Black Rain von chronographics ================================================================================ Kapitel 4: blasse Herbstsonne ----------------------------- Es war trotz allem ein recht vergnüglicher Abend geworden. Das musste sogar Shinya zugeben. Er hatte sich zwar nicht an den Wortgefechten der anderen beteiligt und stattdessen lieber still zugehört, aber er war trotz allem wieder einmal von seiner Traurigkeit abgelenkt worden. Kaoru hatte mit Blick auf das Drumset lächelnd bemerkt, dass Shinya wohl seinen Rat mit der Musik befolgt hatte. Er konnte ihn zwar nicht dazu bewegen, seine Künste zum Besten zu geben, aber bemerkte auch, dass der Jüngere zumindest ein winziges bisschen gelöster wirkte. Und selbst das rechnete Kaoru schon als kleinen Erfolg. "Also gut, ich glaube, wir machen uns jetzt besser mal auf die Socken." Kyo unterdrückte zum wiederholten Male ein Gähnen und erhob sich langsam von der Couch. Es war bereits zwei Uhr geworden. "Oh, da hast du allerdings Recht, morgen ist schließlich wieder Uni." Stimmte Kaoru zu. "Also Shin, wir werden uns sicher morgen in der Uni über den Weg laufen. Tschüss" Kyo und Kaoru verschwanden durch die Tür. Die blieb noch einen Augenblick länger stehen und blickte Shinya nachdenklich an. "Was ist?" fragte dieser unsicher. "Ich weiß nicht... vielleicht liege ich falsch, aber irgendwas sagt mir, dass du Kummer hast, den man nicht so einfach wieder loswerden kann. Und es scheint dich aufzufressen." Shinya zuckte wie ertappt zusammen. "Weißt du was? Ist wohl ein blöder Vorschlag, aber... geh doch mal in einen Tempel... dort haben schon einige ihre Ruhe wieder gefunden, die sie ihrem Kummer aus den Augen verloren haben. Gomen, ich wollte dir nicht zu nahe treten." Shinyas Lippen begannen und zu zittern und er kämpfte wieder mit den Tränen. Er wollte nicht weinen. Nicht vor Die, dem er nach dem belanglosen Vorfall im Bistro mit Zurückhaltung begegnete. Die, dem Shinyas Reaktion nicht entgangen, streckte vorsichtig die Hand aus und hob Shinyas Kinn an, so dass dieser ihm in die Augen sehen musste. "Du magst mich nicht besonders, kann das sein? Wegen meiner Unfreundlichkeit neulich im Bistro?" Shinya zuckte erneut zusammen. «Kann er Gedanken lesen?» "Es tut mir Leid wie ich dich neulich behandelt habe. Ich war einfach mies drauf. Sorry, dass ich das an dir ausgelassen habe." Shinya blickte ihn erstaunt an - und musste unwillkürlich über die Tränen hinweg lächeln. "Schon gut." Die strahlte ihn an. "Also denk drüber nach, was ich dir gesagt hab, ne? Baibai" Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. «Diese Augen... wieso kommen sie mir so bekannt vor? Wo um alles in der Welt hab' ich diesen Blick schon mal gesehen?» Shinya wischte sich mit dem Ärmel über sie feuchte Wange und machte sich daran, das Chaos aus Stäbchen, Essensschälchen und Gläsern im Wohnzimmer zu beseitigen. Ohne es selbst zu merken summte er leise vor sich hin. ++++++++++ Unausgeschlafen saß Shinya im Hörsaal der Philosophischen Fakultät. Aber das Thema der ersten Vorlesung hielt ihn vom Schlafen ab. "Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden als Freude zu gewinnen." Der Professor erörterte soeben das Zitat Sigmund Freuds vor seinen Studenten. «Hier herrscht eine angenehme Atmosphäre, anders als in Physik bei Iwamoto-sensei... nur gut, dass es noch andere Professoren gibt...» Er ließ seinen Blick durch den gut gefüllten Hörsaal streifen. Bis ihn der Anblick eines Mitstudenten in helle Aufregung versetzte: am anderen Ende einige Reihen unter ihm saß - Toshiya. Shinya war sofort wieder hellwach. Trotz des interessanten Themas war bei ihm jetzt keinerlei Aufmerksamkeit mehr für Freud vorhanden. Er konnte das Ende der Vorlesung kaum noch erwarten. Endlich hatte der Professor geendet und die Studenten begannen mit der Faust auf die Tische vor ihnen zu trommeln. Shinya sprang auf und quetschte sich durch die Massen die jetzt Richtung Ausgang strömten. "Mann, kannst du nicht aufpassen?" beschwerte sich ein Mädchen, dem Shinya bei seiner Drängelei zur anderen Seite des Saals den Block aus der Hand geworfen hatte. "eh...sumimasen" murmelte er und setze seinen Weg unbeirrt fort bis er schließlich so stand, dass Toshiya notgedrungen direkt auf ihn zusteuerte. "Hi, so sieht man sich wieder! Und, wie weit bist du gekommen? Kannst du schon was spielen?" Toshiya grinste über das ganze Gesicht, als er seine Bekanntschaft aus dem Musikladen vor sich sah. "Ähm, naja an Koordination hapert es noch etwas..." Shinya blickte ernst in das strahlende Gesicht vor ihm, und wieder machte sich diese Aufregung in ihm breit. "Na das wird noch. Musst noch ein bisschen üben, dann klappt das schon, wenn es sonst nichts ist!" "TO.SHI.MASA!!!" von weiter unten schallte es wütend zu ihnen hinauf. "Wenn du nicht sofort deinen Hintern hier runter bewegst, und mir hilfst, diesen Kram aufzuräumen, dann fetz' ich dir dieses Teil an den Kopf!" Shinya drehte sich erstaunt um und sah einen Jungen, der drohend ein riesiges Buch in Richtung Toshiya schwenkte. "Oh oh, ich glaube ich muss los... der macht sonst noch ernst! Wir sehen uns, ja?" Mit diesen Worten rannte Toshiya die Stufen wieder hinunter. Shinya lächelte glücklich. Er ging aus dem Hörsaal und machte sich auf den Weg zur Physik - Vorlesung. "Mensch Totchi. Wer war denn dieses süße Mädel das du da gerade zugetextet hast?" wollte der andere wissen, als Toshiya anfing in Anbetracht der Drohung mit einem Buch verhauen zu werden, die Tafel des Hörsaals wischte. "Das war erstens ein Kerl und zweitens weiß ich nicht, wie er heißt." der Angesprochene war froh, dass der Andere sein Gesicht nicht sehen konnte, denn die Farbe darauf hätte sogar den Haaren seines Bruders Konkurrenz gemacht. Shinya schwebte wie in Watte gepackt in seine Vorlesung. Er war glücklich, dass er Toshiya wieder getroffen hatte. Er mochte ihn - eine Tatsache die sich bei ihm, der gegenüber Fremden immer erst sehr argwöhnisch reagierte, sehr ungewöhnlich war. Vor allem in so kurzer Zeit. ++++++++++ Das Wasser klatschte an die Scheibe und wieder stürmte es. Das Licht der Deckenlampe begann zu flackern und schließlich ging es ganz aus. Der Sturm hatte wohl die Stromversorgung gestört. Shinya saß an seinem Schreibtisch und bereitete seine Philosophie - Vorlesung nach. Das angenehme Gefühl, dass er nach seiner Begegnung mit Toshiya gehabt hatte, war so schnell wieder verflogen, wie es gekommen war. Er verstand es ja selbst nicht einmal, wie ein völlig Fremder ihm ein Gefühl vermitteln konnte, dass dem ähnelte, was er als Glück kannte aber doch anders war. Er wusste nicht was er damit anfangen sollte, er war verwirrt. Ziellos begann er durch seine Wohnung zu laufen. Schlagzeug spielen konnte er um diese Uhrzeit wohl schlecht. Ein zweites Mal würde er sich sicher nicht ohne Ärgern der Nachbarn über deren Nachtruhe hinwegsetzen können. Er vermisste Miko. In den letzten Tagen hatte er kaum an sie gedacht. Seine Gedanken waren um Rika und Toshiya gekreist. Wie gerne würde er jetzt mit ihr quer über die Wiesen rennen, über die Reisterassen und zu all den Plätzen, die er so sehr liebte. Ob sie ihn auch vermisste? Sicherlich hatte es ihr das Herz gebrochen. Er sich schon so zerrissen fühlte, wie sollte es dann einem Tier gehen, dass seine Bezugsperson verloren hatte? In den Briefen seiner Eltern stand, dass der Hund seitdem wie ausgewechselt war, freudlos, und manchmal nur in einer Ecke lag. Das Gefühl, dem jetzt die Trauer weichen musste, war tiefstes Heimweh. Er wollte nicht hier in dieser Stadt bleiben. Hier, wo alles so grau war. Er wollte nach Hause. Zu seinem Hund, zu seinen Eltern, wollte zu Rikas Grab um ihr frische Blumen zu bringen... Er ließ sich auf sein Bett fallen. Auf was für einen Wahnsinn hatte er sich da nur eingelassen? Alleine in eine Großstadt zu ziehen. Er kannte zwar jetzt einige Leute, an den Ablauf an der Uni hatte er sich gewöhnt, aber es war nicht das Gleiche wie Zuhause. Dort musste er keine sinnlosen Vorträge über Physik über sich ergehen lassen, nicht vor allen Mitstudenten bloßgestellt werden, dort hatte er so viele Freiheiten. «Ich kann nicht mehr... Rika... Miko... okasan...otosan... bitte, ich will hier weg... ich schaffe es einfach nicht...» Von einem Weinkrampf geschüttelt und völlig entkräftet, fiel er schließlich in einen tiefen Schlaf, in dem ihn wirre Träume quälten. ++++++++++++ Die blasse Herbstsonne fiel auf Shinyas Gesicht und er setzte sich langsam auf. Es war kurz vor elf. An Uni war für ihn heute nicht zu denken stellte er nach einem Blick in den Spiegel fest. Tiefe Augenringe zierten sein Gesicht, das vom Weinen immer noch rot geschwollen war. Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Das Bild war wie immer unverändert. Die grauen Straßen, der Dreck auf den Gehwegen. Nur die wenigen Bäume waren jetzt kahl, die Blätter lagen überall verteilt und bildeten eine schmierige Schicht auf der Straße. Shinya starrte den Himmel an. Graue Wolkenfetzen jagten einander und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Sonne verschwunden war und es wieder anfangen würde zu regnen. Aber musste hier raus. Wenn er noch länger in dieser Wohnung bleiben würde, würde er wahnsinnig werden. Er zog seinen warmen Mantel aus dem Schrank und wühlte nach einem Schal. Die schwarzen Wollhandschuhe lagen noch neben seinem Schlagzeug. Shinya lehnte sich an die Wand des Fahrstuhls, der ratternd nach unten fuhr. Die silberne Wand ihm gegenüber spiegelte schemenhaft seine eigene zusammengesunkene Silhouette. Am liebsten hätte er auf sie eingeschlagen, damit sie verschwand. Aber ihm war klar, dass ihm das, außer Schmerzen nichts bringen würde. Er lief durch die Eingangslobby, der Boden war immer noch mit unzähligen Hochglanzprospekten bedeckt und Schriftzeichen in grellen Farben, die irgendwelche unsinnigen Produkte bewarben stachen ihm entgegen. Er stieß die Türen auf und trat ins Freie, ein kühler Wind wehte ihm entgegen. Nun würde er also wieder das machen, was er in den ersten Tagen nach seiner Ankunft so oft getan hatte - ziellos herumirren. Er lief durch den Park, in dem er Kaoru getroffen hatte immer weiter und weiter. Bis er schließlich vor einer großen Steintreppe zum Stehen kam. Ihm war egal wohin er lief, deshalb begann er die unzähligen Stufen hinauf zu steigen. Er durchschritt die großen roten torii*, schenkte ihnen aber keinerlei Beachtung. Verwirrt blickte Shinya um sich, als er bemerkte, dass der Verkehrslärm nicht mehr zu hören war. «Wo um alles in der Welt bin ich denn jetzt gelandet?» Er stand auf einem Hof, der umringt war von großen alten Bäumen, die über und über bedeckt waren mit weißen Papierstreifen und sich sachte im Wind wiegten. Die Zettel flatterten und raschelten. «Ein Schrein?» Im kamen die Worte Dies wieder in den Sinn. «...geh doch mal in einen Tempel... dort haben schon einige ihre Ruhe wieder gefunden, die sie ihrem Kummer aus den Augen verloren haben.» Und in der Tat, Shinya fühlte eine seltsame Ruhe, die sich in ihm ausbreitete. Lag es an der Stille, die hier herrschte, oder an den großen alten Bäumen, deren Rauschen im Wind nach ,Zuhause' klangen? Er konnte sich diese Frage nicht beantworten. «Naja, wenn ich schon hier bin, dann kann ich auch in den Tempel gehen. Ich glaube zwar nicht an Götter, aber schaden wird es mir ja wohl nicht.» Er beugte sich über das Wasserbecken, das vor dem Eingang des Hauptschreins stand und spülte sich mit dem eiskalten Wasser den Mund aus*. Er streifte seine Turnschuhe* ab und betrat den hölzernen Boden, der zum Altar führte. Das polierte Holz knarrte leise unter seinen Füßen. Er bewegte die dicke Kordel, klatschte in die Hände* und schloss die Augen. Was er beten sollte wusste er nicht. Es würde ja sowieso nichts bringen. Das was ihm wichtig war, hatte er verloren. Wofür sollte er also bitten? «Ich möchte endlich raus aus dieser beklemmenden Trauer. Ich will lächelnd an sie zurück denken. Warum geht das nicht? Ich kann nicht mehr...» Ein Geräusch riss ihn aus seiner Versunkenheit. Er drehte sich um und sah einen jungen Mann im Kimono eines Laienpriesters*, der die bunten Herbstblätter zusammenfegte. Seine Haare standen nach oben ab und hatten einen bläulichen Schimmer in dem tiefen schwarz. Als er sich umdrehte konnte Shinya sein Gesicht erkennen - es war Toshiya. Anmerkungen torii: Ein Schreingelände betritt man durch ein oder mehrere Schreintore (torii). Der Sinn neben der ganz speziellen Ästhetik besteht darin, den heiligen Bereich (also das Schreingelände) von der normalen Welt abzutrennen. Mundausspülen: Bevor man in einem Shinto - Tempel betet, spült man sich gemäß den Shinto - Riten den Mund aus und wäscht sich die Hände. Die rituelle Reinigung ist fester Bestandteil des Shintoismus, einer der beiden Hauptreligionen in Japan (die andere ist der Buddhismus, aber beide sind in Japan untrennbar miteinander verknüpft). Schuheausziehen: In Japan in einem Tempel Pflicht, ebenso wie in den Häusern. An jedem Schrein stehen extra zu diesem Zweck auch Regale, in denen die Besucher ihre Schuhe deponieren können. Man klatscht vor dem Beten in die Hände um die Aufmerksamkeit der Götter auf sich zu ziehen. Shintopriester: Wer Sailor Moon kennt wird sich sicherlich an den Kimono von Rei Hino erinnern. Was sie trägt ist das Gewand einer Miko (Laienpriesterin). Bei Männern ist die Hose gewöhnlich blau oder weiß (bei Frauen eigentlich immer rot), allerdings scheint das von Schrein zu Schrein zu variieren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)