Bottom of the death valley von Fukai (+Epilog up+ COMPLETE) ================================================================================ Kapitel 2: 願いは閉ざされた心に --------------------- Chapter 2 願いは閉ざされた心に (das Verlangen in seinem verschlossenen Herz) *Daisuke Andou* Du brauchtest nur wenige Minuten, um dich für ewig in mein Herz zu brennen. Doch deine Flamme ist kalt. So kalt. *** „Heeeeeeeeey Kyo!“ Es war früher Morgen und ein jeder hätte sich jetzt wohl gerne noch einmal in seinem Bett umgedreht und weiter geschlafen. Leider gab es Menschen, die so etwas unnötiges wie Wecker erfunden haben, welche einen tagtäglich erneut aus dem Bett schmissen, damit man seinen müden Arsch zur Schule oder auf Arbeit schwang. Und auf eben dieser Mission war Kyo gerade, als man seine schläfrige Schulweg-Phase brutal unterbrach. Erschrocken zuckte der kleine Gelbschopf zusammen, als sein Name laut an sein Ohr drang und sich keine Sekunde später ein blaues wildes Etwas auf ihn stürzte. Toshiya natürlich. Er stöhnte gequält und versuchte sich von der zusätzlichen Last zu befreien, die ihn in noch tiefere Luftschichten drückte. Leider machten seine müden Glieder nicht mit. „Toshiya... du erquetschst mich“, röchelte er, nach Atem ringend. Der Blauschopf grinste und verstärkte seine morgendliche Umarmung nur noch mehr. „Das macht doch nichts“, erklärte er fröhlich und wuselte Kyo durch die gelben wüsten Haare, die wohl heute noch keinen Kamm gesehen hatten. Dann ließ er endlich von dem Kleineren ab und strahlte ihn atomar an. „Wir scheinen ja einen ähnlichen Schulweg zu haben“, erkannte er. „Dann können wir ja immer zusammen laufen. Wo wohnst du eigentlich?“ sprudelte es aus ihm heraus. Kyo, nicht gerade der ideale Morgenmensch, stöhnte leise und funkelte böse vor sich hin. „Was geht dich das an?“ knurrte er genervt. „Manno, jetz sei doch nicht so“, beschwerte sich der Bassist und zeigte einen seiner schönsten Schmollmünder. „Ich bin immer so, falls es dir noch nicht aufgefallen ist“, grummelte der Kurze zurück. Toshiya grinste. „Ist mir aufgefallen. Ist das irgend so ne Masche, mit der du versuchst deine Größe auszubügeln?“ stichelte er. „Glaubst du, wenn du böse genug schaust und alle fies anmachst nehmen dich die gemeinen grooooßen Menschen ernster??“ Ein fettes Grinsen hatte sich auf seine geschwungenen Lippen geschlichen. Kyos Blick wurde noch mörderischer, wenn überhaupt möglich. „Duuuu!“ knurrte er verärgert, während er mit dem Zeigefinger drohend auf den Blauhaarigen zeigte, welcher wild lachend davon stob, um genügend Distanz zwischen sich und den rasenden Minidrachen zu bringen. „Das kriegst du zurück“, brummelte Kyo noch vor sich hin, während er wieder in seine frühmorgendliche schlechtgelaunte, miesepetrische Schulmarschstimmung verfiel. *** Es war wohl ein Naturgesetz, dass ungeliebte Unterrichtsstunden extra schleichend langsam vorbei gingen. Dies Blick fixierte immer wieder die große Uhr über der Tür, deren Sekundenzeiger eher rückwärts zu laufen schien als vorwärts. Manchmal schien er sich gar überhaupt nicht vom Fleck zu rühren. Noch zehn Minuten. Waren es eben nicht nur noch acht gewesen? Seufzend blickte er auf das leere Blatt Papier vor seiner Nase, welches er schon seit ungefähr einer Viertelstunde, die der Lehrer seinen langweiligen Vortrag über die Proteinbiosynthese hielt, mit Fakten hätte füllen müssen. Gelangweilt kaute er auf seinem Kuli herum. Sein Blick wanderte weiter. Kyo hing wie ein Schluck Wasser auf seiner Bank und versuchte wach zu wirken, während er halb schlief. Immer wieder sackten seine Augenlider nach unten. Die beobachtete, wie seine langen schwarzen Wimpern verschlafen auf und ab tanzten und er musste unbewusst lächeln, als sich Kyos Gesicht leicht verzog, weil er ein Gähnen unterdrückte. Wenigstens konnte er den kleinen Sänger beobachten. Das hielt ihn wach. Wie in Trance ließ er seine Augen über Kyos zierliche Statur schweifen, als wolle er sich jedes noch so kleinste Detail einprägen. Ausgiebig betrachtete er das hübsche Gesicht, die gerade Nase, die düsteren Augen, die trockenen, leicht aufgeplatzten Lippen, das Metall in seiner Haut. Er war anders, als alle anderen. Ein Mysterium, das es zu erforschen galt. Irgendwie machte ihn das für Die besonders. Was ein vorgetragenes Liebeslied doch verändern konnte… *** Einsam und verlassen saß Kyo auf einem kleinen Stückchen Rasen, den Rücken gegen einen mächtigen Baum gelehnt, dessen Krone ihn wie ein riesiges Dach überspannte und dessen lange tief hängende Äste und Blätter ihn halbwegs von der Außenwelt abschnitten und in den dunklen Tiefen des Baumes vor den Menschenmassen versteckten. Unablässig kratzte sein Stift über die weißen Seiten eines kleinen Buches. Er schien völlig in sich verloren. Seine Stirn war in Falten gezogen, seine Zähne kauten unruhig auf seiner Unterlippe herum und seine Finger hatten sich um den schmalen Stift gekrampft, als wollten sie ihn zerbrechen. Immer wieder wanderten seine Augen über die wenigen Zeilen. „Was schreibst du da?“ Erschrocken sah Kyo von seinem Buch auf und starrte den blauhaarigen jungen Mann an, welcher sich scheinbar unbemerkt neben ihm niedergelassen hatte. „Foah, erschreck mich nicht so.“ Auf Toshiyas Lippen legte sich ein schelmisches Grinsen. „Was kann ich dafür, dass du so weggetreten bist, dass du nicht mal mitkriegst, wenn sich jemand neben dich setzt.“ Kyos schmale Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund. „Ich bin nicht weggetreten!“ murrte er. „Nur beschäftigt.“ „Ist das so?“, fragte der Bassist interessiert und beugte sich ein wenig über Kyo, um einen Blick auf sein Geschriebenes zu erhaschen. „Was mich zu der Frage zurückbringt, was schreibst du da?“ Kyo klappte demonstrativ sein Buch zu und verengte die Augen. „Das geht dich nichts an“, entgegnete er schroff. „Jetzt hab dich nicht so“, konterte der Jüngere unbeschwert. „Zeig doch mal“, und mit diesen Worten entzog er dem verdutzten Kyo sein Buch und blätterte eine beliebige Seite auf, wo er zu lesen begann. Als ich nur ein Kind war, zerbrechlich wie Glas Um zu sehen wie tief ich die Wunden machen konnte erstach ich mein Herz mit den Scherben um zu sehen wie viel Schmerz ich ertragen konnte Todesgarantie das Ende wird bald kommen Todesgarantie Nur ein bisschen länger… Ich kann es hören Langsam hob Toshiya seinen Kopf und betrachtete seinen Gegenüber nachdenklich. //Warum schreibt er solche Gedichte? So traurig. Denkt er wirklich schon an seinen Tod? Oh Kyo, was geht nur in dir vor? Du machst mir Angst!// Kyo, dem das Starren unangenehm war, nutzte die Chance, um sein Eigentum wieder an sich zu reißen. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an das kleine Büchlein, sodass seine Fingerknöchel unter dem Druck weiß hervortraten. „Kyo“, durchbrach Toshiya endlich die Stille, „das…klingt wunderschön, ehrlich.“ Der Gelbhaarige senkte leicht den Blick und betrachtete die zerdrückten Blumen zu seinen Füßen. „Ich…“, begann er mit zögernder Stimme, „… hab überlegt, ob wir ein paar der Texte vielleicht als Lyrics nehmen können.“ Auf Toshiyas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Das ist eine super Idee. Kaoru tut sich immer schwer mit den Lyrics und wir anderen sind noch unfähiger“, erklärte er grinsend. „Na ja, bis auf Die, der schreibt auch manchmal Gedichte, aber das würde er nie zugeben.“ Ein listiges Grinsen schlich sich auf die Lippen des blauhaarigen Bassisten. „Ich hab ihn mal dabei erwischt. Hab gedacht er schreibt Tagebuch und wollte ihn schon auslachen. Aber es war ein Gedicht.“ Toshiya lehnte seinen Kopf gegen den Baumstamm hinter sich und sein Blick suchte die blauen Himmelsfetzen, die durch die dichte Blätterkrone hindurch lugten. „Ein sehr trauriges“, fügte er gedankenverloren hinzu. „Bis zu diesem Tag dachte ich echt, dass Die ein stets gutgelaunter, unbeschwerter Partymensch ist, der das Leben auf die leichte Schulter nimmt. Aber irgendwie… hat mich dieses Gedicht nachdenklich gestimmt. Ich hab irgendwie das Gefühl, dass er uns nur was vorspielt.“ Langsam drehte er seinen Kopf und seine dunklen Augen bohrten sich intensiv in die des kleinen Sängers. „So wie du, Kyo. Du spielst auch den harten unnahbaren Mann, der auf Regeln scheißt und sich von niemandem was vorschreiben lässt…aber dann…schreibst du diese Texte, in denen es um den Tod geht und…“ Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. „Es macht einem irgendwie Angst.“ Kyo, der die ganze Zeit stillschweigend auf seiner Unterlippe herumgekaut hatte, seufzte. „Es sind doch nur Texte, Toshiya. Sinnlose Gedanken, die einem manchmal durch den Kopf spuken, mehr nicht“, versuchte er den Jüngeren zu beruhigen. „Das Leben ist nun mal kurz. Jeder muss einmal sterben. Manche früher, manche später.“ Er strich sich eine lästige gelbe Haarsträhne aus den Augen. „Ich schreibe diese Dinge einfach nur auf, damit sie mich nicht länger nerven. Meistens hat es nicht mal was mit mir zu tun. Meist geht es um wildfremde Menschen.“ Toshiya nickte beruhigt, aber nicht gänzlich überzeugt. „Okay… Wir können sie Kaoru auf jeden Fall mal zeigen und fragen, ob er Verwendung dafür findet.“ Er lächelte aufmunternd, auch wenn er sich nicht so fühlte, denn seine Gedanken kreisten noch immer um Kyos Worte. //Vielleicht kannst du dich uns noch nicht öffnen, aber deine Texte werden uns helfen dich wenigstens ein bisschen zu verstehen… Ich möchte so gerne dein Vertrauen gewinnen und dir helfen. Denn du wirkst immer so verloren, wenn du glaubst, dass keiner hinsieht. Hast du dich wirklich schon aufgegeben?// *** Die Luft im Proberaum war stickig und verbraucht. Unablässig dröhnte Toshiyas Bass durch die kleinen vier Wände und untermalte das harmonische Zusammenspiel der zwei Gitarren. Shinya hämmerte schon seit Ewigkeiten wie ein Berserker auf seinem Schlagzeug herum. Seine Arme und Haare waren eine einzige wirbelnde Masse. Der Boden schien unter dem Lärm leicht zu erzittern und auch die dreckigen Fensterscheiben klirrten leise. Inmitten all dem Chaos stand ein kleiner Mann mit gelben Haar: Kyo, das jüngste Mitglied. Wie ein Wirbelwind fegte er durch den Proberaum, das Mikro fest umklammert. Seine Stimme flutete das alte Gebäude wie eine Sintflut, brach auf die Anwesenden hernieder, stob an den Wänden zurück und schäumte über ihren Köpfen wieder zusammen. Es war, als wäre ein Inferno losgebrochen, ein Zusammenwirken verschiedener Elemente in Töne gefasst. Doch irgendetwas fehlte. Langsam brachen die einzelnen Instrumente ab. „Die... Erde an Die. DIE!“ Big Red schreckte ruckartig aus seinen Gedanken und machte einen kleinen Hüpfer. „Du hast jetzt schon zum dritten Mal deinen Einsatz verpasst“, schimpfte Kaoru und schenkte ihm einen teils vorwurfsvollen, teils mitfühlenden Blick. „Sicher, dass alles in Ordnung ist?“ fragte er leicht besorgt, während seine Augen denen von Die folgten und bei Kyo anhielten. Erkenntnis flutete seine braunen Augen und einem aufmerksamen Beobachter wäre aufgefallen, wie seine Schultern plötzlich ein wenig tiefer sackten und seine Mundwinkel verräterisch zuckten, als sich sein Unterkiefer etwas verspannte. Alle Augen waren jedoch auf Die gerichtet, welcher sich selbst gerade innerlich für seine Unachtsamkeit verfluchte. Wie sollte er sich nur auf die Musik konzentrieren, wenn all seine Aufmerksamkeit stets auf eine bestimmte Person gerichtet war? Immer wenn seine Augen über den gelbhaarigen Sänger schweiften und dieser zu singen begann machten sich Dies Gedanken selbstständig und er vergas alles um sich herum. Es war wie verflucht! Kaoru maß ihn noch immer mit prüfendem Blick, einer jener Blicke, die durch alles hindurchdrangen und jedes Bisschen Wahrheit ans Licht trugen. Die schluckte nervös, ehe ihm einfiel, dass er noch immer nicht auf Kaorus Frage geantwortet hatte und beeilte sich hastig mit dem Kopf zu nicken. „Ja, alles okay.“ Er grinste verlegen. „Sorry“, murmelte er. „Ich versuch mich mehr zusammen zu reißen.“ Er strich sich demonstrativ über die Augen und legte eine verschlafene Miene auf, um den anderen einen plausibeln Grund für seine Patzer zu liefern. Übermüdung. Ihm war natürlich klar, dass Kaoru nicht darauf hereinfallen würde, aber darum konnte er sich später noch genug Sorgen machen. In einem Punkt war er sich sicher: Nie würde er vor den Anderen zugeben, dass es nicht Schlafmangel war, der ihm zu schaffen machte, sondern ein kleiner, blonder, vorlauter, respektloser Wirbelwind am Mikrofon. Und das schlimmste war, er wusste selbst nicht warum sich all seine Gedanken um Kyo drehten. Vor wenigen Wochen hatte er ihn kein Stück leiden können, hatte über ihn geflucht wie ein Rohrspatz und hatte ihn sich an die abgelegensten, verrottetsten Orte gewünscht. Jetzt konnte er ihm nie nah genug sein. Wie oft schlichen sich nagende, störende Wünsche in seinen Kopf. Er wollte ihn berühren, durch seine Haare streichen, die Arme um seinen schmalen Körper schlingen und ihn eng an sich pressen, er wollte mit seinen Lippen über Kyos Haut wandern, um anschließend die seinen mit den eigenen zu verschließen. Doch das waren Wünsche und Sehnsüchte, die er nicht haben sollte, für die er sich gar ein wenig schämte, denn Kyo war schließlich ein Mann, egal wie feminin er sich manchmal schminkte und kleidete. Hastig riss er seinen Blick von dem kleinen Sänger los und versuchte sich auf seine Gitarre zu konzentrieren. Als er aber schon wenig später erneut seinen Einsatz verpasste und Kaoru genervt seufzte ließ er sie resigniert sinken. „Gomen ne“, hauchte er erschöpft und strich sich durch die roten Haare. Er spürte alle Blicke fragend auf sich ruhen. Das war zuviel. „Ich muss mal kurz an die frische Luft!“ entschuldigte er sich und verließ beinah fluchtartig den kleinen Proberaum. Die restlichen Dirus sahen ihm verwirrt hinterher. „Ist er immer so?“ fragte Kyo plötzlich in die Stille und alle Aufmerksamkeit fixierte sich auf ihn. Es war gerade einmal Kyos vierte Probe mit Dir en Grey. Bereits jetzt konnte er sagen, dass die Musik, die die Dirus schrieben seinem Geschmack entsprach und Kaoru hatte auch sein „okay“ zu Kyos Texten gegeben, worauf er stolz war, da er nun ein bedeutendes Stück zu ihrer Arbeit beitragen konnte. Auch mit den Bandmitgliedern war er zufrieden, nur Die konnte er nicht recht einordnen. Der Rotschopf war so ganz anders als Kyo selbst, viel zu unbeschwert und stets am Witze reißen. Kyos Launen hingegen waren unberechenbar wie das Wetter und sein Verhalten gegenüber Fremden war stets ablehnend und distanziert. Die dagegen war sehr beliebt. Er schien mit jedem gut auszukommen und hatte einen breit gefächerten Freundeskreis. Man konnte sagen, sie waren wie Tag und Nacht. „Nein“, beantwortete Kaoru schließlich seine Frage. „Erst seit du da bist.“ Auf seinem Gesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck, den Kyo nicht ganz deuten konnte. War es ein Vorwurf? Machte er Kyo verantwortlich für Dies Verhalten? Aber was konnte er denn dafür, dass Die zu blöd war Gitarre zu spielen? *** Ein tiefes Seufzen entrann seiner Kehle, als Big Red sich auf einer kleinen Mauer niederließ. So konnte das nicht weiter gehen. Er musste sich zusammen reißen. Es konnte ja nicht angehen, dass er, sobald Kyo die Bildfläche betrat, nicht mehr zu gebrauchen war. Dann konnte er die Band gleich vergessen, denn niemand brauchte einen untauglichen gefühlsgestörten Gitarristen. Fahrig fischte er eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Er nahm einen tiefen Zug und versuchte sein Herz zu beruhigen, welches auf einmal viel schneller und brutaler gegen seine Rippen schlug, als ihm lieb war. Doch umsonst, denn als sich bereits wenige Sekunden später eine Hand auf seine Schulter legte machte es einen weiteren unrhythmischen Hüpfer, diesmal vor Überraschung. Erschrocken zuckte er zusammen und drehte seinen Kopf. ... Kyo. Diesmal zog es sein Herz vor gleich ganz tief in die Hose zu rutschen. Wenn das so weiter ging würde ihm seine Pumpe bald den Dienst versagen und er würde schon mit achtzehn zarten Jahren einen Herzinfarkt erleiden. Aber wieso musste auch von allen Bandmitgliedern ausgerechnet Kyo ihm folgen? Er hatte mit Kaoru gerechnet, aber Kyo? „Hey“, begrüßte dieser ihn knapp, während er sich neben ihn auf die Mauer pflanzte. Sie schwiegen einen Moment, ein Moment der Stille, in dem Die befürchtete Kyo könnte das laute Schlagen seines Herzens hören. Der kleine Sänger musste sich inzwischen ebenfalls eine Kippe angezündet haben, denn er blies soeben den Qualm lässig zwischen den Zähnen hindurch. Die betrachtete abwesend den wabernden Rauch, welcher vom Wind getrieben an ihm vorbeitanzte. „Ich hab das Gefühl, dass du wegen mir so drauf bist“, meinte Kyo schließlich in die Stille und Die glaubte sein Herz für einen Moment aussetzen zu fühlen, doch noch ehe er etwas Widersinniges erwidern konnte, sprach Kyo schon weiter. „Ich weiß ja, dass du mich nicht gerade gut leiden kannst und ich gebe zu, dass ich mir auch nicht besonders viel Mühe gebe erträglich zu sein. Aber so bin ich nun mal.“ Er grinste verschlagen und nahm einen weiteren tiefen Zug. Die schwieg erleichtert, hatte er doch damit gerechnet, dass Kyo irgendetwas von seinen Gefühlen mitbekommen hatte. Andererseits störte es ihn, dass Kyo dachte, er könne ihn nicht leiden. „Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich die Band nicht verlassen werde, ob es dir passt oder nicht“, erklärte Kyo trocken. „Wenn wir miteinander auskommen, ok, wenn nicht, dann hast du Pech gehabt, denn ich werde mich bestimmt nicht nur wegen dir ändern!“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. Die sah ihn einen Moment irritiert an und boxte ihn dann leicht in die Seite. „Idiot! Ich hab nichts dagegen, dass du in der Band bist. Okay, anfangs fand ich es vielleicht ein wenig doof, ach was, ich fand’s zum Kotzen.“ Er grinste schief. „Aber inzwischen ist es okay. Und es liegt auch nicht an dir, dass ich heute so verpeilt bin. Ich häng nur momentan etwas durch“, redete er sich raus. „Also keine Panik, das krieg ich schon geregelt.“ Er grinste zuversichtlich und ließ es sich nicht nehmen Kyo durchs Haar zu wuseln, woraufhin dieser die Augen verengte und giftig „Lass das!“ zischte. Erneut schwiegen sie einen Moment, in dem jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, bis Kyo plötzlich zweifelnd fragte: „Es liegt also nicht an mir?“ Die stockte einen Moment und biss sich nervös auf die Unterlippe, ehe er den Kopf schüttelte. „Okay zugegeben“, fügte er schließlich lächelnd hinzu, „du bist ein kleiner Giftzwerg, hast absolut keinen Sinn für Humor, nimmst alles viel zu persönlich, nervst am laufenden Band und lässt dir von einfach niemandem was vorschreiben.... aber sonst... kann man dich schon aushalten... irgendwie.“ Die zeigte eines seiner zahnreichen Grinsen. Kyo hingegen verzog das Gesicht und zeigte ihm den Mittelfinger, woraufhin der Rotschopf jedoch nur umso mehr lachen musste. Er fühlte sich irgendwie befreit. Auch wenn er Kyo niemals von seinen Gefühlen erzählen würde, so konnte er ihm wenigstens nah sein, jeden Tag und irgendwann, wenn seine Gefühle nachlassen würden, konnte er ihm frei gegenüber treten und einfach nur sein Freund sein. Erleichtert ließ er seinen verendeten Kippenstummel zu Boden segeln und trat die Glut aus. „Komm Giftzwerg“, er legte seinen Arm kameradschaftlich um Kyos Schultern, wobei ihn ein wohliger Schauer durchlief und ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen trat, „gehen wir wieder rein, ehe die noch ne Vermisstenanzeige aufgeben.“ Und damit schob er den kleinen Großen zurück ins Haus. *** „Moshi moshi“, meldete sich eine verschlafene Stimme am Ende der Leitung. „Kyo? Hier ist Kaoru.“ „Ah Kao, was gibt’s?“ „Folgendes“, meinte sein Gesprächspartner und ein kurzes Rascheln ertönte, welches Kyo vermuten ließ, dass Kaoru eine gemütlichere Sitzhaltung eingenommen hatte. „Die, Toshiya, Shin und ich planen heute Abend ins Black Moon zu gehen. Big Red hat Freikarten von nem Kumpel geschenkt bekommen und uns alle eingeladen. Kommst du mit?“ Der Gelbhaarige legte nachdenklich den Kopf schief. Das Black Moon war ein angesagter Club im Zentrum der Stadt. Es war für einen normalen Teenager eigentlich so gut wie unmöglich einen Fuß in diese geheiligten Hallen zu setzen, aber Kyo hatte schnell gemerkt, dass Die so einige gute Kontakte hatte und das Unmögliche möglich machte. „Ja, warum nicht“, meinte er schließlich. //Warum sich nicht mal wieder ordentlich gehen lassen? Außerdem ist der Club bestimmt eine gute Einnahmequelle.// „Prima“, freute sich der Leader. „Ich hab ein Auto, ich hol dich ab. Wo wohnst du?“ Kyos Augen verengten sich ein wenig, als er einige Sekunden lang in sein Handy schwieg. „Kyo?“ fragte Kaoru verwirrt nach. „Is schon gut, lass mal“, meinte der kleine Sänger schließlich abwehrend. „Ich werd einfach laufen. Es ist nicht so weit und ich will dir keine Umstände machen.“ Kaoru hob irritiert eine Augenbraue und wollte protestieren, doch Kyo ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Treffen wir uns einfach am Eingang. Wann seid ihr da?“ „So gegen 21 Uhr denke ich. Shinya darf nicht so lang bleiben, seine Eltern sind recht streng, deshalb lohnt es sich für ihn nicht, wenn wir erst gegen 22 Uhr dort antanzen. Ich hoffe, das ist dir nicht zu früh.“ „Nee, geht schon.“ „Okay, bis dann, ne?“ „Mh..“ KLICK. *** Suchend reckte sich der kleine Sänger und versuchte die ihm bekannten Köpfe ausfindig zu machen. Es herrschte bereits reger Betrieb vor den Toren des Black Moons. Eine lange Menschentraube wucherte über den Gehweg wie Unkraut. Selbst hier auf der Straße konnte man das laute Wummern der Bässe hören, die aus dem Club dröhnten. „Kyooo!“ rief eine laute Stimme und einige Gestalten kamen winkend auf ihn zu. „Da seid ihr ja endlich“, knurrte er genervt und versenkte seine Hände in den warmen Manteltaschen. Es war ein milder Herbstabend mit sommerlichen Temperaturen und dennoch fror er. Wie so oft. Doch er hatte sich bereits an die ewig währende Kälte in seinem Leben gewöhnt. „Gomen“, entschuldigte sich Kaoru. „Es ging nicht schneller. Ich musste die drei hier“, er deutete auf Die, Shinya und Toshiya, „noch abholen und Big Red hat ewig rumgemehrt.“ „Gar nicht wahr“, brummte der Rotschopf beleidigt. „Wohl wahr“, meldete sich Toshiya zu Wort. „Kaoru musste dich buchstäblich aus deinem Bad schleifen.“ Er grinste schelmisch. „Na, für wen haben wir uns denn so rausgeputzt?“ stichelte er seinen rothaarigen Freund und zupfte an dessen Outfit, welches tatsächlich ein wahrer Hingucker war. Die trug eine enge schwarze Lederhose, die bis zu den Knien verlief. Dort wurde sie dann von schwarzen Boots verschlungen, welche mit unzähligen Schnallen, Nieten und Schnüren versehen waren. Um sein schmales Becken schlangen sich mehrere Nietengürtel. Über seinen Oberkörper spannte sich ein rotes, ausgefranstes, ärmelloses Kapuzenshirt, welches fast gänzlich von einer weißen ärmellosen Jacke verdeckt wurde, welche Daisukes muskulöse Arme entblößte. Die dazugehörigen Hände hatte er lässig in den Jackentaschen vergraben. Das rote Haar war kunstvoll gegelt und die Augen waren dunkel geschminkt. Kyo stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Na die Gute wird sich glücklich schätzen“, meinte er grinsend. Die errötete leicht, was man aufgrund der Dunkelheit zum Glück nicht sehen konnte. //Wenn du wüsstest, Kyo. Ich will nur dir gefallen, niemandem sonst.// „Na denn, auf auf ins Getümmel“, spornte Toshiya die kleine Truppe munter an und trieb sie vorbei an der Schlange zum Eingang, wo sie dank der Freikarten gleich eingelassen worden ohne lange warten zu müssen. Kaum waren sie eingetreten schlug ihnen eine Welle warmer Luft und Zigarettenqualm entgegen. Schnell entledigten sie sich ihrer überflüssigen Klamotten an der Garderobe und stürzten sich ins Getümmel. Das Black Moon bestand aus drei Etagen, dem Kellergewölbe, sowie der ersten und zweiten Etage. Auf jeder Ebene gab es eine Tanzfläche, sowie eine Bar und massig Sitzgelegenheiten. Zielsicher führte Die die kleine Gruppe hinab in die Tiefe des Kellers. „Willkommen in der schwarzen Grotte“, meinte er theatralisch und gab den Blick auf den untersten Floor frei. Flackerndes buntes Licht erhellte die, in Dunkelheit getauchten, Menschen im Millisekundentakt und verzerrte jegliche Bewegungen auf irreale Weise. Die Tanzenden schienen für Bruchteile in der Zeit eingefroren, ehe sie beim nächsten Lichtreflex in einer anderen Position wieder auftauten. Das ganze hatte etwas abgehacktes, unrhythmisches an sich und glich einem abstrakten Bild des Kubismus. Die Musik war laut und sehr basslastig. Der unterschwellige Beat war so manipulativ, dass es jeden über kurz oder lang auf die Tanzfläche zog. Zielstrebig führte Big Red seine Herde staunender Schäfchen durch die Massen hindurch zu einer großen Couch. „Was wollt ihr trinken?“ fragte er über den Lärm hinweg. Jeder nannte seinen Wunsch und schon zog der Rotschopf wieder von dannen und verschwand in der schwitzenden, pulsierenden Menge. „Kommt Die oft hierher?“ fragte Kyo verwundert. Kaoru drehte leicht den Kopf und erklärte: „Er hat mal ne Zeit lang hier gearbeitet, deshalb hat er gute Connections.“ „Außerdem kennt er so gut wie jede Getränkekarte aller Clubs und Bars dieser Stadt plus Umgebung auswendig, wenn du weißt was ich meine“, fügte Toshiya mit einem Zwinkern hinzu. „Also falls er dich zu einem Wettsaufen herausfordern sollte, sag NEIN! Denn du hast keine Chance zu gewinnen. Und der nächste Morgen macht garantiert keinen Spaß.“ Kaoru und Shinya nickten wissend, als hätten sie diese Erfahrung schon mehrfach durchlebt ehe sie daraus gelernt hatten. Kyo zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe. „Also ist er ein Schluckspecht.“ Kaoru betrachtete Kyos kritische Miene. //Denk nichts falsches von ihm, Kyo. Du bildest dir dein Urteil über deine Mitmenschen immer viel zu voreilig. Wenn man nicht aufpasst hat man schon bei dir verloren.// „Sagen wir es so: Er trinkt gerne einmal über den Durst. Aber das macht ihn noch lange nicht zum Alkoholiker. Er ist nun mal ein durchschnittlicher Teenager, der sich gern die Kante gibt und Spaß hat, um diesem langweiligen Schulalltag zu entfliehen und in Japans strikter Normengesellschaft ein wenig zu entgleisen.“ Kyo nickte nachdenklich. Er schien mit seinen Gedanken schon wieder an einem fernen Ort und Kaoru wandte seinen Blick wieder der Tanzfläche zu, durch deren Gedränge sich gerade ein bepackter Die schlängelte. Mit einem Ächzen ließ er die Getränke auf den Tisch knallen und quetschte sich an Shinya und Toshiya vorbei zwischen Kaoru und Kyo auf die Couch. „Wie sieht’s aus, Kyo?“ Er drehte sich zu dem Kleineren und sah ihn herausfordernd an. „Lust auf ein kleines Wettsaufen?“ „NEIN!!!“ schrie der ganze Tisch zugleich und Die zog einen Schmollmund. „Spielverderber“, grummelte er leise. Kaoru lächelte mild und schlug seinem besten Freund kameradschaftlich auf die Schulter. „Wir haben Kyo schon vorgewarnt, sorry“, meinte er zwinkernd. Daraufhin schnappte sich jeder sein Getränk und versank für einige Sekunden in bedächtiges Schweigen als allesamt ihre alkoholischen Wässerchen die Kehle hinunterstürzten. Die brachte es fertig sein riesiges Bierglas in einem Zug zu leeren und ließ es krachend wieder auf die Tischplatte knallen. Dort wartete vorsorglich bereits ein zweites Bier auf seine Hinrichtung. Er grinste zufrieden und führte auch das zweite Bier seinem Bestimmungsort zu, auf das Dies Leber zu singen beginne. Kyo verdrehte genervt die Augen. Er hasste Säufer. *** „Wer kommt mit tanzen“, quietschte Toshiya erfreut, als eines seiner Lieblingslieder gespielt wurde. Ohne auf eine Antwort zu warten zerrte er den Erstbesten, was zu seinem Leidwesen Shinya war, mit sich auf die Tanzfläche. Kyo hatte sich schon vor einiger Zeit aus dem Staub gemacht und so saßen nur noch Big Red und Leader-sama auf der gemütlichen Couch. Die musste inzwischen bei seinem siebten Bier angekommen sein und Kaoru machte sich langsam um die Trinkfestigkeit seines Freundes sorgen. Er wusste zwar, dass Die viel vertrug, doch sinnloses Bierexen war eigentlich nicht seine Art. //Was bedrückt dich, Die? Besäufst du dich jetzt wegen Kyo… weil du gemerkt hast, dass er deine Liebe niemals erwidern wird? Du armer, kleiner Idiot. Denkst du ich merke nichts von deinem Kummer? Dabei ist es so offensichtlich. Einmal sitzt deine Maske nicht perfekt.// „Ich geh mich mal entleeren“, riss der Rotschopf ihn aus seinen Gedanken und verschwand Richtung Toilette. Wie ein Krieger kämpfte er sich durch die tanzende Meute und atmete schon beinahe erleichtert auf, als er die Treppe erreichte und wieder ordentlich Luft holen konnte. Leicht wankend erklomm er die steinernen, unebenen Stufen. //Vielleicht hab ich doch schon etwas viel getrunken.// kam ihm die Erkenntnis. Vorsichtshalber ergriff er lieber das metallene Geländer zu seiner Rechten, denn er wollte das Risiko nicht eingehen in seiner Trunkenheit die Treppen rückwärts wieder hinunter zu kullern. Schließlich wollte er sich die Frisur nicht ruinieren. Oh.. und natürlich keine Knochen brechen. Mühsam stieg er Stufe um Stufe hinauf bis er auf einmal mit seinem Kopf gegen einen tief hängenden Balken stieß. Der Schmerz durchflutete für einige Minuten sein benebeltes Hirn, wodurch er wieder etwas klarer im Kopf wurde. Fluchend duckte er sich unter dem tückischen Holzbalken hindurch, von dessen Existenz er eigentlich wusste und den er stets erfolgreich umgangen war ohne sich den Schädel einzuhauen, während er sich über alle anderen lustig gemacht hatte, die es nicht geschafft hatten. //Jetzt gehöre ich wohl offiziell zu den „Brett-vorm-Kopf-Hirnis“// Er seufzte herzerweichend und kämpfte sich auch noch die letzten Stufen hinauf. Der Schmerz hämmerte noch immer zwischen seinen Schläfen. Morgen würde sich zu der hübschen Beule wahrscheinlich auch noch ein Kater gesellen. Oben war es bedeutend heller und die Gänge waren erträglich menschenleerer. Entschuldigungen murmelnd drängelte er sich an einigen knutschenden Pärchen vorbei und schlug seinen Leidensweg in die erste Etage ein, in der sich dummerweise die Klos befanden. //Alter, wenn ich den Architekten in die Finger kriege. Hier hat man sich ja schon eingepisst ehe man überhaupt in die Nähe der Toiletten kommt.// Knurrend überwand er auch die letzte Distanz und erreichte den obersten Floor. Hier gab es neben den Toiletten und dem dritten Dancefloor noch eine separate Bar. Ein dunkler Gang führte zu einer weiter hinten gelegenen dritten Treppe, die in die nächste Etage führte, in welcher, wie Die wusste, das Büro des Chefs lag. Er wollte sich gerade den WCs zuwenden, als ihm etwas Gelbes ins Auge stach. Instinktiv hielt er inne und verengte die Augen, um schärfer sehen zu können. Dort im Dunkeln stand tatsächlich Kyo… mit irgendeinem wildfremden Kerl. Dies Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen und er wünschte sich seinen Blick abwenden zu können, doch seine Augen konnten sich nicht von diesem Anblick lösen. Der Fremde war ungefähr einen Kopf größer als Kyo, trug abgeschlissene, tief hängende Jeans und ein schwarzes Achselshirt. Seine wahrscheinlich schwarzen Haare lagen unter einem dunklen Tuch verborgen, welches er lässig im Hip Hopper Style umgebunden hatte. Die ballte unwillkürlich die Fäuste und trat einen Schritt näher, um besser sehen zu können. Die beiden schienen sich erregt zu unterhalten, während die Hand des Größeren, in Dies Augen widerlich langsam und anzüglich, über Kyos weißes eng anliegendes Shirt strich und seine Finger mit dem schwarzen, locker gebundenen Schlips um Kyos Hals zu spielen begannen. Zornig und rasend vor Eifersucht presste der Rothaarige seine Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen. Langsam schloss er die Augen und fuhr herum, um seinem eigentlichen Ziel entgegen zu steuern, der Entleerung seiner biergequälten Blase. //Was interessiert es mich, mit wem Kyo rumfummelt? Er ist ein freier Mensch. Soll er doch machen, was er will… und mit wem er will. Ist mir doch scheiß egal.// Aber warum nur weinte sein Herz dann flammende Tränen, die ihn innerlich zu verbrennen drohten? *** „Lass das“, zischte Kyo bedrohlich und schob die Hände des Fremden entnervt von seinem Körper. Er hasste es angefasst zu werden, insbesondere von wildfremden Menschen, die zudem noch männlich, angetrunken und zugedröhnt waren. „Also was ist nun? Entweder du zahlst oder zischst ab!“ Der Pseudo-Hip Hopper murrte enttäuscht, rückte aber dennoch einige bunte Scheinchen heraus, woraufhin Kyo ihm etwas in die Hand drückte, ihm noch einen letzten giftigen Blick schenkte und dann ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder den Typen eines weiteren Blickes zu würdigen von dannen zog. *** „Ich dache schon, du bist ins Klo gefallen“, scherzte Kaoru munter, als Die endlich wieder seinen Platz neben ihm einnahm. Als Big Red jedoch nur schwach grinste verflog die gute Laune. „Was ist los?“ fragte er besorgt. Der Rotschopf schenkte ihm nur einen geheuchelt fragenden Blick und versuchte das Ganze herunter zu spielen. „Was soll los sein?“ Frustriert biss sich der Ältere auf die Unterlippe. „Du weißt, dass du immer mit mir reden kannst, nicht wahr? Also wenn du Sorgen hast-“ „Kao!“, unterbrach ihn sein bester Freund gereizt. „Es. Geht. Mir. Gut!“ „Okay“, antwortete der Leadgitarrist ergeben und seufzte lautlos. //Du konntest mir doch bisher auch immer alles sagen. Ich dachte du vertraust mir. Glaubst du ich könnte dich nicht verstehen… deine Gefühle für Kyo? Ich weiß doch schon längst davon. Du kannst mir nichts vorspielen, Die. Ich sehe wie unglücklich du bist. Aber musst du dich erst besinnungslos saufen, damit die Enttäuschung nicht mehr allzu stark auf deinen Schultern lastet? Warum lässt du dir von mir nicht helfen?// Für eine Weile verfielen sie in ein erdrückendes Schweigen bis Die sich erneut erhob. „Ich hol mir noch was zu trinken. Willst du auch was?“ Kaoru maß ihn nur mit einem abschätzenden Blick ehe er zaghaft fragte: „Meinst du nicht, dass du für heute genug hast?“ Dies Augen verzogen sich verärgert. „Ich bin nicht betrunken!“ Ohne auf Kaos Antwort zu warten rauschte er davon. *** Inzwischen waren auch Toshiya und Shinya wieder schwer atmend eingetrudelt. Sie hatten sich anscheinend die Seele aus dem Leib getanzt und brauchten nun erst einmal eine wohl verdiente Pause. Die war gerade dabei sein wahrscheinlich zehntes Bier hinunter zu schütten. Kaoru bezweifelte, dass er den Geschmack überhaupt noch wahrnahm. Toshiya und Shinya, die es schon gewöhnt waren, dass ihr Rotschopf gerne einmal einen über den Durst trank, dachten sich nichts dabei, hatten sich ja auch nicht wie Kaoru mitgezählt, das wievielte Glas er soeben leerte. Und da Big Red es sogar in seinem derzeitigen Zustand noch schaffte Witze zu reißen und den armen Shinya bis zum Wutausbruch zu ärgern vermutete keiner der beiden Chibis, dass sich Die hinter seiner Maske immer mehr zurückzog. Niemand außer Kaoru. Nach einer weiteren halben Stunde meldete sich schließlich auch Kyo mit einem knappen „Oi!“ wieder zurück und quetschte sich auf einen freien Platz zwischen Die und Shinya. Suchend sah er sich auf dem kleinen Tisch um und ergriff schließlich Dies angefangenes Bier, um einen Schluck zu trinken. „Ey“, protestierte der Rotschopf energisch. „Pfoten weg, das ist meins.“ „Eeeew“, Kyo verzog angeekelt das Gesicht. „Mann hast du ne Fahne.“ Demonstrativ wedelte er mit seiner rechten Hand durch die Luft, als wolle er den üblen Geruch vertreiben. „Wie viel hast du denn schon getrunken?“ Er war sich nicht sicher, ob er die Antwort wirklich hören wollte. „Nicht genug“, brummte sein Gesprächspartner und riss das Bier wieder an sich. *** „Die, jetzt beweg doch auch mal deine Beine“, ächzte Kaoru, der seinem Freund gerade umständlich aus dem Auto half. Er hatte sich irgendwann gegen 3 Uhr früh von Toshiya und Kyo verabschiedet - Shinya war schon früher nach Hause gegangen - und erklärt, dass er und Die, der bei ihm übernachten würde, jetzt verschwinden würden und so hatte er Die entgegen seiner Proteste gewaltsam aus dem Club geschleift und in sein Auto gepackt, wo er in der letzten halben Stunde Autofahrt kein Wort mehr gesagt hatte, was für ihn ganz untypisch war und was Kaoru schon ein wenig beunruhigt hatte. Aber wenigstens war er erleichtert, dass der Rotschopf nicht auf seine schönen Polster gekotzt hatte. //Wenn du dich jetzt so sehen könntest. Ich hab dich noch nie so erlebt.// Er stieß einen lautlosen Seufzer aus und legte Dies Arm um seine Schultern, während er mit seinem eigenen Arm die schmale, Nietengürtel besetzte Taille des betrunkenen Gitarristen umschlang, um ihn zu stützen. „Na komm“, ermunterte er den Rotschopf. „Es ist nicht mehr weit. Gleich kannst du dich auf mein weiches Bett hauen und deinen Rausch ausschlafen.“ Wieder erhielt er keine Antwort, nur ein leises unverständliches Murren. Kaoru gab es auf und konzentrierte sich stattdessen darauf das Schlüsselloch in der Dunkelheit zu finden, während Dies schwere Körper auf seiner einen Schulter hing und ihn immer tiefer zu Boden drückte. Endlich schwang die Haustür auf und offenbarte den Blick auf einen dunklen heruntergekommenen Flur an dessen Ende sich ein Fahrstuhl befand, der die meiste Zeit des Jahres defekt war. Der Leadgitarrist war der einzige unter den Dirus, der mit seinen 19 Jahren schon eine eigene Wohnung besaß. Seine Eltern, einflussreiche Politiker und echte Workaholics, waren Zeit seines Lebens kaum zu Hause gewesen, sodass er sie meist nur an Wochenenden zu Gesicht bekommen hatte und sie selbst dann kaum eine freie Minute für ihren Sohn geopfert hatten. Kaoru musste sehr schnell lernen, wo die Prioritäten seiner Eltern lagen und er begriff, dass er wohl nur ein Fehler war, der nicht mehr auszubügeln ging. Als er mit 18 Jahren schließlich den Wunsch äußerte ausziehen zu wollen war es seinen Eltern nur recht gewesen. Großzügig hatten sie ihm angeboten seine Miete zu zahlen, solange bis er selbst irgendwann Geld verdienen würde. Und seitdem lebte er in einem schäbigen Hochhausblock in einer kleinen Zweiraumwohnung in der fünften Etage. Nicht, dass sich seine Eltern nichts Besseres hätten leisten können, doch er hatte es abgelehnt mehr Almosen als unbedingt nötig anzunehmen, denn er wollte nicht von seinen Erzeugern abhängig sein. Wenn alle Stricke reißen würden wäre er immer noch in der Lage seine kleine heimelige Bude durch Nebenjobs zu finanzieren und sich über Wasser zu halten. Er bereute dieses Leben nicht. Nein, es machte ihn vielmehr frei. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich unabhängig und stand nicht im Schatten seiner erfolgreichen Eltern, die nichts als Gleichgültigkeit für ihren merkwürdigen Sohn übrig hatten, welcher sich sein Haar violett färbte, Frauenklamotten trug und sich schminkte. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss und riss Kaoru aus seinen melancholischen Erinnerungen. Suchend wanderte sein Blick nach vorn, doch das beständige rote Blinken einer kleinen Leuchte kündete mal wieder von der Fahruntüchtigkeit des Aufzugs. //Na toll…// Resigniert wandte er sich dem monotonen Treppenhaus zu, welches sich wie eine zähnefletschende Schlange in die Höhe wand. Wie er Treppensteigen hasste… vor allem wenn er einen jungen Mann seiner Gewichtsklasse, der nach dem elften Bier das Laufen verlernt zu haben schien, die unzähligen Stufen zu seiner Wohnung mühsam mit hinaufschleifen musste. Nach schier endloser Quälerei hatte er endlich die fünfte Etage erklommen und öffnete die Tür zu seinem Reich. Zielsicher tastete er nach dem Lichtschalter, woraufhin eine flackernde, einsame Glühbirne an seiner Decke zum Leben erwachte und den Kampf gegen die Dunkelheit antrat. Die plötzliche Helligkeit entlockte dem Rothaarigen ein leises Stöhnen. Behutsam führte Kaoru seinen besten Freund in sein kleines Schlafzimmer und drückte ihn auf sein großes Bett. Er beschränkte sich darauf ein funzeliges Schwarzlicht anzuschalten, um Dies lichtempfindliche Augen zu schonen. Besorgt ging er neben seinem besten Freund in die Hocke und sah ihm ins Gesicht. „Die?“ fragte er mit leiser sanfter Stimme und strich dem Rothaarigen eine Strähne aus den Augen. „Alles in Ordnung? Du bist so still.“ Langsam, beinahe wie in Trance, hob der Rotschopf sein Haupt und sah Kaoru in die Augen. „Nichts ist in Ordnung“, flüsterte er schwach und schloss die Augen. Wenige Sekunden später begann er zu würgen. In Kaorus Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Gerade noch rechtzeitig beförderte er seinen Freund ins Bad, wo dieser sich geräuschvoll in die Kloschüssel übergab. Immer und immer wieder. Schützend legte Kaoru seine Arme um den schmalen zitternden Körper, während seine Finger zärtlich durch das wüste Haar strichen und er Die leise beruhigende Worte ins Ohr murmelte. Es tat ihm in der Seele weh seinen besten Freund so zu sehen, so hilflos und klein. Ein letztes Mal würgte Die das letzte bisschen bittere Galle ans Tageslicht ehe er kraftlos in Kaorus Arme zurücksank. Ein leises Wimmern entrann seiner geschändeten Kehle. „Was machst du nur für Sachen, Dai“, wisperte der Ältere besorgt, als er die Spülung betätigte und anschließend den noch immer wie Espenlaub zitternden Rothaarigen enger in seine Umarmung schloss. Zärtlich hauchte er dem Erschöpften einen Kuss auf die Wange. „Du dummer Idiot.“ Das war der Moment, in dem alle Dämme brachen. Schlaff sackte der Achtzehnjährige in Kaorus Armen zusammen, während heiße Tränen ihren Weg über seine Wangen gruben und in Verzweiflung und Schmerz brennend und doch ungehört im Stoff seines Shirts verendeten. „Die“, hauchte der Ältere geschockt und presste sich dichter an seinen besten Freund. „Es tut so weh“, winselte der Jüngere mit schmerzerfüllter Stimme, doch Kaoru wusste, dass es nicht um physischen Schmerz ging. „Ich weiß“, sprach er leise auf ihn ein. „Shhh, ich weiß wie du dich fühlst.“ Zärtlich strich er durch das feuerrote Haar. „Aber Kyo ist es nicht wert, dass du dich seinetwegen betrinkst und dir die Seele aus dem Leib kotzt.“ Wieder landeten seine geschminkten Lippen auf Dies warmer Wange. „Du bist so viel mehr wert, Die. So viel mehr.“ Ein Schluchzer kämpfte sich ins Freie und schüttelte Dies schmalen Körper in unterdrückter Pein. „Bin ich nicht“, entgegnete er mit erstickter Stimme und ein zweiter Schluchzer folgte. „Ich bin ein Nichts… ein Nichts.“ Jetzt rannen die Tränen in Strömen. Kaoru fühlte sich so hilflos. „Die… wer hat dir denn so einen Unsinn eingeredet. Du bist kein Nichts. Du bist so ein toller Mensch, lustig und lebensfroh. Du hast so viele Freunde und kommst mit jedem gut aus, weil du-“ „Nur nicht mit Kyo“, unterbrach ihn der Rothaarige frustriert. Kaoru seufzte. „Er verachtet mich, weil ich genauso bin wie Er… ich bin wie Er…“ und seine Stimme erstarb unter der Tränengewalt und den brutalen Schluchzern, die seine Kehle zu zerreißen drohten. „Wie wer?“ fragte Kaoru verwirrt, doch von Die erhielt er in dieser Nacht keine Antwort mehr. Noch lange folgten Kaorus wache Augen den glitzernden Tränen, lauschten ihren unterdrückten Schreien und ihrem stillen Tod. Immer und immer wieder strichen die zärtlichen Finger des Älteren durch das rote Haar und küssten die Lippen des Selbigen die glühende Haut. Er war wie paralysiert von der Ausstrahlung des verletzten Freundes, der selbst in Schmerz und Qual seine Schönheit nicht verlor und unablässig wiederholten sich traurige Gedanken in Kaorus Kopf. //Oh Die… es könnte so einfach sein…wieso nur…wieso nur liebst du nicht einfach mich?// *** Dunkelheit beherrschte das große Büro. Nur das Licht des zunehmenden Mondes und das Funkeln der einzelnen Sterne warf fahles Licht durch das Fenster und ließ die Schatten wachsen. Wie lauernde Raubtiere durchwanderten sie den Raum. Wieder schob sich eine Wolke vor die einzige Lichtquelle jener bedrückenden Nacht. „Du Idiot!“ drang eine düstere tiefe Stimme grollend durch die Stille. „Hat dich jemand gesehen?“ Eine von Finsternis verschluckte Gestalt schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht“, erwiderte sie fest und trotzig. „Du denkst?!“ „Ich weiß es!“ „Das will ich für dich hoffen.“ Schritte ertönten. Die Gestalt hinter dem riesigen eichenen Schreibtisch hatte sich erhoben und trat der wesentlich kleineren gegenüber. „Das Black Moon ist Yazawas Territorium. Du hättest heute Nacht einen Bandenkrieg herauf beschwören können“, tobte die tiefe Stimme anklagend. Die zweite Stimme schwieg. „Wie viel hast du eingenommen?“ „Circa 45,000.“ „Nur so wenig? Das Zeug ist teuer.“ „Es gab nur wenig Kundschaft.“ Kurzes Schweigen. „Okay, her damit.“ Der Kleinere griff seufzend in seine Hosentasche und beförderte einige Scheine ans Licht. Grob drückte er sie seinem Gegenüber in die Hand. „Ich geh pennen“, verkündete er gleich darauf mies gelaunt und drehte sich um. „Tooru“, rief ihn die tiefe Stimme zurück. „Was denn noch?“ fragte der Angesprochene genervt, jedoch ohne zurück zu sehen. „Wenn du das nächste Mal Fehler machst kommst du nicht so leicht davon. Dann bist du dran!“ Langsam gab die dunkle Wolke den Mond wieder frei und fahles Licht traf auf gelbes Haar. Schmale Schultern zuckten gleichgültig. „Wenn du das sagst“, und eine Tür fiel krachend ins Schloss. ~ooOoo~ Anm.: Der Gedichttext von Kyo stammt aus dem song "Gyakujou tannou keloid milk" vom Album Kisou Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)