Eltern im Sommer bei der Ernte und auch sonst bei der Haltung des Hofes. Des Abends schlich ich mich aus dem Haus, um mich von Sabeth unterweisen zu lassen, da ich nicht wollte, dass irgendjemand davon etwas erfuhr.

Perris wurde von seinem Vater gezwungen bei einem Schmied des Nachbarortes eine Lehre anzufangen und genau das war unser Glück. So konnten wir uns endlich wieder ungestört und unbeobachtet treffen und ich nutzte jede Gelegenheit dazu, auch wenn dies bedeutete, einen über 10 Kilometer langen Weg auf mich zu nehmen.

Jedenfalls wuchs ich von einem Kind zu einer jungen Frau von 16 Sommern heran.

Die Wanderungen zu Perris zollten meinem Körper ihren Tribut, denn über meine Figur konnte ich wirklich nicht klagen, auch wenn ich nun mehr denn je das Gefühl hatte, ein Stück zu klein zu sein. Dennoch – seit einiger Zeit konnte ich die jungen Männer des Dorfes dabei ertappen, wie sie mir hinterher sahen und dies erfüllte mich mit einiger Zufriedenheit, auch wenn mich keiner von ihnen sonderlich interessierte.

Selbst Kathal, der sporadische Besucher der Familie war angenehm überrascht, wie ich mich entwickelt hatte.

Ein knappes Jahr nach seinem letzten Besuch war der alte König tatsächlich gestorben und wie erwartet war sein Neffe Rhodius der Nachfolger geworden. Auch wenn dies nun schon wieder drei Jahre her war, wusste das Volk so gut wie nichts von seinem neuen Monarchen. Er schien sich sehr bedeckt zu halten. Aufgrund des Wechsels in der Thronfolge blieben auch Kathals Visiten zwei Jahre aus, was seine Überraschung erklärte, als er mich danach wiedersah.

Auch wenn er uns danach wieder öfter besuchen kam, hatte er kaum Neuigkeiten, Rhodius betreffend. Politisch schien er wenig falsch zu machen, doch etwas anderes machte Kathal Sorgen.

In Andrias Armenviertel war eine mysteriöse Seuche ausgebrochen, gegen die es bisher kein Heilmittel zu geben schien. Die Kleriker Temeths versuchten zwar ihr Bestes, doch schien es bisher keine Chance auf Heilung zu geben, wenn man erkrankt war.

Zudem hatte sich eine andere Vereinigung einen Namen in der Stadt gemacht. Sie wurden Weißkutten gemacht, da ihr wahrer Name nicht bekannt war, und arbeiteten, so wie es aussah, gemeinsam mit den Priestern an einer Möglichkeit, die Seuche aufzuhalten.

Dies war das erste Mal, dass ich vom Kriechenden Tod hörte – nichts ahnend, welche Veränderung in meinem Leben damit zusammenhängen würden – doch ich maß der Geschichte keine große Bedeutung bei. In Wanas waren wir solchen Katastrophen immer relativ geschützt.

Was meine Ausbildung bei Sabeth anging, so hatte ich in der vergangenen Zeit doch einige Fortschritte gemacht.

Ich war nun in der Lage, meine Kräfte zu kontrollieren und sie bei Bedarf auch einzusetzen. Zu meinen neu erworbenen Fähigkeiten gehörten das Heilen von Verletzungen und das Bewegen von Gegenständen, nur mit der Kraft des Geistes. Manchmal, jedoch nicht immer, gelang es mir, eine Kerze per Gedankenkraft anzuzünden.

Da ich der Heilung jedoch die größte Bedeutung zumaß, kümmerte ich mich um die anderen Dinge kaum und Sabeth insistierte auch nicht darauf. Sie war eher darauf bedacht, vorhandenes Potential zu vergrößern, als nicht vorhandenes zu erschaffen – und ich war ihr auch dankbar dafür.

Trotzdem wurde sie nicht müde, mir zu erklären, ich solle meine Kräfte nicht unterschätzen und auf das beschränken, was ich kontrollieren könne. Ich sei zu viel mehr fähig, wenn es darauf ankäme. Darauf ließ ich es dann weitestgehend beruhen. Ich war mir sicher, es würde niemals ‚darauf ankommen’... dazu war die Idylle in Wanas einfach viel zu trügerisch.

Eines Abends sollte sich jedoch alles ändern...
 

Wie gewöhnlich wartete ich, bis meine Familie schlafen gegangen war, bevor ich leise aus dem Fenster kletterte, um mich auf den Weg zu Sabeth zu machen.

Dieser Vorgang war inzwischen zu einer solchen Routine für mich geworden, dass ich blind jede Stelle zum Festhalten finden konnte, die ich brauchte, um wohlbehalten auf dem Boden anzugelangen.

Wieder einmal hatte ich niemanden geweckt, stellte ich zufrieden fest und entschwand in die Nacht.

In Sabeths Hütte brannte, wie immer Licht und natürlich hatte sie auf mich gewartet.

Ich schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter mir. Sowie ich mich an den Tisch setzen wollte, fiel mein Blick auf ihr Gesicht und ich erstarrte. Sie wirkte verängstigt und bedrückt.

„Sabeth, stimmt etwas nicht?“

Besorgt blickte ich sie an und sie versuchte zu lächeln.

„Du bist reifer geworden, Arianne, fast schon eine Frau. Du bist nun alt genug, die Wahrheit zu erfahren, bevor es zu spät ist.“

Die Wahrheit!

Ich erschauerte und dachte an jenen Abend vor fünf Jahren zurück, als ich ihr zum ersten Mal begegnet war. Jetzt erinnerte ich mich daran, wie sie mir auswich, mit der Begründung ich sei zu jung.

„Wovor sollte es zu spät sein?“

„Ich bin nicht mehr die Jüngste, mein Kind. Und die Anzeichen verdichten sich, dass unser Land vor der größten Bedrohung seit langem steht. Es gibt unschöne Gerüchte aus der Hauptstadt.“

Auch wenn es mich jedes Mal auf Neue erstaunte, wie es ihr gelang, trotz ihrer Zurückgezogenheit, so viele Dinge, auch Neuigkeiten zu erfahren, nickte ich nur stumm.

„Die Seuche im Armenviertel, ich habe davon gehört. Aber die Priester Temeths tun ihr Bestes...“

„Die Priester!“ Sie lachte verächtlich und schüttelte dann den Kopf. „Als ob sie nicht an der ganzen Misere erst schuld wären.“

„Das kann doch nicht sein! Ihre Aufgabe ist es doch, das Volk zu schützen!“ rief ich entrüstet.

Sie wies mich an, mich hinzusetzen und als dem nachgekommen war, trat sie einen Schritt auf mich zu.

Sie hob ihr Kleid hoch und zum ersten Mal erblickte ihr, das was darunter lag. Ihr rechtes Bein sah aus, als wäre es irgendwann einmal mehrfach gebrochen gewesen und beide waren mit Narben übersät. Am verkrüppelten Bein erkannte ich, war der Fuß nach innen gedreht, was ihr Humpeln erklärte.

„Sieh es dir nur gut an, mein Kind, denn dies ist das Werk deiner hochgeschätzten Priester Temeths.“

Ich erschrak.

„Verstehst du nun, warum ich dich von ihnen fernhalten und deine Ausbildung selbst in die Hand nehmen wollte?“

Ich schwieg einen Augenblick, unfähig zu sprechen und nickte dann zögernd. Noch immer konnte ich es nicht fassen: Unsere hochgeschätzten Priester, die Verbindung zwischen Temeth und uns, vereidigte Beschützer des Volkes: wie konnten sie zu so etwas fähig sein? Waren sie nicht für Heilung und Gerechtigkeit zuständig?

Bedächtig legte sie ihre Hand auf meine Schulter und lächelte schwach.

„Ich kann nachvollziehen, was du nun empfindest, Kind. Als ich in deinem Alter war, erging es mir ähnlich. Ich war sehr jung, sogar noch jünger als du, als ich meine Kräfte entdeckte.

Wie du vielleicht weißt, stamme ich auch nicht von hier.

Ich stamme aus Hohenfels, der Stadt der Händler. Du siehst, ich befinde mich nun sehr weit weg von meiner Heimat Entaria.

Meine Eltern waren recht wohlhabende Kaufleute und der gesellschaftlichen Aufstieg, der damit verbunden war, sollte ich tatsächlich eine Adeptin sein, bewegten sie, kurz nach der Entdeckung meiner Kräfte, dazu, mich zum örtlichen Priester zu bringen.

Ich erinnere mich noch gut an ihn. Sein Name war Fenric, ein düsterer, verschlossener Mann. Ich leugne nicht, dass er viel für die Bevölkerung von Hohenfels getan hat und immer zur Stelle war, wenn es irgendwo Krankheit und Leid gab, doch sonst gab es wenig gesellschaftliche Anlässe, zu denen man ihm begegnet wäre. Er lebte recht zurückgezogen in der kleinen, dem Tempel zugehörigen Hütte.

Als man mich zu ihm brachte, war ich genauso aufgeregt, wie meine Eltern. Die Kleriker waren gesellschaftlich hoch geachtet und der Gedanke, eines Tages zu ihnen gehören zu können, beflügelte mich, genau wie er dich beflügelte.

Natürlich gelobte Fenric, für meine Ausbildung zu sorgen – es ist dem Klerus ein Graus, zu wissen, dass es irgendwo von Temeth Gesegnete gibt, die nicht unter seiner Fuchtel stehen, denn dies könnte ja eine Verminderung ihrer Macht darstellen.

Und er hielt sein Versprechen. Wenige Tage später schon, musste ich meine Sachen packen, um mich auf den Weg nach Andria zu machen, denn nur dort werden Priester ausgebildet, wie du vielleicht weißt.

Auch auf dem Weg dorthin war ich noch voll von Aufregung auf das neue Leben und diejenigen die mich begleiteten, teilten meine Freude ebenso.

Doch wie bitter sollte ich enttäuscht werden. Die Milde und Nachsichtigkeit, die sie bei ihren Schutzbefohlenen vielleicht walten lassen, galten nicht für die Novizen und Novizinnen, zu denen ich nun gehörte.

Wer sich nicht an die Anweisungen hielt und den aufgetragenen Aufgaben nicht nachkommen konnte, wurde hart bestraft, sehr hart.

Von Prügeln, über das Unterwasserhalten des Kopfes, bis hin zu Essens- und Schlafentzug gab es alles.

Viele der Novizen waren aufgrund ihrer noch nicht voll entwickelten Kräfte nicht in der Lage, die Aufgaben zu lösen und sie alle traf unerbittlich das Schwert der Disziplin. Auch ich gehörte dazu – das zertrümmerte Bein, das du hier siehst, zog ich mir bei einer dieser Disziplinarmaßnahmen zu.

Aber das war nicht alles – ich hatte das Gefühl, die Priester waren nicht alle so heilig, wie sie es gerne wären. Irgendwie waren sie in Machenschaften verstrickt, die sich kaum mit dem decken konnten, was sie eigentlich gelobten und es würde mich nicht wundern, wenn sie einige der Tode selbst verursacht hatten, nur um zu sehen, wozu ihre Fähigkeiten denn eigentlich in der Lage waren.

Nicht jeder, der von Temeth gesegnet ist, ist automatisch gut und der damalige Hohepriester war es ganz sicher nicht. Inzwischen ist er gestorben und wie sein Nachfolger ist, kann ich dir leider nicht mehr beantworten.

Ich suchte nach einer Gelegenheit, zu entkommen, da ich die Scheinheiligkeit und die Gewalt nicht mehr ertrug, und als sie sich mir bot, floh ich mit zwei anderen Novizen.

Noch Monate nach unserer Flucht wurde das Land nach uns durchkämmt und wir mussten uns versteckt halten. Meine Gefährten wurden schließlich gefangen – und was mit ihnen geschah entzieht sich meiner Kenntnis.

Mir gelang es nur, durch viel Glück zu fliehen und unterzutauchen, wobei sich das ländliche Wanas förmlich anbot. Ich wusste, nach Hause zurückkehren konnte ich nicht, denn erstens würden sie mich dort ganz sicher suchen und zweitens wollte ich meinen Eltern die Schande nicht antun.

Jedenfalls gelang es mir, in meiner Zeit hier, meine Kräfte weiter auszubilden, als es schon geschehen war – ich würde lügen, behauptete ich, in meiner Zeit als Novizin wäre mir in dieser Hinsicht nichts beigebracht worden – und nach jungen Menschen mit den gleichen Kräften Ausschau zu halten, um ihnen ein ähnliches Schicksal zu ersparen.

Du bist die erste, bei der es mir gelungen ist und ich bin froh darum. Ich weiß, in der steckt mehr, als du jemals erkennen kannst und es wäre entsetzlich gewesen, wärest du in ihre Mühlen geraten.“
 

Als Sabeth ihre Erzählung geendet hatte, war es erst einmal totenstill in der Hütte. Ich war immer noch sprachlos, denn wie sie sagte, war damit fast alles, an das ich einmal geglaubt hatte, dahin. Ich wusste, ich war ihr zu Dank verpflichtet, denn so unglaubwürdig sich ihre Geschichte im Vergleich zu den Dingen, die man über die Priester erfuhr, auch anhörte – ich wusste sie war wahr. An jenem Abend schwor ich mir, dass ich niemals in dieses Räderwerk geraten sollte.

Es war meine eigene Unüberlegtheit, die schließlich alles zunichte machen sollte...
 

Seit jenem Abend in Sabeths Hütte waren auch schon wieder ein paar Wochen vergangen und langsam wichen die milden Blüten und Knospen des Frühlings der Hitze des Sommers.

Ich hatte mich verändert, was meiner Umwelt nicht verborgen geblieben war, so gut ich auch versuchte es hinter einer Fassade von Gleichgültigkeit und Patzigkeit zu verbergen.

Noch immer musste ich an Sabeths Geschichte denken, die mein Weltbild so nachhaltig zerstört hatte, dass es wohl noch einige Zeit dauerte, bis ich darüber hinwegkam.

Die Priester Temeths die hin und wieder das Dorf besuchten, konnte ich nun nicht mehr mit kindlicher Ehrfurcht ansehen. Voller Abscheu wandte ich mich ab, als ich sie kommen und auf das Wirtshaus zusteuern sah. Wer wusste, was sie im Schilde führten?

Ich ahnte, dass sie die Kraft besaßen, ihresgleichen von nicht Gesegneten zu unterscheiden, was ein weiterer Grund war, mich von ihnen fernzuhalten.

Selbst Kathal stand ich inzwischen misstrauischer gegenüber, als bei unseren früheren Begegnungen, denn wieder einmal war er bei uns zu Gast.

Niemand wusste wirklich etwas über ihn... also wer war er? Das Risiko war einfach zu groß... Vielleicht ahnte er ebenfalls von meinen Kräften? Ich musste vorsichtig sein...

... und ich verabscheute mich dafür.

Mit jedem Tag wuchs mein Misstrauen gegenüber meiner Umwelt, die ich ja gerade durch mein abweisendes Betragen darauf aufmerksam machte, dass etwas mit mir nicht stimmte, aber ich hatte solche Angst vor einem ähnlichen Schicksal wie dem Sabeths...

Ich verstand nun, weswegen sie sich mit diesen Enthüllungen Zeit gelassen hatte – unvorstellbar, was dies in mir ausgelöst hätte, als ich noch jünger gewesen war.

Ich wusste, dieser Zustand permanenter Angst und wachsenden Misstrauens war auf Dauer nicht tragbar, doch ich traute mich nicht, mit jemandem darüber zu reden und heuchelte stattdessen einen anderen Grund für mein Verhalten vor: Liebeskummer.

Nachdem sie endlich eine Erklärung für meine Stimmungsschwankungen hatten, hörten sie auf, weiter in mich zu dringen und auch wenn ich nach wie vor mit meinen Gefühlen alleine gelassen war, hatte ich wenigstens ihre Neugierde nicht mehr zu fürchten.

Es schien ihnen allen klar zu sein, dass Perris die Ursache dafür war und mir war es recht, verbrachte ich doch mehr Zeit denn je bei ihm, seit er seine Lehre beendet hatte.

Auch wenn ich ihm niemals, niemals größere Gefühle als Freundschaft entgegengebracht hatte, war dies umgekehrt eine andere Sache...

Und dann geschah das Unglück...
 

Es war ein lauer Abend kurz nach Sommeranfang. Ich saß am Ufer des Flusses, und beobachtete das fließende Wasser, wie es in der Ferne verschwand. Manchmal verirrten sich ein paar besonders mutige Fische an die Wasseroberfläche, was leichte Kreise im Wasser entstehen ließ, die sofort von der Strömung verschluckt wurden. Eine Trauerweide bot mir Schutz vor der doch noch grellen Abendsonne sowie einen Platz zum Anlehnen und ich hörte schon die Grillen zirpen.

Dieser Platz war Perris’ und mein Geheimversteck gewesen, als wir noch Kinder gewesen waren... Es erschien so lange zurück, obwohl es doch erst fünf Jahre waren...

Gelegentlich kam ich noch hierher, wenn ich alleine sein wollte, um nachzudenken, oder bei Sabeth Gelerntes in Ruhe auszuprobieren und es kam sehr selten vor, dass ich gestört wurde.

Die meisten anderen Kinder spielten eher flussaufwärts und auch ihre am Fischen interessierten Eltern und älteren Geschwister kannten bessere Fischgründe als diesen Platz.

Raschelndes Gras ließ mich aus meinen Gedanken hochschrecken und mich langsam umdrehen.

Gegen die Abendsonne erkannte ich vertraute Schemen, die sich tatsächlich als Perris herausstellten. Wieder einmal wirkte er traurig.

Bevor ich ihn fragen konnte, was er hier mache, hatte er sich schon neben mich gekauert.

„Ich ahnte, ich würde dich hier finden Ri...“

„Ist alles in Ordnung? Du wirkst so bedrückt, wie schon lange nicht mehr...“ Erinnerungen an meinen letzten Versuch ihn trösten und dessen Ende flackerten in mir hoch.

„Ich werde von hier fortgehen, Ri... Meine Lehre ist beendet, aber das genügt Vater nicht. Er hat gesagt, bevor er in mir einen richtigen Mann sehen kann, muss ich zu den Soldaten. Er hat mit einem Kommandanten in der Taverne gesprochen, der vor längerer Zeit auf der Durchreise war – die Garde des Königs sucht noch Männer.

Ich soll zu einem Rekruten werden... und wenn das geschieht, weiß ich nicht wann ich je wieder zurückkommen kann. Du weißt ich kann mich meinem Vater nicht widersetzen, konnte es nie und kann es auch jetzt nicht.

Ich werde mich wohl fügen...“

Ich zitterte und sagte lange Zeit kein Wort. Erst nahm mir Sabeth mein Weltbild und nun Harian meinen besten Freund und zwar schon zum zweiten Mal, wenn auch dieses Mal für immer, so wie es schien.

„Wie lange weißt du das schon?“ brachte ich schließlich heraus.

„Schon ein paar Monate, aber ich traute mich nie es dir zu sagen, aus Angst, es würde dich so sehr treffen, wie das letzte Mal.“

„Ich verstehe“, erwiderte ich tonlos und bemühte mich, meine Wut und meine Tränen zurückzuhalten. Es war einfach nicht richtig.

Die Tatsache, dass Perris sich genauso, wenn nicht noch schlimmer fühlte, machte es nicht einfacher.

„Arianne... du bist neben meiner Mutter, der einzige Mensch, der mir hier wirklich etwas bedeutet. Du bist meine Freundin seit meinen Kindertagen und warst diejenige die immer zu mir gehalten hat. Du warst stark und mutig, wenn ich schwach und ängstlich war... und auch nachdem mein Vater versucht hat, uns zu trennen, hast du trotzdem einen Weg gefunden, wie wir uns treffen konnten. Ich bewundere dich für all das, was du bist...“

Ich nickte nur und langsam liefen mir die Tränen die Wangen hinunter.

„Ich werde dich vermissen...“

„Und ich werde dich vermissen, schöne Ri. Sie alle haben sich nach dir umgesehen und nie hast du sie beachtet, mir zuliebe. Du weißt, was ich für dich empfinde...“

Er umarmte mich und ich ließ es geschehen. Ja, ich wusste, was er für mich empfand...

Das hatte es immer schwer für mich gemacht, da ich seine Gefühle nicht so erwiderte. Ich liebte ihn wohl wie einen Bruder, aber nicht wie einen Partner.

Behutsam legte ich meine Hände auf seine Arme und so harrten wir einige Zeit aus, stumm, nur in der Nähe des anderen geborgen, jeder wissend, dass es nach dem Abschied kein Wiedersehen geben würde. In diesem Augenblick fällte ich meine Entscheidung...

„Perris“, flüsterte ich, „ich möchte dir etwas schenken, damit du mich niemals vergisst. Nimm es von mir als Freundin an, denn auch du weißt, dass ich nie mehr für dich empfunden habe. Aber es ist das, was du dir am sehnlichsten gewünscht hast.“

Ich löste mich aus seiner Umarmung und küsste ihn leicht und etwas unbeholfen auf den Mund. Wir beide hatten noch keine Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt, aber das war nicht wichtig. Genauso unbeholfen erwiderte er den Kuss und als wir uns lösten, sah er mich überrascht an.

„Ri... Das ist... du... ich meine...“

Ich legte ihm den Finger auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen und lächelte dann sanft. Ich hatte mich entschieden.

„Heute Abend gehöre ich dir..., Perris.“
 

Überrascht riss er die Augen auf und trat dann einen Schritt zurück. Heftig schüttelte er den Kopf.

„Das... das kann ich nicht annehmen...“

Ich folgte ihm den Schritt und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Ich möchte dich nicht drängen oder zu etwas zwingen, aber ich fürchte, das ist das Einzige, was ich dir geben kann. Du brauchst keine Angst zu haben.“

„Arianne... ich... ich habe keine Angst, nur davor, dir vielleicht wehzutun.“

„Lass das nur meine Sorge sein.“

Erneut küsste ich ihn. Dieses Mal gelang es mir besser, als zuvor und ich war froh, zu spüren, wie seine Scheu langsam wich.

Ich strich ihm beruhigend über die Haare und als wir uns erneut voneinander lösten, lächelte er mich fast glücklich an.

„Ich werde es nicht vergessen, was du für mich tust. Du weißt nicht, was das für mich bedeutet...“

Ich erwiderte sein Lächeln und streifte dann mein Hemd über den Kopf.

„Ich kann es zumindest erahnen...“
 

Als wir schließlich ins Gras sanken und uns liebten, brach eine ganze Palette von Gefühlen über mich herein.

Trauer über Perris’ Fortgehen, Glück über die Zärtlichkeit seiner Berührungen und Angst vor der Zukunft. Ich spürte, nun würde nichts mehr sein wie zuvor – ich war quasi von einem Moment zum anderen zur Frau geworden und würde niemals wieder das unschuldige Mädchen sein.

Ich wusste nicht einmal, ob ich es verantworten konnte, irgendjemandem davon zu berichten und schließlich entschied ich mich dagegen – dies sollte unser Geheimnis bleiben und das für alle Zeit.

Ich schloss die Augen und versuchte alles Negative aus meinen Gedanken zu verbannen, damit ich mich in der Vergänglichkeit dieses Moments verlieren konnte – was mir schließlich auch gelang.
 

Die Sterne standen schon längst am Himmel, als wir endlich voneinander abließen, dennoch lagen wir noch sehr lange Zeit nebeneinander im Gras und beobachteten sie. Perris fuhr gelegentlich mit der Hand durch meine Haare, was mich jedes Mal dazu brachte, den Mund zu einem leichten Lächeln zu verziehen. Ich spürte seine Körperwärme neben mir und lauschte seiner Atmung. Niemand von uns sprach ein Wort, aber das war auch nicht nötig – wir verstanden uns auch ohne etwas zu sagen.

Mit den Augen suchte ich die Sterne nach vertrauten Figuren ab und nach und nach gelang es mir, einige der bekannteren Bilder zu entdecken.

Mein Vater hatte oft versucht, mir die Sternbilder zu erklären, als ich noch ein kleines Kind war, als gelehrige Schülerin habe ich mich dabei niemals erwiesen.

Seltsam, dass mir gerade dies nun wieder ins Gedächtnis kam, vielleicht deshalb weil es Erinnerungen aus einer besseren Zeit waren, wer konnte das schon sagen?

Perris brach schließlich das Schweigen und ich konnte die Tränen in seiner Stimme förmlich heraushören.

„Ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich bin für das, was heute Abend geschehen ist, Ri...“

Ich drehte den Kopf und küsste ihn sanft auf die Wange.

„Dann sag es nicht, Perris. Behalte es einfach in deinem Herzen...“

Er zog mich ein Stück an sich und nun, da ich seine im Licht des Mondes glänzenden Augen sah, erkannte ich die Tränen, die ich vorher nur erahnt hatte.

„Wie könnte ich es jemals vergessen?“

Ich hätte ihm sagen können, dass sich die Zeiten schneller änderten, als man es glauben mochte und man was einem lieb und teuer war, schneller vergaß, als man es vorhatte, aber wieso hätte ich diesen besonderen Augenblick ruinieren sollen?

Ich lächelte nur sanft und kuschelte mich an ihn.

Wieder schwiegen wir uns an und nur die Geräusche der Nacht waren um uns zu hören. Wenn sie doch nie enden könnte...

Noch immer versuchte ich die Gedanken an den morgigen Tag zu verdrängen und die Tatsache, ihn nie wiederzusehen...

Nein! Das konnte einfach nicht sein...

Perris wusste nichts von meinen Kräften und selbst wenn... Hätte ich sie vielleicht einsetzen können, um zu verhindern dass er ging?

Sabeth hatte mir bisher nur ‚einfache Tricks’ beigebracht, aber bei allem was sie mir gezeigt hatte – die Kunst der Gedankenmanipulation und sonstiger Illusion war nicht dabei gewesen, mit der ich Harian hätte umstimmen können...

Ihre Worte, dass mein volles Potential sich noch nicht entfaltet hatte, kamen wir wieder in den Sinn und dennoch fiel mir nichts ein, was jetzt noch hätte helfen können – es kam alles zu plötzlich.

Im Nachhinein glaube ich, dass alles dies zu einer Art Vorsehung gehört hatte und ich Perris gar nicht hätte aufhalten können. Die Dinge hatten sich so entwickeln müssen...

In dieser Sommernacht jedoch hatte ich meine gesamte Zukunft noch vor mir und handelte nur nach dem, was mein Gewissen mir befahl – so wie ich es immer tat, um dann die Konsequenzen mit Stolz tragen zu können.

Behutsam begann ich Perris’ Wange zu streicheln und als er sich zu mir umwandte, küsste ich ihn erneut.

Bald liebten wir uns ein allerletztes Mal...
 

Als ich mich zurück in unser Haus schlich, war ich überrascht, meinen Vater noch wach vorzufinden. Normalerweise hätte er längst schlafen müssen, nun aber saß er am Küchentisch und blickte mich mit einem Ausdruck an, den ich noch nie an ihm gesehen hatte. Eine einzige Kerze erhellte sein Gesicht.

„Wo bist du gewesen?“ fragte er streng.

Ich zuckte die Achseln. „Fort…“

Er schnappte kurz nach Luft, aufgrund meiner knappen und etwas frechen Antwort, stand dann auf und verpasste mir eine schallende Ohrfeige.

„Weich mir nicht aus!“

Verschreckt und wütend zuckte ich zurück. Wie konnte er es wagen, mich so zu behandeln? Im Nachhinein muss ich ihm wohl zugestehen, dass er geahnt hatte, was zwischen Perris und mir vorgefallen war. Er hatte sich um mich gesorgt und das mit Recht.

Ich funkelte ihn an. „Ich bin dir keine Antwort schuldig“, zischte ich ihn an und versuchte an ihm vorbei zur Treppe zu gelangen. Ich kam nicht sonderlich weit, da er mich am Arm packte und festhielt.

Der Ausdruck auf seinem Gesicht spiegelte Wut aber auch Trauer wieder. Ich wusste, dass ich ihm ausweichen musste, wollte ich ihn nicht verletzten.

„So einfach kommst du mir nicht davon, Arianne!“ Es war recht selten, dass er meinen vollen Namen benutzte und er tat dies nur, wenn er besonders aufgewühlt war.

„Ich habe deine Geheimniskrämerei satt und das nächtliche Fortschleichen. Ja, sieh mich nicht so an, ich weiß dass du jede Nacht aus dem Haus schleichst.“

Ich war wohl wirklich eine schlechte Schauspielerin, denn in der Tat konnte ich meine Überraschung nicht darüber verbergen, dass er über mein nächtliches Weggehen Bescheid wusste.

Ich beschloss direkt zum Angriff überzugehen und funkelte ihn wütend an, während ich mich aus seinem Griff befreite:

„Und warum bringst du es dann erst heute zur Sprache?“

„Weil ich dir vertraut habe, Arianne.. Ich dachte, es würde sich um eine einmalige Angelegenheit handeln. Stattdessen muss ich mitansehen, wie meine Tochter zu einer Herumtreiberin verkommt!“

„Ich bin keine Herumtreiberin!“

„So? Und was bist du dann?!“

Ja, was war ich dann? Eine Adeptin, die niemandem davon erzählen durfte. Ein Mädchen, das von vielen im Dorf bewundert und gleichzeitig verachtet wurde und keinen wirklichen Freund hatte, außer Perris, der nun für immer fortging... Ich war jemand, der noch immer seinen Platz im Leben suchte.

Doch was half es, mein Vater hätte es nicht verstanden, selbst wenn er gewollt hätte. Er liebte mich sehr, aber verstanden hatte er mich nie. Wenn ich ehrlich war, war Sabeth bisher die einzige, die es wirklich tat.

Ich atmete geräuschvoll aus und sah ihm in die Augen.

„Ich bin deine Tochter.“

Einen Moment lang verhärteten sich seine Gesichtszüge und ich war mir nicht sicher, ob er mich für eine erneute Frechheit ohrfeigen würde. Dann jedoch lächelte er und klopfte mir auf die Schulter.

„Das weiß ich doch... Ich weiß, dass ich dich niemals wirklich verstanden habe, mit deinem starken Willen und deinen Stimmungsschwankungen, aber ich habe dich immer so akzeptiert wie du warst.

Du musst verstehen, ich mache mir doch nur Sorgen um dich und ich kann ja nicht ahnen, wo du des Nachts hingehst...“

Er ließ es zwar unausgesprochen, aber ich war mir sicher, er musste noch immer an den Vorfall mit Sinya denken. Er wollte mir ein ähnliches Schicksal ersparen...

„Ich kann dir versichern, dass es sich um nichts Gefährliches handelt, Vater. Ich besuche Sabeth...“

„Sabeth?! Was um Temeths Willen hast du mit dieser verrückten Alten zu schaffen?“

„Ich helfe ihr bei dem ein oder anderen...,“ log ich, „und sie ist mir recht dankbar dafür. Wir haben uns irgendwann einmal im Wald getroffen und sie schien recht freundlich zu sein. Sie hat euch doch auch schon geholfen, oder nicht?“

Er nickte kurz, deutlich machend, nicht auf das Thema angesprochen werden zu wollen und ich lächelte leicht. Wieder einmal war eine Diskussion zu meinen Gunsten ausgegangen, obwohl ich im Unrecht gewesen war.

Wir saßen noch eine Weile zusammen und unterhielten uns. Er stellte noch einige Fragen bezüglich Sabeth und ich beantwortete, so gut ich es vermochte und wollte. Er schien zufrieden zu sein, mit dem, was er hörte und so war ich es auch.

Irgendwann gingen wir zu Bett und sprachen seitdem nie wieder über dieses Thema. Es war nicht mehr relevant. Und erst recht nicht mehr, als ich meinen Zustand bemerkte...
 

Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich in den nun folgenden Wochen und Monaten mehr gelernt habe, als in meinem bisherigen Leben.

Zunächst einmal meisterte ich die Gabe der Verdrängung ganz ausgezeichnet, denn ich verstand es wie keine Zweite, die zunehmenden physiologischen Veränderungen meines Körper geflissentlich zu ignorieren.

Es war nicht so, dass ich nicht Bescheid darüber wusste, was unter Umständen mit mir los war, im Gegenteil, ich wollte es nur nicht wahrhaben.

Die recht schnell einsetzende morgendliche Übelkeit schob ich zunächst auf schlechtes Essen und zu wenig Sauerstoff und es gab zunächst wenig, das dem widersprach – zumindest so lange, bis meine Blutung ausblieb.

Aber die konnte ja auch nur verspätet sein? Vielleicht ausgelöst durch die Aufregung der letzten Tage...

Nach ungefähr eineinhalb Monaten erkannte ich schließlich, dass all das nichts nützte: ich hatte den Tatsachen ins Auge zu sehen, die Folgen meines Abends mit Perris zu akzeptieren und damit zu leben.

Infolge dessen lernte ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben, was es bedeutete, ein Kind unter dem Herzen zu tragen und zwar immer in Furcht, entdeckt und verstoßen zu werden.

Dies brachte mich schließlich dazu, recht außerordentliche Maßnahmen zur Vertuschung zu ergreifen.

So versuchte ich mich, so oft wie möglich aus der Gesellschaft meiner Mitmenschen zu stehlen und sorgte dafür, immer einen triftigen Grund zu haben.

Mir war klar, nicht in der Lage zu sein, meinen Zustand bis zum bitteren Ende verbergen zu können, aber immerhin konnte ich so ein paar wertvolle Monate gewinnen, in denen ich mir Gedanken um meiner weitere Vorgehensweise machen konnte.

Eines Nachmittags suchte ich Perris’ Eltern auf, um sie zu fragen, wo er sich denn möglicherweise aufhalten könnte, wurde jedoch von Harian ohne einen weiteren Kommentar abgewiesen. Mit eisigem Gesichtsausdruck schlug er mir die Tür vor der Nase zu, mit dem Seitenhieb, ich habe seinen Sohn wohl schon genug verdorben und sollte mich besser um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Wie hätte ich ihm sagen können, dass es sich sehr wohl um meine eigene Angelegenheit handelte?

Zerknirscht machte ich mich auf den Heimweg und versuchte anderweitig an diese Information zu gelangen, was jedoch bis zum Schluss nicht von Erfolg gekrönt war.
 

Die erste, die meine Schwangerschaft bemerkte, war Sabeth, aber sie verriet keiner Menschenseele ein Wort. Nein, mir wurde wie üblich, der Zufall zum Verhängnis, um genau zu sein ein spätherbstlicher Tag. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war: die Blätter waren zum größten Teil schon gefallen und ein kühler Wind blies über die abgeernteten Felder.

Ich hatte mich an den Fluss zurückgezogen, saß an einen Baum angelehnt und beobachtete einige Dorfbewohner dabei, wie sie fischten. Ich erkannte Doran und Haurus Sherran, zwei Brüder die nicht weit von uns ihren Hof bewirtschafteten. Sie waren so mit ihrer Arbeit vertieft, dass ihnen entging, wie sich Dorans dreijähriger Sohn Michal selbstständig machte und das Ufer erkundete.

Als Älteste von drei Geschwistern hatte ich eine gewisse Ahnung davon, wie sich kleine Kinder verhalten, sobald sie unbeobachtet waren und ließ deshalb den Jungen nicht aus den Augen.

Mit tollpatschigen Schritten bahnte er sich seinen Weg durch das Schilf, fasziniert von all dem was er um sich herum entdeckte. Oh ja – die Unschuld der Jugend.

Eine vorbeischwimmende Entenfamilie stellte sich am Ende als der wahre Unfriedensstifter heraus.

Michal, von dem allen Kindern zu eigenen Bedürfnis gepackt, die Tiere anzufassen verfolgte sie und fiel kurz darauf ins Wasser.

Es war nicht so, dass ich es nicht gewusst hätte, im Gegenteil – ich hatte von Anfang so etwas befürchtet.

Handelte ich verantwortungsvoll? Ich weiß es nicht und im Nachhinein denke ich, ich hätte schon zuvor besser auf ihn aufpassen sollen und ihn vom Ufer wegholen, aber wer war ich denn?

Ein sechzehnjähriges Ding, das über seinen Problemen brütete ohne eine Lösung zu finden... Wie dem auch sei, was hätte es mir gebracht? Sie hätten die Wahrheit so oder so erfahren, nur vielleicht ein wenig später...

„Pass auf!“ schrie ich und sprang kurzerhand in den Fluss...
 

Es ging alles so schnell... so schnell, dass ich mich nicht mehr an alles erinnern kann.

Ich muss Michal wohl gepackt haben und es geschafft haben, mich irgendwie mit ihm ans Ufer zu bewegen, wo ich erst einmal erschöpft liegen blieb, bis Doran und Haurus, durch meinen Schrei alarmiert herbeieilten. Doran nahm sofort seinen schreienden Sohn auf den Arm, um ihn zu trösten, während sein Bruder sich um mich kümmerte, die triefend und schnaufend auf dem Bauch lag und vor Kälte zitterte... und schluchzte...

„Arianne...“ Behutsam stieß mich Haurus an und ich wandte den Kopf um ihn anzusehen.

Als ich keine weitere Reaktion zeigte, zog er mich hoch und schüttelte mich leicht.

„Mein Gott, Arianne, ist alles in Ordnung mit dir?“

„Ja...“ brachte ich matt heraus und wollte mich aus seinem Griff lösen.

„Bist du sicher?“

Ich nickte und schluckte und wollte mich langsam aufrichten... die Kleider klebten an meinem Leib.

„Danke, dass du Michal....“ Er stockte, als er meinen gewölbten Bauch entdeckte und wechselte einen Blick mit seinem Bruder.

Was dann geschah, weiß ich nicht mehr, mir wurde schwarz vor Augen und ich fiel auf den Boden zurück.
 

Ich bin mir nicht sicher, inwiefern es vonnöten ist, ausführlich über das zu berichten, was dann folgte. Ich muss zugeben, dass mich die Erinnerung daran immer noch schmerzt. Jahrelang habe ich versucht, zu verdängen, was mir an jenem Tag widerfahren ist, oder es zumindest mit Stolz oder herablassender Arroganz zu betrachten – geglückt ist es mir nur sehr selten.

Als ich wieder aufwachte, lag ich daheim auf meinem Bett. Man hatte mich bis auf die Unterkleider ausgezogen und in eine dicke Decke gepackt. Ich zitterte noch immer vor Kälte und versuchte mich, besser in die Decke zu wickeln.

Zunächst einmal ließ ich niemanden wissen, bereits wieder bei Bewusstsein zu sein, sondern hielt die Augen geschlossen und die Ohren gespitzt.

Es befanden sich wohl einige Menschen in der Kammer, die sich gedämpft unterhielten. Ich erkannte Wortfetzen, wie: „Was sollen wir jetzt mit ihr tun?“ oder „Wie konnte es nur dazu kommen, sie schien immer so vernünftig.“ Meine Mutter schluchzte und mein Vater tobte.

Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen, unbeweglich dazuliegen und ich richtete mich langsam auf. Schlagartig waren alle Augenpaare im Raum auf mich gerichtet.

Ich hatte mich offensichtlich nicht getäuscht, denn meine Mutter saß tatsächlich mit tränengeröteten Augen auf einem Schemel neben meinem Bett.

Zudem waren sowohl der Bürgermeister als auch der Priester zugegen, ganz genau wie damals, als man Sinya verurteilte. Lediglich der Mann in der schwarzen Kutte fehlte.

„Arianne!“ Mit wutverzerrtem Gesicht stürzte mein Vater sich auf mich, hielt aber im letzten Moment inne, mich zu schlagen. Stattdessen starrte er mir in die Augen. „Wie konntest du nur? Wie konntest du uns das antun? Meine eigene Tochter... eine Hure!“

„Borris!“ ging meine Mutter dazwischen. Sie legte mir ihre Hand auf den Arm.

„Ich bin keine Hure,“ sagte ich kalt und schob die Decke zur Seite.

Jetzt konnten sie es alle sehen. Ich wollte dass sie es sahen. In diesem Moment war mir einfach alles egal. Ich hatte es ja die ganze Zeit gewusst, dass sie es früher oder später erfahren würden. Nun war dieser Moment gekommen und ich war viel ruhiger, als ich es je geglaubt hätte.

Nein, der Schmerz, die Demütigung, das stellte sich alles viel später ein, als ich aus der Distanz noch einmal die Zeit hatte, meine Erinnerungen auf mich wirken zu lassen.

Empörtes Aufkeuchen ging durch den Raum.

„Wie sonst aber, ist es zu erklären, dass du nun ein Kind unter dem Herzen trägst, Fräulein?“ fragte der Bürgermeister mit einem gehässigen Unterton.

„Das lasse ich Euch raten!“ entgegnete ich frech.

„Arianne!“ Wieder mein aufgebrachter Vater.

Oh, wie ich sie alle in diesem Moment hasste. Sie, die von nichts eine Ahnung hatten und sich anmaßten über mich zu richten, mich eine Hure beschimpften und doch nichts wussten.

„Wer ist denn nun der Vater?“ platzte es schließlich dem Priester heraus, der damit aussprach, was sie alle die ganze Zeit wissen wollten.

„Könnt Ihr Euch das nicht denken? Du liebe Güte, wer soll es denn schon sein? Perris, natürlich! Als ob Ihr das nicht ganze Zeit geahnt habt.“

Mutter brach erneut in Schluchzen aus und mein Vater stieß ein Schnauben aus.

„Und wisst Ihr noch etwas? Ich bereue es nicht, was ich getan habe! Niemals!“

„Wäre nicht ein bisschen mehr Demut angebracht, junges Fräulein?“ Nochmals schaltete sich der Bürgermeister ein.

„Wieso sollte ich einem scheinheiligen Haufen, der komplett veraltete Gesetze verteidigt, demütig gegenüber stehen?“

Erneut empörtes Aufkeuchen.

Im Nachhinein taten mir meine Eltern wirklich leid. Sie liebten mich ja doch auf ihre Art und ich hatte sie gerade auf die größtmögliche Art beschämt. Nicht genug damit, dass sie sich darauf gefasst machen mussten, mich zu verlieren, nein ich war auch noch frech und uneinsichtig. Aber was konnte man erwarten? Ich war so wütend, auf ihr aller Verhalten und ich war nicht in der Fassung unemotional zu reagieren.

Auch ich hatte mit den Konsequenzen zu rechnen: Verbannung. Dennoch – diese Aussicht erschien mir an jenem Nachmittag nicht einmal so schrecklich. Ich hatte einfach das Gefühl ihnen allen klarmachen zu müssen, wie sehr ich über dieser Sache stand und wie sehr ich all das verachtete. Einen Gefallen tat ich mir damit sicher nicht.

Sie versuchten noch ein paar Mal, mich an jenem Nachmittag „zur Vernunft“ zu bringen, mich wenigstens sagen zu hören, ich bereute was ich getan hatte, aber ich tat ihnen den Gefallen nicht.

Schließlich gaben sie auf und ließen mich alleine.

Auch meine Eltern sprachen kein Wort mehr mit mir und am nächsten Tag war die Verurteilung.
 

Was soll ich darüber noch groß sagen? Es verlief ganz genauso wie bei der armen Sinya, aber ich nahm das Urteil der Verbannung mit großer Gefühlskälte an. Zu sehr schwelte die Wut noch in mir.

Und dann, an einem kalten Morgen, der schon auf den Winteranfang hindeutete, wanderte ich mutterseelenallein von meinem Heimatdorf in die Fremde, all das zurücklassend, was mich die vergangenen sechzehn Jahre meines Lebens geprägt hatte. Ich wusste nicht, was auf mich wartete, aber es störte mich noch herzlich wenig.

Zunächst einmal musste ich lernen zu überleben – der Winter stand vor der Tür und trotz warmer Kleidung und einem kleinen Bündel mit Nahrung und einigen Überlebenshilfen, musste ich doch lernen, mich zurechtzufinden.

Aber das ist, denke ich eine Geschichte für einen anderen Tag.“
 

Der Wachhauptmann sieht mich prüfend an und atmet dann aus. Ich bin sicher, ihm fehlen die Worte und dennoch, er scheint noch nicht recht überzeugt zu sein.

„Du scheinst also nicht das erste Mal alleine in der Fremde zu sein?“

„Nein, durchaus nicht, Herr!“

„Anscheinend hinterlässt du Chaos, wo du hinkommst.“

„Ganz so kann man es auch nicht sagen, Herr!“

„Hmm... du kommst also tatsächlich aus Emeranea... Dem sagenhaften Inselkönigreich inmitten des Großen Meeres. Du bist ziemlich weit fort von Zuhause, wenn ich das sagen darf. Und wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf, ist es um deine Heimat auch nicht besonders gut bestellt.“

Seine Worte geben mir einen Stich, aber ich versuche die Trauer hinunterzuschlucken.

„Das ist richtig, Herr. Darauf möchte ich später auch noch zu sprechen kommen.“

„Ich verstehe. Nun, ich denke, du hast recht. Für heute ist es genug. Dennoch, ich kann dich nicht gehen lassen. Die Leute sind wegen dir verunsichert. Zudem habe ich noch nicht entschieden, was mit dir geschehen soll. Dazu sind mir noch zu viele Fragen offen.“

Ich habe mit einer solchen Reaktion gerechnet und nicke knapp.

Als er mich in eine Zelle führt, wo ich den Rest des Abends verbringen soll, fühle ich mich nicht einmal so unwohl, wie ich es anfangs gedacht habe. Vielleicht ist alles eine Frage der Gewöhnung.

Ich lege mich auf eine Pritsche und starre an die Decke. Emeranea scheint so fern und doch so nah in meiner Erinnerung.

Diese Menschen hier können niemals das mit meiner Heimat verbinden, was ich fühle.

Im Nachhinein ging alles so schnell und so unerwartet. Man hat mich betrogen, damals...



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