Black Rain von chronographics ================================================================================ Kapitel 1: Ichi --------------- «Rika...» Wieder einmal lief Shinya alleine durch die einsamen Straßen der nächtlichen Kyotos. Wie es wohl geworden wäre, wenn sie mit ihm zusammen hierher gekommen wäre, überlegte er traurig. Sie würde nirgendwo mehr mithin kommen, denn Rika war tot. Shinya erinnerte sich nur allzu deutlich, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie saßen gemeinsam auf der Bank unter der großen Weide und träumten von der Zukunft. Miko, seine Labradorhündin, hatte es sich zu ihren Füßen bequem gemacht und friedlich vor sich hingedöst. Sie wollten gemeinsam an die Universität gehen, vielleicht sogar eine kleine WG aufmachen. Rika hatte ihre langen Haare nach hinten geworfen und ihn lachend angesehen, so wie sie es immer getan hatte... Sie war stets die Einzige gewesen, die Shinya für voll genommen hatte. Er war immer ein ruhiger, in sich gekehrter Junge gewesen, der sich gerne Tagträumen und Philosophierereien hingegeben hatte. «Nur sie hat mich immer verstanden...» Selbst seine Eltern konnten seinen Gedankengängen nicht folgen. Das war im Frühling gewesen. Zwei Tage später war Rika tot. Die genaue Todesursache konnte nicht festgestellt werden. Sicher war nur, das sie innerlich verblutet war. «Einfach so» dachte Shinya «über Nacht wurde ihr Leben ausgelöscht.» Rika hatte geschlafen und war nicht wieder aufgewacht. Er hatte sie gesehen, als sie so ruhig auf ihrem Bett gelegen hatte, die Augen geschlossen und mit der einen Hand den Stoffhasen, den Shinya ihr vor langer Zeit geschenkt hatte, fest umklammert. Wieder stiegen Tränen in ihm auf. «Rika...» Er wollte die düstere Erinnerung abstreifen, aber es wollte nicht gelingen. Er begann zu rennen. So als wollte er vor der Erinnerung davonlaufen hetzte er durch die düsteren Straßen. Schließlich gab Shinya das ziellose Herumirren auf. Als er völlig verschwitzt wieder vor dem nüchternen grauen Wolkenkratzer ankam in dem sich eine Wohnung befand, merkte er, wie er fror, obgleich es eine recht warme Nacht im Spätsommer war. Shinya betrat die Eingangslobby, in der ihn unzählige Briefkästen mit herausquellenden Werbeprospekten empfingen. Er war froh dass er dem kalten Neonlicht entfliehen konnte, als der Aufzug quietschend seine Türen öffnete. Die Lampe darin war wohl immer noch kaputt, denn sie flackerte auf dem Weg in den 17. Stock mehr als einmal an und aus. Niedergeschlagen ging er langsam durch den schwach erleuchteten Gang. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch und verkochtem Gemüse. «Widerlich...» Ihn schüttelte es unwillkürlich. Während Shinya in der Hosentasche nach seinem Schlüsselbund kramte vernahm er leise Musik die von der einen Seite des Gangs an sein Ohr drang. Irgendwo schien sich jemand zu streiten. Immer noch zog sich die schmerzhafte Erinnerung wie ein Film durch seinen Kopf, Bild für Bild, Szene für Szene. Sie waren wie Geschwister aufgewachsen und Shinya hatte Rika von klein auf, auf eine rein platonische Art und Weise, innig geliebt. Shinya schloss die Tür auf, doch rechte Lust in die dunkle Stille seiner Wohnung zurückzukehren hatte er nicht. Aber hatte keine andere Wahl, er musste am nächsten Morgen ausgeschlafen sein, denn sein Chef duldete keinerlei Nachlässigkeiten. Seine Mutter hatte ihm bei seinem Auszug geraten, sich doch einen Job zu suchen der ihm etwas Ablenkung brachte. Nicht das er darauf angewiesen wäre, seine Eltern verdienten schließlich genug Geld um ihrem einzigen Sohn jeden Wunsch zu erfüllen, aber seine Mutter wusste, dass ihr Sohn allein in Kyoto in seinem Zimmer alleine in seiner Trauer ertrinken würde. Und so arbeitete er nun täglich bis zu Beginn des Semesters in einem kleinen Bistro in der nächsten Straße als Kellner. Eine Arbeit, die ihm lag. Er musste sich trotz allem nur darauf konzentrieren, keine Bestellungen durcheinander zu bringen und jeden Gast anzulächeln. Während er bediente konnte er über viele Dinge nachdenken. Nur den Gedanken an Rika verdrängte Shinya stets bei der Arbeit.«Noch zwei Wochen bis Semesterbeginn...» ++++++++++++++++ "Mann, was für ein Tag!" seufzte Kyo und lies sich neben Kaoru in die Sitzecke seines Stammbistros fallen. "Bedienung, für mich auch einen Latte Macchiato!!!" rief er dem zierlichen blonden Jungen zu, der sich unsicher mit einem Block in der Hand ihrem Tisch näherte. "Was denn ?" grinste Kaoru. "Oh, ich hab mit Mineko Schluss gemacht! Die Tussi hat es nicht mal im Bett gebracht!" Unbeachtet von Kaorus Einwurf "du notgeiler, kleiner..." schimpfte er weiter: "Und weißt du, was das Schlimmste war? Sie hat mich permanent als kawaii bezeichnet!!!" "Du Ärmster" kam es ungerührt von Kaoru zurück. Der schüttelte lachend seine lilagefärbten Haare über den eben geführten Dialog, der sich ungefähr alle zwei Wochen wiederholte. Nur mit ständig wechselnden Namen. Man brauchte sich nicht einmal die Mühe zu machen, sich die Namen und Gesichter zu merken, da sowieso andauernd Schluss war. Ein ständiges Kommen und Gehen - es war wie im Taubenschlag. Kaoru hatte sich längst daran gewöhnt. "Bist du eigentlich noch mit deiner Schnitte zusammen?" wollte Kyo wissen. "Noch mal diese Bezeichnung und..." "Jetzt hab dich nicht so, ja oder nein?" wurde Kaorus Drohung unterbrochen. "Ja bin ich. Ich bin nämlich nicht so ein Weiberheld wie du. Allerdings geht sie jetzt erst mal ein Semester nach Europa und studiert dort weiter." Der lilahaarige Junge senkte seufzend den Blick, um sich leicht betrübt seinem Getränk zu widmen. Selbst Kyo verstand, dass jetzt kein unqualifizierter Kommentar bezüglich Frauen angebracht war. Shinya schaute betrübt zu den beiden hinüber. Da sich die beiden Jungen nicht gerade leise unterhalten hatten und außer ihnen nur mehrere Geschäftsleute an der Theke schweigend eine Tasse Kaffee hinunterstürzten, konnte er jedes Wort verstehen. Wie gerne hätte er sich zu ihnen gesellt... Nicht um zu reden sondern um zuzuhören und abgelenkt zu sein von den traurigen Gedanken, die wieder über ihn hereinbrachen. Wie gerne wäre dort drüben am Tisch, bei diesem lilahaarigen Jungen, der eine große Ruhe auszustrahlen schien und dem Anderen, dessen Kopf eine nicht definierbare blonde Mähne zierte. Das Gesicht konnte er nicht sehen, da der Blonde ihm den Rücken zukehrte. Das Gesicht des Lilahaarigen kam ihm dagegen seltsamerweise irgendwie vertraut vor. Er wusste nicht wieso ihm dieser Gedanke auf einmal kam, aber er würde sich gerne mit ihnen anfreunden. In seinen Grübeleiern versunken begann er, die vielen Zettel, Briefe und anderen Papierkram, der sich vor ihm auf der Theke türmte zu ordnen. Warum musste sein Chef aber auch immer alles liegen lassen anstatt es gleich mit ins Büro zu nehmen... "Ähm hallo..." eine leicht gereizt klingende Stimme durchbrach seine Wand aus Gedanken. «Was...» "Äh, bitte?" stammelte Shinya verwirrt. "Eine große Tasse Milchkaffee bitte" "Ja natürlich, ich bringe sie sofort!" "Das will ich hoffen" Der Junge, der Shinya so abrupt aus seinen Tagträumen gerissen hatte drehte sich um und ging zu dem Tisch an dem die anderen beiden Jungen saßen. Shinya beeilte sich mit dem Milchkaffee um den Jungen, der wie Shinya erstaunt festgestellt hatte seine Haare in alle Richtungen gestylt und sie noch dazu leuchtend rot gefärbt hatte, nicht noch mehr zu verärgern. "Die, na endlich! Wir dachten schon, du kommst überhaupt nicht mehr!!!" tönte es vorwurfsvoll von dem Blondhaarigen. "Halt die Klappe Kyo!" fauchte Die "du weißt genauso gut wie ich, dass das U-Bahnnetz hier nicht das beste ist!" "Na na " mahnte Kaoru die beiden "ihr werdet euch doch nicht wegen so etwas in die Haare kriegen wollen." "Und außerdem" , fügte er grinsend hinzu " seht ihr eh beide so aus, als wüsstet ihr nicht, was ein Kamm ist." Shinya bewahrte Kaoru vor einem weiteren bissigen Kommentar von den beiden Angesprochenen als er vorsichtig die riesige französische Tasse mit dem heißen Milchkaffee vor Die abstellte. "Danke" murmelte dieser etwas besänftigt darüber, dass Shinya sich wirklich beeilt hatte. Als Shinya sich wieder zum Gehen wandte, merkte er, wie er von dem Jungen mit den lila Haaren, dessen Namen noch kein einziges Mal gefallen war beobachtet wurde. «Oh nein, hab ich vielleicht irgendwas falsch gemacht? War der Kaffee nicht gut oder...» verunsichert nahm Shinya seinen Platz hinter der Theke wieder ein und begann die Tassen der Geschäftsleute zu spülen, die mittlerweile das Bistro verlassen hatten. "Zahlen bitte!" rief Die in Richtung Shinya. Der Rotschopf zahlte für alle, denn geizig war er trotz seiner schlechten Launen nun wirklich nicht. Als Shinya kassiert hatte und gehen wollte, vernahm er auf einmal die Stimme des lilahaarigen Jungen, der unvermittelt in den Raum fragte: "Hey Jungs, kann mir mal einer von euch sagen, was 732 mal 845 geteilt durch 10 ist?" "Spinnst du jetzt völlig?!" kam es gleichzeitig von Die und Kyo. "60854" sagte Shinya leise, aber Kaoru hatte es dennoch gehört. "Danke" meinte er und setzte ein zufriedenes Grinsen auf. "Baibai" verabschiedeten sich die drei und Shinya stand alleine im Bistro. Auch ihn hatte die Frage des Lilahaarigen verwundert, aber noch mehr verwunderte ihn die Tatsache, dass dieser ihm zum Einen so bekannt vorkam und zum Anderen, dass er von ihm dauernd so angesehen wurde. Aber Kopfrechnen war, genau wie alles andere was Schule in irgendeiner Form betraf, eine Leichtigkeit für ihn. Im Gegenteil, er hatte sich in der Schule schon immer unterfordert gefühlt. Er hatte mehrere Klassen übersprungen und an der Highschool hatte er sich nur noch gelangweilt. Sein Mathelehrer war mehr als alle anderen mit ihm völlig überfordert, denn er hatte ihm Fragen gestellt, die dieser beim besten Willen nicht beantworten konnte. Deshalb hatte er Shinya auch dazu geraten, Physik zu studieren. Dort würde er auf all das eine Antwort bekommen. Shinya, dem es gleich war, was er studierte hatte diesen Vorschlag dankbar angenommen, so brauchte er wenigstens keine eigene Entscheidung mehr zu treffen. Gleichzeitig hatte er sich noch für Philosophie eingeschrieben. Etwas, das ihn persönlich reizte, aber er es nur als Nebenfach belegen wollte, da die Berufsaussichten für Philosophen vielleicht in der Antike einmal gut gewesen waren. «Philosophie... genau das hatte Rika auch als Nebenfach belegen wollen. Und als Hauptfach Medizin...» Sie hatte schon immer den Drang gehabt, den Menschen zu helfen. «Sicher wäre sie in ihrem Studium voll aufgegangen» Shinya versank wieder in Grübeleien und auch der beklemmende Schmerz kehrte zurück. Nur gut das gleich seine Ablösung kam und er sich dann wieder von der Welt zurückziehen konnte. Verbissen wischte er die Tische sauber und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten. ++++++++++++ Die Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, als er sich wieder und wieder das abgegriffene Foto von Rika ansah. Wieso konnte er sie nicht einfach in guter Erinnerung behalten und lächelnd an ihre gemeinsame Jugend zurückdenken? «Wann lässt dieser Schmerz denn endlich einmal nach? Rika würde es nicht wollen, dass ich dauernd um sie weine. Sie hat mich immer wieder aufgefordert, nicht ständig so ernst zu sein... sie hat sich so gefreut, wenn ich gelacht habe... und jetzt sitze ich hier, und weine mir die Augen aus. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr... Rika» Erneut begannen die Tränen stärker zu fließen. «Wo du wohl jetzt bist? Warum musste das passieren? Hätte ich denn gar nichts tun können? Warum, warum?» "WARUM?" Das letzte warum hatte Shinya ohne es selbst zu wollen in die Dunkelheit hinaus geschrieen. Er saß auf einer Bank in einem Park nahe des Kamo - Flusses. Wie genau er dort hingekommen war, wusste er nicht. Nur dass er an irgendeiner Station aus der U-Bahn ausgestiegen war. Er konnte die drückende Enge der vielen Menschen einfach nicht mehr ertragen. Er wollte niemanden mehr sehen, nur Rika. Aber das war unmöglich. Erneut fiel Shinyas Blick auf das Foto das er mit der Hand umklammert hielt. ,Plopp, plopp' war das Geräusch, das die Tränen darauf machten. Auf einmal überkam ihn eine bis dahin unbekannte Wut. Er ballte die Hand mit dem Foto zu einer Faust, so dass es zerknitterte und schlug auf die Bank. Der Schmerz lies ihm wieder klar werden, was er da tat. Langsam bahnte sich warmes rotes Blut einen Weg über seine Finger auf die Erde. Er hatte sich bei dem Schlag auf das Holz die Haut an seinen Fingern aufgerissen. Shinya konnte in seinen Hosentaschen kein Taschentuch mehr finden und als das Blut immer noch lief, putzte er es an seiner Hose ab. «Ich muss mich zusammenreißen» dachte er entsetzt über sein eigenes Verhalten. in seinem Kopf konnte er Rikas sanfte Stimme hören, die ihn lächelnd ermahnte. «Wenn ich jetzt verrückt werde ist keinem geholfen.» Mit dem Schmerz an seiner Hand kam auch sein Verstand zurück. Als sich Schritte näherten hob Shinya langsam seinen Kopf. Die Tränen hatten aufgehört zu fließen. Eine große schlanke Gestalt bewegte sich langsam auf ihn zu. Die Haare des Jungen schimmerten, wie er jetzt erkennen konnte, in einem dunklen violett. «Das ist der Junge aus dem Bistro von heute Nachmittag» durchfuhr es ihn. Auch der Andere musste Shinya bemerkt haben, denn er steuerte direkt auf ihn zu. "Shinya?" Shinya erschrak als er seinen Namen hörte. "Du bist es doch, oder?" "Ja" murmelte er, "a-aber woher kennst du meinen Namen?" "Na hör mal, wie könnte ich denn den Namen meines Spielkameraden vergessen? Auch wenn ich dich vor 8 Jahren das letzte Mal gesehen habe. Damals warst du 9 und ich 14. Mein Vater wurde versetzt und ich musste wegziehen, weißt du das wirklich nicht mehr?" "Kaoru..." "Richtig" versetzte dieser lächelnd. "Aber wie hast du mich erkannt? Ich meine es ist immerhin ..." "Na komm" unterbrach Kaoru ihn "du hast noch immer die gleichen zarten Gesichtszüge wie damals und auch deine Fähigkeiten im Kopfrechnen haben keineswegs nachgelassen." "Ach deshalb die Frage heute morgen im Bistro." Shinya musste unwillkürlich lächeln. Es war das erste wirkliche Lächeln seit einem halben Jahr - seit Rikas Tod. "Was machst du um diese Uhrzeit hier im Park?" wollte Shinya wissen. "Ich habe mich soeben von meiner Freundin verabschiedet. Sie fliegt morgen früh nach Europa um dort weiter zu studieren. Und was machst du selbst hier? Sieht nicht danach aus, als würdest du hier die Nacht verbringen wollen." "Ich... ich wollte einfach nur alleine sein." murmelte Shinya. "Oh..." Erst jetzt bemerkte Kaoru das vom Weinen rot verquollene Gesicht Shinyas und den getrockneten Blutfleck auf dessen Hose, sagte aber nichts dazu. "Wie geht es eigentlich Rika?" Kaoru hatte damit den wunden Punkt getroffen und Shinya merkte, wie seine Augen wieder feucht wurde. "Sie ist tot" sagte Shinya leise. "Nein..." Kaorus Stimme klang genauso betroffen, wie er sich fühlte. "Wann...?" "Im vergangenen Frühling, innerlich verblutet..." kam es tonlos von Shinya, während die Tränen wieder begonnen hatten zu fließen. Kaoru verstand, das weitere Worte alles nur noch schlimmer machen würden und so nahm er Shinya einfach in den Arm. Er wusste sich nicht anders zu helfen. "Ich glaube, ich sollte jetzt besser nach Hause" Shinya befreite sich vorsichtig aus Kaorus Armen. Er konnte die Wärme eines Menschen einfach noch nicht ertragen. "Wo wohnst du?" fragte Kaoru. Shinya nannte ihm eine Adresse, drehte sich um und eilte davon. Er war froh gewesen, Kaoru mitten in dieser riesigen Stadt zu treffen, aber es machte ihn auch erst recht traurig, da dieser untrennbar mit der Vergangenheit und damit mit Rika zusammenhing. Er war noch nicht soweit, dass er wider Wärme annehmen konnte. Aber wenigstens hatte er nun ein bekanntes Gesicht inmitten dieser Masse von Menschen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)