Verboten von CriD (All I ever want is You) ================================================================================ Begegnung --------- Verboten All I ever want is you Prolog - ... rasten während eines illegalen Autorennens ineinander und gingen in Flammen auf. Drei Menschen starben. Zwei weitere wurden schwerverletzt. Im südlichen Teil der Hauptstadt kam es unterdessen wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Armee und Delores. Trotz Einsatz moderner Maschinerie kam es zu schweren Verlusten auf beiden Seiten. Verteidigungsminister Klaus Jodilski zeigte sich jedoch optimistisch. Er äußerte sich in einem Interview, dass es nur noch eine Frage der Zeit wäre, bis die Psyfrequenz der Delores endgültig entschlüsselt wäre und der entscheidende Schlag bald vollbracht werden könnte. Und nun zum Wetter. Im Norden... - Begegnung Für einen kurzen Moment blitzte es auf der flimmernden Scheibe, dann wurde es schlagartig dunkel. Liron sass noch einen Augenblick lang in seinem durchgesessenem dafür aber umso gemütlicheren Ohrensessel, starrte auf die eben erloschene Mattscheibe, wartete ob sich die freundliche Frau der Wettervorhersage doch wieder auf dem Bildschirm blicken lassen würde und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass der Fernseher wohl endgültig den Geist aufgegeben hatte. Das Problem war erkannt, nur was sollte dagegen unternommen werden? Lirons Blick schweifte zur alten Pendeluhr neben der noch älteren Kommode - ein Erbstück von Großmutter - welcher ihm deutlich machte, dass es zu spät war noch jemanden von der Spedition anzurufen. Also hatte er nun zwei Optionen. Entweder er versuchte sich selbst in der Reparatur des Fernsehers- möglicherweise war ja irgendwo nur eine Verbindung locker geworden - oder aber er sah sich wohl oder übel nach einer anderen Freitagabendbeschäftigung um. Er konnte ja mal wieder ausgehen. Estefania hatte ihm erzählt, dass gleich um die Ecke ein ganz entzückendes Café aufgemacht hatte, welches sich vor allem durch die niedlichen Tischdeckchen mit den farblich dazu passenden Stühlen auszeichnete. Noch immer hatte sich der Achtundzwanzig-Jährige nicht aus seinem Sessel hochbequemt. Sein Blick ruhte nachdenklich auf der dunklen Mattscheibe, welche ihn provokant angrinste. Er konnte wirklich versuchen das Ding zu reparieren. In Anbetracht der Tatsache, dass Liron in seinem ganzen Leben aber noch nichts schwereres als ein Skalpell in der Hand gehalten hatte, er von Technik so viel Ahnung hatte wie eine Kuh von Vererbungslehren und Liron bei seinen angeboren Defizits des "Selbst-ist-der-Mann"-Leitspruches Gefahr lief, sich mit einem Stromschlag oder ähnlichem ernstlich Schaden zuzufügen, sollte er die Wiederbelebung der alten Röhre doch lieber den Fachleuten überlassen. Er würde ja auch Zeter und Mordio schreien, wenn Anseln aus der Chirurgieabteilung ihn behandeln wollte. So ein Stümper. Wie der sein Zertifikat erlangt hatte, würde ihm wohl für immer ein Rätsel bleiben. Er würde sich freiwillig jedenfalls nicht in die Hände solch fachlicher Inkompetenz geben, warum also sollte sein Fernseher nicht dieselben Rechte haben? Der Entschluss war gefasst. Finger weg von der Mattscheibe. Wohin also nun? Estefanias Neuentdeckung schloss sich natürlicherweise von selbst aus. Lirons Blick fiel auf die Dose Bier, welche angebrochen noch immer in seiner Hand verweilte, nun aber schon recht lauwarm geworden war. Wann war er das letzte Mal im Black Ally gewesen? War wohl auch schon eine ganze Weile her. Die Arbeit hatte ihn zu sehr eingenommen. Aber heute war Freitag. Freitagabend. Er hatte keine Nachtschicht und das ganze Wochenende frei. Er konnte ins Black Ally gehen, wenn er Lust dazu hatte. Hatte er Lust? Lächelnd erinnerte sich Liron an seine Studentenzeit, in der er sich mit seinen Kommilitonen fast jede Nacht dort um die Ohren geschlagen hatte. Was war aus ihnen denn eigentlich geworden? Ah ja, natürlich, an der Front. Die medizinische Versorgung der Soldaten hatte natürlich Vorrang. Wobei Liron allerdings bezweifelte, dass diese Masse an Ärzten wirklich gebraucht wurde. So wie er die Sache einschätzte, konnten seine Kollegen höchstens noch das frühzeitige Ableben der Bewaffneten feststellen. Nicht sein Problem. Er war weit weg vom Unruheherd. Die Aggressivität der Delores beschränkte sich Gott sei Dank nur auf zentral gelegene Knotenpunkte. Wie eben die Hauptstadt. Hier in der Gegend verhielten sie sich ruhig. Wer weiß wie lange noch. War es eigentlich ein gutes Zeichen, dass man ihn nicht abgerufen hatte? Natürlich, die medizinische Versorgung der Bevölkerung musste gewährleistet werden, aber bis auf ein paar Ausnahmen waren nur Ärzte dageblieben, die ihren Namen eigentlich nicht verdienten. Fraglich, zu welcher Kategorie er gezählt wurde. Schwerfällig erhob sich Liron aus seinem Sessel. Das Black Ally also. Wollte er doch mal zeigen, dass er immer noch zum aktiven Teil der Gesellschaft zählte. Während er behäbig in den Flur tapste um sich Schuhe und Jacke anzuziehen streifte sein Blick flüchtig den an der Wand angebrachten schlichten Spiegel. Ihm lächelten blassblaue Augen entgegen, die allzeit verschmitzt zu grinsen schienen. Das aschblonde Haar lichtete sich bereits an einigen Stellen, noch konnte es Liron aber geschickt kaschieren. Wer weiß, wie das in fünf Jahren aussehen würde. Liron war hochgewachsen und wirkte kräftig. Estefania hatte ihm einst erklärt, dass er auf andere wie ein Zeitgenosse wirkte, mit dem man sich besser nicht anlegte. Tatsächlich konnte Liron keiner Fliege etwas zu leide tun und konnte direkt schon als etwas zu empfindlich bezeichnet werden. Liron selbst verstand sich als ein sehr feinfühliger Mensch mit Sinn für das wirklich Schöne. Er war Arzt und kein Bauarbeiter. Punktum! Liron streifte sich seine Jeansjacke über, griff nach seiner Börse und wollte die Wohnung verlassen, stieß aber prompt mit Estefania zusammen, die soeben nach dem Klingeknopf hatte greifen wollen. "Ah Liron! Gut, dass ich dich noch erwische. Pack schnell deine Sachen zusammen, du musst jemanden helfen!" Liron wusste im ersten Moment nicht so recht was geschah. Nur irgendwie begriff er, dass der Besuch im Black Ally wohl wieder nichts werden würde. Als Estefania nun aber energisch an ihm vorbei marschierte und ihrerseits sein Köfferchen zu fühlen begann, sah er sich dazu genötigt Protest einzulegen. "He Stef. Ich habe Feierabend. Es haben genug andere Bereitschaft. Charles zum Beispiel. Die kümmern sich darum. Wenn es irgendwo einen Unfall gegeben hat, sind die doch viel schneller da als ich." Estefania schüttelte aber nur den Kopf und packte weiter beharrlich seinen Koffer. "Hinten in der Downen hat's tatsächlich gekracht, aber deswegen hol ich dich nicht. Es ist kein offizieller Einsatz, deswegen kann ich Charles auch nicht fragen. Jetzt komm schon! Sonst gibt's am Ende noch 'ne Volkserhebung",mahnte sie aufgeregt, ließ den Koffer zuschnappen und schwang herrisch ihre schillernde Lockenpracht herum. Als Liron Estefania kennenlernte, hatte sie grüne Haare gehabt und auch jetzt wechselte sie ihre Haarfarbe so oft wie andere Leute ihre Kleidung. Irgendwann würde er sie fragen, was denn eigentlich echt war. Da Liron immer noch perplex im Türrahmen stand und wie ein Fisch nach Luft schnappte, griff ihn Lady "Kurz-vorm Explodieren" kurzerhand am Kragen und zerrte ihn temperamentvoll wie eh und je zur Tür hinaus. "Jetzt krieg dich endlich mal wieder ein! Es drängt echt. Am Ende gibt's noch Tote, wenn wir uns nicht beeilen." Liron, nicht im Stande sich irgendwie zu wehren, lief Estefania einfach mal hinterher. Während die beiden das Treppenhaus hinab eilten, streifte sein Blick ein an der Wand angebrachtes Poster, welches einen Schutzhelm anpries, der angeblich gegen die Psywellen der Delores immun machen sollte. So ein Blödsinn. Die Regierung war nicht in der Lage ihre Frequenz zu entschlüsseln, wie sollte da eine unbekannte Firma mit dem lächerlichen Namen "Entasthen" Erfolge erzielen können? Schwachsinn. Wenn man tatsächlich auf einen Delore traf, war man tot, so einfach. Unten angekommen, warf Estefania seinen Koffer auf die Rückbank des kleinen roten Opels, stieg ein und deutete Liron an ebenfalls einzusteigen. Liron ließ sich neben Estefania in den Sitz fallen, richtete sich erschrocken wieder auf und stieß sich den Kopf an der niedrigen Decke. "Pass auf, da schaut eine Feder aus dem Bezug raus." Ärgerlich rieb sich Liron den Kopf, grummelte etwas unverständliches und ließ sich -etwas behutsamer - auf seinen vier Buchstaben nieder. "Was ist denn eigentlich los?",fragte er lakonisch und erhielt dafür einen genervten Seitenblick Estefanias, die soeben den Motor zum zweiten Mal abgewürgt hatte."Scheiß Ding", murmelte sie, betätigte die Kupplung und trat das Gaspedal durch. Der kleine Corsa machte einen Satz nach vorne und blieb mit einem gequälten Seufzen wieder stehen. "Du, Stef..." "RUHE! Ich muss mich konzentrieren!" Versuch Nummer Vier. Die Räder drehten durch, quietschten fürchterlich und das Auto schoss nach vorne. Liron riss entsetzt die Hände nach oben, als er die matt flimmernde Straßenlaterne immer näher auf sich zukommen sah. Im letzten Moment riss Estefania das Lenkrad herum und schaffte es tatsächlich ihr Gefährt wieder sicher auf den korrekten Weg zu bringen. Erleichtert ließ sich Liron in den Sitz zurücksinken, zuckte zusammen, als ihm die Sprungfeder in den Rücken stach und fragte sich nicht zum ersten Mal, wie Estefania eigentlich ihren Führerschein gemacht hatte. Gott sei Dank war nur noch wenig Verkehr. Nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, wagte er es endlich seine Frage zu wiederholen. Dabei bemerkte er, dass sie sich nicht ins Stadtinnere - wie er angenommen hatte-, sondern nach außen Richtung Sperrzone bewegten. "Stef, was..." "Ich war vorhin draußen. Du weißt schon wegen meinen Pflänzchen." "Himmel hast du was genommen?" "Nein, nein. Keep cool! Ich bin clean. Im Moment",antwortet sie lachend und fügte nachdenklich hinzu. "Aber vielleicht brauch ich nachher was, um die Nerven zu beruhigen." Liron hatte nun langsam genug von dieser ewigen Geheimniskrämerei. "Was ist los?",fragte er langsam. Als Antwort kam nur eine Gegenfrage:"Hast du den hippokratischen Eid geschworen?" Was sollte die Frage? "Ja klar",entgegnete er verwirrt. "Hältst du dich auch dran?" Das grenzte ja schon fast an eine Beleidigung. "Natürlich!",fuhr Liron auf und wollte noch mehr sagen, als er bemerkte, dass sie den Stadtrand erreicht hatten. "Stef. Das ist Sperrzone, wo du gerade drauf zuhältst. Ich hoffe das weißt du?" "Klar" "Weißt du auch, dass man uns verhaften kann, wenn wir ohne Erlaubnis die Grenze überschreiten?" Estefania hob desinteressiert die Schultern. "Das werden heute Abend vielleicht 'ne ganze Menge Leute. Aber wenn du dich an deinen Eid hältst wird vielleicht doch noch alles gut." Estefania sprach in Rätseln. Der junge Assistenzarzt verstand partout nicht mehr was sie eigentlich von ihm wollte, bevor er aber weitere Fragen stellen konnte, trat sie jäh auf die Bremsen. Liron drückte es nach vorne und als er wieder zurücksank, stach ihm die Feder empfindlich in den Rücken. "Komm steig aus, und such mal nach deinem Ausweis. Kann sein, dass wir ihn brauchen werden." Liron hob verwirrt den Kopf und wurde erstaunt der Menschenmenge gewahr, die sich vor ihnen aufgebaut hatte. Für einen kurzen Moment erschien es ihm, als ob sich die Leute alle auf ihn konzentrieren würden. Tatsache war aber, dass niemand auch nur die geringste Notiz von den Beiden nahm. Estefania hatte derweil die Tasche von der Rückbank geholt und eilte um das Auto herum um Liron die Tür zu öffnen. "Nun komm doch endlich!", mahnte sie und begann sich bereits, ohne weiter auf ihn zu warten, einen Weg durch die Menge zu bahnen. Liron folgte ihr gezwungenermaßen. Was war hier denn nur los? Sie waren in der Outzone, im Sperrgebiet. Niemand hatte hier Zugang und niemand setzte hier freiwillig einen Fuß rein, wenn er am Leben hing. Warum waren hier so viele Leute? "Ey, macht Platz hier!", hörte er Estefania rufen. "Staatsdienst!" Liron wunderte sich nur kurz über ihre seltsame Formulierung, dann war er auch schon neben ihr. "Was erzählst du denn?",fragte er aufgeregt und bahnte sich mit Händen und Füßen stoßend einen Weg durch die aufgebrachte Menge. "Na ich verkünde woher du bist und warum du Befugnis hast hier durchzumachen. Du hast doch deinen Ausweis." Aber er war nicht im Dienst! Es konnte ihm seinen Job kosten, wenn er unerlaubt Gebrauch seiner Mittel machte. Estefania schien ihm seine Gedanken im Gesicht abzulesen, denn sie lächelte nur und meinte. "Das wissen die doch nicht!" Noch immer hatten sie das Ende der Menge nicht erreicht, aber Liron stellte eine Veränderung fest. Die wilden Rufe nahmen nicht ab, ja sie wurden noch toller und lauter, aber hier und da sah er es im sanften Abendlicht zittrig blitzen. Licht, dass von kaltem Metall zurückgeworfen wurde. Nicht wenige der Anwesenden waren bewaffnet. Zu diesen Zeiten nicht unbedingt etwas besonderes, sehr wohl aber, dass die Schusswaffen so eindeutig zur Schau gestellt wurden. Liron drängte sich das ungute Gefühl auf, dass der eine oder andere heute Abend hier noch Gebrauch von machen würde. Dann hatten sie das Ende der Menge erreicht. Ganz vorne hockte ein Mann, der sich stöhnend die blutende Nase hielt, aber als Liron sich zu ihm hinunter beugen wollte, hielt ihn Estefania zurück. "Lass ihn. Das geht von alleine wieder weg. Dein Patient ist dort drüben" Estefania nickte zu einem kleinem Höhleneingang hinüber. Liron kannte die Höhle. Er war selbst einst hier gewesen - auf einer von Estefanias "ultra-fett-krassen" Partys. Er wusste, dass sie ihre "Pflänzchen" da drinnen großzog, da sich dort die warme Luft unter der niedrigen Decke sammelte und es immer angenehm warm war. Aber was wollten sie jetzt hier? "Ihr wollt den Biestern doch nicht etwa helfen?",hörte er es plötzlich dicht hinter sich kreischen. Langsam drehte sich Liron um und registrierte erschrocken, dass ihm der zittrige Lauf einer Pistole direkt vor den Körper gehalten wurde. Ein Magenschuss - Er würde wahrscheinlich nicht daran verbluten, sondern die ätzende Magensäure würde sich ihren Weg in sein Innerstes fressen und ihn langsam von innen heraus aufzehren, langsam und beharrlich. Manchmal bereute Liron den Berufszweig, den er gewählt hatte. Man wusste zu viel über diverse Sterbemöglichkeiten. "Worum geht es denn hier eigentlich?",fragte er ruhig und versuchte unauffällig aus der Schusslinie des Fremden zu kommen. Aber der Lauf folgte ihm konsequent. "Ey Alter lass das",hörte er plötzlich Estefania schimpfen und verfluchte sie wieder einmal innerlich für ihre unpraktische Ausdrucksweise. Wenn der Kerl austickte , wäre der einzige Arzt hier in der Nähe praktisch erledigt und niemand konnte sich um weitere Verletzte kümmern. "Komm schon, nimm das Ding runter. Er und ich gehen jetzt da rein und lösen das Problem und ihr könnt dann alle hier abziehen.",versuchte Estefania zu vermitteln. "Als ob ihr etwas machen könnt! Wir knallen sie ab und Ruhe ist!" Skeptisch legte Estefania die Stirn in Falten und nickte zu dem am Boden knieenden Mann hinüber. "War er drin?",fragte sie leise. "Sieht man doch! Was denkst du, warum er wie ein angestochenes Schwein blutet?" Langsam ging Estefania die Geduld aus. Liron erkannte es daran, wie ihre Nasenflügel unruhig zuckten und die Stirn immer tiefere Falten aufzeigte. Estefania war ein allzeit brodelnder Vulkan und jetzt stand er kurz davor auszubrechen. "Wenn er wirklich drin war, hat er noch Glück gehabt, dass er nur blutet. Er hätte auch ganz easy tot sein können und jetzt mach den Weg frei, wenn du nicht der nächste sein willst",schnauzte sie und stieß den Mann kurzerhand beiseite, ergriff Liron an der Hand und zog ihn hinter sich her. Niemand hielt sie auf. Schnell hatten sie den Höhleneingang erreicht und waren endlich außer Hörweite, als Liron im Schatten eine Bewegung bemerkte, gleichzeitig spürte er wie sich in seinem Magen ein ungutes Gefühl ausbreitete. "Stef! Sind das etwa..." Estefania nickte. "Delores? Ja",antwortete sie flüsternd, "aber hab keine Angst. Sie werden dir nichts tun. Ganz sicher." Liron war sich in dem Bezug alles andere als sicher. Mit jedem Schritt, den sie sich vorwärts bewegten, verstärkte sich das ungute Gefühl und.. " Hast du auch diesen Druck auf den Ohren?",fragte Estefania leise. Als er nickte lächelte sie. "Hab keine Angst. Ich war den ganzen Nachmittag hier, ohne, dass ich sie bemerkt habe, oder dass sie mir etwas getan haben. Sie greifen nur an, wen sie sich bedroht fühlen und außerdem können sie, glaube ich, gar nicht mehr als nur Kopfschmerzen und so hervorrufen." Liron verstand nicht. Sie sollten nicht mehr können? Jeden Tag wurden in den Kampfregionen, mehrere Menschen alleine durch einen Gedanken getötet. Er hatte die Bilder gesehen, die Kollegen ins städtische Krankenhaus gesandt hatten. Da war nichts mehr zu retten gewesen. Und nun behauptete Estefania, dass sie nicht mehr konnten als ein bisschen Kopfschmerzen und Nasenbluten hervorzurufen. Das war mehr als ein schlechter Scherz. Trotzdem ging Liron weiter. Noch war schließlich nichts geschehen und wenn etwas geschah, war er der Letzte der sich darum noch Sorgen zu machen brauchte. Wenigstens ging es schnell. Jetzt aber als er um die Steingruppe herum wanderte und endlich Blickkontakt mit den Beiden hatte, wurde ihm klar was Estefania gemeint hatte. Dunkle Augen leuchteten ihm furchtsam entgegen. In ihnen lag der Wunsch, schleunigst davon zu rennen, aber etwas hinderte den Braunhaarigen, welcher Liron misstrauisch anstarrte. Unruhig glitten die dunklen Augen hin und her. Liron folgte seinem Blick und wurde dem Mädchen gewahr, welches zu den Füßen des Jungen lag und sich nicht rührte. Ihre Augen waren geschlossen, die Haut unnatürlich blass, nur auf Wangen und Stirn lag eine krankhafte Röte, die vom Fieber herrührte. Der dürre Leib war ausgezehrt, der Atem ging nur noch flach und stoßweise. Man musste kein Arzt sein um zu erkennen, dass ihr Leben nicht mehr von langer Dauer sein würde. Liron schüttelte verstört den Kopf. "Aber das..." Estefania nickte. "Ja, das sind fast noch Kinder." Rael ---- Rael Fast noch Kinder?! Liron schüttelte ungläubig den Kopf. Alles hatte er erwartet, alles aber nicht das. Der Junge mit den braunen Haaren mochte vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahr alt sein und das Mädchen war gar noch jünger. Aber war es denn wirklich so erstaunlich? Die Bilder, welche in den Medien rauf und runter liefen, zeigten ausschließlich erwachsene Delores. Aber natürlich musste es auch Kinder geben. Sie mussten sich auch vermehren. Schließlich waren sie den Menschen sehr ähnlich - und doch so anders. Äußerlich war zwischen Menschenkindern und den beiden Delores kein Unterschied zu erkennen, nur die merkwürdige Kleidung zeugte von ihrer Abstammung. Das Mädchen war in ein weites Laken gewickelt, welches sie fiebernd von sich gestoßen hatte, wodurch man nun hier und da einen Blick auf ihren nackten, weißen Körper erhaschen konnte. Der Junge mit den unheimlich glänzenden Augen trug bis auf einen Lendenschurz nichts weiter. Aber der Untergrund, auf welchem das Mädchen lag, war weich und fellig, wahrscheinlich eine Art Mantel des Jungen. Liron verstand nicht. Was war hier nur geschehen? Vorsichtig ließ er sich in die Hocke sinken und bemerkte dabei, dass ihn der Junge keinen Moment aus den Augen ließ, anders als Estefania, welche er schon gar nicht mehr zu beachten schien. Das änderte sich aber schnell, als sie sich neben Liron hockte und ihn flüsternd ansprach. "Hör zu Liron. Ich erkläre dir später was hier geschehen ist, aber jetzt hilf der Kleinen. Dann können sie hier weg und alles wird gut",wisperte sie fordernd. So optimistisch wie Estefania konnte Liron die Sache leider nicht betrachten. Er wusste nicht was sie hatte, aber er sah sehr wohl, wie schlecht es um sie stand. Sehr schlecht. Womöglich würde er ihr nicht mehr helfen können. Zögernd robbte er auf die Kleine zu, hielt in der Bewegung aber sofort inne, als ihn rasende Kopfschmerzen ergriffen. Es schien als würde ihm jemand gewaltsam einen glühenden Dolch durch die Gedanken treiben und nur die mangelnde Kraft hinderte die gefährliche Waffe wirklich bis zum Grund zu dringend und Liron zu verbrennen. Stöhnend hielt sich Liron den Kopf, sah auf und begegnete dem Blick des Jungen. In den hasserfüllten Augen lag eine Drohung, die Liron alles andere als auf die leichte Schulter nahm. Der Junge hatte sich nicht bewegt, aber allein die flammenden Augen reichten um Liron in seine Schranken zuweisen. Ja, er verstand. Bis hier hin und keinen Schritt weiter. Ruhig entfernte sich Liron wieder etwas von den Beiden und spürte augenblicklich wie der Schmerz nachließ. Hilfesuchend sah er zu Estefania hinüber und hob fragend die Schultern. Er sah ja ein, dass er dem Mädchen helfen sollte, aber wie sollte er das anstellen, wenn ihn der Junge nicht an sie heranließ? Estefanias Blick war ebenso ratlos wie der Seine, dann aber bediente sie sich kurzerhand wieder ihrer stärksten Waffe. Sie sprach den Jungen an. "Hey Junge",hörte Liron sie leise sagen und wunderte sich dabei wie ruhig Estefania auf einmal sein konnte. Der Junge sah verwundert auf, als er bemerkte, dass die Worte an ihn gerichtet waren. "Na komm. Lass Liron mal an die Kleine ran. Er will ihr doch nur helfen." Liron wusste, dass die Delores eine andere Sprache als die Menschen sprachen. Wahrscheinlich verstand der Junge nicht einmal ansatzweise, was Estefania von ihm wollte, aber der beruhigende Klang ihrer Stimme schien doch irgendeine Wirkung auf ihn zu haben. Zaghaft näherte sich Liron wieder den Beiden. Schon ruckte der Kopf des Jungen herum und Liron spürte, wie sich die gefährlichen Klauenfinger nach seinem Geist ausstreckten, aber bevor es soweit kommen konnte, zog Estefania erneut seine Aufmerksamkeit auf sich. "Na komm schon Kumpel, lass Liron machen. Wir wollen euch doch nur helfen." Und das Wunder geschah. Liron spürte wie der dunkle Einfluss des Jungen zurück ging und es geschah auch nichts mehr, als er endlich an dem Mädchen heran war. Liron hätte nur den Arm ausstrecken müssen und schon hätte er den Jungen berühren können, aber das hätte das eben gewonnene Vertrauen sicher sofort wieder zerstört. Außerdem hatte Liron ehrlich gesagt kein Interesse daran, dass sein Gehirn spontan durch den imaginären Fleischwolf gedreht wurde. Ruhig griff Liron nach der Hand der Kleinen und fühlte nach ihrem Puls. Das Mädchen glühte, dafür war ihr Puls kaum noch zu erkennen, der Atem ging nur flach und stoßweise. Man konnte zusehen wie sich ihr Zustand von Minute zu Minute verschlechterte. Vorsichtig öffnete er ein Auge des Mädchens und stellte fest, dass sie schon längst nicht mehr bei Bewusstsein war, dabei spürte er die starren Blicke des Jungen im Nacken. Solange er nur starrte, sollte es ihm recht sein. Liron hatte nur wage Vermutungen, was mit der Kleinen geschehen war, aber eine war schlimmer als die andere. Äußerlich konnte er keine Verletzungen erkennen und gerade das alarmierte ihn zunehmend. Hirnschlag, innere Blutungen, Virusinfektionen. Die Möglichkeiten waren geradezu gigantisch und Liron konnte hier mitten in der Pampa nichts weiter tun, als ihr ein fieberlinderndes Mittel zu verabreichen. Während Liron in seiner Tasche nach der richtigen Medizin und einer Spritze suchte, musste er sich wohl oder übel eingestehen, dass er tatsächlich keine Möglichkeit hatte sie zu behandeln. Nicht hier. Aber sie in das städtische Krankenhaus zu bringen, schloss sich natürlich von allein aus. "Und wie schaut's aus?",fragte Estefania. Liron schüttelte frustriert den Kopf. "Ich kann ihr nicht helfen",murmelte er betrübt, "sie wird sterben." "Nun, wenn das so ist, macht es ja sicher nichts, wenn ich die Sache etwas beschleunige" Plötzlich ging alles sehr schnell. Noch während sich Liron darüber wunderte, wie tief Estefanias Stimme doch eben geklungen hatte, hörte er wie sich der peitschende Knall eines Schusses löste, sah er wie der Junge mit vor Entsetzten geweiteten Augen aufsprang, nur um sofort, von einem zweiten Schuss getroffen, wieder zu Boden zu sinken und er spürte, wie sich die dunklen Klauen erneut einen Weg in seinen Geist zu bahnen suchten. Und unter ihm war alles rot, so rot, wie... Estefanias schriller Aufschrei holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Die Höhle war erfüllt von den Rufen zahlloser Kehlen, die alle durch einander zu schreien schienen. Der wilde Mob war gekommen, hatte sich erhoben und trachtete nun danach alles, was sich ihm in den Weg stellte, zu zerstören. Und doch konnte er nicht weiter. Eine unsichtbare Barriere hielt sie zurück, bestehend aus trommelnden Kopfschmerzen und strömenden Blut, welches sich lautlos aber bestimmt seinen Weg aus den Nasen, das Kinn hinab, zu Boden suchte. Liron musste es wissen, denn ihm erging es nicht besser, vielleicht schlimmer, weil er unmittelbar neben dem am Boden kauernden Jungen stand. Der Delore hielt sich wimmernd den linken Oberschenkel, in den ihn die Kugel getroffen hatte, aber Liron war nicht sicher, ob der Schmerz, welcher zehrend in seinen Augen brannte, nicht doch von etwas anderem hervorgerufen wurde. Und während Lirons Blick zu dem zitterndem Körper des jungen, viel zu jungen Mädchens schweifte, zu dem Körper aus welchem strömend dunkles Blut entrann, welches schillernd zu Boden rann, das Lacken und den Fellmantel nass und klumpig machte und dunkelrot färbte, während ihm sein eigenes Blut strömend über das Gesicht rann, während sein Kopf dröhnte, als würde er jeden Moment zerspringen - da fasste Liron einen Entschluss. Mit einer in dieser Situation absolut unpassenden Ruhe griff Liron nach seinem Arztkoffer, zog akribisch genau eine Spritze auf und kauerte sich neben den Jungen. Panisch ruckte dessen Kopf hin und her, das Gesicht schmerzverzerrt, während aus den großen braunen Augen langsam Tränen zu fließen begannen. "Shht, es wird alles gut",murmelte Liron leise und rammte ihm seine Faust in den Magen. Ächzend sackte der Junge zusammen, aber Liron fing ihn auf, bevor er tatsächlich zu Boden stürzen konnte, griff nach dem vorbereiteten Mittel und injizierte es ihm schnell und sorgfältig. Der Junge blinzelte noch ein oder zweimal, dann begannen sich seine Augen zu schließen und gleichermaßen, wie ihm die Sinne schwanden, nahm auch sein unheilvoller Einfluss ab und Liron konnte erleichtert aufatmen. Angewidert wischte er sich das Blut aus dem Gesicht, verschnaufte noch einen kurzen Moment und hob den Jungen auf seine Arme. In der Höhle war es still, einzig die atemlosen Japser des verwundeten Mädchens waren zu hören. Diesmal bildetete es sich Liron nicht nur ein, dass alle Blicke auf ihm ruhen würden. Dem war tatsächlich so. Schließlich fand einer der Beteiligten seine Sprache wieder. Noch immer hielt er den Griff seiner Pistole fest umschlossen und Liron erkannte in ihm jenen hysterischen Mann wieder, welcher ihn schon zu Beginn bedroht hatte - wer sonst?! "Ha! Echt gut gemacht! Sie haben das Biest erledigt! Los geben wir ihm den Rest!" Liron war selbst erstaunt, wie eiskalt seine Stimme klang, als er antwortete:"Geben sie mir die Pistole!" Tatsächlich hatte er nicht erwartet, dass seiner Forderung Folge geleistet wurde, aber hier und jetzt waren seine Forderungen Befehle und Befehle waren Gesetze. Nur durch diese winzige Tat. "Ah, natürlich! Ich verstehe! Sie wollen dem Vieh selbst den letzten Gang bereiten. Natürlich, natürlich. Hier, bitte schön!" Sprach's und tat wie ihm geheißen. Liron hatte den Jungen auf den Boden gestellt und sanft an sich gelehnt, so dass er nicht zu Boden fallen würde, auch wenn er ihn nur noch mit einer Hand hielt. Die andere schloss sich um den kalten Griff des Revolvers. Es war lange her, dass er eine Waffe in den Händen gehalten hatte, aber was man einmal gelernt hatte, verlernte man nicht wieder, das bemerkte Liron spätestens in dem Moment, als seine Augen wie von selbst das Ziel anvisierten und sein Finger sich um den Abzug krümmte. Ein Schuss fiel und endlich verstummten die atemlosen Laute des Mädchens. Estefania drückte entsetzt die Hände auf den Mund um einen Aufschrei zu unterdrücken und Liron schloss gequält die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte sich der Ausdruck darin verändert. "Gehen sie zur Seite",verlangte er beherrscht, schrie aber bereits als ihm nicht sofort Folge geleistet wurde. "ZUR SEITE!" "Ey, ganz ruhig Mann, du..." Der Redner sprang erschrocken zurück, als die Kugel direkt vor seinen Füßen einschlug. Liron hielt zitternd den Pistolenlauf nach oben. "Ich würde den Weg frei machen",meinte er heiser:"Ich bin nicht mehr ausgeglichen genug um korrekt zu zielen. Ich könnte sie versehentlich töten." Die Masse teilte sich schweigend. Liron hob den Jungen erneut auf seine Arme und nickte Estefania zu ihm zu folgen. Wie sie es im Nachhinein durch die draußen gebliebenen Menschen, zum Auto hin und schließlich bis in die Stadt, zu seiner Wohnung geschafft hatten, sollte Liron wohl für immer ein Rätsel bleiben. Tatsache war, dass Liron nun in seiner Küche stand und versuchte sich ein Glas Wasser einzuschenken. Hinter ihm betrat Estefania den Raum. "Er schläft ganz ruhig",sagte sie erschöpft und Liron ließ erschrocken das Glas fallen. Wie in Zeitlupe sah er, wie das Glas zu Boden fiel und dort in tausend Scherben zerschellte. Scherben und Wassertropfen sprangen von dannen, glitzerten mysteriös und klirrten auf dem Fließboden, dass es in den Ohren wehtat. Hastig ließ sich Liron auf die Knie fallen und wollte nach den Scherben greifen, schnitt sich aber nur die Finger an den scharfen Rändern. "Lass nur. Ich mach das schon",seufzte Estefania und begann, die Scherben aufzusammeln. Liron starrte auf seine Hände. Langsam begann Blut aus den geschnittenen Handflächen zu fließen und färbte seine Haut matt rot. Er war Arzt, er sollte an den Anblick und den Geruch von Blut gewöhnt sein und das war es auch nicht, was das immer stärkere werdende Zittern hervorrief, aber... "Ich habe jemanden getötet",flüsterte Liron erschüttert, wie als würde erst jetzt die Erkenntnis bis zum Inneresten seines Geistes hindurch dringen. Und irgendwie war dem auch so. Alles was er dort draußen vor der Stadt, in der Wildnis, in dieser Höhle getan hatte, das alles. Das war nicht er gewesen. Irgendwer, nur nicht er. Erst jetzt begann der echte Liron, der klar denkende und ewig beherrschte Liron zurückzukehren und dieser Liron war erschüttert über das, was der Andere getan hatte. Estefania erhob sich und warf die Scherben in den Mülleimer und begann, nach einem Scheuerlappen für das verspritzte Wasser zu suchen. "Es war richtig was du getan hast", bemerkte sie dabei, fast beiläufig. "Aber ich hätte ihr helfen müssen!" Estefania schüttelte betrübt den Kopf. Ihre schweren Locken waren verdreckt und in ihrem Gesicht waren immer noch verkrustete Blutspuren. Sie musste sich genauso ausgelaugt wie Liron fühlen, trotzdem versuchte sie immer noch,, ihn wieder aufzubauen. Liron wusste nicht ob er dazu die Kraft gehabt hätte. "Du kannst nicht jeden retten. Schau, du hast den Jungen gerettet." "Er wurde angeschossen!" "Aber er lebt!" Estefania trat an Liron heran, ergriff die verletzte Hand und suchte seinen Blick. "Schau mich an Liron. Das was wir heute getan haben, kann uns beide in Teufels Küche bringen." "Das musst du mir nicht sagen." "Und trotzdem war es richtig. Liron, er lebt! Und das ist das wichtigste." Liron seufzte. Sie hatte ja recht. "Du siehst müde aus, Stef. Willst du nicht langsam nach Hause gehen?" "Kommst du ohne mich klar?" "Natürlich!",antwortete Liron mit einer Überzeugung, die er in sich drin bei weitem nicht so deutlich ausgeprägt vorfand. Ehrlich gesagt wäre es ihm lieber gewesen, wenn Estefania noch eine Weile hier geblieben wäre. Aber das konnte er ihr unmöglich zumuten. Die Tür klappte mit einem metallenen Geräusch hinter Estefania zu und Liron war allein. Allein mit sich und seinen Schuldgefühlen. Halt, nicht ganz alleine. Sein Patient lag noch im Nebenzimmer und schlief. Er hatte Glück gehabt. Die Kugel hatte weder eine der wichtigen Adern erwischt noch hatte sie dem Knochen geschadet. Es war scheinbar 'nur' eine Fleischwunde, die sich einfach behandeln ließ, nachdem Liron die Kugel entfernt hatte. Bei dem Gedanken an den Kerl mit der Waffe, kochte in Liron erneut der Zorn nach oben. So ein Idiot. Was hatte der Junge ihm denn schon getan? Nichts. Liron wusste nicht, was die Beiden in der Höhle zu suchen gehabt hatten, aber er war sich sehr sicher, dass sie niemals dort gewesen wären, wenn das Mädchen nicht krank gewesen wäre. Niemals. Liron wusste immer noch nicht, was eigentlich geschehen war. Aber Estefania war zu fertig gewesen, um sie noch danach zu fragen. Er rechnete es ihr schon hoch an, dass sie ihn überhaupt noch hierher gefahren hatte. Aber er konnte sich noch gut an ihre Worte ganz am Anfang erinnern. 'Ich war den ganzen Morgen hier, ohne dass sie mir etwas getan hätten.' Es waren nicht die Delores gewesen, die angefangen hatten. Nur die Menschen - nur die Menschen, so wie immer. Zögernd betrat Liron das Gästezimmer, in welches er den Jungen einquartiert hatte und stellte verwundert fest, dass er schon wieder wach war. Normalerweise hätte ihn das Mittel noch für ein, zwei Stunden außer Gefecht setzten müssen, aber wahrscheinlich reagierten Delores auf diverse Stoffe anders als Menschen. Der Delore war gerade dabei gewesen den Verband zu untersuchen, welchen Liron um sein Bein befestigt hatte, fuhr aber erschrocken zusammen, als Liron eintrat und drückte sich an die hintersten Pfosten seines Bettes. Nur weit weg von Liron. Die schönen braunen Augen des Jungen leuchteten ihm furchtsam entgegen, sodass es Liron in der Seele wehtat ihn so zu sehen. Aber es war nicht verwunderlich. Das Mädchen, bei welchem Liron nicht wusste in welcher Beziehung sie zueinander gestanden hatte,war vor seinen Augen gestorben. Auch wenn er ihren letzten Atemzug nicht gesehen hatte, konnte er sich sicher denken was geschehen war. Er selbst wurde verletzt und nun war er hier - in einer ihm fremden Umgebung, mit einem Unbekannten, namentlich einem Feind der eigenen Rasse eingesperrt in einem kleinem engen Raum. Ja, Liron würde auch Angst haben. Ruhig zog sich Liron einen Stuhl heran und setzte sich etwas abseits des Jungen. Ihm war bewusst, dass er fürchterlich aussehen musste, aber was machte das schon noch. Außerdem hatte der Junge nicht gerade einen unwesentlichen Beitrag zu seinem jetzigen Erscheinungsbild geleistet. Noch immer sträubten sich seine Nackenhaare, wenn er sich der grausamen Klauenfinger erinnerte, die es auf seinen Geist abgesehen hatten. Aber jetzt passierte nichts. Entweder hatte es der Delore aufgegeben, sich verteidigen zu wollen, oder aber - und das erschien Liron als durchaus wahrscheinlicher - er war einfach zu erschöpft um noch irgendetwas zu machen. "Cto ti choshesch?" Liron horchte auf. Er hatte gesprochen. Warme Klänge, nicht zu dunkel, aber auch keine hohe Kinderstimme mehr. Wie ein leiser Glockenklang, der in der Ferne verhallte. "Cto ti choshesch?",wiederholte der Junge, diesmal fordernder. Die dunklen Augen beobachteten Liron misstrauisch. Auf seiner Stirn zeigten sich steile Falten. Liron schüttelte den Kopf. "Tut mir leid. Ich verstehe dich nicht",murmelte er entschuldigend und kam sich im selben Augenblick unheimlich dämlich vor. Enttäuscht ließ der Junge die Mundwinkel hängen, zog die Beine an und legte die Arme darum. Sanft begann er, sich hin und her zu wiegen und beobachtete weiterhin Liron. Der junge Arzt verschränkte ratlos die Arme. Was sollte er denn jetzt nur machen? Nun hatte er ihn hier. Was hatte er eigentlich vorgehabt? Alles hatte eigentlich nur mit dieser verfluchten Mattscheibe begonnen. Obwohl er wusste, dass es idiotisch war, war Liron in diesem Moment fest davon überzeugt, dass dies alles nie geschehen wäre, hätte der Fernseher wie gewohnt seinen Dienst verrichtet und ihn nicht einfach im Dunkeln sitzen gelassen. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. 'Ich Tarzan, du Jane.' Natürlich! Warum sollte das nicht funktionieren? Zwar schwang sich Liron nicht mit einer Liane von Ast zu Ast und der Delore war auch kein gut gebautes Mädchen, für welches 'man' doch gerne mal zum Tier wurde. Aber ansonsten waren die Grundbedingungen doch gar nicht so verschieden. Liron hob den Arm und deutete auf sich selbst. "Liron!",sagte er bestimmt und wartete eine Reaktion des Jungen ab. Der hob aufmerksam den Kopf. "Liron",wiederholte er noch einmal und der Junge nickte als hätte er verstanden. Nun wanderte der Finger und deutete auf den Delore. Einen kurzen Moment zögerte der Junge, dann hob er den Arm und deutete auf sich. Samstag ------- Samstag Es dauerte lange, bis Liron in dieser Nacht Schlaf fand. Unruhig wälzte er sich auf seinem Bett hin und her, zerknautschte das Laken und warf die Bettdecke zu Boden. Des öfteren wachte er schweißgebadet aus wirren Träumen auf und fiel sogleich wieder zurück auf das zerfurchte Kissen, nur um erneut in unsicheren, verstörenden Schlaf hinüber zu schippern. Es war kurz vor sechs als Liron verschwitzt und vollkommen erschöpft erwachte. Hinter seiner Stirn pochte es dumpf und sein Körper war so schwer wie Blei. Draußen war es noch dunkel, einzig die gelbe Neonanzeige seines veralteten Digitalweckers grinste ihm provokant entgegen. Erschöpft richtete sich Liron auf und stützte den Kopf in die Hände. Seine Zunge schmeckte pelzig und fühlte sich viel zu groß für die kleine Mundhöhle an. Wurde er krank? Jetzt, da Liron eh einmal wach war, konnte er auch aufstehen. Benommen schwang er die Beine aus dem Bett, erhob sich und musste einen kurzen Moment verharren, als ihn leichter Schwindel ergriff. Sein eigener Körper kam ihm fremd vor, als wäre er eine ganz andere Person und er nur ein störender Gast an einem Ort, an dem er nicht erwünscht war. Was sollten diese Gedanken? Ärgerlich schüttelte er sie ab und griff nach seinem Morgenmantel. Immer noch vollkommen neben sich tapste er Richtung Badezimmer. Seine nackten Füße machten dabei seltsam schmatzende Geräusche auf dem Fliesenboden, wie von einem glitschigen Frosch, der von Stein zu Stein hüpfte. Platsch, platsch. Das Wasser der Dusche schaffte es dann doch die müden Lebensgeister Lirons wieder etwas zu wecken. Liron duschte kalt, wie jeden Morgen. Nicht so sehr, weil er überzeugt war, dass das kalte Wasser seiner Gesundheit und Abhärtung zu Gute kommen würden - das sicher auch - sondern viel mehr, weil es zu lange dauerte, bis der uralte Warmwasserboiler anfing zu heizen. Während sich Liron den Schweiß der vergangenen Nacht vom Körper wusch, dachte er nach. Über das, was er am vergangenem Tag getan hatte und wie es jetzt weiter gehen sollte. Rael konnte nicht hier bleiben. Zumindest nicht auf Dauer. Nachdenklich stellte Liron den Duschkopf aus, schlang sich ein blaues Frotteehandtuch um den Körper und verließ das Bad, Richtung Küche. Auf dem Weg dorthin kam er am Gästezimmer vorbei, in welchem sich Rael befand. Liron jagte ein eisiger Schauer über den Rücken - sofort war das ungute Gefühl der Nacht wieder da. War etwa der Junge daran schuld? Zögernd griff Liron nach der Türklinke, stoppte aber bevor er sie wirklich berührte. Was wenn der Junge noch schlief und er ihn versehentlich weckte? Sicher war er erschöpft und würde auf eine Störung nur mit Unruhe und eventuell Panik reagieren. Und was das bedeutete, hatte Liron ja schon am eigenen Leib erfahren müssen. Unentschlossen verharrte Liron noch einen kurzen Augenblick vor dem Gästezimmer, während aus seinen noch nassen Haaren Wasser lautlos den Nacken entlang rann, dann drehte er sich abrupt von der Tür weg und ging in sein Schlafzimmer. Kurze Zeit später verließ Liron, fertig angezogen und mit einer Brötchentüte in der Hand, seine Wohnung, nicht ohne vorher sorgfältig abzuschließen, sogar zweimal, was eigentlich vollkommen untypisch für ihn war. Trotzdem kam Liron nicht umhin erleichtert aufzuatmen, als er endlich eine sichere Tür zwischen sich und dem Delore wusste. Eilig machte er sich auf dem Weg. Die Straßenlaternen waren eben im Begriff zu verlöschen und der Himmel zeigte sich in den schönsten Rosatönen, durchdrungen vom rot-goldenem Schein der aufgehenden Sonne. Aber heute hatte Liron keinen Blick für die Herrlichkeit des Himmelsgestirn. Andere Dinge kreisten hinter seiner Stirn. Zwar waren seine Haare noch immer feucht und es war eigentlich nicht mehr die Jahreszeit, in der man sorglos nach draußen gehen konnte, doch das war ihm im Moment egal. Umso weiter ihn seine Beine von der eigenen Wohnung wegtrugen, desto mehr wich das beklemmende Gefühl, das er noch zuvor verspürt hatte. Fast bedauerte er es, dass der Bäcker gleich zwei Straßen weiter lag - eine Tatsache, die er unter normalen Bedingungen als durchaus als vorteilhaft einstufte - heute aber konnte ihm der Weg gar nicht weit genug sein. Fast spielte er mit dem Gedanken, einen anderen Bäcker zu suchen, verwarf ihn aber sogleich wieder, da es ihm als unverschämt gegenüber Frau Füchsel erschien, wenn er nicht, wie jeden Morgen bei ihr auftauchte. Wie immer läutete die über der Tür angebrachte Glocke, als Liron die Bäckerei betrat und wie immer flog ihm ein warmer Duft von frisch gebackenen Brötchen und diversen Süßwaren entgegen. Frau Füchsel, eine rundliche Person um die Fünfzig, mit einer zeitlosen Dauerwelle und den ewigen Lachfältchen um den Mund herum begrüßte ihn freundlich. "Guten Morgen, Herr Ravel. Das Selbe wie immer?",fragte sie lächelnd, wartete seine Antwort aber gar nicht erst ab, sondern griff schon geschäftig nach der Tüte, welche ihr Liron auf die Theke gelegt hatte und begann Brötchen hineinzuwerfen. "Ähm, nein. Packen sie noch zwei Normale und ein Mischbrot mehr hinein." "Oh, Besuch?" So konnte man es auch ausdrücken und es war wohl die einfachste Erklärung. Liron lächelte verlegen, nickte, schwieg aber des weiteren und wartete, dass sie fertig wurde. Nachdem sie ihm die volle Tüte gereicht hatte, zahlte er und verließ eilig den Laden. Dagmar Füchsel sah ihm noch einen Moment erstaunt hinterher. So aufgelöst hatte sie den jungen Mann schon lange nicht mehr gesehen. Normalerweise hielten sie jeden Morgen noch einen kleinen Schwatz über allerlei Belanglosigkeiten, aber heute war Ravel erschreckend ruhig gewesen - und ganz schön blass um die Nase, als hätte er die vergangene Nacht zu tief ins Glas geschaut, aber das war für den Arzt doch eher ungewöhnlich. In diesem Moment klingelte die Glocke über der Tür wieder, ein anderer Kunde betrat den Laden und lenkte Frau Füchsel von ihren Gedanken ab. "Guten Morgen, sie wünschen?" Das erste was Liron sah, als er die Wohnungstür aufschloss, war Rael, der, mit ihm zugewandtem Rücken, auf ganz natürliche Weise, Lirons Gummibaum bewässerte. Das konnte doch nicht... Reflexartig machte Liron einen Schritt auf Rael zu, packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. "He! Das kannst du doch nicht machen!", rief er mehr hilflos als wirklich verärgert. Raels Ausdruck veränderte sich. Der erschrockene, ängstliche Ausdruck in den großen braunen Augen verlor sich keineswegs, dafür wurden seine Pupillen noch dunkler und Liron jagte ein scharfkantiger Blitz durch den Geist. Als hätte er glühende Kohlen berührt, ließ er Rael sofort los und die Brötchentüte fallen, taumelte ein Stück zurück und hob abwehrend die linke Hand, die andere griff nach seiner Schläfe, hinter welcher der schreckliche Schmerz tobte. Rael stand einfach nur da, etwas schneller atmend als zuvor und starrte Liron aus weitaufgerissenen Augen an. Lirons Blick hingegen fiel auf die Brötchen, welche sich fröhlich kullernd über den ganzen Flurboden verteilt hatten. Seufzend ließ er sich in die Hocke sinken, ignorierte das pulsierende Übel hinter seiner Stirn und begann die Brötchen wieder einzusammeln. "Ist ja in Ordnung",murmelte er dabei beschwichtigend, sah Rael aber nicht an. "Ich bin dir nicht böse. Ich fass dich auch nicht wieder an, aber hör doch bitte auf mir weh zu tun." Es stand außer Frage, dass Rael kein Wort von dem verstand, was Liron sagte, trotzdem musste der beruhigende Klang irgendeine Wirkung auf ihn haben, denn merklich zog sich sein zerstörender Einfluss tatsächlich zurück, bis er schließlich ganz verschwand. Liron atmete erleichtert auf und erhob sich langsam. Ruhig, um Rael nicht erneut zu verschrecken, zog er Jacke und Schuhe aus, schlüpfte in die Hauspantoffeln hinein und lief an ihm vorbei, Richtung Küche. Der Delore drückte sich erschrocken etwas näher an die Wand hinter ihm, als Liron an ihm vorbei ging, blieb ansonsten aber ruhig. Unschlüssig stand er nun weiter im Flur herum und beobachtete verstohlen was Liron tat. Der gab sich betont gelassen, legte die Brötchen vorläufig erst einmal auf die Anrichte und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass Rael nur ein Jugendlicher und keine tickende Zeitbombe war. Es wollte ihm nicht so recht gelingen. Aber wenn er es schon nicht schaffte seiner Angst Herr zu werden, wie sollte es dann erst dem Jungen gelingen? Als Liron die Küche wieder verließ, stand Rael noch immer an der selben Stelle, wie zuvor und beobachtete ihn misstrauisch. Liron begegnete seinem Blick erschreckend hilflos. Wenn die Dinge aus dem Ruder liefen, war es normalerweise immer Liron, der im Endeffekt das Kommando übernahm und mit seiner klugen, voraussehenden Denkweise, alles wieder in Ordnung brachte. Mit einer solchen Situation war er aber noch nie konfrontiert gewesen. Liron war niemand, den man als nicht umgänglich bezeichnen würde, trotzdem zweifelte er daran, dass seine sozialen Kompetenzen, trotz oder gerade wegen seines Berufes, entsprechend hoch waren, dass er mit Rael zu Rande kommen konnte. Estefania hatte da sicher weniger Probleme als er. Warum musste Rael denn eigentlich ausgerechnet hier untergebracht werden? Liron war definitiv überfordert. Rael riss Liron aus seinen Gedanken, als er sich erneut dem Gummibaum zu wandte und seinen Lendenschurz aufmachen wollte. Diesmal war Liron klug genug, keinen Satz nach vorne zu machen, sondern er begnügte sich damit beide Arme nach oben zu reißen, einen entsetzten Gesichtsausdruck aufzulegen und ein ersticktes "Nicht!", halb beruhigend, halb hysterisch heraus zu keuchen. Rael sah auf und Liron machte sich innerlich schon darauf gefasst, den nächsten psychischen Knock out zu erhalten, aber dieser blieb aus. Der Delore ließ die Hände sinken und sah Liron fragend an. Noch immer schwebte ein leicht ängstliches Zittern in seinen Augen, aber der gespannt, wartende Ausdruck von fast neugieriger Aufmerksamkeit gab Liron den Mut, sich noch einen Schritt weiter zu wagen. Er senkte den linken Arm und streckte Rael statt dessen, die offene rechte Handfläche entgegen. "Komm",forderte er freundlich und schenkte Rael ein Lächeln. Der Junge betrachtete verständnislos die ihm dargebotene Hand, hob fragend die Schultern und blieb stehen. Aber so schnell gab Liron nicht auf. "Komm, Rael",wiederholte er lächelnd, machte eine einladende Handbewegung und wandte sich zum Gehen. Rael zögerte noch immer, als sich Liron aber erneut umdrehte "Komm, Rael." und ihm auffordernd zunickte, da schien er endlich zu begreifen und folgte ihm - Zwar nur langsam, einmal aus Vorsicht und dann wegen dem verletzten Bein, welches es ihm nicht möglich machte, schneller zu humpeln, aber immerhin. Liron lächelte zufrieden in sich hinein, öffnete die Tür zum Badezimmer und wartete, bis Rael ihm nachkam. Drinnen hob er den Toilettendeckel und deutete für den Jungen gut sichtbar auf selbigen. Hoffentlich begriff der Delore was er wollte, denn ehrlich gesagt hatte Liron keine Lust ihm das auch noch vormachen zu müssen - anderseits würde ihm nichts anderes übrig bleiben, wenn ihm nicht an zusätzlichem Dünger für seine Pflanzen gelegen war. Natürlich verstand Rael nicht was Liron von ihm wollte. Er sah verständnislos von Liron, zur Toilette und wieder zu Liron zurück. Der junge Arzt verdrehte enttäuscht die Augen, machte einen Schritt auf die Toilette zu und tat so, als ob er seine Hose öffnen wollte, machte eine Kopfbewegung zur Toilettenschüssel hin und sah wieder zu Rael. Oh bitte, bitte, bitte. Wenn es da oben tatsächlich so etwas wie eine allmächtige Gottheit gab, dann sah sie zumindest in diesem Moment nicht von Liron und seinen kleinen Problemen weg, denn in den Augen des Delore leuchtete etwas auf, dass man auch ohne viel Zureden als Verstehen bezeichnen konnte. Liron atmete erleichtert auf, machte den Weg frei und drehte Rael diskret den Rücken zu. Dabei fiel sein Blick aber auch auf den nur noch lose angebrachten Verband, am Oberschenkel des Jungen und das was darunter bläulich hervorschimmerte, sah nicht wirklich gesund aus. Rael humpelte auch stärker, als es mit dieser Verletzung hätte sein dürfen. Bei dem Gedanken, dass er Rael wieder untersuchen musste, jagte ihm ein kalter Schauer über dem Rücken. Das konnte ja gar nicht gut gehen. Hinter ihm hörte er, wie Rael sein Geschäft beendet hatte und drehte sich wieder zu dem jungen Delore, ging an ihm vorbei und betätigte die Spülung. Rael zuckte erschrocken zusammen, als sich Wasser rauschend seinen Weg nach unten suchte. Dann aber schlich sich in die braunen Augen sofort ein derart neugieriger Ausdruck, als ob er es selbst kaum mehr erwarten konnte, den Knopf seinerseits zu betätigen. Unwillkürlich musste Liron grinsen. "Rael, komm",meinte er lächelnd und musste dabei unbewusst an eine Rezension Fontanes über sein Werk "Effi Briest" denken. Darin hatte der Autor verlauten lassen, dass er dieses Buch niemals geschrieben hätte, wenn da nicht dieser Ausruf "Effi, komm!" gewesen wäre. Effi, komm - Rael, komm. Vielleicht würde Liron auch ein Buch schreiben, wenn das hier alles vorbei war. Hinter ihm stieß Rael humpelnd gegen die Flurkommode und hielt die darauf befindliche Vase im letzten Moment fest, um sie vor dem nahenden Splittertod zu bewahren. Ein bekannter Tod, der viele zerbrechliche Gegenstände auf dem Gewissen hatte, die aus zu großer Höhe zu schnell herab stürzten. Liron hörte, wie Rael erleichtert Luft aus seinen Lungen presste. Ja, ein Buch war gar keine so schlechte Idee. Rael folgte Liron in die Küche und lehnte sich schüchtern gegen den Türrahmen. Neugierig schweiften die großen braunen Augen im Zimmer umher. Da war so viel Neues, so viel Unbekanntes, gefährlich Anmutendes und Faszinierendes zugleich, dass sich die dunklen Lichter überhaupt nicht satt sehen konnten und ruhelos immer weiter kreisten. War da das große weiße Ungeheuer, welches brummend in der Ecke stand und ihn kalt beobachtete, oder das merkwürdige Ding, in welchem eine schwarze Flüssigkeit stetig plätschernd in ein Auffangbehältnis floss, oder aber die runde Apparatur, in welcher tickend, wie von Dämonen getrieben ein langer Stab sich fortwährend um die eigene Achse drehte. Die anderen Beiden bewegten sich nicht. Waren sie tot? "Rael?" Der Delore sah zu Liron, der eben ein Tablett auf dem hohen Klapptisch abstellte und eine auffordernde Geste hin zu einem der beiden Barhocker machte, welche sperrig in der ansonsten recht kleinen Küche standen. Wenigstens jetzt zahlte es sich aus, dass er zwei davon hatte. "Setzt dich bitte",bat er freundlich, nickte erneut zum Hocker hin und registrierte überrascht, das Rael gehorsam seiner Anweisung folgte. Zögernd nahm Liron ihm gegenüber Platz, griff nach einem Brötchen, schnitt es auf und überlegte was Rael wohl mochte, entschied sich letztendlich für Honig - jeder mag Süßes - und schob Rael das fertige Brötchen samt Teller hinüber. Misstrauisch legte der Delore den Kopf schief, griff nach der Brötchenhälfte und schnupperte daran. Raels Magen knurrte. Beschämt senkte er den Kopf, drehte das Brötchen in den Händen hin und her und legte es schließlich wieder auf den Teller zurück. Erstaunt legte Liron die Stirn in Falten, als er dies beobachtete, schmierte sich nun seinerseits ein Brötchen und biss herzhaft hinein. "Iss ruhig!",nuschelte er aufmunternd mit vollem Mund. "Das ist lecker!" Skeptisch wanderte Raels Blick wieder zu dem vor ihm stehenden Teller und fixierte das Brötchen misstrauisch, als ob es ihn jeden Moment anspringen könnte. Nachdem er aber erkannte, dass Liron nicht plötzlich tot zusammenbrach, obwohl er das seltsame weiße Ding gegessen hatte, wagte es auch Rael zögernd abzubeißen. Lächelnd beobachtete Liron, wie Rael mit einem plötzlichen Anflug von Heißhunger, das Brötchen bis auf den letzten Krümel verputzte und, indem er ihm fordernd den Teller entgegenstreckte, nach mehr verlangte. Liron kam dieser Forderung gerne nach und während er nachdenklich ein weiteres Brötchen für Rael schmierte, verstand er immer weniger was an ihm eigentlich so gefährlich sein sollte. Nein halt, das war die falsche Formulierung. Was gefährlich war hatte er bereits eindrucksvoll am eigenen Leib erfahren. Viel interessanter war es aber den Grund für die plötzliche Gewaltbereitschaft der Delores zu erfahren, denn Rael kam ihm keineswegs wie ein blutrünstiges Monstrum vor, sondern eher wie ein vollkommen normaler Jugendlicher, vielleicht ein wenig zu unruhig und scheu, aber das war in seiner Situation durchaus entschuldbar. Soweit Liron wusste, hatte es die Delores schon seit sehr langer Zeit gegeben. Aber erst vor etwa drei Jahrzehnten hatte man sie tatsächlich entdeckt. Damals als es zu der weltweiten Klimaveränderung kam, welche die bis dahin gekannte Flora und Fauna vollständig veränderte und ein gänzlich neues Ökosystem schuf. Liron selbst hatte diese Zeit nur sehr schwammig im Gedächtnis, war er doch selbst erst ein Kleinkind gewesen, das die eigentliche Katastrophe noch gar nicht miterlebt hatte. Fest stand aber - und das wusste Liron aus dem Biologieunterricht bei Frau Leibholz, einer schrecklichen Frau mit vorstehenden Zähnen, wie von einem Ackergaul - dass es zu dieser Zeit zu einem erhöhten Artensterben gekommen war. Zeitgleich tauchten aber auch andere, neue, unbekannte Rassen auf, die aus ihrem natürlichen Biotop vertrieben worden waren, sich nun den neuen Bedingungen anpassen mussten und so in das Auge der Öffentlichkeit gerieten - wie eben die Delores. So viel dazu, wo sie hergekommen waren. Warum das bis dato aber friedliche Naturvolk, seit nunmehr nicht ganz einem Jahr plötzlich aggressiv geworden war und vehement die menschliche Zivilisation angriff, darüber stritten sich die Medien tagtäglich und je länger Liron Rael beobachtete, der sich vollkommen friedlich mit Honig bekleckerte, desto weniger verstand er warum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)