Black Rain von chronographics ================================================================================ Kapitel 16: Rückzug ------------------- Mit einem tiefen Seufzer gab Toshiya der Teppichrolle einen festen Stoß, wodurch sie sich über den ganzen Boden ausrollte. Der Probenraum war soweit fertig, nur der Teppich, der den kahlen Boden abdecken sollte, hatte noch gefehlt. Alles andere war wunderbar geworden. Das Dach war wieder dicht, die Kabel verlegt und alles glänzte und strahlte vor Sauberkeit. Keine Spur mehr davon, dass das Teehaus noch vor ein paar Wochen dabei war, buchstäblich zu verfallen. Sogar ein kleines Sofa hatte den Weg hinein gefunden. Und nun legte er letzte Hand an und verlegte den Teppich. Aber eigentlich war es nur eine Art Flucht. Vor Die und vor sich selbst. Sein Bruder hatte sich zwar für seinen Ausraster entschuldigt, aber seitdem war nichts mehr wie zuvor. Die ging ihm kontinuierlich aus dem Weg, erschien nicht mehr zu den gemeinsamen Mahlzeiten und redete, wenn, dann nur das Nötigste mit ihm. Und Toshiya traute sich nicht mehr nachzufragen. Aus Angst, dass sich die Szene wiederholen könnte. Toshiya schnitt mit dem Teppichmesser die überstehende Kante ab. Was Shinya wohl machte? Er hatte ihn seit vier Tagen nicht mehr gesehen. Die Kleider hatte er Kaoru mitgegeben, als dieser einmal bei Die aufgekreuzt war, damit er sie ihm am nächsten Tag an der Uni hatte geben können. Er selbst war nicht mehr hingegangen, sondern hatte sich lieber in den Probenraum oder seinen kleinen Raum im Schrein zurückgezogen. Er konnte Shinya nicht gegenüber treten. Nicht solange sich seine Gefühle für den Jüngeren nicht beruhigt hatten. Schon in der Vorlesung hatte er sich mit dem Gedanken herum geschlagen, dass er sich in ihn verliebt hatte. Und ständig wurde das Gefühl stärker. Aber es durfte nicht sein. Schließlich waren weder er noch Shinya schwul. Oder zumindest war es Shinya nicht. Bei sich selbst war er sich da mittlerweile nicht mehr sicher. Was würde passieren, wenn er Shinya seine Gefühle offenbarte? Was würde dieser tun? «Mir vermutlich nicht mehr vertrauen. Und sich bewusst von mir fernhalten. Er würde damit sicher nicht zu Recht kommen. Und dann hätte er wieder einen Freund verloren... aber das darf nicht sein... gerade hat sich der Kleine wegen Rika wieder gefangen... nein, das kann ich ihm nicht antun...» Der Blauhaarige sammelte die verstreuten Teppichreste ein und warf einen prüfenden Blick in den Raum. Ja, so sah das doch ganz passabel aus. Jetzt fehlte nur noch der Heizkörper, den sein Vater gestiftet hatte und dann konnten die Proben beginnen. "Hey Toshiya! Wie sieht es aus? Gibt es noch was für mich zu tun?" Kaorus Stimme schallte den Weg herauf. "Nein, eigentlich nicht. Oder doch, der Heizkörper muss noch aus der Haupthalle geholt werden. Hilfst du mir damit?" "Klar. Lass mal sehen, wie es jetzt aussieht... wow, ich würde sagen, wir haben ganze Arbeit geleistet. Dann könnten wir morgen doch ne kleine Einweihungsparty machen, oder?" "Eine Einweihungsparty? Morgen?" Toshiya schluckte. Dann müsste er Shinya schon morgen gegenüber treten. "Oder passt es dir morgen nicht?" Kaoru schaute ihn fragend an. "Naja, eigentlich, weißt du, wäre es mir lieber das Ganze auf nächste Woche zu verschieben. In drei Tagen ist Setsubun und dann ist das hier immer ein bisschen stressig...äh, wie wäre es, sagen wir zwei Abende nach Setsubun? Dann ist der größte Stress vorbei und wir können die Fressalien haben, die jedes Jahr en masse übrig bleiben..." "Mensch, das ist auch ne Idee. Toshiya, du bist echt klasse. Ja, machen wir es so." Toshiya atmete erleichtert auf. Dann müsste er Shinya erst in drei Tagen wieder gegenübertreten. Und da würde er in der Hektik keine Zeit haben, über alles nach zu denken. "Hey, und mach dir wegen Die keine Gedanken, ja? Ich hab gerade noch mal mit ihm gesprochen. Er sagt, er muss momentan einfach mal ein bisschen seine Gedanken ordnen, dann wird er schon bald wieder der Alte sein, ja?" «Wenn du wüsstest...» dachte Toshiya traurig. «Da hat er dir ja einen schönen Bären aufgebunden. Jemand der seine Gedanken ordnen müsste, benimmt sich doch nicht so. Schon gar nicht er. Ich kenne ihn doch...» Mit vereinten Kräften schleppten die beiden schließlich noch den Heizkörper in ihren Probenraum, dann musste Kaoru wieder zurück an die Uni. +++++++++++++++++++++++++++ Suchend blickte sich Shinya um. Seit vier Tagen war Toshiya nicht mehr an der Uni gewesen, geschweige denn in der Philosophie-Vorlesung. Krank war er nicht. Kaoru hatte nichts davon gesagt, als er ihm die Kleider wieder mitgebracht hatte, und Die würde ihn sicher nicht anlügen.» «Außer Toshiya hätte ihn darum gebeten... er würde für seinen Bruder lügen, da bin ich mir sicher... aber was, wenn Toshiya ihn darum gebeten hat? Wenn er mich nicht mehr sehen will?» Ein weiteres Mal blickte er sich suchend um. Nein, Toshiya war nicht im Hörsaal. Aber warum war er denn nicht da? Wegen dem Streit mit Die? Aber das würde ihm doch auch nichts bringen. Schließlich musste sie einander zu Hause auch aushalten. Und wenn es doch wegen ihm war? Wenn Toshiya es doch gemerkt hatte, dass er sich nicht sofort aus seinen Armen befreit hatte, als er wach wurde? Sondern sich ganz im Gegenteil noch tiefer in die Umarmung gekuschelt hatte? Was sollte er nur machen? Eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Und Toshiya war ja auch nicht blind. Shinya war sich sicher, dass der andere gemerkt hatte, dass er selbst mehr empfand als nur Freundschaft. Aber war er wirklich verliebt in Toshiya? Oder war es nur eine Schwärmerei? Eine Sehnsucht nach Wärme und Geborgenheit, die er seit Rikas Tod nicht mehr gespürt hatte? «Ich weiß es nicht... ich weiß es wirklich nicht... ich hatte ja noch nie einen besten Freund... Rika war meine beste Freundin... wie eine Schwester. Eigentlich meine einzige Freundin... die anderen haben sich ja immer nur über mich lustig gemacht... was kann ich für mein Gehirn...aber kenne ich den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe überhaupt? Wohl kaum... aber ich sollte mich besser auf die Vorlesung konzentrieren. Schon alleine, dass ich Toshiya dann zumindest sagen kann, um was es ging...» Mit einem Seufzer wandte Shinya seine Aufmerksamkeit der Vorlesung zu, krampfhaft versucht, zuzuhören und mitzuschreiben. Vielleicht würde er ja hier eine Antwort auf seine Frage bekommen, immerhin hatten sich die Philosophen aus aller Welt schon seit tausenden von Jahren mit der Liebe beschäftigt. <... lassen sie mich am Ende dieser Vorlesung zu diesem Thema ein Gedicht vorlesen, das ich selbst verfasst habe...> Shinya horchte auf. Das Ende der Vorlesung? Schon? Was war das Thema dieses Mal eigentlich? Vorsichtig schielte er auf den Block seines Nebenmannes, der eifrig mitgeschrieben hatte. < Liebe - gegen jede Ethik und Moral> zierte dort als große Überschrift die aufgeschlagene Seite. Es passte ja. < Sag mir... Sag mir Wanderer, auf den stillen Pfaden der Einsamkeit, was ist es, das der Mensch Liebe nennt? Ist es der Schmerz, der mir den Atem nimmt? Ist es die Hoffnungslosigkeit, die mich gefangen hält? Ist es die Traurigkeit, die mein Herz kalt umklammert? Oder ist es die kleine weiße Lilie am Wegesrand, die meine Seele mit ihrem Duft betört? Ich bitte dich, zeig mir die wahre Liebe, du Bruder meiner Schatten. *> rezitierte der Professor mit gefühlvoller Stimme. Shinya kritzelte eifrig mit. Als der Professor geendet hatte überflog er die geschriebenen Zeilen ein weiteres Mal. Er wurde blass. «Es passt... wie die Faust aufs Auge... jedes Wort, jeder Vers... was soll ich nur machen? Toshiya...» Die Vorlesung war zu ende und die Studenten strebten auf den Ausgang zu. Shinya, unfähig noch etwas Klares zu denken, ließ sich einfach von der Masse mit treiben. Bis er schließlich ohne es zumerken, vor Kaoru stand, der scheinbar auf ihn gewartet hatte. "Hey Shin! Shinya???" wiederholte er, nachdem der Jüngere beinahe an ihm vorbeigegangen wäre. "Oh...hallo Kaoru!" "Leicht verplant heute, was?" lachte dieser und tätschelte ihm dann grinsend mit einer väterlichen Geste die Schulter. Ohne darauf einzugehen blickte Shinya dem anderen direkt in die Augen, sodass Kaoru erstaunt seine Hand zurückzog. "Kaoru, kann ich dich mal was fragen?" "Klar, wo brennt's denn?" «Brennen... gut erkannt» "Wie man erkennt, ob man verliebt ist?" Kaoru zog erstaunt an seiner Zigarette und blies den Rauch in Ringen wieder aus. Shinya wedelte ungehalten mit der Hand die kunstvollen Ringe wieder weg. "Gute Frage..." Insgeheim wunderte sich der Lilahaarige schon. Was war denn heute mit seinen Freunden los? Erst Kyo mit seinen Sorgen um das magersüchtigen Mädchen und jetzt Shinya, der ihn allen Ernstes fragte, wie es sich anfühlte, wenn man verliebt war. "Das übliche blabla brauche ich dir vermutlich nicht aufzutischen mit dem Herzklopfen und dem die Nähe des anderen suchen und so..." Shinya schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte er keine wirkliche Ahnung, was das "übliche blabla" war, denn er hatte sich nie wirklich dafür interessiert, aber das wollte er vor Kaoru jetzt nun wirklich nicht zugeben. Immerhin hatte er sich schon dazu hinreißen lassen, überhaupt mit jemandem zu reden. "Naja, überleg doch mal so: ist zwar banal, aber vielleicht wirkungsvoll: Stell dir einfach vor, ob du zu demjenigen die körperliche Distanz ganz überwinden könntest, die jeder Mensch in gewissem Maß zu anderen braucht. Und sei es für den Anfang nur, denjenigen intensiv zu umarmen und zu küssen. Hilft dir das weiter?" "Mmmh, ja, ich denke schon..." Und Kaoru begriff, dass es wohl sinnlos war, Shinya zu fragen, wer denn "die Glückliche" war. Denn diesen Blick kannte er noch allzu gut. Jetzt konnte man Shinya sogar eine Million Yen bieten und er würde ablehnen. Musste er eben seine Neugierde zähmen. "Also ich muss dann weiter..." murmelte Shinya Gedanken versunken. "Ja, wir sehen uns..." Kaoru schaute seinem Freund kopfschütteln hinterher. Der Kleine verliebt... es wurde ja immer besser. Er konnte sich ihn nicht einmal annähernd mir einem Mädchen an seiner Seite vorstellen. Er lebte doch sonst immer in seiner eigenen Welt aus Formeln, Zahlen, Philosophie und neuerdings den Drums. Und jetzt ein Mädchen... «Na was soll's? Times are changing, wie Bob Dylan schon sagt...» «Ob ich ihn küssen könnte? Toshiya küssen... » Shinya machte sich auf den Weg nach Hause. Kaorus Rat hatte ihn erst recht zum Nachdenken gebracht. Jemanden zu küssen, etwas das er nicht wirklich kannte. Rika hatte ihm ab und zu ein Küsschen auf die Wange gedrückt und er, wenn er wirklich glücklich war, auch ihr. Aber Toshiya küssen, ihm so nahe zu sein, wie noch keinem Menschen zuvor...würde er das wollen? Würde er es zulassen können? Er schloss die Augen und versuchte es sich vorzustellen. Toshiya, wie er ihn sanft in seine Arme zog, sich seinem Gesicht näherte und sich schließlich ihre Lippen trafen. Ja, er würde diese Distanz überwinden können. Es würde ihm nichts ausmachen. Nein, das war es, was er wollte, was er wohl stets vermisst hatte. Und was er sich jetzt am meisten wünschte. Bei Toshiya zu sein und in seinen Armen zu liegen, sich einfach nur festgehalten zu fühlen. Er öffnete die Augen wieder. Ja, wenn es nach Kaorus Definition ging, einschließlich dem, was dieser ihm als das "übliche blabla" genannt hatte, war er wohl wirklich in Toshiya verliebt. Aber diese Erkenntnis würde ihm nicht weiter helfen. «Denn Toshiya...Toshiya liebt mich ja nicht... ich bin ja nichts weiter als ein Freund für ihn... und ich bin ein Junge... und das heißt...» "...dass ich nie eine Chance haben werde..." flüsterte er traurig. Anmerkungen Das Gedicht stammt von dark_seraphine Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)