A new generation von -Raven- ================================================================================ Kapitel 18: Phase 18: Red eyes in the dark ------------------------------------------ Phase 18: Red eyes in the dark NERV-HAUPTQUARTIER, KONFERENZRAUM 1 „Was ist mit dir?“, wollte Riley wissen. „Wie bitte?“ „Du benimmst dich irgendwie... komisch.“ Tia seufzte. „Danke für diese extrem präzise Definition, Dr. Thornton.“ „Na ja, es ist wie ganz zu Anfang.“ „Und? Was ist daran schlecht?“ Er holte tief Luft; ihm war wohl nur zu deutlich bewusst, dass er sich auf ziemlich dünnem Eis bewegte. „Du... mauerst.“ „Ach?“ „Du weißt, was ich meine.“ „Tue ich das?“ „Ich denke schon.“ „Selbst wenn: was geht es dich an?“ Bevor sie ihre Diskussion – falls man diesen Dialog als solche bezeichnen konnte - weiterführen konnten, kamen David, Misato und Ritsuko herein. „Guten Morgen“, meinte Ritsuko ekelhaft gut gelaunt. „Oh. Ist es inzwischen Morgen?“ „Wir haben ein Uhr morgens japanischer Zeit.“ Tia gähnte verstohlen. „Aha. Können wir jetzt gehen?“ „Leider nicht. Wir müssen noch die Ergebnisse durchsprechen. Aber keine Angst, du wirst noch genug Zeit für deinen Schönheitsschlaf haben.“ „Was meinst du damit?“ Misato, David und Riley zuckten zusammen; ihnen war dieser gereizte Tonfall nur zu gut bekannt. „Ich habe gehört, dass du heute Abend ein Date mit einem sehr gutaussehenden jungen Mann hast...“ „So, hast du. Und von wem, wenn ich fragen darf?“ Jetzt begriff auch Ritsuko den Ernst der Lage. „Oh, weißt du...“ „Misato also. Was kommt als nächstes? Ratschläge zum Thema Verhütung?“ „Keine schlechte Idee“, warf die Subkommandantin selbstmörderisch ein. „Ich wüsste nicht, was euch mein Privatleben angeht. Ich gehe lediglich mit Takuro zum Schultanz, das ist alles. Ich werde weder mit ihm durchbrennen noch ihn heiraten oder mich von ihm schwängern lassen. Punkt.“ „Und wenn er...“ „Ende der Diskussion.“ Tias Stimme war gefährlich leise geworden; David bewegte sich möglichst unauffällig in Richtung Tür, und Misato wischte sich – wohl eher unwillkürlich – den Schweiß von der Stirn. Wie so oft bemühte sich Riley, eine Eskalation zu verhindern. „Können wir jetzt bitte die Ergebnisse durchsprechen? Ich bin nämlich müde.“ „Ja, natürlich.“ Lächelnd legte Ritsuko einen Berg bedruckten Computerpapiers auf den Tisch. „Dann wollen wir mal...“ MISATO KATSURAGIS PENTHOUSE, dreizehn Stunden später „IST JA SCHON GUT!“ Das durfte doch nicht wahr sein! Im Nachthemd und mit wirrem Haar stolperte Tia, noch immer halb schlafend, zur Tür. Hatte Misato mal wieder ihren Schlüssel vergessen? Wer auch immer es war – er oder sie schien sich auf die Klingel gelehnt zu haben. Schimpfend riss Tia die Tür auf. „Sind Sie schwerhörig oder lebensmüde? Das ist doch...“ Verwirrt brach sie ab. Vor ihr stand ein Mädchen, das etwa in ihrem Alter zu sein schien. Sie war allerdings etwa zehn Zentimeter kleiner als Tia und aufgetakelt wie ein Model. Langes, blondiertes Haar fiel in einer weichen Dauerwelle um ein puppenhaftes, definitiv zu stark geschminktes Gesicht, das momentan durch das demonstrativ gerümpfte Stupsnäschen etwas verzerrt wirkte. Der Neuankömmling taxierte Tia mit kritischen Blicken vom Kopf bis Fuß, und die EVA- Pilotin wurde sich ihrer harten Gesichtszüge, ihrer wirren roten Haare, ihren Augenringen, ihrem wegen ihrer Periode besonders käsigen Teint und ihres durch den langen Krankenhausaufenthalt noch immer mageren Körpers unangenehm bewusst. Schließlich beendete Miss World ihre Inspektion. „Ich will zu Riley.“ Sie war unfreundlich – sehr gut. So musste Tia wenigstens auch nicht freundlich zu ihr sein. „Riley schläft.“ „Er... schläft?“ „Wir hatten heute nacht Reaktivierungstests. Komm später noch mal wieder.“ Damit machte sie Anstalten, die Tür zu schließen. „Halt! Ich bin sicher, er wird mich sehen wollen. Immerhin bin ich seine Freundin.“ „Seine...“ Tia schluckte; das da war Rileys Freundin? Eigentlich hatte sie dem Briten einen besseren Geschmack zugetraut. „Wie ich schon sagte: Riley schläft. Und ich werde ihn bestimmt nicht wecken.“ Wieder dieser abschätzige Blick, der in Tia das Verlangen weckte, das blondierte Biest eigenhändig zu erwürgen. „Du bist bestimmt diese Langley, das Second First Child, oder?“ „Ja.“ „Das habe ich mir gedacht. Kein Wunder, dann musst du ja frustriert sein.“ Das reichte jetzt wirklich. Sie brachte gerade die Schimpfwörter, die sie diesem billigen Playmate-Verschnitt an den Kopf werfen wollte, in eine strategisch günstige Reihenfolge, als Riley auf den Flur trat. „Heavens... Kelly?“ Miss World – Kelly, korrigierte Tia sich in Gedanken – quietschte entzückt, stürmte an Tia vorbei in den Flur und fiel Riley begeistert um den Hals, wobei sie, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, heftig mit seinen gebrochenen Rippen kollidierte. Memme! Nur wegen ein paar gebrochener Knochen muss er noch lange nicht so wehleidig aus der Wäsche gucken! „Äh... Kelly... Was machst du denn hier?“ „Ich musste doch unbedingt nach dir sehen, wo du doch sooooo schwer verletzt warst! Ich bleibe das Wochenende über hier in Tokyo!“ „Oh...“ „Und du hast mir sooooo lange nicht geschrieben, Sweetheart!“ Ich glaube, mir wird schlecht... Tia würgte und floh ins Badezimmer. Ich HASSE es, meine Tage zu haben! „Tia?“ Riley hatte sich offenbar kurzzeitig aus Kellys Klammergriff befreit und war Tia ins Bad gefolgt. „Lass’ mich in Ruhe!“, keuchte sie zwischen zwei Würgreflexen. „Kann ich irgendwas für dich tun?“ „Nein.“ Sie übergab sich erneut, obwohl ihr Magen so gut wie leer war. „Keine Sorge, Riley-Sweetheart“, bemerkte Kelly zuckersüß, „sie sorgt nur dafür, dass ihre Figur schön klapprig bleibt.“ „Kelly, warte bitte im Wohnzimmer.“ Energisch zog Riley die Tür zu, obwohl Kelly Anstalten machte, zu schmollen. Mit zwei Schritten war er bei Tia und ging neben ihr in die Hocke. „Was hast du?“, wollte er, eindeutig besorgt, wissen. „Nichts!“, giftete sie und verabschiedete sich von einem weiteren Schwall Gallenflüssigkeit. „Das sieht mir aber absolut nicht nach ‚nichts‘ aus.“ „Weißt du was? Studier‘ Sozialpädagogik!“ „Ich dachte eher an Kriminalistik. Aber mal im Ernst: bist du krank?“ „Ich... ich hab‘ meine Tage“, gestand sie und spürte verlegen, dass sie rot anlief. Eigentlich handelte es sich um einen völlig natürlichen zyklischen Vorgang, der absolut notwendig für das Überleben der menschlichen Art war... und trotzdem war es ihr ungemein peinlich. Als Elitesoldatin kotzte man sich nicht die Seele aus dem Leib, nur weil man menstruierte! „Oh...“ Wenigstens wurde er auch rot. „Ist das für dich jedes Mal so schlimm?“ „Ja. Und?“ Es wurde immer schlimmer... Tia fühlte sich, als habe er sie mit einem Kuscheltier erwischt. Er wird mich für schwach halten... „Entschuldige bitte. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Es geht mich ja auch nichts an.“ „Stimmt. Außerdem solltest du dich um Kelly kümmern. Immerhin ist sie extra wegen dir aus Großbritannien hergekommen.“ Er ignorierte das völlig. „Kann ich irgendwas für dich tun?“ „Nein. Danke. Bitte, keinen Tee!“ „Okay, dann nicht – auch wenn ich dir gerade einen anbieten wollte. Wie wär’s mit einer Wärmflasche? Äh... das ist doch mit Bauchkrämpfen verbunden, oder?“ „Ja, stimmt. Aber du musst nicht...“ „Blödsinn. Leg du dich wieder hin, und ich bringe dir gleich die Wärmflasche.“ Sie lächelte kläglich. „Danke.“ „Nichts zu danken.“ AULA DER OBERSCHULE NORD, NEO-TOKYO 4, weitere zehn Stunden später Der Schultanz war ein echter Alptraum, zumindest für Riley Matthew Thornton, den Piloten von EVA-05. Ähnlich wie Tia verabscheute auch er betrunkene, pubertierende Trottel – und die traten hier nun wirklich en masse in Erscheinung. Viel schlimmer war für ihn allerdings das weibliche Wesen, das bereits den ganzen Abend wie eine Klette an ihm klebte. Er hatte durchaus seine Gründe gehabt, Kelly nicht mehr zu schreiben... „Ich hab‘ dich ja sooooo vermisst“, zirpte sie gerade schätzungsweise zum hundertfünfzigsten Mal an diesem Abend. Ich dich aber nicht! Natürlich war er viel zu höflich, um so etwas tatsächlich zu sagen. Manchmal wünschte er sich wirklich, etwas mehr so wie Tia zu sein. Andererseits hatte sie diesen Fußball spielenden Schleimbeutel am Hals... Suchend sah er sich um. Ah, da ist sie ja. In ihrem kurzen, ärmellosen, aber hochgeschlossenen schwarzen Kleid im Uniformstil sah sie einfach hinreißend aus. Ihr rotes Haar fiel wild über ihre Schultern, und ihre Augen blitzten, als sie über etwas lachte, das einer von Takuros Freunden gerade gesagt hatte. Riley konnte es Takuro definitiv nicht übel nehmen, dass er sich in Tia verguckt hatte. Andererseits... Irgendwie nahm er es ihm doch übel. „Besorgst du mir noch was zu Trinken, Sweetheart?“ „Natürlich.“ Froh, wenigstens für kurze Zeit von Kelly wegzukommen, machte er sich auf den Weg zum Getränkestand. Während er Kellys Glas an der Bowleschüssel auffüllte, bekam er unweigerlich das Gespräch zweier Jungen aus der Klasse über ihm mit. „Und ich sage dir, er kriegt sie heute Abend noch rum.“ „Die doch nicht!“ „Wetten das?“ „Die eiserne Jungfrau? Miss EVANGELION? Du spinnst doch.“ Zweifellos ging es um Tia. Riley folgte den beiden unauffällig. „Man belauscht die Gespräche anderer Leute nicht“, mahnte seine gute Erziehung in seinem Hinterkopf. „Kann schon sein“, hielt er dagegen. „Aber das hier ist definitiv eine Ausnahmesituation.“ „Ich sage dir, mit dem Zeug in ihrem Drink weiß sie nicht mehr, wo oben und unten ist. Und wenn sie erst mal mit ihm gepennt hat, muss sie auch mit ihm gehen, sonst verliert sie das Gesicht.“ „Wenn es niemand erfährt?“ „Mensch, bist du wieder schwer von Begriff! Wir erzählen es überall rum! Das sind wir Yamamoto schuldig, immerhin sind wir seine Kumpels!“ Warum war Riley nicht darüber erstaunt, dass einer dieser Mistkerle der ältere Bruder von Nonaka, Davids seltsamem Freund, war? Beunruhigt suchte er in der Menge der tanzenden Jugendlichen Tia. Da war sie, eng an diesen Bastard Yamamoto geschmiegt. Riley stürzte auf den Flur, zückte sein Handy und rief Misato an. „Ja?“ „Misato, hier ist Riley. Könntest du so nett sein, uns abzuholen?“ „Jetzt schon? Ist etwas passiert?“ „Könnte man so sagen. Tia fühlt sich nicht wohl.“ „Gut, ich kann in etwa einer Viertelstunde da sein.“ „Danke.“ Ohne ihr Gelegenheit zu weiteren Fragen zu geben, legte er auf und ging in die Aula zurück. Wo waren Tia und der Schleimbeutel geblieben? „Sweetheart, wo bleibst du denn so lange?“ Kelly umarmte ihn von hinten; unwirsch befreite er sich von ihrem Klammergriff. „Hast du David gesehen?“ „Aber Sweetheart...“ „Bitte, Kelly. Jetzt nicht.“ „Was hast du denn?“, schmollte sie. Riley beachtete sie gar nicht; er hatte gerade David ausfindig gemacht. „Dave! Hey, Dave!“ Breit grinsend und eine beachtliche Alkoholwolke vor sich her schiebend trat der junge Amerikaner zu ihm. Offiziell war Alkohol zwar verboten, aber der ein oder andere Schüler hatte eine Möglichkeit gefunden, seine Vorräte hereinzuschmuggeln und unters Volk zu bringen. „Riley, mein Freund. Was gibt’s?“ „Dave, du musst mir einen Gefallen tun.“ „Worum geht’s?“ „Misato kommt gleich her, und...“ „Ein Engel?“ „Nein. Ein Anschlag auf Tias guten Ruf.“ „Was?“ „Das erkläre ich dir später. Ich muss jetzt Tia suchen. Sei so nett bring‘ Kelly zu ihrem Hotel, ja?“ „Moment mal, Riley Thornton! Was hat das zu bedeuten?“ Jetzt war Kelly eindeutig wütend. „Später.“ „Irrtum. Ich verlange JETZT eine Erklärung.“ „Es ist ein Notfall.“ „Aber Sweetheart...“ „NENN‘ MICH NICHT SWEETHEART!“, zischte er, aufs Äußerste gereizt. „Ich komme morgen zu dir ins Hotel, und wir reden darüber, in Ordnung? Aber jetzt habe ich keine Zeit dazu. Wie sieht’s aus, Dave?“ „Kein Thema, Kumpel.“ „Danke. Ich schulde dir was.“ Damit stürzte er sich ins Gewühl, ohne auf Kellys Proteste zu achten. Fünf Minuten später war er wirklich nervös. Wenn noch nicht einmal Tias krankhaft neugierige Freundinnen sie gesehen hatten, war das ein echtes Alarmsignal. Na schön. Wo würde ich hingehen, wenn ich mit einem Mädchen bei einer solchen Veranstaltung allein sein wollte? Yamamoto ist Klassensprecher; er hat also einen Schlüssel zum Krankenzimmer... Riley sprintete los, geflissentlich die Proteste der Leute missachtend, die er dabei anrempelte. Vor der entsprechenden Tür zögerte er einen Moment; hatte er tatsächlich das Recht dazu, sich einzumischen? „Ich weiß nicht, Takuro... Nein, lass’ das...“ „Ach komm schon, da ist doch nichts dabei! Alle machen es.“ Tia kicherte nervös. „Nein, Takuro... Ich bin mir nicht sicher, dass das eine gute Idee ist...“ Das war definitiv zu viel. Energisch riss Riley die Tür auf. „Nimm deine Hände von ihr, du Dreckskerl!“ Takuro fuhr erschrocken zusammen und drehte sich zu Riley um; ganz offensichtlich hatte er bereits einiges getrunken. „Was willst DU denn?“ „Mach‘ keinen Ärger, Yamamoto.“ Tia sah ihn nur mit großen Augen an, hilflos ihr geöffnetes Kleid vor ihrer Brust zusammenhaltend. Riley trat zu ihr und half ihr behutsam, den Reißverschluss wieder zu schließen. „Komm“, sagte er sanft. „He, was fällt dir ein?“ „Diese Frage sollte ich dir stellen. Es ist ja wohl wirklich erbärmlich, ein Mädchen unter Drogen zu setzen, damit sie mit dir schläft! Abgesehen davon hat sie gerade laut und deutlich gesagt, dass sie das nicht will. Welchen Teil von ‚Nein‘ hast du nicht verstanden?“ Takuro stellte sich ihm in den Weg. „Jetzt reicht‘ s mir aber!“ „Ja, mir auch“, entgegnete Riley ruhig – und verpasste seinem Kontrahenten einen gezielten Kinnhaken. Es reichte nicht aus, um Takuro zu betäuben, aber zumindest war er irritiert. Riley nutzte das aus und zog Tia auf den Gang, quer durch die Aula und auf den Parkplatz. Sie schien gar nicht wirklich zu begreifen, was passiert war. „Ist dir kalt?“, fragte Riley leise. „Ich... weiß nicht...“ Ihre Augen wirkten glasig; Riley begann sich zu fragen, was für eine Substanz es gewesen war, die Nonaka der Ältere erwähnt hatte und wie viel Alkohol Tia vorher schon getrunken hatte. Wortlos reichte er ihr seine Jacke, in die sie sich dankbar einkuschelte. Er begann gerade zu befürchten, dass Yamamoto sie bald aufgespürt haben würde, als Misato auf den Parkplatz fuhr und direkt vor ihnen hielt. „Na, ihr zwei? Wo habt ihr denn David gelassen?“ „Er bringt Kelly ins Hotel.“ Riley zögerte; erst jetzt bemerkte er, dass Misato nicht alleine in ihrem Auto saß. Die Beifahrertür wurde geöffnet, und eine dunkel gekleidete Gestalt stieg aus. Misato wies auf den Mann und sagte lächelnd: „Darf ich euch Dr. Kaworu Nagisa vorstellen? Ich habe ihn gerade vom Flughafen abgeholt. Er wird...“ Riley hatte gerade noch Zeit, sich darüber zu wundern, dass Nagisa nachts eine dunkel getönte Brille trug, als Tia zu schreien begann. NEO-TOKYO 4, CITY Sie wusste nicht genau, wohin sie lief, aber sie lief um ihr Leben. „Tia!“ Rileys Stimme, unendlich weit weg. Die Angst umklammerte ihr Herz noch immer wie ein Schraubstock; sie durfte nicht stehen bleiben, durfte sich nicht einmal umsehen... Sie stolperte über eine unsauber verlegte Betonplatte auf dem Gehsteig, fiel hin und schürfte sich schmerzhaft die Knie auf. Schritte näherten sich. Sie musste weg, musste fliehen... Aber ihre Knie taten so weh... „Hey, was ist denn los?“ Riley legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. „Ganz ruhig. Erzähl‘ mir, was los ist, okay?“ „Er... er ist...“ Sie konnte es nicht aussprechen; ein hysterischer Lachkrampf schnürte ihr die Kehle zu. „Kannst du aufstehen?“ Er half ihr hoch und nahm vorsichtig ihren Arm. „Komm, wir gehen nach Hause...“ Tia kicherte noch immer schrill, obwohl sie eigentlich eher den Tränen nah war. „Okay. Ganz langsam.“ Er trug sie mehr, als dass sie lief; der Alkohol und die unbekannte Droge, die Takuro ihr vorhin aufgedrängt hatte, begannen erst jetzt richtig zu wirken. Außerdem zitterte sie noch immer vor Angst. Verschwommen bekam sie mit, dass sie mit der Straßenbahn fuhren. Riley murmelte beruhigende Worte und strich ihr sanft über die Haare. Das Stück von der Haltestelle bis zu ihrer Wohnung musste er sie dann tatsächlich tragen, da ihre Beine ihr den Dienst versagten. „Lass’ mich runter“, murmelte sie verstört. „Rede keinen Unsinn. Du kannst nicht mal mehr gerade stehen.“ „Das ist es nicht. Ich glaube, ich muss kotzen.“ MISATO KATSURAGIS PENTHOUSE Sie lag in ihrem Bett und betete darum, dass das Zimmer endlich aufhörte, sich zu drehen. Mittlerweile hatte sie sich zum dritten Mal übergeben. Riley hatte ihr, hilfsbereit, wie er nun mal war, einen Eimer ans Bett gebracht, ihr den Kopf gestützt, ihr Wasser gebracht, ihr Kopfkissen wieder aufgeschüttelt... Erschöpft schloss sie die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf. Sie läuft durch endlose Häuserschluchten, wird verfolgt und kann sich nirgendwo verstecken. In der Luft liegt das Dröhnen von Bomben, und es riecht nach Blut... Sie stolpert und landet auf etwas Weichem. Entsetzt wird ihr bewusst, dass es ein Leichenhaufen ist - und sie direkt in die toten, blicklosen Augen ihrer Mutter sieht. Panisch versucht sie aufzustehen; die Leichen geraten in Bewegung, und sie erkennt in den zerfetzten Körpern und in Todesangst erstarrten Gesichtern noch andere Menschen aus ihrem Bekanntenkreis: Jörn Hansen, Misato, Hitomi, Noriko, Ritsuko, David, Riley... Ein leises, kaltes Lachen ertönt. Sie hebt den Kopf; aus einer sich vor dem dunklen Nachthimmel nur undeutlich abzeichnenden Silhouette glüht ein purpurrotes Augenpaar. Mit einem Mal ändert sich die Szenerie etwas. Die Leichen haben nun andere Gesichter. Sie kann ihnen keine Namen zuordnen, doch alle sind ihr seltsam vertraut... Die Häuserschluchten werden zu einem weiten Trümmerfeld, in dessen Mitte ein halb eingestürzter, noch immer brennender Turm steht. Sie tastet nach ihrem Schwert, greift jedoch daneben. Die Waffe rutscht den Leichenhaufen hinunter. Bei dem Versuch, sie zu erreichen, berührt sie das blutige Gesicht einer Leiche, spürt die feuchten, leeren Augenhöhlen... Und der rotäugige Schatten kommt näher. Tia schrie. Jemand strich ihr über die Haare, wischte ihr verschwitztes Gesicht mit einem feuchten Tuch ab und drückte tröstend ihre Hand. „Ganz ruhig, Red. Es ist nur ein Traum... Ich bleibe bei dir und passe auf dich auf. Versuch zu schlafen...“ Du bist hier... Du lebst. Ihr wurde warm. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)