Black Rain von chronographics ================================================================================ Kapitel 1: Ichi --------------- «Rika...» Wieder einmal lief Shinya alleine durch die einsamen Straßen der nächtlichen Kyotos. Wie es wohl geworden wäre, wenn sie mit ihm zusammen hierher gekommen wäre, überlegte er traurig. Sie würde nirgendwo mehr mithin kommen, denn Rika war tot. Shinya erinnerte sich nur allzu deutlich, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie saßen gemeinsam auf der Bank unter der großen Weide und träumten von der Zukunft. Miko, seine Labradorhündin, hatte es sich zu ihren Füßen bequem gemacht und friedlich vor sich hingedöst. Sie wollten gemeinsam an die Universität gehen, vielleicht sogar eine kleine WG aufmachen. Rika hatte ihre langen Haare nach hinten geworfen und ihn lachend angesehen, so wie sie es immer getan hatte... Sie war stets die Einzige gewesen, die Shinya für voll genommen hatte. Er war immer ein ruhiger, in sich gekehrter Junge gewesen, der sich gerne Tagträumen und Philosophierereien hingegeben hatte. «Nur sie hat mich immer verstanden...» Selbst seine Eltern konnten seinen Gedankengängen nicht folgen. Das war im Frühling gewesen. Zwei Tage später war Rika tot. Die genaue Todesursache konnte nicht festgestellt werden. Sicher war nur, das sie innerlich verblutet war. «Einfach so» dachte Shinya «über Nacht wurde ihr Leben ausgelöscht.» Rika hatte geschlafen und war nicht wieder aufgewacht. Er hatte sie gesehen, als sie so ruhig auf ihrem Bett gelegen hatte, die Augen geschlossen und mit der einen Hand den Stoffhasen, den Shinya ihr vor langer Zeit geschenkt hatte, fest umklammert. Wieder stiegen Tränen in ihm auf. «Rika...» Er wollte die düstere Erinnerung abstreifen, aber es wollte nicht gelingen. Er begann zu rennen. So als wollte er vor der Erinnerung davonlaufen hetzte er durch die düsteren Straßen. Schließlich gab Shinya das ziellose Herumirren auf. Als er völlig verschwitzt wieder vor dem nüchternen grauen Wolkenkratzer ankam in dem sich eine Wohnung befand, merkte er, wie er fror, obgleich es eine recht warme Nacht im Spätsommer war. Shinya betrat die Eingangslobby, in der ihn unzählige Briefkästen mit herausquellenden Werbeprospekten empfingen. Er war froh dass er dem kalten Neonlicht entfliehen konnte, als der Aufzug quietschend seine Türen öffnete. Die Lampe darin war wohl immer noch kaputt, denn sie flackerte auf dem Weg in den 17. Stock mehr als einmal an und aus. Niedergeschlagen ging er langsam durch den schwach erleuchteten Gang. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und verkochtem Gemüse. «Widerlich...» Ihn schüttelte es unwillkürlich. Während Shinya in der Hosentasche nach seinem Schlüsselbund kramte vernahm er leise Musik die von der einen Seite des Gangs an sein Ohr drang. Irgendwo schien sich jemand zu streiten. Immer noch zog sich die schmerzhafte Erinnerung wie ein Film durch seinen Kopf, Bild für Bild, Szene für Szene. Sie waren wie Geschwister aufgewachsen und Shinya hatte Rika von klein auf, auf eine rein platonische Art und Weise, innig geliebt. Shinya schloss die Tür auf, doch rechte Lust in die dunkle Stille seiner Wohnung zurückzukehren hatte er nicht. Aber hatte keine andere Wahl, er musste am nächsten Morgen ausgeschlafen sein, denn sein Chef duldete keinerlei Nachlässigkeiten. Seine Mutter hatte ihm bei seinem Auszug geraten, sich doch einen Job zu suchen der ihm etwas Ablenkung brachte. Nicht das er darauf angewiesen wäre, seine Eltern verdienten schließlich genug Geld um ihrem einzigen Sohn jeden Wunsch zu erfüllen, aber seine Mutter wusste, dass ihr Sohn allein in Kyoto in seinem Zimmer alleine in seiner Trauer ertrinken würde. Und so arbeitete er nun täglich bis zu Beginn des Semesters in einem kleinen Bistro in der nächsten Straße als Kellner. Eine Arbeit, die ihm lag. Er musste sich trotz allem nur darauf konzentrieren, keine Bestellungen durcheinander zu bringen und jeden Gast anzulächeln. Während er bediente konnte er über viele Dinge nachdenken. Nur den Gedanken an Rika verdrängte Shinya stets bei der Arbeit.«Noch zwei Wochen bis Semesterbeginn...» ++++++++++++++++ "Mann, was für ein Tag!" seufzte Kyo und lies sich neben Kaoru in die Sitzecke seines Stammbistros fallen. "Bedienung, für mich auch einen Latte Macchiato!!!" rief er dem zierlichen blonden Jungen zu, der sich unsicher mit einem Block in der Hand ihrem Tisch näherte. "Was denn ?" grinste Kaoru. "Oh, ich hab mit Mineko Schluss gemacht! Die Tussi hat es nicht mal im Bett gebracht!" Unbeachtet von Kaorus Einwurf "du notgeiler, kleiner..." schimpfte er weiter: "Und weißt du, was das Schlimmste war? Sie hat mich permanent als kawaii bezeichnet!!!" "Du Ärmster" kam es ungerührt von Kaoru zurück. Der schüttelte lachend seine lilagefärbten Haare über den eben geführten Dialog, der sich ungefähr alle zwei Wochen wiederholte. Nur mit ständig wechselnden Namen. Man brauchte sich nicht einmal die Mühe zu machen, sich die Namen und Gesichter zu merken, da sowieso andauernd Schluss war. Ein ständiges Kommen und Gehen - es war wie im Taubenschlag. Kaoru hatte sich längst daran gewöhnt. "Bist du eigentlich noch mit deiner Schnitte zusammen?" wollte Kyo wissen. "Noch mal diese Bezeichnung und..." "Jetzt hab dich nicht so, ja oder nein?" wurde Kaorus Drohung unterbrochen. "Ja bin ich. Ich bin nämlich nicht so ein Weiberheld wie du. Allerdings geht sie jetzt erst mal ein Semester nach Europa und studiert dort weiter." Der lilahaarige Junge senkte seufzend den Blick, um sich leicht betrübt seinem Getränk zu widmen. Selbst Kyo verstand, dass jetzt kein unqualifizierter Kommentar bezüglich Frauen angebracht war. Shinya schaute betrübt zu den beiden hinüber. Da sich die beiden Jungen nicht gerade leise unterhalten hatten und außer ihnen nur mehrere Geschäftsleute an der Theke schweigend eine Tasse Kaffee hinunterstürzten, konnte er jedes Wort verstehen. Wie gerne hätte er sich zu ihnen gesellt... Nicht um zu reden sondern um zuzuhören und abgelenkt zu sein von den traurigen Gedanken, die wieder über ihn hereinbrachen. Wie gerne wäre dort drüben am Tisch, bei diesem lilahaarigen Jungen, der eine große Ruhe auszustrahlen schien und dem Anderen, dessen Kopf eine nicht definierbare blonde Mähne zierte. Das Gesicht konnte er nicht sehen, da der Blonde ihm den Rücken zukehrte. Das Gesicht des Lilahaarigen kam ihm dagegen seltsamerweise irgendwie vertraut vor. Er wusste nicht wieso ihm dieser Gedanke auf einmal kam, aber er würde sich gerne mit ihnen anfreunden. In seinen Grübeleiern versunken begann er, die vielen Zettel, Briefe und anderen Papierkram, der sich vor ihm auf der Theke türmte zu ordnen. Warum musste sein Chef aber auch immer alles liegen lassen anstatt es gleich mit ins Büro zu nehmen... "Ähm hallo..." eine leicht gereizt klingende Stimme durchbrach seine Wand aus Gedanken. «Was...» "Äh, bitte?" stammelte Shinya verwirrt. "Eine große Tasse Milchkaffee bitte" "Ja natürlich, ich bringe sie sofort!" "Das will ich hoffen" Der Junge, der Shinya so abrupt aus seinen Tagträumen gerissen hatte drehte sich um und ging zu dem Tisch an dem die anderen beiden Jungen saßen. Shinya beeilte sich mit dem Milchkaffee um den Jungen, der wie Shinya erstaunt festgestellt hatte seine Haare in alle Richtungen gestylt und sie noch dazu leuchtend rot gefärbt hatte, nicht noch mehr zu verärgern. "Die, na endlich! Wir dachten schon, du kommst überhaupt nicht mehr!!!" tönte es vorwurfsvoll von dem Blondhaarigen. "Halt die Klappe Kyo!" fauchte Die "du weißt genauso gut wie ich, dass das U-Bahnnetz hier nicht das beste ist!" "Na na " mahnte Kaoru die beiden "ihr werdet euch doch nicht wegen so etwas in die Haare kriegen wollen." "Und außerdem" , fügte er grinsend hinzu " seht ihr eh beide so aus, als wüsstet ihr nicht, was ein Kamm ist." Shinya bewahrte Kaoru vor einem weiteren bissigen Kommentar von den beiden Angesprochenen als er vorsichtig die riesige französische Tasse mit dem heißen Milchkaffee vor Die abstellte. "Danke" murmelte dieser etwas besänftigt darüber, dass Shinya sich wirklich beeilt hatte. Als Shinya sich wieder zum Gehen wandte, merkte er, wie er von dem Jungen mit den lila Haaren, dessen Namen noch kein einziges Mal gefallen war beobachtet wurde. «Oh nein, hab ich vielleicht irgendwas falsch gemacht? War der Kaffee nicht gut oder...» verunsichert nahm Shinya seinen Platz hinter der Theke wieder ein und begann die Tassen der Geschäftsleute zu spülen, die mittlerweile das Bistro verlassen hatten. "Zahlen bitte!" rief Die in Richtung Shinya. Der Rotschopf zahlte für alle, denn geizig war er trotz seiner schlechten Launen nun wirklich nicht. Als Shinya kassiert hatte und gehen wollte, vernahm er auf einmal die Stimme des lilahaarigen Jungen, der unvermittelt in den Raum fragte: "Hey Jungs, kann mir mal einer von euch sagen, was 732 mal 845 geteilt durch 10 ist?" "Spinnst du jetzt völlig?!" kam es gleichzeitig von Die und Kyo. "60854" sagte Shinya leise, aber Kaoru hatte es dennoch gehört. "Danke" meinte er und setzte ein zufriedenes Grinsen auf. "Baibai" verabschiedeten sich die drei und Shinya stand alleine im Bistro. Auch ihn hatte die Frage des Lilahaarigen verwundert, aber noch mehr verwunderte ihn die Tatsache, dass dieser ihm zum Einen so bekannt vorkam und zum Anderen, dass er von ihm dauernd so angesehen wurde. Aber Kopfrechnen war, genau wie alles andere was Schule in irgendeiner Form betraf, eine Leichtigkeit für ihn. Im Gegenteil, er hatte sich in der Schule schon immer unterfordert gefühlt. Er hatte mehrere Klassen übersprungen und an der Highschool hatte er sich nur noch gelangweilt. Sein Mathelehrer war mehr als alle anderen mit ihm völlig überfordert, denn er hatte ihm Fragen gestellt, die dieser beim besten Willen nicht beantworten konnte. Deshalb hatte er Shinya auch dazu geraten, Physik zu studieren. Dort würde er auf all das eine Antwort bekommen. Shinya, dem es gleich war, was er studierte hatte diesen Vorschlag dankbar angenommen, so brauchte er wenigstens keine eigene Entscheidung mehr zu treffen. Gleichzeitig hatte er sich noch für Philosophie eingeschrieben. Etwas, das ihn persönlich reizte, aber er es nur als Nebenfach belegen wollte, da die Berufsaussichten für Philosophen vielleicht in der Antike einmal gut gewesen waren. «Philosophie... genau das hatte Rika auch als Nebenfach belegen wollen. Und als Hauptfach Medizin...» Sie hatte schon immer den Drang gehabt, den Menschen zu helfen. «Sicher wäre sie in ihrem Studium voll aufgegangen» Shinya versank wieder in Grübeleien und auch der beklemmende Schmerz kehrte zurück. Nur gut das gleich seine Ablösung kam und er sich dann wieder von der Welt zurückziehen konnte. Verbissen wischte er die Tische sauber und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten. ++++++++++++ Die Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, als er sich wieder und wieder das abgegriffene Foto von Rika ansah. Wieso konnte er sie nicht einfach in guter Erinnerung behalten und lächelnd an ihre gemeinsame Jugend zurückdenken? «Wann lässt dieser Schmerz denn endlich einmal nach? Rika würde es nicht wollen, dass ich dauernd um sie weine. Sie hat mich immer wieder aufgefordert, nicht ständig so ernst zu sein... sie hat sich so gefreut, wenn ich gelacht habe... und jetzt sitze ich hier, und weine mir die Augen aus. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr... Rika» Erneut begannen die Tränen stärker zu fließen. «Wo du wohl jetzt bist? Warum musste das passieren? Hätte ich denn gar nichts tun können? Warum, warum?» "WARUM?" Das letzte warum hatte Shinya ohne es selbst zu wollen in die Dunkelheit hinaus geschrieen. Er saß auf einer Bank in einem Park nahe des Kamo - Flusses. Wie genau er dort hingekommen war, wusste er nicht. Nur dass er an irgendeiner Station aus der U-Bahn ausgestiegen war. Er konnte die drückende Enge der vielen Menschen einfach nicht mehr ertragen. Er wollte niemanden mehr sehen, nur Rika. Aber das war unmöglich. Erneut fiel Shinyas Blick auf das Foto das er mit der Hand umklammert hielt. ,Plopp, plopp' war das Geräusch, das die Tränen darauf machten. Auf einmal überkam ihn eine bis dahin unbekannte Wut. Er ballte die Hand mit dem Foto zu einer Faust, so dass es zerknitterte und schlug auf die Bank. Der Schmerz lies ihm wieder klar werden, was er da tat. Langsam bahnte sich warmes rotes Blut einen Weg über seine Finger auf die Erde. Er hatte sich bei dem Schlag auf das Holz die Haut an seinen Fingern aufgerissen. Shinya konnte in seinen Hosentaschen kein Taschentuch mehr finden und als das Blut immer noch lief, putzte er es an seiner Hose ab. «Ich muss mich zusammenreißen» dachte er entsetzt über sein eigenes Verhalten. in seinem Kopf konnte er Rikas sanfte Stimme hören, die ihn lächelnd ermahnte. «Wenn ich jetzt verrückt werde ist keinem geholfen.» Mit dem Schmerz an seiner Hand kam auch sein Verstand zurück. Als sich Schritte näherten hob Shinya langsam seinen Kopf. Die Tränen hatten aufgehört zu fließen. Eine große schlanke Gestalt bewegte sich langsam auf ihn zu. Die Haare des Jungen schimmerten, wie er jetzt erkennen konnte, in einem dunklen violett. «Das ist der Junge aus dem Bistro von heute Nachmittag» durchfuhr es ihn. Auch der Andere musste Shinya bemerkt haben, denn er steuerte direkt auf ihn zu. "Shinya?" Shinya erschrak als er seinen Namen hörte. "Du bist es doch, oder?" "Ja" murmelte er, "a-aber woher kennst du meinen Namen?" "Na hör mal, wie könnte ich denn den Namen meines Spielkameraden vergessen? Auch wenn ich dich vor 8 Jahren das letzte Mal gesehen habe. Damals warst du 9 und ich 14. Mein Vater wurde versetzt und ich musste wegziehen, weißt du das wirklich nicht mehr?" "Kaoru..." "Richtig" versetzte dieser lächelnd. "Aber wie hast du mich erkannt? Ich meine es ist immerhin ..." "Na komm" unterbrach Kaoru ihn "du hast noch immer die gleichen zarten Gesichtszüge wie damals und auch deine Fähigkeiten im Kopfrechnen haben keineswegs nachgelassen." "Ach deshalb die Frage heute morgen im Bistro." Shinya musste unwillkürlich lächeln. Es war das erste wirkliche Lächeln seit einem halben Jahr - seit Rikas Tod. "Was machst du um diese Uhrzeit hier im Park?" wollte Shinya wissen. "Ich habe mich soeben von meiner Freundin verabschiedet. Sie fliegt morgen früh nach Europa um dort weiter zu studieren. Und was machst du selbst hier? Sieht nicht danach aus, als würdest du hier die Nacht verbringen wollen." "Ich... ich wollte einfach nur alleine sein." murmelte Shinya. "Oh..." Erst jetzt bemerkte Kaoru das vom Weinen rot verquollene Gesicht Shinyas und den getrockneten Blutfleck auf dessen Hose, sagte aber nichts dazu. "Wie geht es eigentlich Rika?" Kaoru hatte damit den wunden Punkt getroffen und Shinya merkte, wie seine Augen wieder feucht wurde. "Sie ist tot" sagte Shinya leise. "Nein..." Kaorus Stimme klang genauso betroffen, wie er sich fühlte. "Wann...?" "Im vergangenen Frühling, innerlich verblutet..." kam es tonlos von Shinya, während die Tränen wieder begonnen hatten zu fließen. Kaoru verstand, das weitere Worte alles nur noch schlimmer machen würden und so nahm er Shinya einfach in den Arm. Er wusste sich nicht anders zu helfen. "Ich glaube, ich sollte jetzt besser nach Hause" Shinya befreite sich vorsichtig aus Kaorus Armen. Er konnte die Wärme eines Menschen einfach noch nicht ertragen. "Wo wohnst du?" fragte Kaoru. Shinya nannte ihm eine Adresse, drehte sich um und eilte davon. Er war froh gewesen, Kaoru mitten in dieser riesigen Stadt zu treffen, aber es machte ihn auch erst recht traurig, da dieser untrennbar mit der Vergangenheit und damit mit Rika zusammenhing. Er war noch nicht soweit, dass er wider Wärme annehmen konnte. Aber wenigstens hatte er nun ein bekanntes Gesicht inmitten dieser Masse von Menschen. Kapitel 2: regen ---------------- «Ich kann nicht mehr weinen, es sind einfach keine Tränen mehr da.» Shinya saß auf dem Fensterbrett seines Schlafzimmers und starrte in die Dunkelheit hinaus. Es war gerade mal kurz nach vier Uhr am Nachmittag, aber draußen war es bereits dunkel. Seit drei Tagen regnete es in Strömen und der kalte Herbstwind jagte um die Häuser Kyotos. Selbst am 17. Stock, in dem Shinya saß, wurden Blätter vorbeigewirbelt. Traurig betrachtete er den Regen, der an der Scheibe hinunter lief. «Schwarz... der Regen sieht aus, als wäre er schwarz... schwarzer Regen...» Mit den Fingern zeichnete er die Spuren nach, die das Wasser auf seiner Scheibe hinterließ. Shinya zuckte zusammen. «Was war das?» hallte die Klingel erneut durch die Stille. Er erhob sich, suchte nach seinen Hausschuhen und schlurfte in den Flur als er begriffen hatte, dass offenbar jemand an seiner Wohnungstür geläutet hatte. "Hi Shinya!" Ein triefend nasser Kaoru schob sich mit einer Plastiktüte bepackt durch die Tür. "Die anderen sind alle noch in der Uni. Da dachte ich, ich schau mal bei dir vorbei." "Soll ich dir vielleicht ein Handtuch holen?" fragte Shinya erstaunt darüber, Kaoru so plötzlich vor sich zu haben. "Äh, ja, das wäre klasse !" grinste Kaoru, als er die Pfütze bemerkte, die sich um sich herum gebildet hatte. Shinya ging ins Bad, um ein Handtuch zu holen, als sein Blick auf den Kapuzenpulli fiel, den er über die warme Heizung gehängt hatte. Er hatte sich später nach dem Baden hineinkuscheln wollen, aber er beschloss, dass Kaoru jetzt einen trockenen, warmen Pullover viel dringender brauchte als er. «Und eine Tasse Tee vielleicht» "Eigentlich hatte ich ja schon viel früher bei dir vorbeischauen wollen. Ist jetzt gute drei Wochen her, als wir uns im Park getroffen haben. Aber ich war so beschäftigt wegen Semesterbeginn und so...gomen, ne?" "Schon gut" sagte Shinya leise und reichte Kaoru Handtuch und Pulli. Er freute sich, dass Kaoru überhaupt vorbeigekommen war. Zumindest hielt ihn das davon ab, weiterhin grübelnd in den Regen hinauszustarren. "Hab auch was mitgebracht, wenn ich schon hier so unangemeldet hereinplatze. Ist vom dem Bentostand vorne bei der Uni. Kennst du den? Es schmeckt riesig lecker dort." Er reichte Shinya eine Box und Stäbchen. "Du magst immer noch kein Fleisch, oder?" Shinya schüttelte den Kopf «Er weiß es tatsächlich noch...» "Danke!" "Quatsch nicht rum, sondern iss lieber, sonst verwelkt dir der Salat noch zwischen den Stäbchen" lachte Kaoru. Er hatte beschlossen, Shinya ein wenig von den traurigen Gedanken abzulenken, die diesen mit Sicherheit immer noch quälten. "Was macht das Studium Shin?" fragte Kaoru zwischen zwei Bissen. "Es macht Spass." Kaoru hob zweifelnd eine Augenbraue. Shinya wusste ebenso wie Kaoru, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Die Vorlesungen, die er bis jetzt besucht hatte, langweilten ihn zu Tode. Alles, was er bis jetzt gehört hatte, hatte er mit ungefähr 9 Jahren schon in irgendeinem Buch gelesen. Philosophie hatte er dagegen noch nicht gehabt, da momentan die große Fachtagung dieses Bereiches in Tokyo stattfand und sämtliche Professoren daran teilnahmen. "Der Tee ist fertig, möchtest du eine Tasse?" "Ja gerne." Shinya goss Kaoru das heiße Getränk ein. "Mmmh, warm" murmelte Kaoru und sagte dann laut: "Aber Shin, jetzt mal ehrlich: Du langweilst dich doch zu Tode in deinem Studium, oder?" Shinya zuckte zusammen, als Kaoru sein Freund genau das aussprach, was er eben noch gedacht hatte. "Wie kommst du darauf?" Shinya überlegte, ob ihm die Langeweile wirklich schon so ins Gesicht geschrieben stand. "Wie ich darauf komme? Na also hör mal! Wenn ich daran denke, was du früher an Bücher über Mathe und Physik verschlungen hast...Und das Zeug auch noch kapiert hast, wo ich gerade mal damit zu kämpfen hatte, das 1 durch ½ 2 ist...also da kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, das du das Grundstudium nicht längst schon intus hast. «Da hat er allerdings recht» nachdenklich schaute Shinya auf sein halb aufgegessenes Bento. "Aber hier kann man auch kein Semester auslassen, geschweige denn das Grundstudium einfach so überspringen." "Warum probierst du nicht einfach solange, bis es für dich endlich interessant wird etwas anderes aus? Was nicht nur dein Gehirn fordert? Zum Beispiel Musik. Du könntest Gitarre lernen. Oder noch besser: Schlagzeug!" Shinya blickte seinen Freund erstaunt an. "Wie kommst du denn jetzt auf die Idee?" "Weißt du Shinya, ich merke es an mir selbst. Jetzt wo meine Freundin in Europa ist, hilft mir meine Gitarre sehr, über den Kummer weg zu kommen. Ich spiele damit einfach meinen Frust weg." Als Shinya den Kopf senkte, weil seine Augen begonnen hatten zu brennen, meinte Kaoru vorsichtig: "Weißt du, ich glaube es dir könnte auch helfen, deine Trauer in geordnetere Bahnen zu lenken. Ich sehe doch, dass du vor Kummer wegen Rika fast umkommst. Außerdem lernt man darüber bestimmt viele Leute kennen. Gerade wenn man neu hier in der Stadt ist!" Shinya sagte nichts. Er wusste nicht was, er Kaoru darauf für eine Antwort hätte geben sollen. Er spürte, dass Kaoru versuchte, ihm zu helfen. Aber verstand er überhaupt, was Rika ihm bedeutet hatte? "Oh apropos Leute" hörte er die Stimme seines Freundes "wann arbeitest du denn das nächste Mal im Bistro?" Shinya hob den Kopf "Übermorgen, zwischen sieben und neun Uhr, warum?" "Dann stell ich dir die anderen mal vor. Du wirst sie sicher mögen" "Gut, dann sehen wir uns also übermorgen Abend um halb neun im Bistro. Wir können dann ja danach noch woanders hingehen, wenn du mit der Arbeit fertig bist. Ich muss jetzt los. Danke für den Tee! Den Pulli geb' ich dir wieder, sobald er gewaschen ist! Ciao" Mit einem "Scheiße, es pisst ja immer noch" war Kaoru dann verschwunden und die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss. "Tschüss" murmelte Shinya hinter ihm her Als er Abends im Bett lag, dachte er zum ersten Mal seit langem nicht mehr nur an Rika, sondern auch über Kaorus Vorschlag nach. «Musik... warum nicht? Und warum nicht auch Schlagzeug...» mit diesen Gedanken schlief er ein. +++++++++++++++ «Musik... ja, warum eigentlich nicht?» Ja, er würde ein Instrument lernen. Shinya hatte lange über Kaorus Vorschlag nachgedacht. Und eingesehen, dass es mit ihm nicht so weitergehen konnte. Trauer war soweit schön und gut, aber langsam merkte er, wie im die Kraft aus ging und sie seine Seele aufzufressen begann. Und er wusste auch, dass Rika nie von ihm verlangen würde, dass er ihretwegen zu einem seelischen Wrack werden würde. Aus dem Telefonverzeichnis hatte er sich die Adresse eines Musikgeschäfts in seiner Nähe herausgesucht und sich auf den Weg gemacht. Seinen Lohn, von dem er, bis auf ein paar Yen für eine Tafel Schokolade noch keinen Sen ausgegeben hatte, und der durch das viele Trinkgeld, das ihm entgegen der japanischen Handhabe zugesteckt worden war, zu einer beachtlichen Summe angewachsen. Davon würde er sich nun ein Instrument kaufen. Shinya betrat das Musikgeschäft, das von außen zwar klein aussah, aber sich im Inneren als ein Labyrinth von Gängen zwischen hohen Regalen entpuppte. Etwas verloren stand er zwischen vielen Dingen, die vermutlich dazu dienen sollten, Musik damit zu machen, obwohl er es sich nicht wirklich vorstellen konnte, wie man das etwa anstellen sollte. Er begann durch das Gewirr von Gängen zu laufen. Eigentlich wusste er noch nicht einmal, was er überhaupt lernen wollte. Ein Instrument, ja, aber welches «Puh, du lieber Himmel, ich hätte nie gedacht, was es alles gibt. Kaoru hat Gitarre vorgeschlagen... aber wo sind die Dinger denn» Shinya zog eine der unzähligen Gitarren von der Halterung an der Wand. Unschlüssig drehte er sie hin und her. Aber war es wirklich das, was er wollte? Damit würde er sicher nur Melodien spielen, die ihn an Rika erinnerten und traurig machten. Er drehte sich um, um einen Verkäufer zu suchen, der ihm mit seinem Rat zur Seite stehen könnte. «Was... seit wann steht der hinter mir?» Dachte Shinya entsetzt, als sein Blick auf einen jungen Mann fiel, der ihn anscheinend schon längere Zeit beobachtete. Er war so in seine Überlegungen versunken gewesen, dass er nicht einmal dessen Schritte wahrgenommen hatte. «Er ist hübsch» Der Andere trug einen schwarz weiß gestreiften Pulli, der etwas zu lang geraten schien und eine schwarze Hose die dieser an den Enden in Stiefel gesteckt hatte. Die kurzen Haare waren sorgfältig zu einer strubbligen Frisur nach oben gegelt. Shinyas Atem stockte, als sein Blick auf das Gesicht seines Gegenübers fiel. Die makellose weiße Haut, die schön geschwungenen, vollen Lippen, und die Augen schwarz mit Kajal umrandet. «Die Augen... sie sind so schön, man könnte sich fast darin verlieren... wie sie... genau der gleiche sanfte Blick...» Shinyas Gedanken begannen zu wirbeln. "Mmmh, äh, ich wollte... na ja ich wollte ein Instrument lernen, weiß aber nicht, welches und... äh, können sie mir vielleicht dabei helfen, eines auszuwählen? » "Mmmh, wenn ich dich so betrachte... nein, Gitarre ist nicht wirklich dein Fall, glaube ich. Lass mich mal überlegen... Hast du vor in einer Band zu spielen?" «In einer Band?» "Äh ich weiß nicht, keine Ahnung, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt in der Lage bin, Musik zu machen..." "Nehmen wir an, dass du ein verborgenes Talent für Musik hast und mal in einer Band spielen willst... aber so im Vordergrund im Rampenlicht zu stehen ist nicht das was du auf Biegen und Brechen haben müsstest, oder?" «Wie kommt er darauf... oder besser, woher weiß er das? Er muss eine echt gute Menschenkenntnis besitzen... aber vielleicht lernt man das, wenn man Instrumente verkauft...» "Ich weiß was, komm mit" unterbrach der andere Shinyas Gedankenflut. Er nahm ihn einfach an der Hand und zog ihn hinter sich her. "Moment mal, wo war es doch gleich?" Immer noch Shinyas Hand umklammernd, als könnte dieser weglaufen, wenn er sie loslassen würde, blieb er an einer Gabelung der Wege zwischen den Regalen stehen. "Ah ja, hier entlang, komm mit!" "Drums" hauchte Shinya als sie vor einem aufgebauten Drumset zum Stehen kamen. "Ich dachte mir, dass das vielleicht das Richtige für dich wäre. Du bist nicht der Typ, der gerne irgendwo im Vordergrund steht und als ich dich vorhin beobachtet habe, ist mir aufgefallen, dass du irgendwie down zu sein scheinst. Mit Drums könntest du deinen Frust vielleicht mal so richtig aus dir rausprügeln. Mit einer Gitarre kannst du das nicht so gut machen, die könnte dabei Schaden nehmen, wenn du es falsch anpackst. Aber Drums..." «ja... er hat Recht... in mir ist soviel aufgestaut, dass raus möchte... woher weiß er das? Aber er hat Recht, ich sollte auf ihn hören!» "Ja ich glaube ich nehme sie." beschloss Shinya und begann, nach einem Preisschild zu suchen. Es war ein gebrauchtes Set, also würde es nicht allzu teuer werden. "Ja, ich nehme es" Shinya hatte nach einem Vergleich von Preis und seinem gesparten Geld entschieden, dass es reichen würde. "Dann brauchst du noch Sticks und ein Paar Handschuhe vielleicht, sonst hast du schneller Blasen als dir lieb ist." "Und ein Buch, indem steht, wie man mit dem Teil umgeht wäre auch ganz sinnvoll." merkte Shinya an. "Du willst es dir selbst beibringen?" "Ja" Mit der Hilfe des anderen Mannes hatte Shinya schnell gefunden, was er brauchte. "Die liefern dir das Teil bestimmt mit allem drum und dran nach Hause. Musst einfach mal fragen. Die sind eigentlich so kulant." «Die?» "Wie, was? Du bist äh... gar kein Verkäufer? » Shinya wurde rot. Er hatte einfach so einen Fremden angesprochen, ihn zugeredet und mit seinen Problemen belästigt. Der andere begann bei Shinyas verunsichertem Anblick zu grinsen. "Nein nie gewesen! Ich hab dich nur beobachtet, wie du hier so unsicher rumgestolpert bist, und war neugierig, warum du dich hier rein verirrt hast." "Oh...äh... es tut mir leid, ich wollte dich nicht belästigen." Shinya begann sich zu verbeugen. "Hey schon okay, beruhig dich wieder. Es freut mich, dass ich dir helfen konnte! Gehst du nicht auch auf die Uni? Ich meine, ich hätte dich schon mal irgendwo gesehen." "Ja, ich studiere Physik im ersten Semester." "Physik? Wow, Respekt! Ist bestimmt total schwer, oder?" "Nein eigentlich nicht." Der andere blickte auf seine Uhr. "Oh shit!!! Ich muss los, meine nächste Vorlesung fängt gleich an. Wenn ich schon wieder zu spät da rein platze, vierteilt mich der Prof! Wir sehen uns bestimmt mal wieder! Ich bin übrigens Toshiya!" Und damit war er verschwunden. Kopfschüttelnd sah Shinya ihm nach. Wie konnte er nur so dumm sein, und einfach einen wildfremden Menschen einfach so zulabern. «Ich hätte vielleicht fragen sollen, ob er wirklich ein Verkäufer ist. Aber davon abgesehen... irgendwie mag ich diesen Toshiya, auch wenn ich ihn erst seit einer halben Stunde kenne. Er hat wirklich die gleichen Augen wie sie.» +++++++++ Ungeduldig lief Shinya in seiner Wohnung hin und her. Gleich würden die Leute vom Musikgeschäft vorbeikommen und ihm sein Drumset abliefern. Er hatte sich in den letzten paar Tagen intensiv mit dem Buch auseinander gesetzt, dass er sich gekauft hatte, konnte es schon fast auswendig. Seine Sticks lagen ihm auch schon so vertraut in den Händen, als hätte er schon immer gespielt. Weil die Vorlesungen immer einschläfernder auf in wirkten, hatte er sich seinen Discman mitgenommen, und ununterbrochen Musik gehört. Er analysierte die Musik, hörte die Drums heraus und begann sich Bewegungsabläufe im Kopf zusammen zu setzen. Die Musikvideos im Fernsehen taten ihr übriges. Und alles das, ohne vorher überhaupt mit den Sticks die Drums zu berühren. «Endlich! Das müssen sie sein»Shinya stürzte zur Tür. Zwei Männer standen davor mit den Einzelteilen seines Drumsets. "Wo sollen wir das Teil denn hinstellen?" brummte der eine. " Äh, ja da ins Wohnzimmer" Shinya hatte extra die Möbel umgeräumt. "Vielen Dank für' s Bringen!" Shinya setzte zu einer höflichen Verbeugung an. "Keine Ursache" kam es zurück, "wurden schließlich dafür bezahlt. Sayonara." Shinya stand alleine im Wohnzimmer. Er setzte sich auf den kleinen Hocker und begann, sich mit seinem Instrument vertraut zu machen. Beinahe liebevoll strich er mit seinen langen schlanken Fingern darüber. Er begann vorsichtig, mit seinen Drumsticks jedes einzelne Teil zum Klingen zu bringen. «Wie schön... Toshiya hatte Recht. Dieses Instrument ist, glaube ich, wie geschaffen für mich» Er setzte an, ,endless rain' von X-Japan zu spielen. Er hatte alles ganz genau im Kopf. Die Bewegungsabläufe, den Klang, einfach alles. Doch was dabei heraus kam, war alles andere, als das, was er zu hören gehofft hatte. Es hörte sich an, als würde ein Dreijähriger versuchen, so viel Lärm wie möglich zu veranstalten. Shinya hatte trotz aller mentalen Vorbereitungen nicht bedacht, dass er keinerlei Koordination in seinen Gliedmaßen besaß. Und das sich diese Koordination nicht mit Hilfe von mentalem Training aneignen ließ, sondern nur durch intensives Üben. Aber deswegen aufgeben kam keinesfalls in Frage. Er saß die halbe Nacht vor seinen Drums, das Geklopfe der Mieter über ihm ignorierend. «Es muss einfach klappen. Irgendwie: Ich will es lernen.» Schlieβlich schlief er völlig übermüdet neben seinem Drumset ein. In dieser Nacht träumte er von Rika. Sie saβ auf der Bank unter der Weide, lächelte ihn ermunternd an und meinte, dass sie stolz auf ihn wäre. "Chibi, du schaffst das." War das letzte, was er von ihr hörte, bevor er aufwachte. Kapitel 3: Ketchup ------------------ «Itai» mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete sich Shinya auf und rieb sich den schmerzenden Nacken. «Wo bin ich überhaupt?» Verwirrt blickte er um sich. Er saß im Wohnzimmer auf dem Fußboden, neben seinem Drumset, an das er die ganze Nacht gelehnt geschlafen hatte. Als sein Blick auf die Uhr fiel entschlüpfte ihm ein Seufzer, denn er hatte soeben seinen ,immer-pünktlich-anwesend'-Rekord gründlich ruiniert. Die Vorlesung begann zwar erst in zehn Minuten, aber hatte weder gefrühstückt noch hatte er geduscht. Letzteres war nach dem vergangenen Abend allerdings dringend nötig, erfühlte sich, als hätte man ihn am ganzen Körper mit Klebstoff eingerieben. Benommen torkelte er unter die Dusche, stellte das Wasser auf ,heiß' und ließ es über seine schmerzenden Glieder laufen. Rot wie ein Krebs langte er in die Obstschale, griff nach seinem Schlüsselbund und seinem Rucksack, warf die Tür hinter sich zu und hetzte zur Uni. Auf den Gängen war alles wie ausgestorben, die Vorlesungen liefen seit zehn Minuten. Shinya bemühte sich, leise, und vor allem ungesehen, in den Hörsaal zu kommen. "Hey sie! Haben sie nichts Besseres zu tun als hier herumzuschleichen?" Shinya zuckte unwillkürlich zusammen, als er die wütende Stimme des Professors vernahm. «Iwamoto-sensei...ausgerechnet der...» "Und was soll das, dass sie hier mit Tomaten aufkreuzen? Wollen sie mich jetzt auch noch bewerfen dafür dass sie schon zu spät kommen? Zu viele Actionfilme gesehen, hä?" spöttelte der Andere weiter. Shinya blickte ihn zuerst erstaunt und dann entsetzt seine Hand an. Sie enthielt tatsächlich eine große rote Tomate. Beschämt senkte er den Kopf nachdem nun alle im Saal auf ihn blickten. Hochrot im Gesicht schob er sich auf einen Platz in der letzten Reihe und versuchte die schmunzelnden Blicke seiner Mitstudenten zu ignorieren. Da hatte er in seiner Eile wirklich danebengegriffen. Er verfluchte seine eigene Verplantheit. Warum hatte er in der Vorfreude auf das Drumset nur die Tomaten in die Obstschale gelegt, anstatt in den Kühlschrank wo sie eigentlich hingehörten. Und warum musste es ausgerechnet bei Iwamoto-sensei passieren? «Der hat mich doch sowieso schon auf dem Kieker, seit ich ihn in der einen Vorlesung letzte Woche korrigiert habe.» Genauer gesagt hatte Shinya ihn unwissentlich vor seinen Studenten zutiefst blamiert, als er ihn verbessert hatte, dass nicht Newton sondern Einstein der Urheber der Relativitätstheorie war. Eigentlich ein bloßer Versprecher des Professors. Und auf die Frage hin, was Hiroshima mit Einstein zu tun hat, hatte Shinya eine halbe Vorlesung aus seiner Antwort gemacht. Er hatte es nicht aus reinem Spaß an der Besserwisserei getan, es war für ihn nur eine Gelegenheit, einen Teil des angesammelten Wissens anzuwenden. Aber dass das dem Professor zuwider sein könnte, daran hatte Shinya nicht einmal gedacht. Von diesem Vorfall ab hatte Iwamoto-sensei das ,hyperschlaue Küken' stets argwöhnisch beäugt. Ihm war nicht entgangen, dass er es hier nicht mit einem gewöhnlichen Studenten zu tun hatte. Aber mit den Sticheleien verschaffte er sich Luft. Shinya unterdrückte ein Gähnen. Die Nacht an den Drums hatte ihn wirklich geschlaucht und die Vorlesung verdiente in seinen Augen das Prädikat ,kindergartenpädagogisch besonders wertvoll'. Langsam begann er wegzudämmern und seine Gedanken begannen zu kreisen. Von Rika zu Toshiya und zurück. Einbeständiger Wechsel zwischen tiefer Niedergeschlagenheit und einer Aufregung die er sich selbst nicht erklären konnte. "Willst du mich vielleicht mal durchlassen?" Shinya schreckte zusammen. "Hai... dozo." Die Vorlesung war endlich zu Ende. Mit schleppenden Schritten wanderte er in Richtung Keller der Fakultät in dem sich das Labor für die Physikversuche befand. Er hatte nicht wirklich Lust dazu, jetzt irgendwelche Versuche zu machen, Daten auszuwerten. Die Ergebnisse kannte er auch ohne praktische Übungen. Aber was blieb ihm anderes übrig wenn er endlich im Hauptstudium ankommen wollte in dem er endlich etwas lernen würde. Die Versuchsanordnung brach unter seinen Händen auseinander. Was genau er da nach der Anleitung zusammengebaut hatte und wofür das gut sein sollte wusste er nicht weil er immer noch an Rika dachte - und an Toshiya. Wie gut das die anderen ihm so wenig Beachtung schenkten. "Was ist nur mit mir los?" murmelte Shinya, während er sich daran machte das Chaos wieder zu beseitigen. ++++++++++++++++ zufrieden schickte Kaoru die SMS an Shinya ab. Shinya saß auf seinem Sofa, eingehüllt in eine Decke und starrte aus dem Fenster. Zuvor hatte er wie irr auf die Drums eingedroschen um die düsteren Gedanken an Rika zu verdrängen, die ihrerseits die angenehme Aufregung über Toshiya verdrängt hatten. «Rika...» wäre sie jetzt hier, hätte sie ihn in den Arm nehmen können. Sie hätte ihn getröstet, ihm gesagt, er solle es nicht so ernst nehmen. Und die Tomate - die hätte er ruhig werfen sollen um dem Professor ein für alle Mal die dummen Sprüche auszutreiben. Und die Panne beim Versuch - alles nicht der Rede wert. Ein bisschen Krach hatte noch keinem Physiker geschadet. So hätte sie ihn wieder aufgebaut. «Rika...» Shinyas Augen begannen wieder zu brennen und er versuchte krampfhaft die Tränen zu unterdrücken. . Das laute Geräusch seines Handys zerriss die Stille. Shinya drehte sich langsam um und angelte danach. «Von Kaoru. Auch das noch. In weniger als zwei Stunden. Ausgerechnet heute...» Lust mitzugehen hatte er nach diesem verpatzten Tag nicht wirklich, aber was blieb ihm anderes übrig? Kaoru würde sich sonst Sorgen machen. Aber Shinya wollte niemanden sehen. Nicht heute. Und morgen schon gar nicht. Er wollte allein sein. Mit einer Hand wischte er sich die Tränen ab, die jetzt über die Wangen kullerten. Aber es nützte nichts, stattdessen kamen immer mehr. Erschöpft schlief er schließlich ein. Shinya fuhr erschreckt hoch. «Wer ist denn das jetzt?» Er schaute nach oben zur Uhr. Es war kurz nach neun. "Shinya! Ich weiß das du da bist, also mach schon auf!" Kaorus Stimme schallte über den Gang. «Kaoru» Shinya tappte zur Tür und öffnete. Wider Erwarten stand nicht nur Kaoru in der Tür, sondern auch die beiden Anderen, die Shinya schon aus dem Bistro kannte, lehnten sich in den Türrahmen. Der kleine blonde Kyo und Die mit der unverkennbaren roten Wuschelmähne. Kaoru balancierte einige aufeinander gestapelte Pappschachteln auf seinem Arm. "Hi Shin! Dürfen wir reinkommen?" und im gleichen Atemzug: "Pfoten weg Kyo! Willst du, dass der ganze Turm hier einkracht?" Shinya nickte und öffnete die Tür ein Stück weiter und die Anderen schoben sich an ihm vorbei. Kaoru wanderte direkt in die Küche und Shinya, der ihm folgte, bemerkte, dass die Schachteln einen köstlichen Duft verströmten. Die und Kyo ließen sich währenddessen im Wohnzimmer auf die Couch fallen. Hey Shin. Eigentlich wollten wir uns vor einer Woche im Bistro treffen. Aber dein Chef hat mir gesagt, dass du abgesagt hättest. Was ist denn los?" Shinya senkte den Kopf "Nichts" murmelte er leise. Kaoru verstand. "Naja, jedenfalls hab ich mir deine Handynummer geben lassen. Aber ich hatte mir schon fast gedacht, dass du heute nicht kommen würdest. Also hab ich mir die anderen beiden und was zu Essen geschnappt and here we are." Kaoru packte vorsichtig die Kartons aus, die Plastikschälchen mit dampfenden Nudeln und verschiedene Soßen enthielten. «Irgendwie bringt er jedes Mal was zu Essen mit... ich sollte ihn vielleicht auch mal einladen.» Kaoru stellte die Schalen auf ein Tablett das Shinya ihm reichte und balancierte es in Richtung Wohnzimmer, während Shinya ihm mit Gläsern und Limoflaschen folgte. "Mmmmmh!" kam es gleichzeitig von Kyo und Die und sofort machten sich die beiden über das Essen her. "Geier..." brummte Kaoru "ach ja, Shin, das sind übrigens Die und Kyo. Kyo, Die das bedauernswerte Opfer eurer überaus vortrefflichen Manieren ist Shinya." fügte er ironisch grinsend hinzu. "N'Abend" schmatzte Die lachend, während es Kyo vorzog, sich lieber seinem Essen zu widmen. Über Shinyas vom Weinen immer noch leicht gerötetes huschte ein hauchdünnes schüchternes Lächeln und Kaoru atmete erleichtert auf. Kapitel 4: blasse Herbstsonne ----------------------------- Es war trotz allem ein recht vergnüglicher Abend geworden. Das musste sogar Shinya zugeben. Er hatte sich zwar nicht an den Wortgefechten der anderen beteiligt und stattdessen lieber still zugehört, aber er war trotz allem wieder einmal von seiner Traurigkeit abgelenkt worden. Kaoru hatte mit Blick auf das Drumset lächelnd bemerkt, dass Shinya wohl seinen Rat mit der Musik befolgt hatte. Er konnte ihn zwar nicht dazu bewegen, seine Künste zum Besten zu geben, aber bemerkte auch, dass der Jüngere zumindest ein winziges bisschen gelöster wirkte. Und selbst das rechnete Kaoru schon als kleinen Erfolg. "Also gut, ich glaube, wir machen uns jetzt besser mal auf die Socken." Kyo unterdrückte zum wiederholten Male ein Gähnen und erhob sich langsam von der Couch. Es war bereits zwei Uhr geworden. "Oh, da hast du allerdings Recht, morgen ist schließlich wieder Uni." Stimmte Kaoru zu. "Also Shin, wir werden uns sicher morgen in der Uni über den Weg laufen. Tschüss" Kyo und Kaoru verschwanden durch die Tür. Die blieb noch einen Augenblick länger stehen und blickte Shinya nachdenklich an. "Was ist?" fragte dieser unsicher. "Ich weiß nicht... vielleicht liege ich falsch, aber irgendwas sagt mir, dass du Kummer hast, den man nicht so einfach wieder loswerden kann. Und es scheint dich aufzufressen." Shinya zuckte wie ertappt zusammen. "Weißt du was? Ist wohl ein blöder Vorschlag, aber... geh doch mal in einen Tempel... dort haben schon einige ihre Ruhe wieder gefunden, die sie ihrem Kummer aus den Augen verloren haben. Gomen, ich wollte dir nicht zu nahe treten." Shinyas Lippen begannen und zu zittern und er kämpfte wieder mit den Tränen. Er wollte nicht weinen. Nicht vor Die, dem er nach dem belanglosen Vorfall im Bistro mit Zurückhaltung begegnete. Die, dem Shinyas Reaktion nicht entgangen, streckte vorsichtig die Hand aus und hob Shinyas Kinn an, so dass dieser ihm in die Augen sehen musste. "Du magst mich nicht besonders, kann das sein? Wegen meiner Unfreundlichkeit neulich im Bistro?" Shinya zuckte erneut zusammen. «Kann er Gedanken lesen?» "Es tut mir Leid wie ich dich neulich behandelt habe. Ich war einfach mies drauf. Sorry, dass ich das an dir ausgelassen habe." Shinya blickte ihn erstaunt an - und musste unwillkürlich über die Tränen hinweg lächeln. "Schon gut." Die strahlte ihn an. "Also denk drüber nach, was ich dir gesagt hab, ne? Baibai" Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. «Diese Augen... wieso kommen sie mir so bekannt vor? Wo um alles in der Welt hab' ich diesen Blick schon mal gesehen?» Shinya wischte sich mit dem Ärmel über sie feuchte Wange und machte sich daran, das Chaos aus Stäbchen, Essensschälchen und Gläsern im Wohnzimmer zu beseitigen. Ohne es selbst zu merken summte er leise vor sich hin. ++++++++++ Unausgeschlafen saß Shinya im Hörsaal der Philosophischen Fakultät. Aber das Thema der ersten Vorlesung hielt ihn vom Schlafen ab. "Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen." Der Professor erörterte soeben das Zitat Sigmund Freuds vor seinen Studenten. «Hier herrscht eine angenehme Atmosphäre, anders als in Physik bei Iwamoto-sensei... nur gut, dass es noch andere Professoren gibt...» Er ließ seinen Blick durch den gut gefüllten Hörsaal streifen. Bis ihn der Anblick eines Mitstudenten in helle Aufregung versetzte: am anderen Ende einige Reihen unter ihm saß - Toshiya. Shinya war sofort wieder hellwach. Trotz des interessanten Themas war bei ihm jetzt keinerlei Aufmerksamkeit mehr für Freud vorhanden. Er konnte das Ende der Vorlesung kaum noch erwarten. Endlich hatte der Professor geendet und die Studenten begannen mit der Faust auf die Tische vor ihnen zu trommeln. Shinya sprang auf und quetschte sich durch die Massen die jetzt Richtung Ausgang strömten. "Mann, kannst du nicht aufpassen?" beschwerte sich ein Mädchen, dem Shinya bei seiner Drängelei zur anderen Seite des Saals den Block aus der Hand geworfen hatte. "eh...sumimasen" murmelte er und setze seinen Weg unbeirrt fort bis er schließlich so stand, dass Toshiya notgedrungen direkt auf ihn zusteuerte. "Hi, so sieht man sich wieder! Und, wie weit bist du gekommen? Kannst du schon was spielen?" Toshiya grinste über das ganze Gesicht, als er seine Bekanntschaft aus dem Musikladen vor sich sah. "Ähm, naja an Koordination hapert es noch etwas..." Shinya blickte ernst in das strahlende Gesicht vor ihm, und wieder machte sich diese Aufregung in ihm breit. "Na das wird noch. Musst noch ein bisschen üben, dann klappt das schon, wenn es sonst nichts ist!" "TO.SHI.MASA!!!" von weiter unten schallte es wütend zu ihnen hinauf. "Wenn du nicht sofort deinen Hintern hier runter bewegst, und mir hilfst, diesen Kram aufzuräumen, dann fetz' ich dir dieses Teil an den Kopf!" Shinya drehte sich erstaunt um und sah einen Jungen, der drohend ein riesiges Buch in Richtung Toshiya schwenkte. "Oh oh, ich glaube ich muss los... der macht sonst noch ernst! Wir sehen uns, ja?" Mit diesen Worten rannte Toshiya die Stufen wieder hinunter. Shinya lächelte glücklich. Er ging aus dem Hörsaal und machte sich auf den Weg zur Physik - Vorlesung. "Mensch Totchi. Wer war denn dieses süße Mädel das du da gerade zugetextet hast?" wollte der andere wissen, als Toshiya anfing in Anbetracht der Drohung mit einem Buch verhauen zu werden, die Tafel des Hörsaals wischte. "Das war erstens ein Kerl und zweitens weiß ich nicht, wie er heißt." der Angesprochene war froh, dass der Andere sein Gesicht nicht sehen konnte, denn die Farbe darauf hätte sogar den Haaren seines Bruders Konkurrenz gemacht. Shinya schwebte wie in Watte gepackt in seine Vorlesung. Er war glücklich, dass er Toshiya wieder getroffen hatte. Er mochte ihn - eine Tatsache die sich bei ihm, der gegenüber Fremden immer erst sehr argwöhnisch reagierte, sehr ungewöhnlich war. Vor allem in so kurzer Zeit. ++++++++++ Das Wasser klatschte an die Scheibe und wieder stürmte es. Das Licht der Deckenlampe begann zu flackern und schließlich ging es ganz aus. Der Sturm hatte wohl die Stromversorgung gestört. Shinya saß an seinem Schreibtisch und bereitete seine Philosophie - Vorlesung nach. Das angenehme Gefühl, dass er nach seiner Begegnung mit Toshiya gehabt hatte, war so schnell wieder verflogen, wie es gekommen war. Er verstand es ja selbst nicht einmal, wie ein völlig Fremder ihm ein Gefühl vermitteln konnte, dass dem ähnelte, was er als Glück kannte aber doch anders war. Er wusste nicht was er damit anfangen sollte, er war verwirrt. Ziellos begann er durch seine Wohnung zu laufen. Schlagzeug spielen konnte er um diese Uhrzeit wohl schlecht. Ein zweites Mal würde er sich sicher nicht ohne Ärgern der Nachbarn über deren Nachtruhe hinwegsetzen können. Er vermisste Miko. In den letzten Tagen hatte er kaum an sie gedacht. Seine Gedanken waren um Rika und Toshiya gekreist. Wie gerne würde er jetzt mit ihr quer über die Wiesen rennen, über die Reisterassen und zu all den Plätzen, die er so sehr liebte. Ob sie ihn auch vermisste? Sicherlich hatte es ihr das Herz gebrochen. Er sich schon so zerrissen fühlte, wie sollte es dann einem Tier gehen, dass seine Bezugsperson verloren hatte? In den Briefen seiner Eltern stand, dass der Hund seitdem wie ausgewechselt war, freudlos, und manchmal nur in einer Ecke lag. Das Gefühl, dem jetzt die Trauer weichen musste, war tiefstes Heimweh. Er wollte nicht hier in dieser Stadt bleiben. Hier, wo alles so grau war. Er wollte nach Hause. Zu seinem Hund, zu seinen Eltern, wollte zu Rikas Grab um ihr frische Blumen zu bringen... Er ließ sich auf sein Bett fallen. Auf was für einen Wahnsinn hatte er sich da nur eingelassen? Alleine in eine Großstadt zu ziehen. Er kannte zwar jetzt einige Leute, an den Ablauf an der Uni hatte er sich gewöhnt, aber es war nicht das Gleiche wie Zuhause. Dort musste er keine sinnlosen Vorträge über Physik über sich ergehen lassen, nicht vor allen Mitstudenten bloßgestellt werden, dort hatte er so viele Freiheiten. «Ich kann nicht mehr... Rika... Miko... okasan...otosan... bitte, ich will hier weg... ich schaffe es einfach nicht...» Von einem Weinkrampf geschüttelt und völlig entkräftet, fiel er schließlich in einen tiefen Schlaf, in dem ihn wirre Träume quälten. ++++++++++++ Die blasse Herbstsonne fiel auf Shinyas Gesicht und er setzte sich langsam auf. Es war kurz vor elf. An Uni war für ihn heute nicht zu denken stellte er nach einem Blick in den Spiegel fest. Tiefe Augenringe zierten sein Gesicht, das vom Weinen immer noch rot geschwollen war. Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Das Bild war wie immer unverändert. Die grauen Straßen, der Dreck auf den Gehwegen. Nur die wenigen Bäume waren jetzt kahl, die Blätter lagen überall verteilt und bildeten eine schmierige Schicht auf der Straße. Shinya starrte den Himmel an. Graue Wolkenfetzen jagten einander und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Sonne verschwunden war und es wieder anfangen würde zu regnen. Aber musste hier raus. Wenn er noch länger in dieser Wohnung bleiben würde, würde er wahnsinnig werden. Er zog seinen warmen Mantel aus dem Schrank und wühlte nach einem Schal. Die schwarzen Wollhandschuhe lagen noch neben seinem Schlagzeug. Shinya lehnte sich an die Wand des Fahrstuhls, der ratternd nach unten fuhr. Die silberne Wand ihm gegenüber spiegelte schemenhaft seine eigene zusammengesunkene Silhouette. Am liebsten hätte er auf sie eingeschlagen, damit sie verschwand. Aber ihm war klar, dass ihm das, außer Schmerzen nichts bringen würde. Er lief durch die Eingangslobby, der Boden war immer noch mit unzähligen Hochglanzprospekten bedeckt und Schriftzeichen in grellen Farben, die irgendwelche unsinnigen Produkte bewarben stachen ihm entgegen. Er stieß die Türen auf und trat ins Freie, ein kühler Wind wehte ihm entgegen. Nun würde er also wieder das machen, was er in den ersten Tagen nach seiner Ankunft so oft getan hatte - ziellos herumirren. Er lief durch den Park, in dem er Kaoru getroffen hatte immer weiter und weiter. Bis er schließlich vor einer großen Steintreppe zum Stehen kam. Ihm war egal wohin er lief, deshalb begann er die unzähligen Stufen hinauf zu steigen. Er durchschritt die großen roten torii*, schenkte ihnen aber keinerlei Beachtung. Verwirrt blickte Shinya um sich, als er bemerkte, dass der Verkehrslärm nicht mehr zu hören war. «Wo um alles in der Welt bin ich denn jetzt gelandet?» Er stand auf einem Hof, der umringt war von großen alten Bäumen, die über und über bedeckt waren mit weißen Papierstreifen und sich sachte im Wind wiegten. Die Zettel flatterten und raschelten. «Ein Schrein?» Im kamen die Worte Dies wieder in den Sinn. «...geh doch mal in einen Tempel... dort haben schon einige ihre Ruhe wieder gefunden, die sie ihrem Kummer aus den Augen verloren haben.» Und in der Tat, Shinya fühlte eine seltsame Ruhe, die sich in ihm ausbreitete. Lag es an der Stille, die hier herrschte, oder an den großen alten Bäumen, deren Rauschen im Wind nach ,Zuhause' klangen? Er konnte sich diese Frage nicht beantworten. «Naja, wenn ich schon hier bin, dann kann ich auch in den Tempel gehen. Ich glaube zwar nicht an Götter, aber schaden wird es mir ja wohl nicht.» Er beugte sich über das Wasserbecken, das vor dem Eingang des Hauptschreins stand und spülte sich mit dem eiskalten Wasser den Mund aus*. Er streifte seine Turnschuhe* ab und betrat den hölzernen Boden, der zum Altar führte. Das polierte Holz knarrte leise unter seinen Füßen. Er bewegte die dicke Kordel, klatschte in die Hände* und schloss die Augen. Was er beten sollte wusste er nicht. Es würde ja sowieso nichts bringen. Das was ihm wichtig war, hatte er verloren. Wofür sollte er also bitten? «Ich möchte endlich raus aus dieser beklemmenden Trauer. Ich will lächelnd an sie zurück denken. Warum geht das nicht? Ich kann nicht mehr...» Ein Geräusch riss ihn aus seiner Versunkenheit. Er drehte sich um und sah einen jungen Mann im Kimono eines Laienpriesters*, der die bunten Herbstblätter zusammenfegte. Seine Haare standen nach oben ab und hatten einen bläulichen Schimmer in dem tiefen schwarz. Als er sich umdrehte konnte Shinya sein Gesicht erkennen - es war Toshiya. Anmerkungen torii: Ein Schreingelände betritt man durch ein oder mehrere Schreintore (torii). Der Sinn neben der ganz speziellen Ästhetik besteht darin, den heiligen Bereich (also das Schreingelände) von der normalen Welt abzutrennen. Mundausspülen: Bevor man in einem Shinto - Tempel betet, spült man sich gemäß den Shinto - Riten den Mund aus und wäscht sich die Hände. Die rituelle Reinigung ist fester Bestandteil des Shintoismus, einer der beiden Hauptreligionen in Japan (die andere ist der Buddhismus, aber beide sind in Japan untrennbar miteinander verknüpft). Schuheausziehen: In Japan in einem Tempel Pflicht, ebenso wie in den Häusern. An jedem Schrein stehen extra zu diesem Zweck auch Regale, in denen die Besucher ihre Schuhe deponieren können. Man klatscht vor dem Beten in die Hände um die Aufmerksamkeit der Götter auf sich zu ziehen. Shintopriester: Wer Sailor Moon kennt wird sich sicherlich an den Kimono von Rei Hino erinnern. Was sie trägt ist das Gewand einer Miko (Laienpriesterin). Bei Männern ist die Hose gewöhnlich blau oder weiß (bei Frauen eigentlich immer rot), allerdings scheint das von Schrein zu Schrein zu variieren. Kapitel 5: teezeremonie ----------------------- "Was bringt dich denn hierher?" Toshiya schulterte den Besen und lief mit seinen klappernden Geta* auf Shinya zu. "Sag mal stimmt irgendwas nicht?" wollte er nach einem Blick in Shinyas gerötete Augen wissen. Der Andere schüttelte den Kopf. "Nein schon gut, es ist nichts." Toshiya seufzte. Dass es seinem Gegenüber nicht gut ging konnte er auf den ersten Blick erkennen. Aber wenn er nicht darüber reden wollte, konnte er ihn schlecht dazu zwingen. Schließlich kannten sie sich nur flüchtig. "Kommst du öfter hierher? Ich hab' dich noch nie hier gesehen!" Toshiya probierte mit einem unverfänglicheren Thema ein Gespräch in Gang zu bringen. "Nein, eigentlich nicht. Ich bin durch die Stadt gelaufen und dann nur durch Zufall hier rein gekommen." "Wow, so was kommt hier selten vor. Hättest du nicht eigentlich jetzt Uni?" Shinya schüttelte den Kopf. "Nein, ich wollte heute nicht unbedingt hingehen." "Kann ich verstehen. Mir war heute auch nicht so danach. In Philosophie stand was von Sokrates auf dem Programm - irgendso ein Zitat von wegen Tod und so... das wollte ich mir heute nicht wirklich antun! Und den Medieninfo - Prof hat die Grippe flachgelegt." Das war das Thema der heutigen Philosophie - Vorlesung erinnerte sich Shinya dunkel. Nur gut, dass er nicht hingegangen war. Das hätte er mit Sicherheit nicht verkraftet. "Äh, und was, äh machst du hier?" Shinya blickte auf die Kleider, die er am allerwenigsten an einem Menschen wie Toshiya erwartet hatte. "Mou, ich spiele hier mal wieder das Hausmädchen vom Dienst. Weil ich heute keine Lust auf Uni habe, wurde ich gleich dazu verdonnert, hier den Hof zu kehren. Weil ich ja sonst nichts zu tun habe." Sein Tonfall lies Shinya erkennen, dass Kehren offensichtlich nicht zu Toshiyas Lieblingsaufgaben gehörte. "Lust auf `nen heißen Tee? Du siehst aus, als wär' dir genauso kalt wie mir." stellte Toshiya mit einem Grinsen fest. Shinya nickte "Ja gern". Er war froh über das Angebot, so konnte er wenigstens bei Toshiya bleiben, denn das angenehme Kribbeln machte sich wieder in seinem Körper breit und verdrängte seine Traurigkeit. "Na dann komm." Toshiya packte Shinya am Ärmel und zog ihn hinter sich her, den Reisigbesen immer noch geschultert. «uh, er hat genauso kalte Hände wie ich» stellte dieser fest. Durch die Grübelei hatte er gar nicht bemerkt, dass er durch die Lauferei durch die Straßen Kyotos schon ganz ausgekühlt war. Sie kamen zu einer kleinen Tür an der Rückseite des Hauptschreins. Toshiya warf den Besen unter die Veranda, die das gesamte Gebäude umgab und stemmte sich an dieser nach oben. Shinya schaute ihn erstaunt an. "Was denn? Willst du hier festwachsen?" Toshiya lächelte von oben herab auf Shinya herab, der zweifelte, ob er ihm wirklich nachklettern sollte. Aber dort stehen bleiben konnte er auch nicht, so viel stand fest. Was bei Toshiya so leicht ausgesehen hatte, entpuppte sich für Shinya als ein kleines Problem. Toshiya war ein kleines bisschen größer als er selbst und außerdem hatte Shinya in solchen Aktionen keinerlei Übung. Er wäre ziemlich unsanft auf die Nase gefallen, hatte Toshiya ihn nicht aufgefangen und hochgezogen. "A..arigato" stammelte Shinya und sein von der Kälte bleiches Gesicht bekam einen rötlichen Schimmer. Toshiya hatte sich schon umgedreht und die Tür aufgeschoben, so dass keiner der beiden sehen konnte, dass der andere ebenfalls errötet war. "Komm rein." Der Raum den Shinya nun betrat, hatte keine Fenster sondern nur eine Art Feuerstelle in der Mitte, in der ein kleines Feuer brannte. Eine behagliche Wärme umfing ihn. Ansonsten gab es in dem Raum nur noch einen kleinen Altar und breite Stufe, die mit Tatami* belegt war. Auf dieser Stufe waren die Utensilien für eine Teezeremonie bereitgelegt. «Schön hier» Shinya schlüpfte aus seinen Schuhen, zog den Mantel aus und ließ sich auf den Tatami nieder. Toshiya kramte währenddessen in dem Schränkchen unter dem Hausaltar herum und förderte schließlich eine Schachtel mit Teebeuteln, einen Wasserkocher und zwei Tassen zutage. "Bin gleich wieder da, ich hol' nur schnell Wasser." Toshiya schob die Tür auf und ein kalter Luftzug durchströmte den Raum. "Hier, aber pass auf, er ist noch heiß" Toshiya reichte Shinya eine Tasse und ließ sich neben ihm nieder. Er hatte den Wasserkocher an einer geschickt versteckten Steckdose angeschlossen und so das Teewasser gekocht. Ihren heißen Tee pustend saßen die beiden schweigend nebeneinander und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Bis Toshiya unvermittelt das Schweigen brach: "Du, sag mal, wie heißt du eigentlich? Wir sind uns jetzt schon ein paar Mal über den Weg gelaufen und jedes Mal hab' ich vergessen zu fragen..." «Wir sehen uns heute genau das dritte Mal» dachte Shinya, aber laut sagte er: "Shinya". "Ist das eine Abkürzung, so wie bei mir von Toshimasa oder heißt du wirklich so?" "Nein, ich heiße wirklich Shinya" gab dieser zurück und musste unwillkürlich lächeln. «Eine Abkürzung... wovon denn? Denn Namen Shinmasa gibt es wohl hoffentlich noch nicht...» "Und wie alt bist du?" Toshiya war aufgrund des Aussehens des Anderen schon bei ihrer ersten Begegnung stutzig geworden. "Ich bin 17 geworden." "Was? Ist nicht wahr! Und da gehst du schon auf die Uni und studierst auch noch Physik?" er bekam vor Erstaunen den Mund nicht wieder zu. "Ich kann nichts dafür. Ich hab in der Grund- und Mittelschule einige Klassen übersprungen, weil ich den anderen immer so weit voraus war und die Lehrer meine Fragerei nicht mehr ertragen haben. Und mein Klassenlehrer hat mich dann eben frühzeitig für die Abschlussprüfung angemeldet. Von ihm hab' ich auch den Rat bekommen, mich für Physik einzuschreiben." versuchte sich Shinya zu rechtfertigen. "Das ist ja genial!" staunte Toshiya. "Das heißt, du wirst die naturwissenschaftlichen Gesetze neu schreiben... aber so wie ich dich das letzte Mal verstanden habe, macht dir dein Studium nicht besonders Spass, hm?" "Das ist es nicht... nur, das was in den Vorlesungen dran kommt..., das weiß ich schon alles und es ist nur die pure Wiederholung... und deshalb, äh langweile ich mich ziemlich. Und dann ist da noch Iwamoto-sensei. Der mag mich nicht..." "Und macht dir deshalb das Leben zur Hölle. Dann warst du das also mit der Tomate, oder? Die anderen aus der Vorlesung haben da was erzählt..." «Oh nein... jetzt weiß sogar schon Toshiya davon... und hält mich sicher für total daneben...» Shinya senkte beschämt den Kopf. "Hättest du die Tomate doch geworfen! Das hätte dem Alten sicher die dummen Sprüche ausgetrieben." Toshiya war nicht entgangen, dass dieser Vorfall den Jüngeren wirklich zu belasten schien. "Also ich hätte das gemacht. Ich kann den Kerl nicht ab, der ist total link und hackt liebend gern auf Schwächeren herum." ereiferte sich Toshiya. Shinya traute seinen Ohren nicht. «Das gleiche hätte Rika auch gesagt...» "Hier, eine Runde mikuji* ziehen!" Toshiya versuchte Shinya aufzuheitern und hielt ihm eine Handvoll gefaltete weiße Papierstreifen hin. "Mmmh?" Shinya blickte ihn erstaunt an. "Na, was auf den Zetteln steht wird bald eintreffen." lächelte Toshiya, "ob du daran glaubst oder nicht!" < Eine Begegnung kann ihr ganzes Leben verändern> stand auf dem Zettel, den Shinya gezogen hatte. Er zuckte ungläubig mit den Schultern. "Und, was hast du gezogen?" Toshiyas Kopf beugte sich über Shinyas Zettel. "Na das ist doch mal ein gutes Zeichen!" "Was hast du denn?" stand auf Toshiyas Zettel. "Ich hab mir allerdings abgewöhnt, meine Zettel zu ernst zu nehmen. Wenn man täglich so was in der Hand hat, weiß man irgendwann gar nicht mehr, wo einem der Kopf steht" "Täglich? Willst du Mönch werden?" Shinya blickte den Anderen erstaunt an. "Nein, Gott bewahre. Mein Vater ist der Kannushi* des Schreins und ich wohne praktisch im Tempel. Und dafür, dass ich hier den Mönch mime und nebenbei anfallende Tätigkeiten erledige, krieg ich von meinem Vater einen Extra-Taschengeldzuschuss." "Toshimasa! Wo steckst du schon wieder?" "Siehst du? Es geht schon wieder los." grinste Toshiya. "Oh, dann sollte ich jetzt besser gehen!" Shinya erhob sich, schlüpfte in seine Schuhe und mummelte sich wieder in seinen Mantel ein. "Du kannst jederzeit wieder herkommen. Mit dir kann man so schön reden." Shinya schob die Tür auf und die beiden traten ins Freie. "Also wir sehen uns, ja? Spätestens in Philosophie." Shinya nickte, sprang die Stufen hinunter und machte sich auf den Heimweg. Sein Gesicht glühte wieder und seine Hände zitterten. Toshiya sah ihm noch einen Moment nach, holte dann den Besen und ging ins Haus, wo Die schon gemütlich mit einer Tüte Chips auf dem Sofa lag. Anmerkungen Geta: traditionelle japanische Sandalen aus Holz Tatami: Traditioneller japanischer Bodenbelag aus fein geflochtenem Reisstroh, ca. 5 cm dick und 0,9x1,8m² Mikuji: Orakelzettel des Shintoismus Kannushi: Oberster Priester und Schreinwächter Kapitel 6: Interlude - Die (I) ------------------------------ Interlude: Die ( I ) "Na Die, alles fit?" schallte die Stimme über den Platz. Der Angesprochene verzog das Gesicht und drehte sich widerwillig um. Hideki schlenderte, die Hände in den Hosentaschen vergraben und eine Kippe lässig im Mundwinkel hängend, auf Die zu. Diese Stimme mit dem ätzend quietschigen Unterton, die ihn irgendwie immer an seine verhasste Mathelehrerin erinnerte, kannte er nur allzu gut. Hideki - sein Erzfeind aus der Oberschule. Wie es zu dieser Feindschaft gekommen war, wusste der Rothaarige selbst nicht einmal. Nur dass Hideki ihn wohl als das bevorzugte Opfer seiner Spötteleien auserkoren hatte. «Hideki*... dem haben seine Eltern echt den richtigen Namen verpasst. Bei dem sagt allein schon der Name, was für ein Charakterschwein der ist...» Was die Sache für Die allerdings so dramatisch machte war, dass sein Erzfeind immer genau zu wissen schien, welche Gemeinheit er zu welchem Zeitpunkt loslassen musste, um bei Die den größtmöglichen Schaden und den größtmöglichen Schmerz anzurichten. Und anscheinend hatte er auch eine Antenne dafür, wenn sich Die nicht hundertprozentig wohl fühlte. "Na, wie geht es denn unserem Schmalspurgitarristen? Sind alle Ohren noch heile?" "Danke, mir geht es prima." Die versuchte seine Stimme neutral klingen zu lassen, damit hideki keinen Anlass sah, weiter zu sticheln. Dass seine Stimme ja ach so zittere und ob er den etwa Angst vor dem lieben kleinen Hideki hätte. "Ja, dass sieht man. Hast ganz gut zugenommen. Die scheinen ihren Aushilfsmönch ja gut zu füttern. Bist schon ganz pummelig." Mit diesen Worten schenkte er Die ein strahlendes Lächeln und ließ ihn stehen. "Arsch" murmelte Die hinter ihm her "lern doch selber erst mal, wie rum man eine Gitarre überhaupt hält, bevor du an mir rummeckerst!" Innerlich kochend steckte er sich eine Zigarette an und versuchte nicht weiter über Hidekis, im Grunde lächerlichen, Angriff nachzudenken. Warum schaffte es dieser Idiot eigentlich immer wieder, ihn so aus der Bahn zu werfen? Er ging über den Platz und ließ sich unter dem großen Baum am Rande des Uni-Sportgeländes fallen. Hierhin kam er immer, wenn er zwischen den Vorlesungen das Bedürfnis hatte, allein zu sein. Der Stamm des Baumes war so breit, dass man Die vom Platz vor der Uni nicht sehen konnte und die Werbetafeln der Sponsoren, die das Sportgelände umsäumten, behinderten die freie Sicht auf die Stelle, an der er jetzt saß. Der Rothaarige zündete sich eine neue Zigarette an, schloss die Augen und lehnte sich an den Stamm... bis er, erschreckt von einem plötzlichen Pieksen in der Wange wieder auffuhr. "Hier hast du dich also verkrochen" grinste Kyo, den Die nicht einmal hatte kommen hören, ihn an und nahm ihm die Kippe aus den Fingern. Er zog daran und schnippte sie dann über die Werbetafeln auf das Sportgelände. "Sag mal, was hat dich denn gebissen?" wollte Kyo nach einem Blick auf die finstere Miene des Anderen wissen. "Hideki..." "Ach und wegen diesem Flachwxxxxxx lässt du dir die Laune verderben? Dem hätte ich schon längst eine rein gehauen, wenn ich du wäre! Wegen so `nem geistigen Tiefflieger würd' ich mir keine grauen Haare wachsen lassen..." bemerkte Kyo mit einem schmunzelnden Blick auf Dies feuerrote Mähne. Die seufzte. "Naja, eigentlich wollte ich dich ja nur fragen, ob du mit in die Mensa kommst. Ich hab nämlich Hunger!" Kyo wedelte mit der Hand vor Dies Nase hin und her. «Stimmt, Hunger hätte ich auch» mit diesem Gedanken ergriff er Kyos ausgestreckte Hand und ließ sich hoch ziehen. "Was gibt's den heute?" wollte Die wissen. Kyo zuckte mit den Schultern und häufte sich weiter sein Tablett voll. Salat, Reis, Pudding, Nudeln... eine kunterbunte Mischung türmte sich mittlerweile vor der Nase des Blonden auf. "Und das willst du wirklich alles essen?" Die traute seinen Augen nicht. "Klar, was sonst?" ertönte es hinter dem Essensberg hervor. Der Rothaarige schüttelte nur noch den Kopf. "Sag mal Kyo, hab ich eigentlich zugenommen in letzter Zeit?" Kyo schaute von seiner Esserei auf und musterte Die mit einem Blick des Erstaunens. "Wie kommst du denn jetzt darauf?" "Nur so. Also hab ich oder hab ich nicht?" "N' bisschen vielleicht, aber nicht viel. Nur leichte Pausbäckchen hast du gekriegt. Macht wohl das viele gute Essen in der Mensa und mit Kaoru, ne?" Kyo piekste Die mit der Rückseite seiner Stäbchen in die Wange. Dieser wehrte ärgerlich ab "Lass das!". "Mmmh" Kyo zuckte mit den Schultern und machte sich wieder über sein Essen her, während Die nachdenklich in seinem Reis herumstocherte. ++++++++++++++ Zuhause angekommen riss sich Die zuerst die Kleider vom Leib und stellte sich nur mit Boxershorts bekleidet vor den Spiegel in seinem Zimmer. Dick war er eigentlich nicht. Er hatte das, was man im Allgemeinen eine gute Figur nennen würde. Nicht perfekt, aber schlank. Er drehte sich kritisch hin und her, bis sich schließlich eine drückende Unzufriedenheit einstellte. Ja, er war zu fett, hatte fürchterliche Pausbacken. Es war ja sogar schon Kyo aufgefallen. Und am Bauch - keine Muskeln sondern nur Fett. Einfach widerlich. Warum war es ihm selbst nicht aufgefallen? Hatte er es sich erst von Hideki auf die Nase binden lassen müssen? Vielleicht war das ja der wahre Grund dafür, dass ihn seine Ex hatte sitzen lassen. Vermutlich sah ihr Neuer um Längen besser aus als er. "Naja, Scheiß drauf, was soll's? Vorbei ist vorbei und warum soll ich ihr ewig nachtrauern?" Die wühlte im Schrank nach einem weiten Pulli und einer bequemen Hose, schnappte sich eine Tüte Chips und ließ sich auf das Sofa vor den Fernseher fallen. "Tadaimaaaaaaaaaaaaaaa!*" schallte Toshiyas Stimmer durch den Flur. "Okaeri nasai*" gab Die monoton zurück. Toshiya tappte ins Wohnzimmer. "Was guckst du denn da Schönes?" wollte er wissen, als er sich Die von hinten näherte, ihn mit einem Arm schelmisch grinsend umschlang um gleichzeitig mit der anderen Hand genüsslich in die Chipstüte zu greifen. "He, Finger raus, das sind meine!" beschwerte sich Die. "Och komm Brüderchen, ich lass dich doch nicht alleine dick werden" lachte Toshiya. <...nach einer Studie der WHO* verfettet die Bevölkerung in den Industrieländern zunehmend. Ursache hierfür ist vor allem der steigende Konsum von Süßwaren sowie der Bewegungsmangel...> ertönte die Stimme der Nachrichtensprecherin aus dem Fernseher. "Siehst du, die sagen das auch! Also, rück die Tüte raus!" trompetete Toshiya an Dies Ohr. Das war zuviel für Die. Brechreiz stieg in ihm auf. Er befreite sich aus Toshiyas Umklammerung, warf die Chipstüte von sich und rannte ins Bad. Er schaffte es gerade noch bis zur Toilette und begann sich zu übergeben. Als er Minuten später in Richtung seines Zimmers taumelte spürte er auf einmal eine warme Hand auf seiner Schulter. "Alles okay?" hörte er die besorgte Stimme seines jüngeren Bruders, die durch den Nebel drang, der sich um seinen Kopf gelegt hatte. "Mmmh... hab wohl heute ein bisschen zu viel gefressen..." murmelte er. Er schloss die Tür hinter sich und Toshiya blieb kopfschüttelnd auf dem Flur zurück. «Was ist nur mit dem Großen los? Der haut doch sonst rein wie Kyo und es macht ihm nichts aus... naja, vielleicht war das Mensaessen nicht gut oder so..." Die ließ sich an seiner Tür hinab auf den Boden gleiten und schlang die Arme um seine zitternden Knie. "Scheiße... ab jetzt werde ich echt eine Diät machen. Und Sport treiben. Ich werde einfach solange fasten, bis ich endlich wieder schlank bin." Anmerkungen Hideki: der Name bedeutet übersetzt soviel wie "mit dem Finger auf etwas zeigen/deuten" - allerdings eher im positiven Sinne und nicht so etwas wie Die meint, nämlich spöttisch mit dem Finger auf jemanden zeigen. "Tadaima": sagt man in Japan wenn man nach Hause kommt. (Wenn man eine fremde Wohnung betritt sagt man allerdings "Ojamashimasu") "Okaeri (nasai)": gibt derjenige als Antwort auf Tadaima der zu Hause ist. "Okaeri nasai" ist nur die höflichere Variante, normalerweise sagt man umgangssprachlich nur "okaeri". WHO (world health organisation): Weltgesundheitsorganisation Kapitel 7: Interlude Kyo (I) ---------------------------- Es klingelte. Kyo erhob sich aus der kauernden Position in der er letzten paar Stunden verbracht hatte. Ein Blick durch den Türspion sagte ihm, dass dort eine der Personen stand, die zu sehen er am Allerwenigsten das Bedürfnis hegte - seine Mutter. Aber was blieb ihm anderes übrig, als zu öffnen. "Hallo Tooru -chan. Darf ich reinkommen?" flüsterte sie heiser. Kyo schwieg und trat einen Schritt zur Seite. "Ich hab dir auch was mitgebracht." Sie zog das Tuch von einem Korb der neben einigen Äpfeln einige Flaschen und Einmachgläser enthielt. "Das kannst du doch sicher gebrauchen, oder?" unsicher lächelte sie ihren Sohn an, der sie bis jetzt schweigend gemustert hatte. "Stell das Zeug einfach dahin." er deutete auf die Anrichte in der Küche. Er wusste, dass sie wieder unter starken Antidepressiva stehen musste. Die fahrigen, unsicheren Bewegungen und die geweiteten Pupillen verrieten sie. "Was willst du?" Kyo machte sich nicht die Mühe, die Abscheu, die er empfand, zu verbergen. "Tooru - chan, deinem Vater geht es nicht gut, sie haben ihn vorgestern Morgen in die Klinik gebracht. Verdacht auf Leberkrebs." "Wundert dich das? Mich nicht. Es war sowieso nur noch eine Frage der Zeit, bis der Alte endlich mal die Quittung für sein Leben bekommt." "Aber Tooru! Er ist doch dein Vater..." Kyos Mutter blickte ihn entsetzt an und ihre Stimme zitterte. "Vater... Pah! Erzeuger, das trifft es wohl eher, meinst du nicht auch?" Seine Stimme war eiskalt und verbarg den Schmerz, der jetzt in seinem Inneren brannte. "Willst du ihn nicht wenigstens einmal besuchen? Er braucht dich..." die Stimme seiner Mutter klang flehend. "Was der braucht ist nur seine Schnapsflasche und sonst nichts, das weißt du ganz genau." «Geh endlich. Hau ab und lass mich allein. Hör auf, alles wieder auszugraben, was ich gerade erst verdrängt habe. Hau endlich ab!» "Aber..." "Ich werde ihn nicht besuchen. Du weißt ganz genau warum!" unterbrach Kyo frostig einen erneuten Versuch seiner Mutter. Diese erhob sich jetzt schweigend von dem Küchenstuhl, auf dem sie bis jetzt zusammengekauert gesessen hatte. In ihren Augen konnte er gerade noch die Wut sehen, die wohl die dämpfende Wirkung der Medikamente überwunden hatte, und dann spürte er einen festen Schlag in seinem Gesicht. Die Tür fiel krachend ins Schloss und es herrschte Stille. «Scheiße» Blut rann aus seiner Nase und tropfte auf die Tischplatte vor ihm. Er wusste, dass der Schlag seiner Mutter einen blauen Fleck in seiner blassen Haut hinterlassen würde. Er wischte das Blut mit dem Ärmel weg. Ausgerechnet heute musste seine Mutter hier auftauchen, wo er doch mit Ayumi verabredet war. Ayumi war seine Freundin geworden, nachdem er mit Mineko Schluss gemacht hatte. Aber auch bei ihr war es wie bei ihren Vorgängerinnen. Er war zwar mit ihr zusammen, konnte für eine kurze Zeitspanne Spass mit ihr haben - aber Liebe war es nicht. Er hatte keine Frau in seinem Leben jemals geliebt, sie waren für ihn nur Mittel zum Zweck gewesen, nämlich um zu vergessen. Die Realität um nur einen kurzen Augenblick zur Seite schieben zu können. ++++++++++ "Du gehst?" Ayumi richtete sich auf und schlang die dünne Bettdecke um ihren nackten Körper. Kyo suchte seine Kleider zusammen, die um das Bett herum verstreut lagen und begann sich anzuziehen. Er rieb mit einem einer Ecke der Bettdecke über seine nackte Brust um die Spuren von ihrem blassrosa Lippenstift von seiner Haut zu entfernen. «Wie Male in auf meine Haut gepresst... wie ein Stigma» Als er angezogen war drehte er sich ihr um. "Ayumi, sei mir nicht böse, aber es ist aus zwischen uns beiden!" Er sah, wie sich ihre Augen weiteten und mit Tränen zu füllen begannen. "Aber, warum, was... was habe ich denn falsch gemacht?" quetschte sie hervor. "Nichts, aber ich liebe eine Andere." «Eine eiskalte Lüge... aber wie soll ich jemandem klar machen, der mich liebt, dass ich mich selbst nicht dazu in der Lage sehe?» Er drehte sich um, schloss die Tür hinter sich und ging. Er wollte ihre weitere Reaktion lieber nicht abwarten, er wusste ja, dass sie so reagieren würde, wie alle anderen vor ihr. Entweder mit weiteren Weinattacken oder mit wüsten Beschimpfungen. «Wohl er mit Geheule... sie ist nicht der Typ, der jemandem Schimpfwörter an den Kopf haut» Ein falsches Grinsen huschte über sein Gesicht. Er stieg in die U-Bahn, die ihn zurück zu seiner Wohnung bringen würde, ließ sich auf einen Platz in dem leeren Wagen fallen und zündete sich eine Zigarette an. Er lehnte den Kopf an die Scheibe und sah hinaus, wie die grauen Betonwände, an manchen Stellen wagemutig mit Grafitti beschmiert, an ihm vorbeizogen. Er ließ den Abend Revue passieren. Sie waren in einer kleinen Karaokebar gewesen, in die ihn Ayumi gezerrt hatte. Sie hatte ihn nicht überreden können, mit ihr zu singen. Also hatte sie sich alleine hinter das Mikro gestellt und ein Lied zum Besten gegeben. Ausgerechnet von Britney Spears, die für Kyo nur ein Beispiel von absoluter Anti - Musik war. Nachdem Kyo keine Lust mehr hatte, sich weiteres Gejaule in dieser Richtung anzuhören, waren sie zu Ayumi nach Hause gefahren. Sie waren schließlich in ihrem Bett gelandet. Er hätte an diesem Abend nicht wirklich Sex haben müssen, aber Ayumi hatte beschlossen, ihn für den Karaokebar - Besuch zu entschädigen. Er war vor seiner Haustür angekommen und suchte nach dem Schlüssel. Er war froh, dass er endlich wieder in seinen eigenen vier Wänden war. Seine Haut fühlte sich an, als würde sie immer noch mit Lippenstift befleckt sein. Er riss die Klamotten, die nach einer Mischung aus kaltem Rauch, Bar und ihrem Parfüm rochen, von seinem Körper und stellte sich unter die Dusche. Sie hatte ihm das zerrissene Hemd ausgezogen und seinen Oberkörper mit Küssen bedacht. Hatte sich und ihn schließlich ganz entkleidet... Kyo schüttelte sich bei diesem Gedanken. Er ekelte sich regelrecht davor. Das war eines von den Dingen, die er am meisten hasste. Er hasste es, sich einem anderen Menschen körperlich so auszuliefern. Solange er die Führung übernehmen konnte, war es okay. Aber anders herum... Er drehte das Wasser ab und schlang sich ein Handtuch um die Hüften. Ein Blick in den Spiegel an der Wand zeigte ihm, dass die Stelle, an der seine Mutter ihn getroffen hatte, blau geworden war. Jetzt, da er sich die Schminke abgewaschen hatte, war es deutlich zu erkennen. Im blassen Licht, dass von der Straße in sein Zimmer fiel, konnte er deutlich die Umrisse seines Körpers im großen Spiegel seines Schrankes erkennen. Da war dieses kleine blonde etwas, das er selbst war und starrte ihm entgegen. Musterte ihn überall. Ließ den Blick über seine schmalen Hüften gleiten. Den Oberkörper entlang bis hinauf ins Gesicht und sah ihm in die Augen. Verzog hasserfüllt das Gesicht, holte aus und schlug zu. Mitten in sein eigenes Abbild. Scherben fielen klirrend auf den Boden. Dort, an der Stelle, an der die Haut das Herz bedeckte klaffte ein schwarzes Loch, von Rissen im Spiegel umgeben. «Wie passend... mitten ins Herz... da ist doch sowieso nichts mehr vorhanden... oder würde ein Mensch der so etwas besitzt SO mit denen, die mich lieben umgehen? ... herzlos... es passt.» Blut rann seine Hand hinunter. Er bückte sich, nahm eine Scherbe und zerquetschte sie in einem Schwall warmen roten Blutes. Er ließ sie wieder fallen und Blickte erneut sein Spiegelbild an. Er hob die Hand und begann sich selbst nachzuzeichnen. Rote Streifen zogen sich über den gesprungenen Spiegel. Er hasste sich. Seinen Körper. Seine Vergangenheit. Seine Mutter. Und Ayumi. Aber am meisten sich selbst. Kyo torkelte rückwärts, stolperte über eine Falte seines Bettvorlegers und fiel der Länge nach auf den Rücken. Es tat weh, denn sein Schmerzempfinden kehrte langsam zurück. Aber er hatte keine Kraft mehr, wieder aufzustehen. Da war sie wieder... die grausame Erinnerung an seine verkorkste Kindheit. Sie überfiel ihn jedes Mal, wenn er sowieso schon am Boden zerstört war. Er schlug sich die Hände vors Gesicht. Wie ein Film zog Erinnerung für Erinnerung an ihm vorbei. Er konnte es nicht abstellen... Die Erinnerung, die am weitesten in seine Kindheit zurückreichte war das Bild einer zerknüllten Zigarettenschachtel und der Geruch von Alkohol. Sein Vater trank, solange er zurückdenken konnte. Wenn er abends von der Arbeit kam, war oftmals bereits betrunken. Oder er kam mitten in der Nacht nach Hause zurück und riss ihn durch sein wütendes Gebrüll wieder aus dem Schlaf. Wie oft hatte er ihn geschlagen, wenn er sich nicht rechtzeitig versteckt hatte? Er wusste es nicht. Die blauen Flecken waren verblasst, aber die Narben an seiner Seele waren geblieben. Seine Mutter hatte sich nicht gewehrt. Stattdessen war sie depressiv geworden. Ihren Kummer betäubte sie mit Schmerz- und Schlaftabletten. Schließlich war sie ausgezogen. Aber von ihrem Mann hatte sie sich nie ganz lösen können. Immer wieder ging sie zu ihm, blieb einige Tage dort und kehrte eingeschüchtert und mit Striemen am Hals wieder zurück. Eines Tages war sie auf offener Straße schreiend zusammengebrochen. Man hatte sie in eine geschlossene Anstalt eingeliefert. Das war als Kyo gerade zehn Jahre geworden war. Kyo, damals noch zu klein um alleine in der Wohnung bleiben zu können, wurde von einer Freundin seiner Mutter aufgenommen. Er hatte sie nicht gemocht. Jetzt hasste er sie. Tante Teiko hatte er sie nennen müssen. Teiko... geschrieben mit den Kanji für rechtschaffen und Kind. Der Name - eine einzige Lüge. Kyo begann bei dem Gedanken an sie zu zittern. Er schlang sich die Arme um seinen Bauch, als wolle er seine Gedanken davon abhalten, über ihn herzufallen. Herzufallen so wie sie es getan hatte. Als er zu ihr kam, hatte sie ihn mit einem Lächeln empfangen. Es sollte wohl freundlich aussehen, aber Kyo hatte mit dem sicheren Instinkt eines Kindes gespürt, dass sich etwas anderes hinter dieser Fassade verbergen musste. Die ersten Wochen war alles gut gegangen. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Ärzte ihm die Besuche bei seiner Mutter untersagt hatten, weil sie fürchteten, dass sie ihrem Sohn etwas antun könnte. An diesem Abend hatte Teiko darauf bestanden, dass er mit ihr badete. Sie hatte ihn überall berührt und ihm feuchte Küsse auf die Haut gedrückt. Er hatte geweint und sie angefleht, dass damit aufhören soll. Aber sie hatte sich nicht darum gekümmert. Immer wieder und wieder hatte sie seinen kleinen Körper missbraucht. Irgendwann hatte er nicht mehr geweint, sich nicht mehr gewehrt. Er hatte es einfach über sich ergehen lassen und seine Gefühle verschlossen bis er nichts mehr fühlte, außer einem dumpfen Schmerz. Er fühlte sich nur noch schmutzig. Nach über 3 Jahren wurde seine Mutter schließlich entlassen. Zugepumpt mit Psychopharmaka. Kyo war froh, endlich wieder zu seiner Mutter zurückzukommen. Doch gleichzeitig begann er sie dafür zu hassen, dass sie zuließ, was Teiko mit ihm machte. Als er es ihr erzählt hatte, hatte sie nur mit den Schultern gezuckt und weiter vor sich hingedämmert. Und ihn jedes Mal, wenn sie für einige Tage zurück in die Klinik musste, zu Teiko geschickt. Eines Tages fand Kyo seine Mutter weinend im Wohnzimmer auf. Teiko war tot. Sie hatte sich das Leben genommen mit einer Überdosis Schlaftabletten. Die Urne, die in die Erde hinab gelassen wurde, war das letzte, was Kyo von ihr sah. Seine Mutter und er waren die einzigen, die der Zeremonie beiwohnten. Trotzdem hinterließ Teiko immer noch ihre Spuren in Kyos Leben. Sie hatte ihm ihr Vermögen vermacht. Blutgeld - wie als Bezahlung dafür, was sie ihm angetan hatte. Seine Mutter hatte ihn in einem klaren Moment dazu gedrängt, das Erbe anzunehmen. So war zumindest seine finanzielle Zukunft gesichert, bis er studiert hatte, und eigenes Geld verdienen konnte. Seinen Vater hatte Kyo kaum noch gesehen, seit er mit seiner Mutter ausgezogen war. Mit dem Geld, das Teiko ihm hinterlassen hatte, war er mit fünfzehn zu Hause ausgezogen. Er lachte nicht mehr und die Schule war ihm egal. Seine Seele war kaputt, in tausend Fetzen zerrissen worden. Als er Kaoru und Die kennen gelernt hatte, und feststellte, dass es doch noch Menschen gab, die ihn nicht betrogen oder misshandelten, und die selbst noch Ziele hatten, erkannte Kyo, dass er doch noch so viel Kraft in sich hatte, um weiter zu kämpfen. Er musste die Schule fertig machen, koste es was es wolle, damit er mit ihnen zusammen auf die Uni gehen konnte. Alles, was von seiner Vergangenheit übrig geblieben war, war die Erinnerung, die ihn immer wieder überfiel. Phasen, in denen er sich selbst verletzte, damit er sich selbst wieder spürte. Teikos Geld, das ihm ein relativ unabhängiges Leben ermöglichte. Und die Angst, von anderen beherrscht zu werden. Kyo richtete sich langsam auf. Sein Körper schmerzte und die Wunde in seiner Hand blutete noch immer. Er setzte sich aufs Bett und stützte den Kopf in die unverletzte Hand. Wie hatte Kaoru ihn neulich genannt? Notgeiler Weiberheld... Ein falsches Lachen zog sich über sein Gesicht. «Kaoru... wenn du wüsstest... aber woher denn auch... ich kann mit niemandem darüber sprechen... warum und wieso... selbst du, der irgendwie immer mitbekommt wenn es irgendwo brennt... selbst du siehst nicht, dass das für mich kein Spass ist... dass ich mir von den Frauen etwas erhoffe, was ich selbst nicht kann... und wenn ich sie dann soweit gebracht habe, quält mich mein Gewissen, und die ganze Scheiße holt mich wieder ein...die ganzen Frauen... sie sind doch nur da, weil ich nicht alleine sein will...» Kyo ließ sich nach hinten fallen. «Aber es hat keinen Zweck... es ist alles so absurd... ich kann tun, was ich will... alles was ich machen kann, ist Texte schreiben und sie vor mir selbst hinausschreien... und dann verhallen sie ungehört in einem leeren Raum... ich kann andere mit meinem dummen Gerede zu Lachen bringen... auch wenn mir innerlich das Wasser bis zum Hals steht...» Zitternd schlief Kyo irgendwann ein, immer noch nur mit dem dünnen Handtuch bedeckt. Das Blut aus seiner Hand versickerte geräuschlos in seiner Bettdecke, bis auch diese Wunde irgendwann von einer dunklen roten Kruste bedeckt war. Kapitel 8: Uni? --------------- «Da ist Toshiya» durchfuhr es Shinya. Er hatte entgegen seiner Gewohnheit in der vorletzten Reihe des Hörsaals ganz am Rand Platz genommen. Er saß extra so, dass er den Eingang gut beobachten konnte. Da stand Toshiya und blickte sich suchend um. Den Kimono ihrer letzten Begegnung hatte er gegen lässige schwarze Baggys, an der Ketten baumelten und einen weiten weißen Pulli mit dem Schriftzug einer Sportfirma eingetauscht. Die Haare standen wieder wirr in alle Richtungen gegelt von seinem Kopf ab. «Er sieht so gut aus...» Shinya musste sich wegdrehen, da im das Blut schon wieder in den Kopf stieg. "Da bist du ja schon. Rutscht du für mich einen weiter?" Toshiya ließ sich auf den Platz neben Shinya fallen. "Bist du vorgestern noch ohne größere Gefrierbeulen heimgekommen?" er warf Shinya ein entwaffnendes Lächeln zu. "Eh eeh, ja!" stotterte dieser, von Toshiyas Lächeln völlig geblendet. Nach einer Kurzen Überlegung meinte Toshiya: "Magst du nach der Vorlesung mit zu mir kommen? Oder hast du schon was anderes vor?" "Nein, eigentlich... äh nicht..." überrascht schaute Shinya den Anderen an. "Heißt das, du kommst mit? Super, ich hab' gestern Ohagi* gemacht, die musst du unbedingt probieren!" Shinya kam nicht mehr zu einer Antwort, denn die Vorlesung hatte begonnen und die Studenten begannen eifrig mitzuschreiben. Aber statt zuzuhören begannen seine Gedanken zu wirbeln. Ohne es zu merken, begann er, auf seinem Block Blümchen zu malen. Toshiya, dem dies nicht entgangen war, begann zu grinsen. «Warum lädt er mich einfach so zu sich ein? Und er hat sich extra zu mir gesetzt... Und er kann kochen? Oh nein... da ist es wieder, dieses Kribbeln... Shinya!!! Hör auf, dich da jetzt reinzusteigern und konzentrier dich, Donnerwetter noch einmal... Ich benehme mich ja schon wie ein kleines Kind, dem man einen Lutscher vor die Nase hält... Stopp... du wirst dich jetzt zusammenreißen und konzentrieren...» Shinya riss sich mühsam aus seinen Gedanken und wollte ansetzten, endlich auch mit zu schreiben, als er bemerkte, das sein Block mit lauter Kritzeleien verziert war. «Hoffentlich hat Toshiya das nicht bemerkt... ich benehme mich wirklich wie ein kleines Kind...» Vorsichtig schielte er zu diesem hinüber. Dieser saß gedankenverloren auf seinem Platz und kaute an seinem Kugelschreiber herum. Ihn beschäftigten ähnliche Gedanken. «Warum hab' ich ihn eingeladen, mit zu mir zu kommen? Ich hab ihm ja nicht mal eine Wahl gelassen... Scheiße, was bin ich nur für ein Idiot... es ist bestimmt keine gute Idee, den Kleinen so zu überfallen... er hat bestimmt seine Gründe, dass er neulich bei uns im Tempel aufgetaucht ist... er sah so schrecklich fertig aus... ich sollte mal vorsichtig nachhaken... Toshimasa, reiß dich endlich zusammen, es geht dich nichts an...» Erstaunt blickte Shinya auf den Zettel, den Toshiya ihm in den Block schob. Shinya fühlte sich durchschaut. Aber zum ersten Mal machte es ihm nichts aus. Das seltsame Kribbeln stieg wieder in ihm auf. Shinya hob den Kopf und blickte den Anderen fragend an. Toshiya setzte wieder sein entwaffnendes Lächeln auf. schrieb er auf den Zettel. Shinya nickte. < Okay, darf ich dann diese Woche mal bei dir vorbei schauen? Mit den Drums könnte es etwas umständlich werden, zu mir zu kommen, mmh?> Ein zartes Lächeln huschte über Shinyas Gesicht. Dann würde er, sobald er heute von Toshiya zurückkam wieder die ganze Nacht üben. "Ich muss mich nur schnell umziehen und die Ohagi holen gehen. Gehst du schon mal vor und machst Tee?" Ohne Shinyas Antwort abzuwarten lief er in Richtung Wohnhaus. Nach der Vorlesung waren sie gleich mit der U-Bahn zu Toshiya gefahren. Eigentlich hätte Shinya noch eine Physik - Vorlesung über sich ergehen lassen müssen und auch Toshiya hatte Informatik in den Wind geschlagen. «Mmh, wie komm' ich da jetzt unfallfrei hoch?» Shinya stand wieder vor der Veranda die ihn von der kleinen Tür an der Rückseite des Tempels trennte. Dieses Mal war kein Toshiya da, der ihn auffangen könnte. Er stützte die Hände auf das blank polierte Holz und begann sich hochzustemmen, als er plötzlich zwei starke Hände an seiner Hüfte spürte, die ihn nach oben hoben. Erschrocken drehte er sich um. Lächelnd stand Toshiya hinter ihm, wieder in dem Kimono, den er schon kannte. "Ich glaube, du musst noch ein bisschen üben, was?" Shinya spürte sein Herz bis zum Hals klopfen und er lief wieder rot an. "Mach dir nichts draus. Ich mach das schon, so lange ich denken kann. Und seit ich ein bisschen gewachsen bin, geht es ganz schnell." Mit einem einzigen Schwung saß Toshiya neben ihm. Er stand auf und hielt Shinya die Hand hin. "Na komm." Shinya zog sich an der warmen Hand nach oben. Toshiya hob den Teller mit den Reisbällchen auf und schob die kleine Tür auf. Shinya folgte ihm. Wieder war es warm in dem kleinen Raum und das kleine Feuer brannte immer noch in der Mitte. "Du, Toshiya, was ist das eigentlich für ein Raum?" Toshiya schaute Shinya mit einem undeutbaren Blick in die Augen "Eigentlich ein Meditationsraum. Aber weißt du, ich nutze ihn für mich, wenn ich meine Ruhe haben will und ein bisschen Abstand von der Welt brauche." Er seufzte. "Hier kommt sonst keiner her." fügte er noch hinzu. Shinya lächelte nachdenklich. Ja, das konnte er verstehen. Nur, dass er immer spazieren gegangen war, zusammen mit Miko, wenn er alleine sein wollte. "Hier magst du?" Toshiya hielt den Teller vor Shinya hin. "Ja, gerne" Shinya nahm ein Ohagi und biss hinein. "Die sind gut... aber warum, äh..." "... Ich kochen kann?" beendete der andere den Satz. "Naja, weißt du, meine Mutter war vor einiger Zeit mal sehr krank und wenn ich etwas Warmes zu Essen haben wollte, musste ich es mir selbst machen. Mein Vater war zu beschäftigt und mein Bruder schlichtweg zu bequem. Also hab ich mir Mamas großes Kochbuch geschnappt und drauf los probiert. Und das ist dabei herausgekommen." Schweigend verspeisten die beiden gemeinsam die Reisbällchen. Shinya musterte Toshiya aus dem Augenwinkel. Der Andere saß mit nachdenklichem Gesichtsausdruck neben ihm. Auch wenn Shinya sonst kein allzu großer Verfechter von Tradition und Religion war, musste er doch feststellen, dass Toshiya auch in einem Kimono extrem gut aussah. "Du siehst aus, als wolltest du mich etwas fragen" bemerkte Toshiya, dem Shinyas Blicke nicht entgangen waren. "Wunderst du dich, dass ich schon wieder in diesem Aufzug hier herumlaufe?" Shinya nickte und wunderte sich erneut, dass der Toshiya seine Gedanken immer auf den Punkt genau erfassen konnte. "Naja, ich hab dir doch erzählt, dass Papa mir dafür mehr Taschengeld gibt, dass ich einen auf Mönch mache. Also das heißt, dass ich solange ich mich auf dem Schreingelände bewege, diese Klamotten anhaben muss. Im Haus ist das natürlich etwas anderes. Aber so unbequem wie die Klamotten aussehen, sind sie gar nicht und ich hab mich dran gewöhnt..." "Aber kann ich dich mal was fragen? Warum warst du neulich so down? Du schienst geweint zu haben..." Shinya senkte bei Toshiyas Frage den Kopf, als er merkte, dass ihm das Wasser schon wieder in die Augen stieg. Er schämte sich, dass man ihm so deutlich angesehen hatte, dass er am Boden zerstört war. Er schämte sich, dass er die Trauer um Rika und sein Heimweh nicht knallhart nehmen konnte, so wie es doch von Männern erwartet wurde. Er wollte andere Menschen nicht mit seinen Problemen und Gefühlen belästigen. "Hey, du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst oder kannst. Es tut mir leid, dass ich da womöglich wieder was aufgerissen hab." Toshiya nahm den Jüngeren, der seine Tränen nun nicht mehr zurückhalten konnte in den Arm und zog seinen Oberkörper sanft auf seinen Schoss. Shinya umklammerte Toshiyas Knie, als würden ihn diese vor dem Ertrinken bewahren. Toshiya begann beruhigend über Shinyas Nacken zu streicheln. Er tat ihm leid. Da schleppte er ein Problem mit sich herum und das schien ihn kaputt zu machen. Wenn er ihm doch nur helfen könnte. Langsam ließ das Schluchzen nach. Shinya richtete sich langsam wieder auf und sah Toshiya mit seinen feuchten Augen an. "Es tut mir leid" flüsterte er. "Ich wollte dich nicht belästigen." Toshiya hob die Hand und strich sanft die Tränen aus Shinyas Gesicht. "Schon gut, du belästigst mich doch nicht. Weißt du, wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, ich bin für dich da, ja?" er zog Shinya noch einmal kurz in seine Arme. "Danke" kam es leise geflüstert zurück. das Piepsen von Shinyas Handy ließ beide erschreckt zusammenfahren. Shinya löste sich vorsichtig aus Toshiyas Umarmung und begann in seinem Rucksack nach seinem Handy zu kramen. Auch Toshiya begann in den Falten seines Kimono zu graben, als er den Vibrationsalarm spürte. "Du Toshiya, ich muss los glaube ich..." sagte Shinya, als er die SMS gelesen hatte. Sie war von Kaoru, der ihn fragte, ob er mit ihm und den Anderen in der kleinen Kneipe etwas trinken kommen würde. Da er ihn schon das letzte Mal so versetzt hatte, konnte er es unmöglich schon wieder tun. "Ich auch" lächelte Toshiya, als er seine SMS gelesen hatte. "Aber warte mal, gibst du mir noch deine Adresse? Dann komm' ich bei dir vorbei und wir spielen zusammen, ja?" Shinya nickte und nannte sie ihm. Dann verbeugte er sich kurz zum Abschied und schob die kleine Tür auf und beeilte sich zu Kaoru und den Anderen zu kommen. Toshiya nahm den Teller als sein Blick auf den Rucksack fiel, den Shinya wohl in der Eile hatte liegen lassen. Er würde ihn ihm dann eben nachher noch vorbeibringen müssen, denn er enthielt auch Shinyas Geldbeutel. «naja, macht ja nichts...» Er machte sich auf dem Weg ins Haus um sich umzuziehen. Anmerkungen: Ohagi: Süßigkeit aus Reis (innen Reis, außen Mus aus süßen roten Bohnen) Kapitel 9: music... ------------------- "Hi, da bist du ja." Kaoru nahm den Jüngeren kurz in den Arm, nachdem dieser sich neben ihm in die Sitzecke hatte fallen lassen." "Hi" auch Kyo lächelte ihn freundlich an, auch wenn er ein wenig blass um die Nase war. Seine rechte Hand war mit einem dicken Verband umwickelt, der in der Handinnenfläche an einigen Stellen von getrocknetem Blut durchtränkt war. "Hi Jungs!" Hat etwas länger gedauert, sorry." Die ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sein Haar war zerzaust und wies noch einige nasse Strähnen auf. "Wo kommst du denn her? Warst du bei dem Wetter im Kamo* baden?" Kaoru schaute ihn grinsend an. "Nö, ich war noch ne Stunde im Schwimmbad..." Die lächelte gequält. Sein ganzer Körper schmerzte. Er hatte nicht nur eine Stunde im Schwimmbad verbracht sondern drei und war unermüdlich Bahnen geschwommen. Er wollte mit aller Gewalt dünn werden, koste es, was es wolle. "Was wollt ihr trinken? Letztes Mal hat Die bezahlt, heute bin wohl ich an der Reihe!" Kaoru schaute lächelnd in die Runde und wartete die Antworten ab. "Cola" "Cola" "Wasser und für mein Brüderchen wohl am Besten Apfelsaft, dass trinkt er am liebsten" kam es von Die. "Wasser? Was ist denn mit dir heute los? wollte Kyo wissen, "du gehst doch sonst nicht Schwimmen und machst um alles, was in irgend einer Art und Weise gesund sein könnte einen großen Bogen" spöttelte er weiter. "Mir ist halt heute danach." brummte Die. Kyo öffnete den Mund um weitere Sticheleien von sich zu geben, als er einen Stoß von Kaoru in die Rippen bekam sowie einen warnenden Blick. "Wir fragen dich ja auch nicht, was du wieder zu heftig angefasst hast, hm?" Kyo funkelte Kaoru böse an und senkte dann den Kopf Kaoru ging an die Theke und kam kurz darauf mit fünf Flaschen wieder zurück, als die Tür erneut aufging und sich jemand ihrem Tisch näherte. "Und da ist auch schon der fünfte im Bunde! Shinya darf ich dir ..." Shinya drehte sich um und sah geradewegs in Toshiyas Gesicht. "Toshiya..." "Hey Shinya, was machst du denn hier? ... Sind wir blöd, dann hätten wir auch zusammen herkommen können." "Ihr kennt euch?" Kaoru brachte vor Erstaunen den Mund nicht wieder zu. Shinya nickte und Toshiya grinste. "Woher denn?" "Ähm..." setzte Shinya an aber Toshiya hatte ihn schon unterbrochen "Aus der Uni. Wir haben beide Philosophie belegt und da lernt man sich halt so kennen." Toshiya nickte Shinya aufmunternd zu und dieser atmete erleichtert auf. Toshiya würde also nicht die Umstände ihres Kennenlernens weitererzählen und auch nicht, was sich eine halbe Stunde zuvor abgespielt hatte. Kaoru wunderte sich noch immer und ihm waren auch die Blicke, die die beiden ausgetauscht hatten, nicht entgangen. Dass Shinya Toshiya in der Vorlesung kennen gelernt hatte, ließ er sich gerade noch angehen, aber dann mit jemandem Freundschaft zu schließen, der so laut und exzentrisch sein konnte wie Toshiya, erstaunte ihn doch. Normalerweise zog sich der Kleine dann immer sofort in sein Schneckenhaus zurück. Aber warum zerbrach er sich darüber den Kopf. Es war schließlich gut, wenn er langsam auftaute. Er hatte es ja schwer genug. Um das Thema zu wechseln richtete Kaoru das Wort direkt an Shinya, der schweigend neben ihm saß und nervös mit seinen Fingern spielte. "Sag mal, wie weit bist du eigentlich mit dem Schlagzeug spielen gekommen?" "Danke, es geht voran." antwortete der Angesprochene monoton. "Und ich geh in diese Woche mal besuchen und wir spielen zusammen!" verkündete Toshiya. "Jetzt wirklich? Kann ich auch kommen? Ich bring meine Gitarre mit!" Kaoru war begeistert. "Na sicher! Du hast doch nichts dagegen, oder Shinya?" "Was? Nein, natürlich nicht!" «Oh nein... Toshiya lasse ich mir ja gerade noch angehen, aber Kaoru... » "Und mein Brüderchen kommt natürlich auch mit, ja? Deine Gitarre hat lange genug Staub angesetzt!" Toshiya piekste Die in den Bauch und dieser zuckte zusammen. «Brüder? Die ist Toshiyas Bruder? ... Oh nein... nicht das auch noch... sie werden sicher alle lachen, weil ich noch nicht richtig spielen kann... ich werde mich total blamieren... was mach' ich denn jetzt? Ich kann sie doch schlecht einfach alle wieder ausladen...» "Was ist mit dir Kyo? Du kommst doch auch, oder?" teilte Toshiya begeistert weitere Einladungen aus. "Nö, sicher nicht. Ich kann kein Instrument spielen, also was soll ich dann dabei?" "Also das heißt, du kommst!" Kyo verdrehte die Augen. "Wenn's sein muss..." brummte er und erhob sich. "Leute, ich muss los, hab noch was zu erledigen..." und weg war er. Die anderen blieben noch eine Weile in der Kneipe sitzen und schließlich gingen auch sie auseinander. Toshiya umarmte Shinya kurz zum Abschied und flüsterte ihm ins Ohr: "Mach dir keine Sorgen, ja? Egal wie gut du schon spielen kannst, es wird keiner lachen, versprochen?" Wieder fühlte sich Shinya durchschaut. «Wie konnte er das schon wieder wissen? Aber danke Toshiya... das baut mich wirklich auf!» +++++++++++ "Na langsam dürften die anderen doch mal auftauchen..." Toshiya sah ungeduldig auf seine Uhr. Seit ihrem Treffen in der Kneipe waren zwei Tage vergangen. Toshiya war nach der Vorlesung gleich mit zu Shinya gegangen, weil dieser ihn darum gebeten hatte. Toshiya hatte sich beschlossen, dass es so besser wäre, denn der Jüngere hatte immer noch Angst davor, sich zu blamieren. Toshiya sprang auf und raste zur Tür. Da standen Kaoru und sein Bruder, beide bepackt mit ihren Gitarrenkoffern. "Wo ist denn Kyo?" wollte Toshiya sofort wissen, als er den kleinen Blonden nirgendwo entdecken konnte. "Hier bin ich", keuchte es vom Flur her. Kyo schleppte Kaorus tragbaren Verstärker. "Die beiden Hoheiten haben mich dazu auserkoren, ihnen den Scheiß hinten nach zu tragen." "Och jetzt hab dich nicht so!" Kaoru nutzte seinen Größenvorteil und tätschelte Kyo auf den Kopf. Der knallte den Verstärker unsanft auf den Boden und schlug nach Kaorus Hand. Seine Augen funkelten zornig: "Mach das noch einmal..." Toshiya schob Kaoru und Die durch die Tür in Shinyas Wohnung und nahm den Verstärker um weiteren Streit zu vermeiden. Kyo schob sich an den dreien vorbei und lies sich neben Shinya auf die Couch fallen. Shinya war sichtlich nervös, denn die Ruhe, die er durch Toshiyas gutes Zureden gewonnen hatte, war schon wieder dahin. "Shinya, hast du hier irgendwo eine Steckdose?" Kaoru versuchte den Jüngeren abzulenken, denn ihm war nicht entgangen, dass dieser zitterte und vor Aufregung rote Flecken auf den Wangen hatte. "Ja, hier hinter dem Sofa ist eine." « Oh, Gott, ich werde mich so blamieren... Anfänger hin oder her... nur weil ich Mathe kapiert habe, denken immer alle, dass ich alles andere auch immer gleich perfekt beherrsche...» Toshiyas warme Hand legte sich beruhigend auf seine Schulter. Shinya durchfuhr ein wohliger Schauer. «du hast ja recht... eigentlich sind es meine Freunde... sie werden mich deswegen sicher nicht gleich auffressen...» Kaoru strich sanft über die Seiten und begann seine Gitarre zu stimmen. Die tat es ihm gleich und Toshiya begann, mit seinem Bass herumzuklimpern. Nur Kyo hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und schien zu schlafen. "Shinya wir sind so weit, du auch?" Toshiya ging vor ihm in die Hocke. "Ja schon gut, ich komme." antwortete dieser und erhob sich. «ruhig... es wird schon schief gehen...» Er setzte hinter das Schlagzeug und nahm die Sticks zur Hand. "Okay, gut, was spielen wir?" Kaoru hatte sofort die Rolle des Leaders übernommen. Aufmunternd schaute er Shinya an: "Was möchtest du spielen?" "Ich weiß nicht..., das letzte, was ich geübt habe, war ,endless rain'. "Na also ich würde sagen, dass kennen wir doch alle, oder?" Einstimmiges Nicken war die Antwort. Kaoru schlug die ersten Takte an, dann setzten Die und Toshiya ein und schließlich überwand sich auch Shinya. Als sie alle geendet hatten, war es still, nur Kyo, der tief einatmete und sich dann im Schlaf umdrehte, störte die Stille. "Wow" hauchte Toshiya leise "Das war toll..." "Shinya, super, und das in so kurzer Zeit!" Kaoru war begeistert. "Jetzt fehlt uns nur noch ein Sänger, dann könnten wir eine eigene Band aufmachen..." Die schaute fragend von einem zum anderen. Aber alle schüttelten den Kopf. "Tja, dann bleibt nur noch einer übrig." Toshiya sah zuerst zu seinem Bruder und als der entsetzt den Kopf schüttelte zu Kyo. Der schlief immer noch selig auf dem Sofa. "Hey Kyo! Würdest du bitte mal aufstehen, dich hierher bewegen und gefälligst endless rain singen?" trompetete Toshiya zu dem schlafenden Knäuel auf der Couch. Dieser drehte sich in Zeitlupentempo um, setzte sich auf und gähnte. "Hä, was soll ich machen?" Die grinste hinterhältig und wiederholte die Forderung seines Bruders: "Kyo. Du. Sollst. ,endless rain'. Singen. Er betonte jede Silbe einzeln. Kyo immer noch im Halbschlaf knurrte unwillig. "Na gut, wenn's sein muss. Dann fang an zu spielen." Die sah die anderen erstaunt an, die jedoch nur mit den Schultern zuckten und Kaoru sich soweit unter Kontrolle brachte und tatsächlich anfing ,endless rain' zu spielen. Zögernd setzten die anderen ein und dann erhob Kyo die Stimme und fing an zu singen. Obwohl sie kurz davor waren das Spielen einfach sein zu lassen um den Kleinen mit offenem Mund anzustarren, rissen sie sich zusammen. Er sang die Balade mit soviel Ausdruck und Gefühl in der Stimme, dass den Anderen ganz schwindlig wurde. Also die letzten Töne verklungen waren standen sie da wie die Salzsäulen. Nur Kyo brummte verärgert: "So, kann ich jetzt weiter schlafen?" Aber daran war für ihn nicht zu denken, denn als die anderen ihre Sprache wieder gefunden hatten, schrieen sie alle durcheinander. "Mensch Kyo, du kannst ja so was von geil singen!" "Los, wir proben weiter und machen eine Band auf!" Erst als Kaoru, dem das dann irgendwann doch zu bunt wurde, einen schrillen Pfiff zwischen den Zähnen ausstieß, kehrte Ruhe ein. Kyo rollte sich sofort wieder zu einer Kugel zusammen und wollte weiterschlafen. Etliche Lieder später saßen sie wieder alle auf der Couch und unterhielten sich leise, um Kyo nicht zu stören, der wieder eingeschlafen war. Sie kamen darin überein, sich mehrmals bei Shinya zu treffen um zu proben, sofern Kyo zustimmen sollte, zu singen. Denn nach dem dritten Lied hatte er sich strikt geweigert, sein Gesangstalent weiter unter Beweis zu stellen und sich wieder auf das Sofa verzogen. Auch Shinya lehnte erschöpft an Toshiya, der ihm sanft über den Rücken strich und ihm wiederholt verkündete, wie ,Wahnsinn' er es doch fand, wie schnell Shinya Schlagzeug spielen gelernt hatte. Schließlich schlief auch Shinya erschöpft ein, glücklich darüber, dass er es geschafft hatte, mit den Anderen zu spielen. Und glücklich darüber in Toshiyas Arm zu liegen, der ihm eine Geborgenheit gab, die er seit Rikas Tod nicht mehr gespürt hatte. «Rika... sag, bist du jetzt stolz auf mich...?» Anmerkungen Kamo: Fluss in Kyoto, der durch die Geisha-Viertel Gion und Pontocho fließt Kapitel 10: Stand-up Performance... ----------------------------------- "Die, ist alles okay?" Kyo rannte auf den Rotschopf zu, der mit leichenblassem Gesicht aus dem Hörsaal gewankt kam und mit zitternden Händen versuchte, sich an der Wand festzuhalten. Er merkte, wie sich wieder alles zu drehen begann und versuchte verzweifelt, sich irgendwo an der glatten Wand festzuhalten, damit er nicht einfach umfiel. Kyo ging die letzten Schritte auf ihn zu, legte seinen Arm um Dies Hüfte und führte in vorsichtig zu den Bänken an der anderen Seite des Ganges. Die lies sich darauf fallen und stützte seinen Kopf in die Hände. Kyo betrachte betroffen Dies schmale Schultern und lies seinen Blick über die hervorstehenden Wirbelsäulenknochen gleiten, die der Kragen des Pullis nicht bedeckte. Die zitterte am ganzen Körper. "Die, hey Die!" Der Angesprochene hob mühsam den Kopf und schaute Kyo mit glasigen Augen an. "Willst du dich einen Moment hinlegen?" Kyo rutschte an das äußere Ende der Bank und klatschte einladend auf seine Knie. "Geht schon..." Kyo konnte ihn gerade noch auffangen, als er langsam zur Seite kippte. "Scheiße!" entfuhr es ihm. "Kyo! Was ist passiert?" Toshiya, der gerade mit Shinya im Schlepptau aus einem Hörsaal kam sah den kleinen Blondschopf, der mit einem Ausdruck äußerster Verzweiflung seinen Bruder umklammert hielt, der Anstalten machte, von der Bank zu fallen. "Die, du Idiot, was machst du da?" Toshiya grinste und klatschte seinem Bruder leicht auf den Hinterkopf. Shinya ging in die Hocke um in Dies Gesicht zu sehen, das von den roten Haaren und Kyos Schulter verdeckt wurde. "Toshiya, dein Bruder ist ohnmächtig!" "Was?" Das Grinsen erfror auf seinem Gesicht. Kyo seufzte. "Scheiße..." murmelte Toshiya. "Am Besten bringen wir ihn sofort nach Hause, sobald er wieder halbwegs zu sich kommt." Shinya versuchte die Nerven zu behalten. "Aber wie denn?" kam es verzweifelt von Toshiya "Ich bin nicht mit dem Auto da! Kyo, du vielleicht?" Der schüttelte den Kopf und hielt Die immer noch fest umklammert. "Toshiya, hör zu, ich versuche deinen Bruder wieder irgendwie wach zu bekommen und du suchst Kaoru!" Shinya griff unter Dies Achseln, zog ihn von Kyo und gemeinsam schafften sie es, ihn auf die Bank zu legen. "Nun mach schon!" Kyo sah den zögernden Toshiya eindringlich an. "Wir kriegen ihn schon wieder unter die Lebenden!" Toshiya rannte los. Shinya nahm seinen Rucksack und Kyos Tasche und stopfte sie unter Dies Knie. Kyo förderte aus Toshiyas Tasche, die dieser vor Schreck hatte fallen lassen, eine Flasche Wasser zu Tage. Er klatschte Die leicht mit der Hand an die Wange und lies vorsichtig etwas Wasser über dessen Stirn laufen. Dies Lieder flatterten. "Na Gott sei Dank!" murmelte Shinya. Er setzte sich neben Die und hob dessen Kopf auf seinen Schoß. "Kyo, gib mir mal die Wasserflasche. Und schau mal bitte in die Seitentasche von meinem Rucksack. Da müsste ich noch Traubenzucker drin haben." "Die, trink mal einen Schluck. Und hier, das lutscht du bitte. Dann geht's dir sicher gleich besser." Shinya steckte das Traubenzuckertäfelchen zwischen Dies Lippen und hielt ihm dann die Wasserflasche hin. Die lies sich anstandslos von Shinya füttern. "Himmel, was machst du denn für einen Scheiß?" keuchte Kaoru der mit Toshiya angerannt kam. Die sah ihn verstört an. "Der ist kam aus dem Hörsaal und ist grad weggeklappt..." kam es von Kyo. "Na bravo!" Kaoru sah kopfschüttelnd auf Die herunter der immer noch auf Shinyas Schoß lag und wieder damit zu kämpfen hatte, nicht erneut ohnmächtig zu werden. "Dann bringen wir ihn sofort heim und stecken ihn ins Bett. Er hat sich bestimmt die Grippe eingefangen, weil er immer bei der Arschkälte mit halbnassen Haaren aus dem Schwimmbad kam." "Die, fühlst du dich soweit in der Lage um es bis zu Kaorus Auto zu schaffen?" Toshiya sah ihn besorgt an. Ihm kam wieder in den Sinn, wie Die vor zwei Wochen so plötzlich auf die Toilette gerannt, und sein Essen wieder losgeworden war. Schwimmen? Das hatte er gar nicht mitbekommen. "Ja, geht schon..." hauchte Die und richtete sich mit Shinyas Hilfe langsam auf. "Toshiya, soll ich dich gleich mitnehmen?" wollte Kaoru wissen, der sich wie Toshiya bei Die eingehakt hatte und ihn sorgsam stützte, damit er auf dem Weg zum Parkplatz nicht noch einmal zusammenbrach. "Mmh, ich glaube, das wäre das sinnvollste, dann weiß ich, dass er sich wirklich ins Bett legt." Die straffte sich plötzlich und hob den Kopf. "Ich leg mich schon hin, keine Sorge. Mir geht es schon besser, der Traubenzucker wirkt langsam. Du hast doch noch eine Vorlesung, die wirst du wegen mir sicher nicht schwänzen." Seine Stimme klang fest und energisch. "Die, du warst bis eben noch ohnmächtig!" "Mir geht es schon viel besser, mach dir mal um mich keine Sorgen! Ich hab mir bestimmt nur die Grippe eingefangen, das wird schon wieder. Und außerdem hör auf mich zu bemuttern, du weißt, dass ich so was hasse wie die Pest." "Aber..." "Kein Aber!" unterbrach Die die Einwände seines Bruders unwirsch und machte sich von ihm und Kaoru los. "Schon gut, ich kann alleine laufen." Die beiden tauschten einen ungläubigen Blick aus. Was hatte Die denn auf einmal? Sie wollten ihm doch nur helfen. "Na wenn du meinst." gab Toshiya nach " Aber Proben bei Shinya ist heute Abend nicht. Und Hand drauf, dass du dich ins Bett legst!" "Hand drauf!" entgegnete Die genervt. Was führte sich sein kleiner Bruder eigentlich so auf? Nur wegen dieses kleinen Schwächeanfalls? Konnte doch jedem mal passieren und ihm ging es momentan eben nicht so gut. Wenn er erst mal noch ein paar Kilo weniger haben würde, dann würde sich das von alleine wieder legen. Sein Körper musste sich eben nur erst daran gewöhnen, dass er nicht mehr so viel Fett und Zucker bekam. "Toshiya, du bist ja wieder hier. Ich dachte du wärst mit heimgefahren." kam es erstaunt von Shinya, als sich dieser neben ihm und Kyo auf die Bank fallen lies, auf der kurz zuvor noch Die gelegen hatte. "Ja, wäre ich auch, wenn mein Brüderchen nicht auf einmal beschlossen hätte, den harten Kerl raus zu kehren und mich weggeschickt hätte." "Na typisch" brummte Kyo und erhob sich. "Muss weiter. Macht's gut" "Puh ich hab jetzt echt keinen Bock mehr auf Info. Ich glaub ich geh' mal eine Runde spazieren." Toshiya erhob sich nachdenklich von der Bank. "Stört es dich, wenn ich mitkomme?" Shinya erhob sich ebenfalls, als er den dankbaren Blick von Toshiya auf sich spürte. "Lieb von dir..." "Schon okay." Schweigend liefen die beiden nebeneinander her, als sie auf einmal vor der Bank zum Stehen kamen, an der Kaoru vor einigen Wochen nachts auf Shinya getroffen war. Sie waren wieder in dem Park in der Nähe des Kamo - Flusses angekommen. «Hier hat mich Kaoru gefunden, als ich so fertig war...muss wohl irgendwie Schicksal sein, dass ich jetzt wieder hier bin...» überlegte Shinya. Toshiya hatte mittlerweile seine Gedanken so weit geordnet, dass er wieder aufnahmefähig war und bemerkte, dass der Jüngere versonnen auf die Bank vor ihnen starrte. "Komm, wir setzen uns, ich brauch ne Pause." Toshiya lies sich auf die Bank fallen. Shinya zögerte einen Moment und kam dann der Aufforderung Toshiyas nach. "Was meinst du, was mit deinem Bruder los ist?" fragte Shinya zögernd. Toshiya zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Der ist seit ein paar Tagen so seltsam drauf. Ständig gereizt und er nörgelt nur noch am Essen rum. Neulich ist er einfach aufgestanden und hat sein Essen in den Müll geworfen mit der Begründung, dass er so einen Fraß nicht essen würde. Dabei haut er doch sonst alles rein, was nicht selbst im Kühlschrank festhalten kann..." "Komisch..." "Naja, vielleicht hat er Liebeskummer oder so was... kann ja sein." winkte Toshiya ab. "Der Große hat manchmal so seine Launen." Shinya lächelte. «Da ist es wieder... dieses komische Gefühl...» "War wohl gut, dass du ihm vorhin den Traubenzucker zwischen die Kauleisten geschoben hast... hat geholfen, dass er zumindest wieder meckern konnte. Hast du immer so ein Notfallset dabei?" grinste Toshiya. "Traubenzucker eigentlich schon." "Warum das denn?" "Ne Gewohnheit" wich Shinya aus. Er wollte Toshiya nicht unbedingt sagen, dass es eine Gewohnheit aus der Zeit war, als Rika noch gelebt hatte. Sie war ab und zu umgekippt, und Traubenzucker hatte ihr immer schnell wieder auf die Beine geholfen. "Na sag schon!" bohrte Toshiya, dem der Blick des Jüngeren nicht entgangen war. So voller Schmerz. "Wegen Rika..." murmelte Shinya. "Rika? Wer ist das?" Toshiya sah in verständnislos an. " Sie war meine beste Freundin." "War? Habt ihr euch gezofft? Shinya? Was ist los? Weinst du?" Toshiya sah seinen Freund entsetzt an. Shinya hatte sein Gesicht in seinen Händen vergraben und seine Schultern zuckten. "Oh Gott Kleiner. Es tut mir Leid. Ich wollte dir nicht wehtun... Komm her..." er zog ihn auf seinen Schoß und begann ihm sanft über den Kopf zu streicheln. "Rika... sie ist... sie ist im Frühjahr gestorben. Und... ich ... vermiss sie so sehr... und... ich komm einfach nicht... darüber weg... ich schaff es einfach nicht... manchmal schaffe ich es... eine zeitlang... nicht an sie zu denken... aber... aber dann bricht es alles wieder ... hervor... so... wie jetzt... und ich ... ich ..." Shinya schluchzte stärker und seine Stimme versagte. "Schon gut, schon gut... du musst nicht drüber reden, wenn du es nicht kannst. Ich versteh es auch so." beruhigend strich Toshiya weiter über Shinyas Haar. «Das ist es also, was ihn so quält. Kein Wunder, dass er so fertig ist...» Das Schluchzen erstarb langsam. Shinya richtete sich auf und sah Toshiya mit seinen rot verweinten Augen an. "Es tut mir leid. Du hast selber so viele Probleme und das mit deinem Bruder und alles... bestimmt denkst du jetzt, ich bin voll der Schwächling und so, weil ich immerzu weine... aber ich kann nicht anders... bitte sei mir nicht böse..." "Spinner. Wie kommst du darauf, dass ich dir böse sein könnte? Sie war deine beste Freundin, da ist es doch normal, dass du um sie weinst und trauerst. Es wäre doch schlimm, wenn es nicht so wäre." Shinya, von einem warmen Gefühl in seinem Bauch völlig überwältigt, warf sich Toshiya um den Hals. "Danke" flüsterte er an Toshiyas Hals. "Schon gut" murmelte dieser und erwiderte die Umarmung. "Du, gehen wir? Kaoru und Kyo kommen dann gleich zur Probe. Wir können sie schlecht bei dir im Flur stehen lassen, hm?" Toshiya versuchte die Röte zu unterdrücken, die ihm ins Gesicht stieg. "Okay." Die beiden standen auf und machten sich auf dem Weg zu Shinyas Wohnung. Kapitel 11: Ärger ----------------- "Hi, da sind wir!" Kaoru kämpfte sich mit seinem Gitarrenkoffer in der Hand den Flur entlang, während Kyo, lässig die Hände in seinen Taschen vergraben, hintendrein spazierte. "Perfektes Timing würde ich sagen!" lachte Toshiya. "Wir sind auch gerade erst gekommen." Shinya kramte währenddessen in seinen Taschen nach dem Schlüssel. "Puh, das war ja was heute mit Die..." Kaoru seufzte und lies sich auf Shinyas Sofa fallen. "Wie geht's ihm eigentlich?" Toshiya schüttelte den Kopf "Keine Ahnung... ich war noch nicht zu Hause. Nach der Anmache von ihm vorhin war mir nicht so danach." "Verstehe" "Hat er im Auto noch was gesagt?" wollte Toshiya wissen. "Nein, da hab ich auf Granit gebissen. Kein Wort darüber, warum es ihm so mies geht. Nur ständig irgendwelche Versuche, vom Thema abzulenken." "Aber sag mal Toshiya, hat der so was öfter?" mischte sich nun auch Kyo ein. Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. "Da fragst du mich was... nein, eigentlich nicht. Aber er ist schon ne Zeit lang ziemlich komisch drauf. Total überreizt und so. Neulich hatte so einen Anfall, da ist er einfach ins Bad gerannt und hat angefangen zu kotzen. Danach war er ziemlich fertig. Aber sonst... nein da fällt mir echt nichts ein." "Na dann hoffen wir mal, dass das nur eine einmalige Performance war, die er da abgeliefert hat." Kaoru machte sich daran seine Gitarre auszupacken und neu zu stimmen. "Solange er heute wenigstens zu Hause bl..." zu Hause bleibt und auskuriert hatte Kyo noch sagen wollen, als er von der Klingel unterbrochen wurde. Shinya, der gerade dabei war, seine Handschuhe anzuziehen, erhob sich und ging zur Tür. "Hi, habt ihr schon angefangen?" Die setzte sein strahlenstes Lächeln auf, zu dem er fähig war. Es musste ja keiner von den anderen wissen, dass er schon einige Minuten an der Tür stand, und der nicht gerade leise geführten Diskussion der anderen zugehört hatte. Die nicht unbedingt schalldichten Wände und Türen der japanischen Häuser hatten es ihm zusätzlich leicht gemacht. Auch dass sein Kreislauf schon wieder davor gewesen war, sich zu verabschieden, mussten die anderen ja nicht unbedingt wissen. Seinen bleichen Wangen hatte er, wie schon so oft zuvor, durch energische Klapse darauf, eine gesunde Hautfarbe verliehen. Die anderen würden es also mit Sicherheit nicht bemerken. "Die? Was machst du denn hier?" Kaoru sprang auf und schüttelte den Größeren heftig als dieser ins Wohnzimmer gestiefelt kam. "Hey Kaoru! Was soll die Frage? Ich dachte, wir sind eine Band? Ist es dann nicht angebracht, dass alle gemeinsam proben?" Die anderen starrten ihn fassungslos an. "Die... ähm, dürfte ich dich dezent daran erinnern, dass du heute in der Uni zusammengebrochen bist?" Kyo der als erster seine Sprache wieder gefunden hatte, erhob sich aus dem Sessel, in dem er die ganze Zeit gelegen hatte. Er ging in Shinyas Küche und blickte sich suchend in dessen Kühlschrank um. Er fand, was er suchte, denn auf Shinya war in solchen Dingen immer Verlass. Er holte ein großes Glas und schenkte es randvoll mit Multivitaminsaft. "So Die, und das trinkst du jetzt, ansonsten schmeißen wir dich wieder raus, klar?" "Oh Mann, was soll den die Scheiße jetzt?" begann der Rotschopf sich aufzuregen. "Runter damit, ich mein' das ernst!" Kyos Stimme lies keinen Zweifel daran, dass dem nicht so war. Hilfe suchend schaute sich Die zu den anderen um. Aber auch hier stieß er auf keine Unterstützung, denn alle sahen ihn ebenso ernst an. "Na mach schon, das Zeug ist nicht vergiftet." brummte Kaoru. Die seufzte genervt und setzte das Glas an und trank es in einem Zug aus. Da brachten die anderen seine Diätpläne ja schön durcheinander. Dafür würde er morgen mindestens eine Stunde extra im Fitnessstudio bleiben müssen und zusätzlich sein Abendessen noch einmal um die Hälfte reduzieren. «Verdammt... wissen die eigentlich, was sie mir damit antun? Nur weil mein Kreislauf heute früh mal kurz einen Aussetzer hatte?» "Na es geht doch, warum nicht gleich so, mh?" Kyo blickte Die nun wieder freundlich an und auch die anderen hatten sich nun wieder ihren Instrumenten zugewandt. "Also gut, fangen wir an." meinte Kaoru. "Mit ,endless rain' zum Einstieg, wie üblich?" Die anderen nickten. "Also gut, Die?" Dieser nickte und begann das Intro zu spielen. ...THE DREAM IS OVER koe ni naranai kotoba o kurikaeshite mo takasugiru hai iro no kabe wasugi satta hi no omoi o yume ni utsusu UNTIL I CAN FORGET YOUR LOVE... Kyo setzte gerade wieder an, den Refrain zu singen, als sie durch die Türklingel unterbrochen wurden. "Ich geh schon." Kyo nickte Shinya zu der gerade Anstalten machte, sich hinter dem Schlagzeug hervorzukämpfen und über sämtliche Gitarrenkoffer und Kabel, die den Boden bedeckten zu steigen. "Was fällt euch eigentlich ein? Seid ihr noch zu retten?" Wütend stürmte ein Mann an Kyo vorbei zur Tür hinein, während der kleine Blonde von der Wucht, mit der die Tür aufgestoßen wurde, an die Wand prallte. "Itai" «Der Vermieter... oh nein, daran habe ich gar nicht mehr gedacht... wahrscheinlich wirft er mich auf der Stelle wieder raus... er war ja von Anfang an dagegen, dass ich hier einziehe...» Shinya stieg nun doch über die Sachen, die am Boden lagen, bis er vor Herrn Akahashi* zum Stehen kam. "Konnichi-wa*, Akahashi-san, es tut mir Leid, dass wir so laut waren." Er verbeugte sich demütig vor dem Älteren. Dieser starrte auf Shinya hinunter und verzog keine Miene*. "Es ist hier im Haus nicht erlaubt, einen derartigen Lärm zu veranstalten. Geschweige denn, hier irgendwelche Bandproben abzuhalten! Das ist die erste und letzte Warnung an dich mein Junge. Ansonsten wirst du dich nach einer anderen Wohnung umsehen müssen." Kaoru trat zu Shinya, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und sagte mit ruhiger Stimme: "Akahashi-san, entschuldigen sie bitte vielmals, das ist nicht alleine Shinyas Schuld. Wir werden uns sofort nach einen geeigneten Probenraum umsehen. Es wir nicht wieder vorkommen." Mit diesen Worten verbeugte er sich ebenfalls vor dem mittlerweile etwas besänftigten Mann. So seltsam diese Jugendlichen auch aussahen mit ihren bunt gefärbten Mähnen, so wohlerzogen waren sie auch. "Na gut, wenn es nicht noch mal vorkommt, wird es keine Konsequenzen haben. Aber mit dem Lärm ist jetzt Schluss, verstanden?" "Hai*." Fünf traurig nickende Gesichter sahen ihm entgegen. "Sayonara." "Sayonara." Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. "Na Super, und was machen wir jetzt?" schimpfte Kyo los. Er war ärgerlich und rieb sich die schmerzende Stelle an seinem Hinterkopf, mit der er an der Wand angeschlagen war. "Es tut mir Leid, ich habe nicht daran gedacht, dass hier so etwas nicht erlaubt ist." Shinya stieg das Wasser in die Augen. "Na na, du kannst doch nichts dafür." Kaoru streichelte Shinya sanft über den Kopf. "Wir müssen uns eben einfach etwas Neues einfallen lassen." "Also, hat einer eine Idee? Bei mir in der Wohnung ist es die gleiche Sache." Kaoru seufzte. "Bei mir geht es auch nicht" antwortete Kyo. Er war sich zwar nicht sicher, ob laute Musik ein Problem wäre, denn die anderen Mieter waren entweder auch nicht besser oder nie zu Hause. Aber er wollte nicht, dass selbst seine Freunde in seine Privatsphäre eindrangen. Sie würden sicherlich Fragen stellen. Zum Beispiel, was der zerbrochene Spiegel im Schlafzimmer sollte, das Blut das er überall verteilt hatte, sowie die Scherben, die er immer noch nicht weggeräumt hatte. "Euch brauchen wir bestimmt nicht fragen, oder? In einem Schrein kommt Rockmusik sicher nicht so gut." unterbrach Kaoru die Diskussion, die Die und Toshiya mittlerweile begonnen hatte. "Wart mal kurz, Kaoru..." wieder wandte sich Toshiya seinem Bruder zu. "Ja, und wenn wir einfach mal fragen? Ich meine, da hinten stören wir doch keinen. Und sag mir bitte mal, wann da das letzte Mal einer drin war." "Schon, und da geht auch schon das nächste Problem los: Da war schon ewig keiner mehr dort, da ist bestimmt stapelweise Dreck drin, und das Dach wohl auch noch undicht." "Dann verbringen wir eben die nächsten paar Proben mit putzen und renovieren. Stell dich doch nicht so an, seit wann bist du aus Zucker?" "Seit gestern. Also schön ich ruf ihn an und frag!" Mit diesen Worten zückte Die sein Handy. "Paps? Ja, ich bin's... ja... nein, ich bin gerade bei Shinya... Ein Mitstudent... Ja... Du, hör mal, wir haben ein Problem... Nein, ich hab' nichts ausgefressen, was denkst du von mir? ...Nein, die Sache ist die, dass wir eine Band gegründet haben... eine Band... ja und wir dürfen nicht mehr bei Shinya proben... ja, sein Vermieter hat uns die Hölle heiß gemacht... könnten wir vielleicht in das kleine Teehaus hinten im Park umziehen? ...Ja, genau dahin... Ich weiß es ist dreckig, aber wir würden es auch renovieren... Was, beim nächsten Shogatsu* und Setsubun*? Ja gut, machen wir... bist der Beste, Danke. Baibai. Die anderen sahen Die erwartungsvoll an. "Also, wir haben bei uns im Park hinter dem Schrein so ein kleines Teehaus, und wie ihr gehört habt, dürfen wir dahin umziehen. Allerdings sind da zwei Bedingungen daran geknüpft: Wir müssen es erst sauber machen und das Dach ausbessern. Tja, und ich musste zusagen, dass wir uns alle am Shogatsu und Setsubun in Kimono schmeißen und im Schrein aushelfen. Toshiya und ich müssten das sowieso tun, aber er hat euch drei gleich mit verpflichtet, sorry!" Die grinste. "Kawaiiiiiii!" Mit diesem Kampfschrei stürzte sich Toshiya auf seinen Bruder. "Mensch spinnst du? Kein Grund so auszurasten!" beschwerte sich Die und schubste Toshiya von sich weg. "Mach das bei jemand anderem!" Damit stürzte sich Toshiya auf Shinya und umarmte ihn kräftig. Dieser hatte Mühe, das Kribbeln in seinem Bauch und seine Gesichtsfarbe wieder unter Kontrolle zu bekommen. «Oh weh, ein Mönch mit lila Haaren... » überlegte Kaoru, beruhigte sich aber schnell wieder, denn gegen Dies Feuermelderrot war seine Haarfarbe noch harmlos. "Gut, dann treffen wir uns alle Morgen bei uns und schauen uns die Sache mal an, ja? Und probieren gleich mal, ob wir passende Kimono für euch haben." schlug Toshiya vor. "Stimmt, Shogatsu ist schon in knapp vier Wochen, und wir wollen schließlich auch so schnell wie möglich die Proben wieder aufnehmen, oder?" bekräftigte Die. Die anderen drei nickten zustimmend und grinsten, während sie sich versuchten auszumalen, wie sie wohl als Mönche aussehen würden. Anmerkungen: Akahashi: Der Name bedeutet rote Brücke und setzt sich aus den Kanji aka (rot) und hashi/bashi (Brücke) zusammen. Konnichi-wa: Guten Tag In Japan gilt es als schlecht erzogen, wenn man starke Gefühlsregungen zeigt, wogegen eine unbewegliche Miene in solchen Situationen als ein Zeichen größter Selbstbeherrschung/ Selbstdisziplin angesehen wird. Hai: Ja. (hat nichts mit Fischen zu tun *smile*) Shogatsu: Neujahrstag; 1. Januar; Höchstes Fest im japanischen Jahresablauf; Die Häuser werden zuvor traditionell gereinigt, und um Mitternacht läuten die Glocken der Tempel 108 Mal, für jedes mögliche Vergehen des Menschen einmal. Außerdem wird in den darauf folgenden sieben Tagen der Schrein besucht um den kami die Aufwartung zu machen. Setsubun: Frühlingsanfang; 3. Februar; Man feiert das Ende des Winters und treibt die bösen Geister aus, indem man Bohnen wirft und dazu singt "Fuku wa uchi oni wa soto!"(Willkommen Glück, fort mit den Teufeln!) Wird in Japan groß gefeiert, teilweise sogar mit Umzügen und Schreinbesuchen. Kapitel 12: Dissonanz --------------------- "Und so was soll ich anziehen?" Kaoru saß auf Dies Bett und hielt sich den Bauch vor Lachen. Die sah ihn ungerührt an und hielt ihm weiter einen Kimono von sich unter die Nase "Ja warum denn nicht? Ich lauf' ja auch tagtäglich so rum." "Aber zu deinen roten Haaren passt das besser als zu meinen violetten, meinst du nicht auch?" "Ja soll ich dir jetzt noch einen Eimer Farbe kaufen? Damit du dir einen neuen Haaranstrich verpassen kannst?" "Oh ja bitte" keuchte Kaoru vor Lachen und lies sich auf die Seite fallen. "Was ist denn hier los?" Toshiya starrte fassungslos auf Kaoru, von dem mittlerweile nur noch ein leises Wimmern zu hören war. Er selbst trug wieder seinen Kimono und hatte Shinya, der an ihm vorbei durch die Tür lugte, ebenfalls in einen solchen gesteckt. "Wow, Shinya steht dir gut. Siehst richtig echt aus." lobte Die "Ganz im Gegensatz zu diesem... diesem..." er deutete auf Kaoru, der immer noch haltlos vor sich hinkicherte. "Komm' ich zu spät?" Kyo schob sich zwischen Shinya und Toshiya in Dies Zimmer. "Nein... diverse andere Leute sind auch noch nicht fertig..." Die warf einen resignierten Blick auf Kaoru, der sich immer noch nicht wieder beruhigt hatte. "Na, dann suchen wir erst mal was für dich raus, bis dahin hat sich auch Kaoru hoffentlich auch wieder beruhigt." ergriff Toshiya das Wort und schob ihn und Shinya wieder aus Dies Zimmer. "Du Totchi, dürfte ich dich darauf aufmerksam machen, dass mir weder deine, noch Dies Klamotten passen dürften? Ich bin nämlich so ungefähr mal 20 cm kleiner als du!" "Stimmt, da hast du recht... ich geh' am Besten mal meine Mutter fragen, die ist hier für die Garderobe zuständig. Bin gleich wieder da." Kurze Zeit später kam er wieder zurück mit einem Bündel Stoff. "Hier, das hat Mama mir gegeben. Müsste dir eigentlich passen. Probier's mal!" Toshiya warf Kyo den Kimono in die Arme. "Wo kann man sich hier umziehen?" Toshiya schaute Kyo verwundert an. Warum wollte er sich nicht vor ihnen umziehen? Sie würden ihm bestimmt nichts wegschauen. Er tauschte einen erstaunten Blick mit Shinya, der nur mit den Schultern zuckte. "Du kannst dich hier umziehen. Wir gehen mal eben rüber zu Die und schauen nach, ob Kaoru nicht schon erstickt ist. Mit dem Knoten an den Hakama* kommst du klar?" Damit nahm er Shinya am Ärmel und zog ihn hinter sich her. Kyo seufzte. Wie sollte er den Anderen die verkrusteten Kratzer und die Narben an seinen Armen, seiner Brust und an den Oberschenkeln erklären? Er fühlte sich momentan nicht wohl in seiner Haut. Jeden Abend, sobald er alleine war, quälten ihn diese schrecklichen Erinnerungen. Er konnte es einfach nicht abstellen. Bis er irgendwann zu einer Scherbe griff, die auf dem Boden lag, und mit mehreren ungezielten Schnitten in seine Haut das Blut zum Fliesen und den Schmerz in seinem Inneren nach außen lenkte. Er betrachtete sich in Toshiyas Spiegel. Ja, seine Haut war soweit bedeckt, dass man auch am Kragen nichts sehen konnte. Sein Gesicht war bleich und einzelne blonde Strähnen fielen ihm über die Wangen. Am liebsten würde er auch hier den Spiegel zerschlagen. Aber Toshiya würde ihm dafür den Hals herumdrehen. «Naja, warum eigentlich nicht... wäre vielleicht besser für alle Beteiligten...» Mit gequältem Lächeln strich er sich die Haare aus dem Gesicht und wandte sich ab. Im Nebenzimmer hatte Die Kaoru soweit gebracht, dass er sich anziehen lies. Immer noch kichernd drehte er sich vor dem Spiegel hin und her. "Na Gott sei Dank, ich dachte, das wird heute überhaupt nichts mehr." brummte Toshiya. "Ich bin auch fertig." lies sich Kyos Stimme von hinten aus dem Türrahmen entnehmen. Kaoru grinste den Kleineren an "Ach Gottchen ist das süß..." Kyos Augen begannen wütend zu funkeln. Die der den Ernst der Lage sofort erfasst hatte, schob ihn samt seinem Bruder und Shinya aus dem Zimmer und zog Kaoru hinter sich her. Zusammen machten sie sich auf den Weg zu dem kleinen Teehaus, das fortan ihr Probenraum sein würde. "Sag mal Toshiya, warum müssen wir eigentlich jetzt schon so rumlaufen? Neujahr ist doch erst in vier Wochen." fragte Shinya, der etwas unsicher auf seinen Geta herumbalancierte. Kaoru und Kyo, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten, sahen ebenfalls fragend zu den beiden Brüdern. Die und Toshiya grinsten. "Naja, ihr seht doch, was ihr für Probleme habt, euch in den Klamotten angemessen zu bewegen. Außerdem fallt ihr dann hier nicht so auf, wenn wir da hinten rumwerkeln und Zeug hin und her schleppen. Hier wird nämlich jeder Fremde ziemlich kritisch beäugt." "Und außerdem" ergänzte Die "werden eure Klamotten nicht dreckig. Für die Feiertage bekommt ihr selbstverständlich dann andere." "Oh Mann!" resignierte Kyo, "Worauf hab' ich mich da nur wieder eingelassen? Aber was tut man nicht alles für die Musik..." "So, da sind wir." Die und Toshiya blieben vor einem kleinen Gebäude stehen, dass umringt war von hohem Bambus, der sich im stürmischen Herbstwind hin und her bog. "Und. Da. Drin. Kann man proben?" Kyo setzte eine skeptische Miene auf. "Hast du nur zu meckern?" Die grinste den Kleineren entwaffnend an. "Nö, ich frage mich nur, ob bis hier her schon die Erfindung der Elektrizität vorgedrungen ist. Oder setzt ihr euch auf' s Fahrrad um den Strom für eure Verstärker zu erzeugen?" "Also auf, schauen wir es uns mal von innen an!" schlug Toshiya vor und zog einen Schlüsselbund aus seinem Ärmel. Er schloss die kleine Holztür auf und ging hinein. Die anderen blieben sicherheitshalber vor der Tür stehen. ertönte es von drinnen und dann "Scheiße, ist das staubig hier!" "Okay, wenn er noch lebt, können wir ja auch rein." brummte Kyo sarkastisch und schlüpfte den anderen voran durch die Tür. In dem kleinen Teehaus schlug ihnen zuerst einmal eine dicke Staubwolke entgegen, die von Toshiya, der umringt von Gerümpel mit den Armen wedelte um selbige zu vertreiben, nur noch größer gemacht wurde. "Na Prost Mahlzeit, ich glaube, da kommt einiges an Arbeit auf uns zu!" grinste Die "Kein Wunder, dass Papa uns freiwillig hier rein gelassen hat. Aber egal! Machen wir erst einmal Licht!" Die tastete nach dem Schalter und drückte darauf. Mit einem lauten wurde es hell - und sofort wieder dunkel. "Mensch Die, du kriegst aber echt alles klein! Jetzt schau zu, dass du rüber läufst und gefälligst eine neue Glühbirne organisierst!" Toshiya, immer noch umringt von Staubwolken versuchte seinem Bruder einen gespielt bösen Blick zu zuwerfen. "Ja, ja, schon gut, ich geh ja schon. Kyo kommst du mit? Und du auch Kaoru? Ihr könnt mir dann gleich helfen, ein paar Eimer mit Wasser mit zu bringen und ein paar Lappen!" "Na klar, ich seh' schon wie das hier läuft! Du trägst die Glühbirne und die Lappen und wir dürfen die Eimer schleppen!" "Gut erkannt Kyo! Also los kommt mit. Und ihr beiden fangt schon mal an, das Gerümpel hier raus zu schleppen, ja?" "Also gut, dann fangen wir eben hier an. Bis die wieder kommen, werden wir wahrscheinlich dreimal fertig sein, was Shinya?" Shinya nickte. Gut, dass es in dem Teehaus so dunkel war und nur ein paar Stellen im Dach etwas Licht herein ließen. Toshiya hätte sich sicher gewundert, wenn er gesehen hätte, dass er schon wieder die Gesichtsfarbe wechselte. "Komm, pack mal mit an!" Gemeinsam schleppten sie alles, was in dem kleinen Raum zu finden war, mit vereinten Kräften nach draußen. "Das letzte Stück. Auf drei... eins zwei drei und hoch damit!" Krachend ließen sie eine kleine Kommode auf den Weg fallen und setzten sich darauf. "Jetzt haben wir aber ganze Arbeit geleistet." Toshiya blickte Shinya lächelnd an "Wie siehst du denn aus?" Er hob die Hand und strich Shinya den Staub von der Stirn. Der Jüngere zuckte zurück, auf diese Berührung war er nicht gefasst gewesen. "So, da sind wir wieder." Mit einem lauten Krachen stellte Kyo im selben Moment einen Eimer vor den beiden ab. "Hat etwas länger gedauert, weil Die so rumgetrödelt hat!" Die, der noch ein ganzes Stück hinter ihnen war, mühte sich sichtbar mit den Wassereimern ab, die er trug. «Scheiße... nur noch das kleine Stück, dann kann ich mich hinsetzen. Auf, du schaffst es, nur jetzt nicht schlappmachen... verdammte Kreislaufschwächen, verflixt aber auch...» "Sagt mal, kann es sein, dass es ihm wieder nicht gut geht? Er hat doch sonst kein Problem damit, irgendwas Schweres zu tragen, oder? Und guckt mal, man könnte meinen, er torkelt nur noch vor sich hin." flüsterte Kaoru leise, damit Die ihn nicht hören konnte. Die anderen zuckten mit den Schultern. "Ich bin gleich wieder da!" Die lies den Lappen in den Eimer fallen, und ging zur Tür. Er schaffte es gerade noch, um die Ecke des Teehauses zu gehen, dann trugen ihn seine Beine nicht mehr. Matt lehnte er sich an die Wand und versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben. Sie waren gerade dabei, die Wände abzuwaschen, die vor Staub und Dreck nur so strotzten, als sich sein Kreislauf erneut bemerkt gemacht hatte. Als er sich vorhin zu den anderen gesetzt hatte, war es ihm schnell wieder gut gegangen, aber jetzt? Was war nur mit ihm los? Die anderen blickten ihm erstaunt nach, als Kyo vernehmen ließ: " Ich muss auch mal kurz raus, bin sofort wieder da!" Kyo blickte sich suchend vor dem Teehaus um. Weit konnte Die nicht sein, so wie es ihm ging. Waren die anderen wirklich so blind, dass sie nicht sahen, dass ihr Freund sich kaum noch auf den Beinen halten konnte? Wo war er nur? Ein schwaches Seufzen ließ ihn aufhorchen. Er blickte um die Ecke und fand dort Die, der kreidebleich an der Hauswand lehnte. "Oh Gott Die! Ist alles in Ordnung?" Kyo stolperte auf seinen Geta zu dem Rothaarigen und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. "Die? Die!" Ein verschwommener Blick traf ihn. "Bitte, geh weg und bitte, sag es den anderen nicht!" murmelte er kraftlos. "Was soll ich den anderen nicht sagen? Dass du halb am Abkratzen bist? Wann hast du das letzte Mal was gegessen? Meinst du ich bin so bescheuert und glaube dir, dass du vor jedem unserer Treffen schon eine Pizza essen warst? Für wie blöd hältst du mich eigentlich?" Mit diesen Worten griff Kyo ihm an den Kragen des Kimonos und riss ihn auf. Erschrocken zog er die Hände zurück. Was er da sah verschlug ihm die Sprache. Das war doch nicht Die. So ausgemergelt wie ein Skelett. Nur noch Haut und Knochen. Kyo spürte wie eine Hand sein Handgelenk umschloss und ihn festhielt. Die, der gerade seine letzten Energiereserven zu mobilisieren schien, blickte ihm fest in die Augen. "Ein Wort zu den anderen und du bist tot, verstanden?" Dann erhob sich der Rothaarige und ging in Richtung Wohnhaus davon. Er konnte es sich nicht verbeißen, dass das Wasser in seinen Augen stand. Warum hatte er Kyo nur so angefahren? Aber was musste der auch so neugierig sein. Kyo schlug mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Was sollte er nur machen? Er wusste jetzt, dass Die dabei war, sich zu Tode zu Hungern und er wusste auch, dass er ihm nie wieder vertrauen würde, wenn er mit den anderen darüber sprach. Er erhob sich und ging wieder zu den andern um weiter zu arbeiten. In seinem Kopf drehte sich alles. Und, wie raffiniert war Die, dass nicht einmal seine Familie und vor allem Toshiya etwas gemerkt hatten. "Hey Kyo! Wo ist denn Die abgeblieben?" Toshiyas neugieriges Gesicht tauchte auf einmal in seinem Blickfeld auf. "Äh, der... ja der hat einen Anruf bekommen und... äh muss noch mal an die Uni." "Na super. War ja so was von klar, dass der einen Weg findet um sich vor der Schufterei zu drücken!" grinste Toshiya und wischte vergnügt mit dem schmutzigen Lappen über die Wand. «Wenn du wüsstest... Uni... von wegen.» Anmerkungen: Hakama: So wird die Hose bei den Männerkimono genannt. (wer ,Kenshin' kennt, weiß wovon ich spreche) Sie wird auf eine spezielle Art und Weise gebunden. (So wie eigentlich jeder Knoten, der mit Kimono zusammen hängt) Kapitel 13: Flucht ------------------ "Mensch Kao, pass doch auf! Fast hättest du mich vom Dach geballert!" Toshiya saß rittlings auf dem Dach des kleinen Teehauses und klammerte sich an den Ziegel, den Kaoru ihm von der Leiter, auf der er stand, zugeworfen hatte. "Jetzt hab dich nicht so, ist ja nichts passiert!" Sie hatten das Teehaus innerhalb von einer Woche komplett wieder hergerichtet und gaben nun dem Dach den letzten Schliff. Nur gut, dass es ausnahmsweise einmal nicht regnete. "Shin, rück mal dein Handy raus! Diese Szene müssen wir festhalten. Das wird dann unter ,Stars am Abgrund' veröffentlicht wenn wir mal reich und berühmt sind!" Die stand grinsend neben Shinya und blickte nach oben. "So, und jetzt die Herren, bitte einmal ganz freundlich... sagt mal Cheeeeeese!" Die knipste mit Shinyas Handy wie wild um sich, um auch wirklich keine blöde Grimasse von Toshiya und Kaoru auszulassen. Kyo, der neben der Leiter stand und die Ziegel an den Leader weiterreichen sollte, rollte entnervt die Augen. "Die, wenn du nichts besseres zu tun hast, dann stell du dich doch bitte auf die Leiter. Dann werden wir auch heute vielleicht noch fertig. Genügend Energie scheinst du ja noch zu haben...!" "Nö, Kaoru gibt da oben gerade eine prima Figur ab, und ... Aua, sag mal spinnst du?!" Toshiyas Geta hatte ihn ziemlich unsanft am Oberschenkel erwischt. "Die, entweder du hilfst mit oder du lässt den Scheiß!" Toshiya war mittlerweile ziemlich genervt von dem kindischen Gehabe seines älteren Bruders. Dieses hyperaktive Theater. Und das schon seit Tagen. Alles fand sein Bruder so witzig, lustig und komisch. Er benahm sich, als hätte man ihm literweise Aufputschmittel verabreicht. Und damit lag Toshiya nicht einmal so daneben. Die, dessen Kreislauf immer häufiger einem Zusammenbruch nahe war, schluckte, um dem vorzubeugen, päckchenweise Koffein- und Vitamintabletten. Der Rothaarige starrte seinen Bruder mit wutverzerrtem Gesicht an. "Was fällt dir eigentlich ein? Darf man hier nicht mal mehr ein bisschen Spass machen, ohne dass du gleich austickst? Und danke auch das gibt sicher wieder einen netten blauen Fleck! Hat mir gerade noch gefehlt." Er warf Shinya das Handy zu, drehte sich um und ging. Die anderen sahen ihm verblüfft nach. Es kam selten vor, dass sich die beiden stritten, und wenn, dann nie so heftig, aber das beide auf einmal so ausrasteten, war schon merkwürdig. "Kommt, lasst uns weiter machen, der beruhigt sich sicher wieder." Toshiyas Stimme klang belegt. Was war nur los mit seinem Bruder? Er war doch sonst nicht so leicht eingeschnappt. Und von einem Treffer mit einem Geta war noch keiner tot umgefallen... ++++++++++++ «Was für ein Tag...» Shinya ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Die war nicht mehr zurückgekommen und auch die Freude, mit der sie die letzten Paar Tage zusammen an ihrem Probenraum gebastelt hatten, war verflogen. Beinahe in völligem Schweigen hatten sie das Dach fertig gemacht, Kabel verlegt und die Möbelstücke, die sie wieder mit hineinstellen wollten gestrichen. Danach war jeder nach Hause gegangen. Shinya hatte noch kurz zusammen mit Toshiya in dem kleinen Raum gesessen, hatte sich dann aber auch auf den Weg gemacht als er merkte, dass dieser alleine sein wollte. «Toshiya... » Shinya kramte in seinen Taschen nach dem Handy. Er wollte die Bilder sehen, die Die gemacht hatte. Toshiya auf dem Dachfirst. Toshiya mit dem Dachziegel. Toshiyas wütendes Gesicht. Kaoru und Toshiya. Kaoru der auf der Leiter herumschwankte. Kyo, der die Augen verdrehte und Kaoru einen Dachziegel entgegen hielt. Wieder Kaoru und Toshiya. Und schließlich wieder das Bild auf dem Toshiya auf dem Dach saß und herunterlächelte. Das erste Bild das Die gemacht hatte, bevor es zu diesem schrecklichen Streit gekommen war. Shinya lächelte. Wieder dieses Gefühl. Und mit jedem Mal wurde es stärker. Hatte er so etwas jemals zuvor erlebt? Aber wieso immer nur bei Toshiya? Wieder betrachtete er das Bild auf seinem Display. Er legte das Handy auf den Tisch und ließ sich auf das Sofa fallen. Was war nur los mit ihm. Er verstand sich selbst nicht mehr. Noch vor ein paar Wochen wäre er fast vor Trauer um Rika gestorben und jetzt gab es sogar Momente in denen sie ganz aus seinen Gedanken verschwunden war. Genauso wie das Heimweh. Und seine Hündin vermisste er auch nicht mehr so stark wie früher. Woran lag es? Daran, dass er endlich Freunde gefunden hatte? Ihm die Musik Spaß zu machen begann? Oder lag es wirklich nur an der Geborgenheit, die er fühlte, wenn er bei Toshiya war. Nur, was war Toshiya für ihn? Es war nicht das Gleiche wie mit Rika. Sie waren beste Freunde gewesen. Einer für den anderen da. Wie auch bei Toshiya. Aber es war anders. Bei Rika war er sich niemals unsicher gewesen. Nie errötet, wenn sie ihn angesehen hatte, oder bei einer versehentlichen Berührung. Nur manchmal, wenn er in seiner naiven Schusseligkeit wieder eine Dummheit begangen hatte. Aber damals war er stets vor Scham errötet und nicht aus Schüchternheit. Shinya legte den Kopf in den Nacken und blickte an die Decke. "Ach Rika... du bist doch jetzt mein Schutzengel, oder? Ich spüre doch, dass du da bist. Irgendwo... Weißt du, was mit mir los ist? Hast du nicht irgendeine Antwort?" murmelte er leise und schüttelte sich dann energisch. «Wahrscheinlich gibt es gar keine Engel. Eine Erfindung der Trauernden. Finde endlich wieder zurück in die Realität...» Er seufzte, stand auf und ging ins Bad um zu duschen, denn nach dem Arbeitseinsatz vom Nachmittag fühlte er sich furchtbar angestaubt. +++++++++ Toshiya setzte sich auf sein Bett. Ihn fror. Was war nur los mit Die? Der Ältere war doch sonst nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Und heute Nachmittag hatte er ihn angesehen, als würde er ihn hassen. Dabei mochte er seinen Bruder doch. Ihm war nur der Geduldsfaden gerissen nachdem Die wieder einmal das Spielkind heraushängen hatte lassen müssen. Er hatte ihm doch nicht absichtlich wehtun wollen. Ob er ihm immer noch böse war? Es gab nur einen Weg um das herauszufinden. Er stand auf, ging hinaus in den Flur und lauschte an Dies Tür. Von dort drangen gedämpfte Gitarrenklänge nach draußen. Toshiya seufzte. Das bedeutete, dass sein Bruder nicht in allerbester Stimmung war. Er spielte zwar oft, aber kaum solche ruhigen und zarten Klänge wie jetzt. Aber er musste es riskieren. Zaghaft klopfte er an. Von drinnen kam keine Antwort. Er klopfte fester. Ein unwirsches Brummen drang nach außen und das Gitarrenspiel brach ab. Vorsichtig öffnete Toshiya die Tür und schob sich ins Zimmer. Die saß auf seinem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt und seine Akustikgitarre auf dem Schoß. "Was willst du?" er sah Toshiya verärgert an. "Die, das wegen heute Mittag tut mir leid. Ich hätte nicht nach dir werfen dürfen!" "Nein, du hättest nur besser danebenzielen müssen!" Toshiya sah seinem Bruder ins Gesicht. Seit wann war der Rotschopf so sarkastisch? "Die, gibt es irgendetwas, das dich belastet und ich dir vielleicht helfen könnte? Ich weiß, ich bin nur dein kleiner Bruder, aber..." setzte Toshiya an aber Die unterbrach ihn: "Ja richtig. Du bist nur mein kleiner Bruder. Der mich bewirft, und mir momentan tierisch auf den Nerv geht mit seiner Psychonummer. Und könnte er hier jetzt bitte verschwinden, denn der große Bruder möchte seine Ruhe haben." "Aber Die ich..." "Raus!" Die letzten Worte gaben Toshiya den Rest. Er taumelte rückwärts aus dem Zimmer des Rotschopfes und knallte die Tür hinter sich zu. Er hatte sich doch nur entschuldigen wollen. Und seinem Bruder seine Hilfe anbieten wollen. Was hatte er nur falsch gemacht? Die lies sich wieder gegen die Wand fallen. «Scheiße... jetzt auch noch Toshiya... reicht es nicht dass ich Kyo so dumm angemacht hab? Was ist nur los mit mir? Warum bin ich so gereizt? Jeder kleinste Mist bringt mich sofort zum explodieren, dabei will ich das doch gar nicht. Ich geh mich besser gleich entschuldigen... der arme Kleine...ich bin so ein Arsch...» Die stand auf, schlüpfte in seine Hausschuhe und ging zu Toshiyas Zimmer. Die Tür stand halb offen. Der Rotschopf blickte hinein. Toshiya war nicht darin. Er hörte Schritte, dann schlug die Haustür zu. «Toshiya..» Die rannte los um seinen Bruder noch einzuholen. Auf dem halben Weg taumelte er. Ihm wurde schwarz vor Augen und er musste sich setzen. Seine Mutter hatte aus der Küche offenbar mitbekommen, dass erst der eine und dann der andere ihrer beiden Söhne durch den Flur gerannt war. "Nichts Mama. Toshiya hatte es nur etwas eilig und hat seinen Schal vergessen. Aber ich habe ihn doch verpasst." Eine dümmere Ausrede war ihm auf die Schnelle nicht eingefallen. Langsam zog er sich auf die Beine. Nicht dass seine Mutter ihn auch noch so auf dem Boden sitzend fand. Er schleppte sich zurück in sein Zimmer und ließ sich wieder auf sein Bett fallen. Er wusste eigentlich, wie sensibel sein Bruder reagieren konnte und trotzdem hatte er sich dazu hinreißen lassen... ++++++++++ Toshiya rannte durch die Nacht. Was hatte er nur getan, warum war Die so sauer? Er bemerkte nicht, wie ihm die Leute nachstarrten. Ein junger Mann im Kimono und Turnschuhen, der durch die Stadt rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Und einer Miene als sei das tatsächlich der Fall. Es begann zu regnen. Erschöpft und durchnässt lehnte sich Toshiya an eine Hauswand. Was war nur in ihn gefahren, dass er wie ein Irrer von zu Hause weg gerannt war? Die hatte ihn aus seinem Zimmer geworfen und nicht aus dem Haus. Aber wollte jetzt nicht zurück, nicht zurück unter ein Dach mit Die. Nur wohin? Er blickte sich um. Hier in der Nähe wohnte Shinya. Er wickelte den durchweichten Kimono fester um sich und lief wieder durch den Regen. Kapitel 14: Chaos ----------------- Shinya schlüpfte in seinen Schlafanzug und zog seinen warmen Yukata* über. Eine Tasse Tee wäre jetzt auch nicht schlecht. Mit einer Kanne Tee und seiner Lieblingstasse ging er ins Schlafzimmer und ließ sich auf dem Boden vor seinem Bücherregal nieder. Was wollte er jetzt lesen? Morgen hatte er eine Vorlesung in Physik, also heute lieber nichts darüber. Sonst würde er wieder die meiste Zeit halb schlafend im Hörsaal verbringen. So konnte er sich zumindest einreden, es interessant zu finden. Also lieber etwas Philosophisches. Er zog ein Buch aus dem Regal, legte sich auf sein Bett und begann zu lesen. Es ging um schicksalhafte Liebe. Shinya legte seine Lektüre zur Seite. «Liebe... irgendwie war ich noch nie verliebt. Ich weiß eigentlich nicht einmal, wie sich so etwas anfühlt... man will bei dem sein den man liebt... fühlt Dinge, wie bei sonst keinem Menschen... mmh... eigentlich wie bei mir und... » Die Klingel riss ihn aus seinen Gedanken. «Wer ist das denn jetzt? Um diese Zeit...» "Hi Shin, kann ich rein kommen?" ein völlig durchweichter Toshiya stand im Türrahmen und fror erbärmlich, als Shinya die Tür öffnete. "Natürlich. Was ist denn passiert? Du siehst ja furchtbar aus!" er zog den Blauhaarigen in seine Wohnung und schob ihn direkt ins Bad. "Du stellst dich am Besten erst mal unter die heiße Dusche." Shinya drückte seinem Freund ein Handtuch in die Hand. "Und währenddessen such ich dir trockene Kleider von mir raus. Und dann erzählst du mir, was los ist, ja?" Toshiya nickte und Shinya ging in sein Zimmer um in seinem Kleiderschrank zu kramen. «Was geb' ich ihm nur für Kleider? Den großen weichen Pulli hat immer noch Kaoru... und Unterwäsche bräuchte er vermutlich auch, so durchweicht wie er ist... Wo hab ich denn nur... ah, genau, die Boxershorts, die mir Tante Rin geschenkt hat... mir sind die viel zu groß, aber Toshiya könnten sie passen...aber mit Snoopy drauf? Egal... Hauptsache sie passen. Und einen Pulli... genau und die Baggys... die könnten auch von der Größe her reichen... so...» Shinya machte sich wieder auf den Weg zum Badezimmer. Scheinbar war Toshiya fertig mit Duschen, denn er hörte kein Wasser mehr laufen. Zaghaft klopfte Shinya an. Er konnte ja schlecht einfach so hinein platzen. Er spürte wie es ihn heiß überlief, als er an Toshiya dachte. «Shinya... genug jetzt...» Vorsichtig schob er die Tür auf. Toshiya saß zusammengesunken auf dem Badewannenrand, das Handtuch um die Hüften geschlungen und starrte vor sich hin. "Hier, ich hab die Kleider von mir rausgesucht. Ich hoffe sie passen." Toshiya blickte auf "Danke." "Ich... äh... geh dann schon mal ins Wohnzimmer." Shinya schloss die Tür hinter sich und lehnte sich von außen dagegen. In ihm machte sich ein Gefühl von Verwirrung breit. Was fühlte er für Toshiya? Der Blauhaarige ließ sich neben Shinya aufs Sofa fallen. Er seufzte. Shinya blickte auf und sah ihn an "Toshiya, magst du mir vielleicht sagen, was los ist?" Toshiya legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. "Ich wollte mich bei Die entschuldigen und ihm meine Hilfe anbieten. Ich merke ja, dass es ihm nicht gut geht. Aber er hat mich kaum zu Wort kommen lassen und mich dann aus seinem Zimmer geworfen... und..." seine Stimme wurde leiser "dann bin ich einfach abgehauen. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen, dass er mich so behandelt... und..." Toshiya schlug sich die Hände vors Gesicht. "Weißt du Shin, es geht schon seit Tagen... oder besser Wochen schon so. Die... er ist so launisch und reizbar. Schlimmer als ein Teenie in der allerschlimmsten pubertären Phase... Ich weiß nicht mehr was ich machen soll..." "Meinst du nicht, dass es ihm längst Leid tut?" Shinya streichelte sanft über Toshiyas nasse Haare. Mit einem Mal hatte er keine Hemmungen mehr, ihn zu berühren. «Vielleicht, weil er mich jetzt als Freund braucht...» "Weißt du, ich kenne deinen Bruder nicht so gut wie du, nicht mal annähernd, aber ich glaube, er ist nicht so gefühlskalt, dass er nicht längst bemerkt hat, dass er zu weit gegangen ist." Toshiya schaute Shinya mit wässrigen Augen an. Seit wann war Shinya so ein Menschenkenner? Woher wusste er, wie er seine Worte in solchen Situationen setzen musste? «Ich kenne wohl nur seine trauernde, hilfsbedürftige Seite. Aber er ist wirklich stark...» Ihn fröstelte wieder. "Toshiya, du bist immer noch total unterkühlt. Ein Wunder, dass du dir da draußen nicht den Tod geholt hast. Das Beste ist, du legst dich auf der Stelle ins Bett. Ich mache dir eine Wärmflasche und Tee habe ich auch noch im Schlafzimmer..." "Aber..." "Kein aber." Erschöpft sank der Blauhaarige auf Shinyas Bett nieder. "Hier, trink das, das wärmt von innen!" Shinya reichte seinem Freund eine Tasse Tee. "Und dann leg dich hin und deck dich zu." Besorgt musterte Shinya das blasse Gesicht Toshiyas, der sich in die Kissen vergraben hatte und dessen Atem jetzt ruhig und gleichmäßig ging. Vorsorglich breitete er noch eine weitere Decke über ihn. Gerade als er ihm sanft mit der Hand über die Wange streicheln wollte, klingelte das Telefon. "Hallo Kaoru, gut dass du anrufst. Toshiya ist bei mir. Ich habe ihn erst mal ins Bett gesteckt, er war total ausgekühlt." "Die beiden hatten wieder Krach und Toshiya hat es zu Hause nicht mehr ausgehalten..." "Gute Nacht" Shinya konnte sich nicht dagegen wehren, dass er wieder rot wurde. «Bestens aufgehoben... ja, sicher... auch wenn mich der Geschwisterzoff nichts angeht... aber ich möchte, dass es Toshiya gut geht...» Shinya zog seinen Yukata aus und setzte sich neben Toshiya aufs Bett. Sein Gesicht zeichnete sich hell gegen die Kissen ab und wurde durch das einfallende Licht von außen noch zusätzlich hervorgehoben. Wieder stieg dieses Gefühl in ihm auf. Aber es war anders. Bedrückender. Gepaart mit Traurigkeit. Was wenn er sich doch in ihn verliebt hatte? Aber das konnte nicht sein. Toshiya war ja keine Frau, trotz seinem recht femininen Äußeren. Und wenn doch? Nein, das durfte nicht sein. Toshiya war einer seiner besten Freunde. Mit seinen Gefühlen für ihn würde er ihn hintergehen. Er brauchte ihn doch jetzt - irgendwie. Shinya legte sich neben Toshiya unter die Decke, peinlichst darauf bedacht, so weit wie möglich Abstand von ihm zu halten. +++++++++ «Was ist das denn?» Als Shinya am nächsten Morgen aufwachte, spürte er etwas warmes, dass sich um ihn geschlungen hatte. Schlaftrunken öffnete er die Augen. Toshiya hatte im Schlaf seinen Arm um Shinya gelegt und sich an ihn gekuschelt. Shinya schoss sofort wieder das Blut ins Gesicht und sein Herz begann wie wild zu klopfen. «Was mach ich nur, wenn Toshiya jetzt aufwacht... » Aber konnte sich noch nicht davon lösen, genoss die Wärme die Toshiya ihm schenkte. Schließlich schob er vorsichtig Toshiyas Arm von sich und versuchte sich geschickt aus dem Bett zu manövrieren, ohne dass der Andere es mit bekam. Als er es endlich geschafft hatte, stürzte er aus dem Zimmer und flüchtete sich ins Bad. Seine Gefühle in ihm fuhren jetzt Achterbahn. Er ließ sich an der Tür hinab gleiten und verbarg den Kopf in den Händen. Er schämte sich zutiefst. Es war ihm ja nicht einmal unangenehm gewesen. Und Toshiya hatte das ja sicher nicht mit Absicht gemacht. Schließlich hatte der geschlafen und außerdem, so sagte sich Shinya selbst, ging es ihm momentan nicht so gut, verständlich dass er sich da im Schlaf an ihn gekuschelt hatte. Toshiya schlug die Augen auf und sah gerade noch, dass jemand wie gehetzt das Schlafzimmer verlies. Wo war er eigentlich? Und warum lag er völlig angezogen im Bett? Langsam dämmerte ihm, dass er sich nicht bei sich zu Hause im Bett befand, sondern bei Shinya. Und alle Geschehnisse des letzten Tages fielen ihm wieder ein. Der Streit mit Die, die missglückte Entschuldigung und seine Flucht von zu Hause. Toshiya dreht sich auf den Rücken und seufzte. Wie sollte das bloß weiter gehen. Und mit Shinya... er erinnerte sich dunkel daran, dass er sich wohl in der Nacht an ihn geklammert haben musste, als er so gefroren hatte. Ob der Kleine es bemerkt hatte? «Hoffentlich nicht... es reicht ja schon, dass ich ihm bald nicht mehr ins Gesicht sehen kann ohne rot zu werden... oh Gott... was mach ich nur... Toshimasa, reiß dich zusammen... krieg dein Gefühlschaos wieder unter Kontrolle... ja verdammt, Shinya ist total süß... aber er ist dein Freund und er steht garantiert nicht auf dich...» ++++++++++ Das Frühstück und den Weg zur Uni hatten sie, fast schweigend, hinter sich gebracht. Toshiya trug immer noch Shinyas Kleider und in einer Tüte seinen Kimono. Keiner der beiden verspürte das Bedürfnis mit dem anderen zu reden und beide hingen ihren verworrenen Gedanken nach. Shinya dachte über seine Freundschaft und Gefühle für Toshiya nach und Toshiya über seine Gefühle für Shinya und den Streit mit seinem Bruder. Schließlich trennten sich ihre Wege und jeder verschwand in seinem Hörsaal. ++++++++++ Oh Gott, dass kann doch wohl nicht wahr sein... jetzt kann ich ihm nicht mal mehr in die Augen sehen... ich hätte mich nicht dazu hinreißen lassen dürfen, die Nähe zu ihm so zu genießen. Ich bin ein Mann und er ist ein Mann. Und das ist nicht normal. Abartig sich in einen Kerl zu verlieben... was würde er sagen, wenn er es erfahren würde? Wahrscheinlich wäre es dann vorbei mit unserer Freundschaft... aber ich kann nichts gegen diese Gefühle machen... und wenn ich es ihm einfach sage? Und ihn bitte, Verständnis dafür zu haben? Verständnis wofür? Dass ich mich in ihn, einen Kerl verknallt habe? Und dann? Sagen, dass ich mich schon wieder unter Kontrolle bekommen werde und diese Gefühle sicher irgendwann im Sand verlaufen werden? Und wenn sie es dann doch nicht tun? Und es nur noch schlimmer wird? Und es würde immer zwischen uns stehen... Und wenn er das gleiche für mich fühlt? Mal abgesehen davon, dass ich mir da nicht die geringsten Hoffnungen zu machen brauche, es ist sowieso nicht so, aber wenn... wie sollten wir das unseren Eltern beibringen... oder unseren Freunden... einfach so von wegen, hört mal alle her, wir sind nicht schwul, wir haben uns nur aus Versehen in einander verknallt weil er so feminin aussieht, tja, Pech gehabt, akzeptiert es oder lasst es bleiben? In diesem Land ist es nun mal so, dass es nicht akzeptiert wird... nicht ohne weiteres zumindest... aber die Frage stellt sich sowieso nicht... diese Liebe ist sowieso nur einseitig... also was soll's? Warum zerbreche ich mir hier eigentlich so den Kopf... Lieber auf die Vorlesung konzentrieren... Anmerkungen Yukata: leichter Kimono aus Baumwolle, entweder fürs Haus oder für den Sommer. Kapitel 15: Interlude: Kyo-ni ----------------------------- Nervös trommelte Kyo mit dem Stift auf den Block, den er vor sich liegen hatte. Die Vorlesung zog ungehört an ihm vorbei. Was sollte er nur mit Die machen? Das der Rotschopf magersüchtig war, war ihm in den letzten Tagen mehr als klar geworden. Immerhin hatte er in der Nervenheilanstalt, in der seine Mutter behandelt worden war, genügend Frauen mit der Krankheit gesehen um zu wissen, was das hieß. Und er verstand auch genug von Psychologie um zu wissen, wie es in Die aussah. Es deutete alles darauf hin. Die Fragen vor Wochen in der Mensa, die Stimmungsschwankungen, der Streit mit Toshiya, die plötzlichen Aussetzer, der Kreislaufkollaps... Nur was sollte er tun? Wieder mit Die reden? Wieder eine Abfuhr kassieren und einen erneuten Streit heraufbeschwören? Musste er seinen Freund erst in eine Klinik schleifen, damit dieser zur Vernunft kam? Er hielt es nicht mehr aus. Er musste hier raus. Mit einem Ruck raffte er die Sachen, die er vor sich liegen hatte zusammen, quetschte sich rücksichtslos an denen, die noch im Saal standen oder auf dem Boden saßen vorbei und verließ fluchtartig den Hörsaal. Draußen angekommen zündete er sich eine Zigarette an, zog an ihr und warf sie dann in einem Anfall von Verzweiflung auf den Boden und stampfte darauf herum. «Ruhig Kyo, es nützt nichts, wenn du jetzt selbst noch durchdrehst... aber was jetzt?» Er lief über den Campus, bis er an den Baum kam, unter dem er Die vor einigen Wochen angetroffen hatte. Ein guter Platz um in Ruhe über alles nachzudenken. Er warf seine Tasche auf den Boden und setzte sich darauf. Obwohl es bereits Winter war, war es doch wieder recht warm. Sollte er das Versprechen, das Die ihm aufgezwängt hatte brechen und mit den anderen darüber reden? Oder würde das alles nur noch schlimmer machen? Was hatten die Ärzte in der Klinik wohl mit den magersüchtigen Frauen gemacht? Er fühlte sich hilflos. Wie immer. Und der Schmerz, mit dem er selbst zu kämpfen hatte, stieg wieder in ihm hoch. Aber er hatte nichts, womit er sich selbst verletzen konnte. Er schlang die Arme um seinen Körper und presste sie so fest an sich, bis es schmerzte. Langsam ließ der Druck in seinem Inneren nach. Eine gute Stunde war vergangen, als ein Schatten über ihn fiel. "Kyo, was machst du denn hier? Hast du Die gesehen?" Kaorus lächelndes Gesicht schob sich in sein Blickfeld. "Nö, keine Ahnung. Ich hab ihn heute noch nicht gesehen." "Und was ist mit dir? Siehst ziemlich fertig aus." "Zuwenig Schlaf." "Verstehe." "Sag mal Kao..." Kyos Gedanken rasten. Wie sollte er Kaoru um Hilfe bitten, ohne dass dieser mitbekam, um wen es eigentlich ging? "Ja, was?" "Ähm ein Mädchen, das ich kenne... ähm, sie ist... naja... sie macht eine Diät nach der anderen... und also, ich befürchte, dass sie magersüchtig werden könnte... und hast du ne Idee, wie ich sie davon abbringen könnte?" Jetzt war es heraus. Nicht ganz die Wahrheit, aber besser als nichts. Kaoru blickte Kyo erstaunt an. Seit wann machte sich der Jüngere Sorgen um Mädchen? "Ist was?" Kyo funkelte ihn ärgerlich an. "Nein, nein, nichts." wehrte Kaoru ab "Naja, wie könntest du ihr helfen... ich habe zwar auch keine Ahnung, aber du könntest ihr vielleicht ein Bild unter die Nase halten, auf dem eine Person mit extremer Magersucht drauf ist. Und sie mal fragen, ob sie das wirklich noch schön findet. Aber ansonsten... nö, keine Ahnung." Ja, das war eine Idee... Aber ob das bei Die wirken würde? Schließlich war er nicht mehr auf dem besten Weg in die Magersucht, sondern er steckte bereits ziemlich tief darin. Und würde er es nicht als Ablehnung auffassen, wenn man ihm sagte, dass das, was er tat, "nicht mehr schön" war? "Also ich muss dann mal weiter. Halt die Ohren steif!" Kaoru grinste Kyo noch ein weiteres Mal an, bevor er sich wieder in Richtung Hörsaal davon machte. Kyo zog sich eine neue Kippe aus der Schachtel und steckte sie an. «Ein Bild von einer Magersüchtigen... oder besser einem Kerl... wo krieg ich so was nur her? Na klar, in der Bibliothek haben die sicher was darüber...» Mit diesen Gedanken erhob er sich ebenfalls und ging in Richtung Bibliothek. "Also über Annorexia Nervosa? Ja, da müssten wir etwas da haben. Einen Moment, ich schaue nach." Kyo verdrehte die Augen. Irgendwie kam er sich komisch vor. Und nicht nur das. Er fühlte sich absolut unwohl in seiner Haut. Würden ihn die ganzen Bilder nicht wieder daran erinnern, was er gesehen hatte, damals in der Psychiatrie? Das was er immer versuchte zu verdrängen, weil er es nicht verarbeiten konnte? Was, wenn er sich nicht mehr unter Kontrolle haben würde, wenn er heute Abend wieder alleine war? "Im zweiten Stock, Abteilung Psychologie 3. Regal. Sparte E." "Danke." «Oh mein Gott, wie kann man sich so etwas nur antun?» mit fassungslosem Blick blätterte Kyo das Buch durch in dem Bilder von allen möglichen Auswirkungen der Magersucht abgebildet waren. «Wie kann man nur so etwas mit seinem Körper anstellen...» gedankenverloren rieb er sich über die Kratzer an seinem Unterarm, die angefangen hatten zu heilen und deshalb juckten. Eine davon riss auf und er verrieb das Blut, ohne es zu bemerken, auf seinem Arm. Ja, da war ein geeignetes Bild. Das würde er kopieren und es Die unter die Nase halten. ++++++++++++++++++++++++++++++ Der Anrufbeantworter blinkte. Immer wieder blinkte das rote Licht auf. Bedrohlich in dieser dunklen Wohnung. Ihn fröstelte. Zögernd drückte Kyo auf die Taste für "Abspielen". Kyo schüttelte angewidert den Kopf. Was kümmerte ihn sein Vater? Was war er froh, nichts mehr mit diesem Säufer zu tun zu haben. Das wusste seine Mutter doch nur allzu gut. Was nervte sie ihn denn jetzt immer noch mit ihm? Hatte er sein Leben nicht genügend kaputt gemacht? Konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Ein bitteres Lachen hallte durch die Stille. Was wollte sie denn noch alles? Er wollte nichts als seine Ruhe. Fassungslos starrte Kyo in die Dunkelheit. Das Blinken des Anrufbeantworters hatte aufgehört. Jetzt hatte er doch, was er wollte, oder nicht? Sein Vater würde ihn für immer in Ruhe lassen. Und auch seine Mutter hatte nun keinen Grund mehr, ihn damit zu belästigen. Sie könnten ihn doch ab jetzt alle mit der Vergangenheit zufrieden lassen. Aber warum tat es so weh? Er hatte seinen Vater doch immer so gehasst. Der Schmerz schnürte ihm fast die kehle ab. Verzweifelt rang er nach Luft. Ein Keuchen kam aus seiner Kehle, und die Tränen, die ihm die Luft abgeschnürt hatten, brachen hervor. Alles, was er die Jahre zuvor unterdrückt hatte, kam auf einen Schlag hervor. Warum hatte sein Vater das getan? Was hatte er ihm getan? War er so ein schlechter Mensch, dass er geschlagen werden musste? Nicht liebenswert. Musste man ihn schlagen? Immer mehr Erinnerungen überfluteten ihn. Aber er wollte es nicht. Wollte sich nicht wieder an alles erinnern müssen. Er sprang auf und rannte ins Schlafzimmer. Riss sich seinen Pulli vom Leib, griff sich eine Scherbe und begann zu ritzen. Heftiger und immer tiefer, bis das Blut in Strömen seinen Oberkörper hinab floss. Er konnte nicht mehr, wollte nichts mehr fühlen. Der Schmerz in seinem Inneren sollte endlich aufhören. Mit letzter Kraft schlug er erneut in de Spiegel. Dieses Mal zersplitterte er vollständig. Mit einem lauten Klirren fielen die Scherben wie ein Wasserfall auf den Boden. Er hatte es geschafft... der körperliche Schmerz überlagerte den auf seiner Seele. Er lies sich auf die Knie fallen. Die Scherben spürte er nicht mehr. Konnte es nicht mehr. Er musste durchhalten. Irgendwann würde es besser werden. Er würde es schaffen durchzuhalten Es konnte ihm ja nicht nur schlecht gehen. Durchhalten... für sich und für Die. Der durfte nicht daran kaputt gehen, dass Kyo der Einzige war, der ES wusste, und unfähig war, seinen eigenen Schmerz auszuhalten. Nicht mehr lange und er würde sicher das Ende des Tunnels erreicht haben... Mit diesen Gedanken wurde er ohnmächtig. Anmerkungen Kurotani: aus den Kanji kuro (= schwarz) und tani (= Tal) Kapitel 16: Rückzug ------------------- Mit einem tiefen Seufzer gab Toshiya der Teppichrolle einen festen Stoß, wodurch sie sich über den ganzen Boden ausrollte. Der Probenraum war soweit fertig, nur der Teppich, der den kahlen Boden abdecken sollte, hatte noch gefehlt. Alles andere war wunderbar geworden. Das Dach war wieder dicht, die Kabel verlegt und alles glänzte und strahlte vor Sauberkeit. Keine Spur mehr davon, dass das Teehaus noch vor ein paar Wochen dabei war, buchstäblich zu verfallen. Sogar ein kleines Sofa hatte den Weg hinein gefunden. Und nun legte er letzte Hand an und verlegte den Teppich. Aber eigentlich war es nur eine Art Flucht. Vor Die und vor sich selbst. Sein Bruder hatte sich zwar für seinen Ausraster entschuldigt, aber seitdem war nichts mehr wie zuvor. Die ging ihm kontinuierlich aus dem Weg, erschien nicht mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten und redete, wenn, dann nur das Nötigste mit ihm. Und Toshiya traute sich nicht mehr nachzufragen. Aus Angst, dass sich die Szene wiederholen könnte. Toshiya schnitt mit dem Teppichmesser die überstehende Kante ab. Was Shinya wohl machte? Er hatte ihn seit vier Tagen nicht mehr gesehen. Die Kleider hatte er Kaoru mitgegeben, als dieser einmal bei Die aufgekreuzt war, damit er sie ihm am nächsten Tag an der Uni hatte geben können. Er selbst war nicht mehr hingegangen, sondern hatte sich lieber in den Probenraum oder seinen kleinen Raum im Schrein zurückgezogen. Er konnte Shinya nicht gegenüber treten. Nicht solange sich seine Gefühle für den Jüngeren nicht beruhigt hatten. Schon in der Vorlesung hatte er sich mit dem Gedanken herum geschlagen, dass er sich in ihn verliebt hatte. Und ständig wurde das Gefühl stärker. Aber es durfte nicht sein. Schließlich waren weder er noch Shinya schwul. Oder zumindest war es Shinya nicht. Bei sich selbst war er sich da mittlerweile nicht mehr sicher. Was würde passieren, wenn er Shinya seine Gefühle offenbarte? Was würde dieser tun? «Mir vermutlich nicht mehr vertrauen. Und sich bewusst von mir fernhalten. Er würde damit sicher nicht zu Recht kommen. Und dann hätte er wieder einen Freund verloren... aber das darf nicht sein... gerade hat sich der Kleine wegen Rika wieder gefangen... nein, das kann ich ihm nicht antun...» Der Blauhaarige sammelte die verstreuten Teppichreste ein und warf einen prüfenden Blick in den Raum. Ja, so sah das doch ganz passabel aus. Jetzt fehlte nur noch der Heizkörper, den sein Vater gestiftet hatte und dann konnten die Proben beginnen. "Hey Toshiya! Wie sieht es aus? Gibt es noch was für mich zu tun?" Kaorus Stimme schallte den Weg herauf. "Nein, eigentlich nicht. Oder doch, der Heizkörper muss noch aus der Haupthalle geholt werden. Hilfst du mir damit?" "Klar. Lass mal sehen, wie es jetzt aussieht... wow, ich würde sagen, wir haben ganze Arbeit geleistet. Dann könnten wir morgen doch ne kleine Einweihungsparty machen, oder?" "Eine Einweihungsparty? Morgen?" Toshiya schluckte. Dann müsste er Shinya schon morgen gegenüber treten. "Oder passt es dir morgen nicht?" Kaoru schaute ihn fragend an. "Naja, eigentlich, weißt du, wäre es mir lieber das Ganze auf nächste Woche zu verschieben. In drei Tagen ist Setsubun und dann ist das hier immer ein bisschen stressig...äh, wie wäre es, sagen wir zwei Abende nach Setsubun? Dann ist der größte Stress vorbei und wir können die Fressalien haben, die jedes Jahr en masse übrig bleiben..." "Mensch, das ist auch ne Idee. Toshiya, du bist echt klasse. Ja, machen wir es so." Toshiya atmete erleichtert auf. Dann müsste er Shinya erst in drei Tagen wieder gegenübertreten. Und da würde er in der Hektik keine Zeit haben, über alles nach zu denken. "Hey, und mach dir wegen Die keine Gedanken, ja? Ich hab gerade noch mal mit ihm gesprochen. Er sagt, er muss momentan einfach mal ein bisschen seine Gedanken ordnen, dann wird er schon bald wieder der Alte sein, ja?" «Wenn du wüsstest...» dachte Toshiya traurig. «Da hat er dir ja einen schönen Bären aufgebunden. Jemand der seine Gedanken ordnen müsste, benimmt sich doch nicht so. Schon gar nicht er. Ich kenne ihn doch...» Mit vereinten Kräften schleppten die beiden schließlich noch den Heizkörper in ihren Probenraum, dann musste Kaoru wieder zurück an die Uni. +++++++++++++++++++++++++++ Suchend blickte sich Shinya um. Seit vier Tagen war Toshiya nicht mehr an der Uni gewesen, geschweige denn in der Philosophie-Vorlesung. Krank war er nicht. Kaoru hatte nichts davon gesagt, als er ihm die Kleider wieder mitgebracht hatte, und Die würde ihn sicher nicht anlügen.» «Außer Toshiya hätte ihn darum gebeten... er würde für seinen Bruder lügen, da bin ich mir sicher... aber was, wenn Toshiya ihn darum gebeten hat? Wenn er mich nicht mehr sehen will?» Ein weiteres Mal blickte er sich suchend um. Nein, Toshiya war nicht im Hörsaal. Aber warum war er denn nicht da? Wegen dem Streit mit Die? Aber das würde ihm doch auch nichts bringen. Schließlich musste sie einander zu Hause auch aushalten. Und wenn es doch wegen ihm war? Wenn Toshiya es doch gemerkt hatte, dass er sich nicht sofort aus seinen Armen befreit hatte, als er wach wurde? Sondern sich ganz im Gegenteil noch tiefer in die Umarmung gekuschelt hatte? Was sollte er nur machen? Eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Und Toshiya war ja auch nicht blind. Shinya war sich sicher, dass der andere gemerkt hatte, dass er selbst mehr empfand als nur Freundschaft. Aber war er wirklich verliebt in Toshiya? Oder war es nur eine Schwärmerei? Eine Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit, die er seit Rikas Tod nicht mehr gespürt hatte? «Ich weiß es nicht... ich weiß es wirklich nicht... ich hatte ja noch nie einen besten Freund... Rika war meine beste Freundin... wie eine Schwester. Eigentlich meine einzige Freundin... die anderen haben sich ja immer nur über mich lustig gemacht... was kann ich für mein Gehirn...aber kenne ich den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe überhaupt? Wohl kaum... aber ich sollte mich besser auf die Vorlesung konzentrieren. Schon alleine, dass ich Toshiya dann zumindest sagen kann, um was es ging...» Mit einem Seufzer wandte Shinya seine Aufmerksamkeit der Vorlesung zu, krampfhaft versucht, zuzuhören und mitzuschreiben. Vielleicht würde er ja hier eine Antwort auf seine Frage bekommen, immerhin hatten sich die Philosophen aus aller Welt schon seit tausenden von Jahren mit der Liebe beschäftigt. <... lassen sie mich am Ende dieser Vorlesung zu diesem Thema ein Gedicht vorlesen, das ich selbst verfasst habe...> Shinya horchte auf. Das Ende der Vorlesung? Schon? Was war das Thema dieses Mal eigentlich? Vorsichtig schielte er auf den Block seines Nebenmannes, der eifrig mitgeschrieben hatte. < Liebe - gegen jede Ethik und Moral> zierte dort als große Überschrift die aufgeschlagene Seite. Es passte ja. < Sag mir... Sag mir Wanderer, auf den stillen Pfaden der Einsamkeit, was ist es, das der Mensch Liebe nennt? Ist es der Schmerz, der mir den Atem nimmt? Ist es die Hoffnungslosigkeit, die mich gefangen hält? Ist es die Traurigkeit, die mein Herz kalt umklammert? Oder ist es die kleine weiße Lilie am Wegesrand, die meine Seele mit ihrem Duft betört? Ich bitte dich, zeig mir die wahre Liebe, du Bruder meiner Schatten. *> rezitierte der Professor mit gefühlvoller Stimme. Shinya kritzelte eifrig mit. Als der Professor geendet hatte überflog er die geschriebenen Zeilen ein weiteres Mal. Er wurde blass. «Es passt... wie die Faust aufs Auge... jedes Wort, jeder Vers... was soll ich nur machen? Toshiya...» Die Vorlesung war zu ende und die Studenten strebten auf den Ausgang zu. Shinya, unfähig noch etwas Klares zu denken, ließ sich einfach von der Masse mit treiben. Bis er schließlich ohne es zumerken, vor Kaoru stand, der scheinbar auf ihn gewartet hatte. "Hey Shin! Shinya???" wiederholte er, nachdem der Jüngere beinahe an ihm vorbeigegangen wäre. "Oh...hallo Kaoru!" "Leicht verplant heute, was?" lachte dieser und tätschelte ihm dann grinsend mit einer väterlichen Geste die Schulter. Ohne darauf einzugehen blickte Shinya dem anderen direkt in die Augen, sodass Kaoru erstaunt seine Hand zurückzog. "Kaoru, kann ich dich mal was fragen?" "Klar, wo brennt's denn?" «Brennen... gut erkannt» "Wie man erkennt, ob man verliebt ist?" Kaoru zog erstaunt an seiner Zigarette und blies den Rauch in Ringen wieder aus. Shinya wedelte ungehalten mit der Hand die kunstvollen Ringe wieder weg. "Gute Frage..." Insgeheim wunderte sich der Lilahaarige schon. Was war denn heute mit seinen Freunden los? Erst Kyo mit seinen Sorgen um das magersüchtigen Mädchen und jetzt Shinya, der ihn allen Ernstes fragte, wie es sich anfühlte, wenn man verliebt war. "Das übliche blabla brauche ich dir vermutlich nicht aufzutischen mit dem Herzklopfen und dem die Nähe des anderen suchen und so..." Shinya schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte er keine wirkliche Ahnung, was das "übliche blabla" war, denn er hatte sich nie wirklich dafür interessiert, aber das wollte er vor Kaoru jetzt nun wirklich nicht zugeben. Immerhin hatte er sich schon dazu hinreißen lassen, überhaupt mit jemandem zu reden. "Naja, überleg doch mal so: ist zwar banal, aber vielleicht wirkungsvoll: Stell dir einfach vor, ob du zu demjenigen die körperliche Distanz ganz überwinden könntest, die jeder Mensch in gewissem Maß zu anderen braucht. Und sei es für den Anfang nur, denjenigen intensiv zu umarmen und zu küssen. Hilft dir das weiter?" "Mmmh, ja, ich denke schon..." Und Kaoru begriff, dass es wohl sinnlos war, Shinya zu fragen, wer denn "die Glückliche" war. Denn diesen Blick kannte er noch allzu gut. Jetzt konnte man Shinya sogar eine Million Yen bieten und er würde ablehnen. Musste er eben seine Neugierde zähmen. "Also ich muss dann weiter..." murmelte Shinya Gedanken versunken. "Ja, wir sehen uns..." Kaoru schaute seinem Freund kopfschütteln hinterher. Der Kleine verliebt... es wurde ja immer besser. Er konnte sich ihn nicht einmal annähernd mir einem Mädchen an seiner Seite vorstellen. Er lebte doch sonst immer in seiner eigenen Welt aus Formeln, Zahlen, Philosophie und neuerdings den Drums. Und jetzt ein Mädchen... «Na was soll's? Times are changing, wie Bob Dylan schon sagt...» «Ob ich ihn küssen könnte? Toshiya küssen... » Shinya machte sich auf den Weg nach Hause. Kaorus Rat hatte ihn erst recht zum Nachdenken gebracht. Jemanden zu küssen, etwas das er nicht wirklich kannte. Rika hatte ihm ab und zu ein Küsschen auf die Wange gedrückt und er, wenn er wirklich glücklich war, auch ihr. Aber Toshiya küssen, ihm so nahe zu sein, wie noch keinem Menschen zuvor...würde er das wollen? Würde er es zulassen können? Er schloss die Augen und versuchte es sich vorzustellen. Toshiya, wie er ihn sanft in seine Arme zog, sich seinem Gesicht näherte und sich schließlich ihre Lippen trafen. Ja, er würde diese Distanz überwinden können. Es würde ihm nichts ausmachen. Nein, das war es, was er wollte, was er wohl stets vermisst hatte. Und was er sich jetzt am meisten wünschte. Bei Toshiya zu sein und in seinen Armen zu liegen, sich einfach nur festgehalten zu fühlen. Er öffnete die Augen wieder. Ja, wenn es nach Kaorus Definition ging, einschließlich dem, was dieser ihm als das "übliche blabla" genannt hatte, war er wohl wirklich in Toshiya verliebt. Aber diese Erkenntnis würde ihm nicht weiter helfen. «Denn Toshiya...Toshiya liebt mich ja nicht... ich bin ja nichts weiter als ein Freund für ihn... und ich bin ein Junge... und das heißt...» "...dass ich nie eine Chance haben werde..." flüsterte er traurig. Anmerkungen Das Gedicht stammt von dark_seraphine Kapitel 17: Omisoka (Sylvester) ------------------------------- Nervös stand Toshiya am frühen Abend vor dem Spiegel und knotete seinen Hakama. Gleich würden die anderen kommen. Und Shinya, dem er nun seit über einer Woche aus dem Weg gegangen war. Und heute würde er den ganzen Tag mit ihm verbringen müssen. Wie sollte er schaffen, sich so zusammenzureißen, ohne dass dieser etwas bemerkte? Und nicht nur Shinya, sondern auch die anderen? Dies Stimme ertönte von draußen. "Ja, komm rein..." Die Tür schob sich auf und sein Bruder betrat das Zimmer. Als er hinter ihm stand und er das Gesicht seines Bruders im Spiegel betrachten konnte, fiel ihm zum ersten Mal bewusst auf, wie dünn sein Bruder geworden war. Die Wangen waren eingefallen und am Halsausschnitt des Kimono zeichneten sich deutlich die Schlüsselbeine ab. «Seit wann ist das denn so?» "Hier sind die Kleider für die anderen. Ich geh' schon mal rüber in den Hauptschrein. Papa braucht sicher Hilfe." "Mmmh ist gut. Ich komm' dann mit den anderen nach, sobald sie fertig sind." Toshiya senkte den Blick und widmete sich wieder den Kimono. "Sag mal stimmt was nicht?" Die legte seine Hand auf Toshiyas Schulter. «Seit wann hat er denn so kalte Hände? Er hat doch sonst immer die fliegende Hitze weg...» "Nein, alles okay." Seine Stimme zitterte leicht, doch Die schien es nicht zu bemerken. "Dann ist ja gut. Ich lege die Klamotten hier auf den Stuhl, ja?" Mit diesen Worten verlies Die das Zimmer wieder. "Hey, da sind wir! Also, schmeißen wir uns in die Klamotten und dann legen wir los!" Ein vor guter Laune geradezu überschäumender Kaoru stapfte in Toshiyas Zimmer. Kyo, der ihm folgte verdrehte nur genervt die Augen. "Was hat der denn wieder gegessen?" Shinya schwieg und betrat hinter Kyo das Zimmer, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Nur nicht Toshiya ansehen. Kyo schnappte sich das Kleiderbündel, das für ihn bestimmt war, und verließ das Zimmer. "Ich zieh mich bei Die um, ich vertrage Kaorus gute Laune nicht schon früh auf nüchternen Magen." lautete die Begründung. Kaoru streckte ihm nur liebevoll die Zunge heraus, grinste und machte sich seinerseits daran, sich in Schale zu werfen. Toshiya und Shinya, beide eifrigst bemüht, den jeweils anderen nicht anzublicken, bemerkten es nicht einmal. "Also, zunächst eure Aufgaben für morgen", begann Die zu erläutern "Zunächst werden wir den ganzen Hauptschrein noch mal reinigen müssen, denn heute Abend wird ziemlich viel los sein. Kyo und Kaoru, ihr helft dann beim Verkauf von Souvenirs. Die Preise stehen überall dran, das dürfte kein Problem werden. Ich helfe meinem Vater im Hauptschrein. Muss ich notgedrungen als der älteste Sohn... und Shinya, du unterstützt Toshiya. Ihr helft den Leuten, die sich nicht zu Recht finden. Vor allem den Touristen. Aber das kann dir Toshiya ja selbst erklären, was du tun musst. Und Toshiya, dir brauche ich ja nichts mehr sagen, oder?" grinste der Rotschopf seinen Bruder an, der gerade die Kiesel zu seinen Füßen zu zählen schien. «Und ich hatte gehofft, Shinya irgendwie aus dem Weg gehen zu können...» "So, heute sind wir dann hauptsächlich damit beschäftigt, Soba* zuzubereiten, das verkauft wird und uns um die Besucher zu kümmern. Und kurz vor Mitternacht wird die große Glocke geläutet. Der letzte der 108 Glockenschläge trifft direkt mit dem Beginn des neuen Jahres zusammen. Hat das einer von euch schon mal gemacht?" Kyo schüttelte den Kopf, während Shinya nickte und Kaoru sagte: "Nö, aber zugeschaut." "Na gut. Traut ihr es auch trotzdem zu, mit uns und den anderen Mönchen zu läuten?" Einstimmiges Nicken war die Antwort. "Und danach würde ich vorschlagen, schauen wir zu, dass wir ins Bett kommen, denn morgen wird das Stress pur. Ach und Toshiya?" Der Angesprochene hob langsam den Kopf, als könnte er sich gar nicht von dem Anblick des Bodens los reißen. "Denkst du bitte dran, die Opferkästchen für das Münzgeld morgen regelmäßig zu leeren und zu kontrollieren? Nicht dass es ausgeht wie letztes Jahr, als diese zwei kleinen Rotzbengel gemeint haben, da jede Menge Papier rein stopfen zu müssen." Toshiya nickte. «Wow, da hat einer aber sein komplettes Selbstbewusstsein wieder ausgegraben... keine Spur mehr von dem Theater der letzten paar Wochen... ob er jetzt wieder ganz der alte wird?» "Gut, und ansonsten", fuhr Die fort "steckt jetzt jeder noch ein paar mikuji ein und dann sehen wir zu, dass wir uns an die Arbeit machen!" und hielt jedem eine Kiste mit den gefalteten weißen Zetteln hin und die anderen steckten sich eine große Hand voll in den Ärmel ihrer Kimonos. "Gut, dann gehen wir mal Soba machen." grinste Kaoru "Ich bin zwar küchentechnisch nicht so das As aber ich muss es ja auch nicht essen." "Spinner!" murmelte Toshiya und ging mit den anderen in Richtung Verkaufsstand. Die schaute ihnen nach und als sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren, lies er sich matt gegen die Wand sinken. Dieser Auftritt hatte seine ganze Kraft gekostet. Sein Magen knurrte und er ignorierte es. Er war immer noch zu fett, also würde er nichts essen. Der Fruchtsaft am Morgen und das bisschen Reis über den Tag verteilt würden reichen müssen. Er wühlte im Ärmel seines Kimonos nach seinen Koffeintabletten. "So, die zwei müssten reichen..." murmelte. Damit würde sein Kreislauf die nächsten paar Stunden wohl ohne größere Ausfälle durchhalten. Was sollte er nur machen, damit sein Körper endlich kapierte, dass es fortan kein Fett und keinen Zucker mehr geben würde, weil er, Die, sich zu dick fand? Alles was er wollte, war doch nur dünn sein. Er dachte an Hideki. Was würde der wohl sagen, wenn er sah, dass Die es geschafft hatte, schlank zu werden? Das würde ihm wohl ein für alle mal sämtliche dummen Sprüche austreiben. Er musste an Kyo denken. < "Was soll ich den anderen nicht sagen? Dass du halb am Abkratzen bist?" > hallte die wütende Stimme des anderen in seinem Kopf wider. «Halb am Abkratzen...vielleicht hast du recht... aber was soll ich denn machen? Ich bin nun mal zu fett... ich beneide dich und die anderen... ihr könnt essen, was ihr wollt und bei euch sagt keiner was...warum nur bei mir? Ach ist ja egal... bald werde ich so schlank sein, dass mich jeder darum beneiden wird...» "Bäh, Kaoru, geh mir mit diesem Zeug vom Leib!" schimpfte Toshiya, als Kaoru ihm mit zwei Stäbchen Sobanudeln vor die Nase hielt. "Och komm, sag aaah." Kaorus gute Laune war unübertrefflich. Er hatte, bevor er zum Tempel gefahren war, kurz mit seiner Freundin telefoniert. Sie hatte ihm ein Päckchen gepackt, das eine Überraschung enthalten sollte. Es war kurz vor Mitternacht und sie hatten beschlossen, vor dem Glockenläuten noch etwas z essen. "Die, willst du nicht auch etwas essen?" Toshiya hielt ihm eine gefüllte Schale mit den dampfenden Nudeln hin. Der Ältere schüttelte den Kopf und Kyo sagte bissig: "Nee, Toshiya, lass mal, dein Bruder hat vorhin mit Sicherheit schon eine Familienpizza, einen Kasten Cola und einen Gemüsegarten aufgegessen. Der ist satt, der braucht nichts mehr, er wird doch sonst noch - dick." Das letzte Wort schleuderte er extra laut heraus. Toshiya blickte ihn fragend an, doch als er Dies finstere Miene bemerkte, mit der der Rotschopf Kyo anstarrte, blieb ihm jede Antwort im Hals stecken. "Kann ich bitte noch etwas haben?" fragte Shinya, der den ganzen Abend kaum etwas gesagt hatte, leise und hielt seine Schale Toshiya hin. "Ja, klar." gab dieser hastig zur Antwort. Er gab Shinya die gefüllte Schale zurück und als dieser sie wieder nehmen wollte, berührten sich ihre Finger. Beide sahen erschreckt auf und ihre Blicke trafen sich, zum ersten Mal seit Tagen. Sie starrten sich einen Moment lang wortlos in die Augen und jeder versuchte, darin die Gefühle des anderen zu lesen. Kaoru blickte erstaunt zwischen den anderen hin und her. Was war denn da los? Hatte er etwas verpasst? Die, der Kyo mit Blicken fixierte, als würde er den Kleineren am liebsten auffressen und Kyo, der den Rotschopf musterte, als würde er Die am liebsten seine Soba - Schale ins Gesicht klatschen. Und Toshiya und Shinya, die sich gegenseitig anstarrten, als ob jemand gestorben war. Beide mit einem Blick, der nur einem Gefühl Ausdruck verlieh: Schmerz. Schnell nahm Shinya die Schale an sich und machte sich über sein Essen her, während Toshiya Kaorus erneut füllte, die dieser ihm mit dem Ausdruck größter Verwirrung hinhielt. Auch Kyo widmete sich wieder seinem Essen. Die erhob sich und ging zu einem der Schränke, die an der Wand standen und kramte ein Kalligraphiset und einige weiße Blätter hervor. Er atmete tief durch, bevor er sich mit einem strahlenden Lächeln an die anderen wandte: "So, ich würde sagen, dass jeder seinen Wunsch für das neue Jahr aufschreibt. Die binden wir dann an die heiligen Bäume und dann wird es Zeit, dass wir zu den anderen gehen, denn es wird Zeit, das alte Jahr zu verabschieden!" Dann begann er, die Tusche anzurühren und reichte Kyo den Pinsel und einen Zettel. Dieser dachte einen Augenblick nach, bevor er mit feinen Strichen, ohne dass die anderen es sehen konnten, auf seinen Zettel schrieb. Dann reichte er den Pinsel an Shinya weiter, und so ging es reihum. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, bis es schließlich Toshiya war, der die Stille brach. "Wir müssen los." Sie gingen über den dunkeln Platz des Schreines, der nur hier und da von ein paar Laternen erleuchtet war, banden ihre Zettel in die Zweige eines Baumes und gingen schließlich zu der kleinen Anhöhe, auf der der kleine Pavillon mit der Glocke des Schreins stand. Es hatten sich viele Leute versammelt, um das Läuten zu hören. Shinya schaute sich um. Viele der Frauen waren in Kimono gekleidet, und auch die Kinder trugen Kimono. Irgendwie erinnerte es ihn an zu Hause. Seit er denken konnte, war er jedes Omisoka* zusammen mit Rika und den Eltern zum Schrein gegangen um das Läuten zu Hören. Wieder legte sich die Trauer über ihn, die er so gut überwunden geglaubt hatte. Bis er eine Hand an seiner spürte. "Hey, lass den Kopf nicht hängen. Im neuen Jahr wird bestimmt alles besser." Er blickte in Toshiyas lächelndes Gesicht und musste ebenfalls lächeln. «Warum kann es zwischen uns beiden nicht immer so sein?» war der Gedanken, der ihnen beiden durch den Kopf schoss. "Okay, auf geht's" rief der Kannushi den Mönchen zu und gemeinsam machten sie sich daran, die Glocke mit dem schweren Holzbalken zu schlagen. hallte der tiefe Klang durch die Nacht. Shinyas Herz begann heftig zu pochen, als er Toshiyas Atem in seinem Nacken spürte. "Der letzte Schlag und das neue Jahr hat begonnen!" rief Toshiya ihm freudig ins Ohr, als sie zum hundertachten Mal ansetzten. Shinya lächelte. Ja, das neue Jahr hatte begonnen. Und es sollte ein schönes Jahr werden, nahm er sich vor. «Mit Toshiya...» Anmerkungen Soba: Buchweizennudeln; am Abend vor Neujahr das Gericht, das traditionellerweise gegessen wird. Im Normalfall bereiten es die Hausfrauen schon einige Tage zuvor zu, aber es wird soweit ich weiß, auch in Tempeln verkauft. Omisoka: so wird der letzte Tag des alten Jahres genannt. Also Sylvester, während der Neujahrstag Shogatsu heißt. Kapitel 18: Trauer ------------------ Gähnend schaltete Shinya seinen Wecker aus. Sieben Uhr morgens am ersten Tag des neuen Jahres. In einer halben Stunde war er mit den anderen am Tempel verabredet. Aber zuerst würde er erst einmal einen starken Kaffee brauchen. Zwar war er sofort nach dem Glockenläuten nach Hause gegangen, doch er hatte noch einige Zeit wach gelegen und nachgedacht. Über sich, Rika und über Toshiya. Warum ging er ihm aus dem Weg? Oder war er es selbst, der Toshiya mied? Und was war das für ein Ausdruck, den er in den Augen des anderen gesehen hatte. So unglaublich verletzt. «Ob er doch etwas gemerkt hat?» Der heiße Kaffee hatte ihn vollends wach gemacht und so lief Shinya durch die noch stillen Straßen Kyotos. Die Stadt schien noch zu schlafen, immerhin war Neujahr und die meisten Menschen wohl erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gegangen. Nur an einem alten Haus, das zwischen hohen Neubauten eingezwängt stand, war eine alte Frau bereits auf den Beinen und reinigte den Gehweg. Shinya rief ihr ein leises "Guten Morgen" zu und deutete eine Verbeugung an. Sie richtete sich auf, musterte ihn und verbeugte sich dann respektvoll. Shinya musste lächeln. Sie hielt ihn wohl für einen Mönch, so wie mit klappernden Geta und dem traditionellen Hakama durch die Straße eilte. Am Tempel angekommen konnte er von weitem schon Kyo erkennen, der bereits schweigend und in sich gekehrt den Platz fegte. Toshiya, der seinem Vater helfen sollte, hatte seine unliebsamste Tätigkeit grinsend auf den Kleineren abgewälzt. Doch Kyo konnte es nur recht sein. So hatte er immerhin ausgiebig Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Er musste etwas wegen Die unternehmen. Es konnte ja nicht angehen, dass er sich unter Kyos Augen zu Tode hungerte. Und dann, die Beerdigung seines Vaters... Er wollte nicht hin, nicht wieder unter die Augen seiner Mutter und schon gar nicht den mitleidigen Blicken der Trauergäste ausgesetzt sein, die ja doch nur alles, was er tat mit seinem verstorbenen Erzeuger und seiner psychisch kranken Mutter in Verbindung bringen würden. " Guten Morgen Kyo!" Mit viel Mühe brachte er doch recht fröhliches Lächeln zustande. Immerhin war es nicht Toshiya, dem er zuerst begegnete. "Morgen Shinya..." murmelte Kyo verstört, denn er hatte den Jüngeren nicht einmal bemerkt. "Alles okay mit dir?" wollte Shinya wissen, dem der Zustand Kyos trotz allem nicht entgangen war. "Mmmh" brummte Kyo nicht sehr überzeugend. Sollte er mit dem Jüngeren wegen Die reden? Er entschied sich dagegen. Von allen würde Die sich am wenigsten von Shinya etwas sagen lassen und vor allem hatte dieser sicherlich selbst mit genug eigenen Problemen zu kämpfen. Nein, er würde vorerst mit niemandem reden. "Schon gut, ich bin nur etwas übernächtigt." fügte er glaubhafter hinzu und bugsierte den Dreck in einen Eimer. "So, ich bin hier soweit fertig, lass uns zu den anderen gehen!" "Guten Morgen allerseits!!!" Kaoru hatte wieder einmal die gute Laune weg und wedelte zur Begrüßung freudestrahlend mit einem Holzpoliturlappen vor Kyos und Shinyas Augen herum. "Lass das..." Kyo riss Kaoru den Lappen aus der Hand und machte sich schweigend an das polieren der Holzsäulen im Schrein. "Nanu was hat er denn?" wunderte sich Kaoru und blickte Shinya fragend an. Der zuckte nur mit den Schultern "Glaube ihm geht es irgendwie in letzter Zeit gar nicht gut... er wirkt total bedrückt.". "Stimmt" nach einem genaueren Blick auf den Kleineren war es nun für Kaoru offensichtlich, dass da etwas mehr als oberfaul sein musste. Sonst ging Kyo stets aufrecht, um zumindest noch einige Zentimeter an Größe heraus zu schinden, doch heute ließ er den Kopf fast bis auf Radieschenhöhe hängen. «Ich werde da mal gründlich nachhaken müssen» beschloss Kaoru im Stillen. «Das wird nicht leicht werden... bis jetzt hat Kyo mit mir noch nie über irgendetwas gesprochen, das ihn persönlich betroffen hat.» +++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++ "Kann ich euch kurz alleine lassen? Es ist ja gerade nicht viel los und ich muss in den Hauptschrein..." "Ja sicher, gehen sie nur, wir schaffen das jetzt auch alleine!" lächelte Kaoru den alten Mönch freundlich an. Seit ungefähr drei Stunden verkauften er und Kyo zusammen mit dem netten alten Mann Souvenirs und Glücksbringer. Der Mönch hatte ihnen von seinen Reisen durch die Klöster Japans erzählt, und über den Wandel der Gesellschaft in Japan nach dem Krieg. "Viel Leid damals, die Besatzung. Es waren Fremde in unserem Land, wir mussten freundlich zu ihnen sein, damit es uns nicht noch schlechter ging. Und heute sind wir freundlich zueinander, weil es wirtschaftlichen Nutzen für beide Länder bringt. Sie sind nicht mehr Besatzer sondern Gäste, so wie wir in allen Teilen der Welt Gäste sein können." hatte der Mönch über die Situation des Landes philosophiert, nachdem Kaoru ihm von seiner Freundin im Ausland erzählt hatte. Doch nun stand Kaoru ein wichtigeres Thema bevor als die Situation des Landes: Nämlich die Situation seines Freundes. "Sag mal Kyo" begann er zögernd " ich weiß, dass du nicht gerne darüber redest, aber ich habe das Gefühl, das mit dir etwas ganz gewaltig nicht stimmt und ich..." "Schon okay" unterbrach Kyo den Älteren, "es ist nichts, ich bin nur ein wenig übernächtigt, das ist alles!" Er legte das strahlendeste Lächeln auf, zu dem er fähig war. "Kyo, du solltest dir ernsthaft mal ein paar überzeugendere Ausreden einfallen lassen. Wir haben schon etliche Nächte zusammen durchgemacht und nach keiner einzigen hast du SO ausgesehen." Mit einem Ruck drehte er Kyo zu sich herum. "Aua, spinnst du?" fauchte der Angegriffene empört. "Aua? Bist du aus Zucker oder was ist los?" Kaoru musterte den Kleineren nun mehr als erstaunt. Doch der Blick des Erstaunens wandelte sich in einen Blick des Entsetzens, als er den Blutfleck sah, der sich nun an Kyos linkem Oberarm an seinem Kimono abzeichnete. "Kyo, was um alles in der Welt ist da passiert?" "Nichts, ich bin nur neulich als es so glatt war ausgerutscht und habe mir an einer Hausmauer den Oberarm aufgeschrubbt." Kaorus starrte ihn immer noch an. "Wie hast du es denn hingekriegt, dass es so blutet und vor allem mit einer dicken Jacke?" wollte er ungläubig wissen. "Irgendwie halt!" "Kyo, du lügst!" "Und? Wenn du mich anders nicht in Ruhe lässt?" "Ich dachte wir sind Freunde?" Kyo senkte den Blick. "Also gut, wenn du mir schon nicht sagen willst, was das an deinem Arm sein soll, dann sag mir zumindest, was mit dir los ist." Der Jüngere seufzte. "Mein Erzeuger ist diese Woche gestorben." "Oh... das... das tut mir Leid" stammelte Kaoru und sein Entsetzen wich Betroffenheit. "Mir nicht" brummte Kyo. «Hoffentlich lässt er mich jetzt wenigstens in Ruhe...ah, da kommt ja auch der Mönch wieder...» "Hier meine Kleine, möchtest du etwas Süßes?" Lächelnd beugte er sich zu dem kleinen Mädchen im hellrosa Kimono hinunter, die unsicher auf den Stufen des Schreins stand, während ihre Eltern wohl den Göttern ihre Aufmachung machten. Erstaunt blickte ihn die Kleine mit großen Augen an während sie ihre kleine Hand nach dem süßen Reisball ausstreckte, den Shinya ihr hinhielt. Toshiya, der das ganze beobachtete, musste unwillkürlich lächeln. Er und Shinya und ein Kind schoss es ihm durch den Kopf. "Bist du ein Mädchen?" das Kind sah Shinya treuherzig an. "Nein, ich bin ein Junge!" «Wie kommt sie darauf mich mit einer Frau zu verwechseln?!» "Und warum bist du hier?" "Ich helfe meinem Freund." "Warum?" "Na weil seinem Papa hier der Tempel gehört und er bei so vielen Leuten Hilfe braucht." "Hast du deinen Freund lieb?" "Ja..." Shinya schluckte. Die Kleine hatte es genau auf den Punkt gebracht. "Ah Nanami*-chan, da bist du ja!" "Mama! Papa!" freudestrahlend trippelte das Mädchen auf eine Gruppe von drei Personen zu. "Nanu Nami-chan, wo hast du denn den Reisball her?" die tiefe, ihm doch sehr bekannte Stimme lies Shinya aufhorchen. "Von dem Jungen da!" "Oh guten Tag Herr Professor!" Shinya verbeugte sich eilig. "Ach sie... sie sind doch auch in meiner Physikvorlesung..." An seine Frau gewandt fügte leise er hinzu "das ist der jüngste Student in meiner Vorlesung und vermutlich auch mit Abstand der Klügste, wenn auch ein bisschen naiv..." Shinya verbeugte sich erneut und wollte sich zum Gehen wenden, als ihm ein Mädchen den Weg versperrte. "Wir hätten gerne je ein mikuji!" "Ja, sofort!" Shinya begann eiligst in seinem Ärmel zu kramen. "Das ist meine Tochter Misaki, sie studiert auch Physik in Ihrem Semster!" " Ja, ich erinnere mich." Shinya lächelte das Mädchen unsicher an. «Wer ist das denn?» Toshiya kniff die Augen zusammen um besser erkennen zu können, mit wen Shinya sich da so angeregt unterhielt. "Seine Famile kann es nicht sein, dass hätte er erzählt und Verwandte hat er hier nicht soweit ich weiß..." murmelte er. «Und was ist das? Wer ist dieses Mädchen? Seine Freundin? Und warum begleitet er sie jetzt zum Ausgang? Scheint sich ja prächtig zu unterhalten mit ihr... warum hat er mir das nicht erzählt? Warum?» "Toshiya! Ich ..." Weiter kam Shinya nicht, denn Toshiya hatte sich bereits umgedreht und war im Schrein verschwunden. "Toshiya?" Shinya starrte ihm entsetzt nach. Warum war der Andere vor ihm weggelaufen? Und auch noch so demonstrativ und offensichtlich beleidigt? Was hatte er getan? «Toshiya...» Anmerkungen: Nanami (Kanji für Na: Sieben und Nami: Meere) Misaki (Kanji für Mi: Schönheit und Saki: Blüte) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)