Abkürzung von Goetterspeise ================================================================================ Kapitel 1: Folgt Anya, sie weiß wo es hingeht --------------------------------------------- „Wo sind wir bitte?“ Damian hatte es nicht länger unterdrücken können. Er wusste, dass ein Desmond niemals Schwäche zeigte und zuzugeben, dass man sich verwirrt hatte, gehörte definitiv dazu – selbst, wenn es nicht seine Schuld war. Eigentlich lag es nur an dieser rosahaarigen gutgelaunt vor ihnen herlaufenden Person. Anya Forger. Seine Nemesis. Seine Endgegnerin. Sein … Stopp. Er durfte sich jetzt nicht von irgendwelchen Gedanken ablenken lassen, die ihm die Röte in die Wangen schießen ließ oder seinen Herzschlag beschleunigte. Sie wussten alle seit guten fünfzehn Minuten, dass sie sich im Wald verlaufen hatten. Immerhin waren sie seit gut einer halben Stunde an keinem Checkpoint mehr vorbeigekommen, der ihnen die nächste Richtung verriet. Doch anstatt es einzusehen, war Anya – ihren Blick fest auf den Kompass gerichtet – weiter zielstrebig durch den Wald gelaufen. Immer wieder versichernd, zu wissen, wo sie hinmussten. Er hätte es besser wissen müssen. Immer, wenn man ihr Verantwortung übertrug, endete es im Chaos. Das war seit ihrem ersten Aufeinandertreffen so. Doch in dem Moment als sie ihn mit ihren großen, leuchtend grünen Augen angeschaut hatte, war sein Hirn nicht mehr arbeitsfähig gewesen. Also hatte er ihr mit den Worten: „Mach doch, was du willst“, den Kompass und die Karte überlassen. Der größte Fehler seines Lebens. Neben so vielen anderen, die er wegen ihr schon begangen hatte. „Sag mal, weißt du überhaupt wie man einen Kompass verwendet?“, fragte Emile die Frage, die auch Damian bereits auf der Zunge gelegen hatte. „Papa hat mir beigebracht, wie man einen Kompass verwendet“, erwiderte Anya. Sie sah Emile mit einem breiten Grinsen an und drehte sich dann wieder, weiter den Kompass fest in ihrer rechten Hand, nach vorne. „Du, Anya“, begann nun auch Becky, allerdings ein wenig vorsichtiger. „Ich glaube sofort, dass der süße Loid weiß, was er tut. Aber bist du sicher, dass du es richtig verstanden hast?“ „Tztztz.“ Damian kannte dieses lautmalerische Wort nur zu gut. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, in der Anya es nicht verwendet hatte. Meistens hieß es etwas wie ‚ihr nichts wissenden, kleinen Kinder‘. Allerdings waren sie mittlerweile alle fünfzehn Jahre alt und wenn man nach den Noten ging, hatte Anya sich zwar in den letzten Jahren um einiges gesteigert, aber sie konnte noch immer nicht mit ihm mithalten. „Becky, vertrau mir“, sagte Anya und grinste nun noch etwas breiter. Eigentlich zog sie eher eine Grimasse, die einem eher Angst machte. Doch Damian fand sie … nein! Auch wenn sein Herz einen kleinen Hüpfer machte, würde er sich das sicher nicht eingestehen. „Will ich ja“, jammerte Becky als Antwort, „aber es ist kalt und sicher wird es bald dunkel. Ganz schön düster hier.“ Da hatte Becky einen Punkt. Es war Spätherbst und die Temperaturen entsprechend niedrig. Sie alle trugen zwar dicke Winterjacken, Schal und Handschuhe, aber ihre Wangen waren mittlerweile dennoch pink vor Kälte. Außerdem spürte Damian langsam seine Nasenspitze nicht mehr – nicht, dass er das jemandem verraten würde. Er war immerhin ein Desmond. „Das stimmt!“, pflichtete Ewen Becky bei. „Wir haben noch fünf Checkpoints, an denen wir vorbeimüssen und das dauert sicher locker noch mal eine Stunde. Sofern wir den nächsten überhaupt finden.“ „Zehn Minuten noch.“ „Hä?“, fragten die anderen vier unisono. „Gebt Anya noch zehn Minuten. Sie wird euch ans Ziel führen.“ Manchmal hatte sie heute noch die seltsame Anwandlung, von sich in der dritten Person zu sprechen. Eigentlich war das nervig, aber Damian fand auch das … Er schüttelte heftig den Kopf. „Hey! Du Dummkopf. Ewen hat doch gesagt, dass wir erst noch an den Checkpoints vorbeimüssen“, rief Damian. Er ärgerte sich sofort, dass er so die Fassung verloren und sie sogar beleidigt hatte. Aber nun war der Satz raus und er würde sich sicher nicht dafür entschuldigen. Anya war schließlich an dieser Situation schuld und anstatt Verantwortung dafür zu übernehmen, erzählte sie irgendetwas von zehn Minuten? Anya sah ihm mit einem ernsten Blick an. Damians Herz begann zu rasen. Diese ... diese … diese … „Darauf hab ich keine Lust. Also geh ich direkt zum Ziel.“ Und erneut: „Hä?“ „Du weißt, wo das Ziel ist?“, fragte Becky, die sich als erstes gefangen hatte. „Hast du die Lehrer belauscht oder so?“ Anya erwiderte verschwörerisch: „Sowas in der Art.“ Und damit setzte sie sich wieder in Bewegung. Die Beschwerden von Emile und Ewen ignorierend. Damian stapfte tatsächlich nur wortlos hinter ihr er. Es war nicht das erste Mal, dass sie etwas wusste, was sie nicht wissen sollte. Das Ende dieser schulinternen Schnitzeljagd war geheim. Sie sollten unter Beweis stellen, dass sie die Lerninhalte des Semesters verstanden hatten. Dazu gehörte nicht nur mit Karte und Kompass zu arbeiten, sondern auch verschiedene Erdschichten unterscheiden zu können. Außerdem mussten sie nächste Woche verschiedene Pflanzen und Bäume benennen und essbare von giftigen Pilzen unterscheiden. Das letzte Semester der Mittelstufe stand ganz im Zeichen praktischer Ausbildung. Die Edenakademie war stolz darauf, ihren Schülern über die reine Wissensebene hinaus Dinge auf höchstem Niveau beizubringen. Etwas, das ihnen auch in ihrer beruflichen Laufbahn dabei helfen würde, sich von all den anderen abzusetzen. Dass also jemand so leichtsinnig gewesen war und das hochgeheime Ziel in einem Gespräch laut ausgesprochen hatte, konnte er sich deshalb kaum vorstellen. Aber wie hätte sie es sonst herausfinden sollen? Sie konnte immerhin keine Gedanken lesen. Wenn doch, würde er in großen Schwierigkeiten stecken. Er dachte viel zu oft über sie nach, auch wenn er es gar nicht wollte. Aber sie war auch einfach zu … nein. Sie war definitiv nicht süß und hübsch erst recht nicht. Sie war klein, vorlaut und seltsam. In diesem Moment stolperte Anya vor ihm. Damian griff, ohne dass er diesen Reflex hätte steuern können, nach vorne. Doch er war zu langsam und somit landete Anya ausgestreckt auf dem nassen Laub. „Aua“, flüsterte sie, bleib aber einen Moment am Boden liegen. Becky kniete sich besorgt neben sie. „Oh nein, Anya. Alles in Ordnung.“ „J-ja. Geht schon. Anya hat eine Sekunde nicht aufgepasst.“ Sie stand schwerfällig auf und klopfte sich den Dreck von Strumpfhose und Jacke. „Hier sind aber auch überall Wurzeln unter den Blättern.“ „Wenn wir auf dem richtigen Weg wären, wäre es sicher ebener“, beschwerte Emile sich. „Blödsinn. Wald ist Wald.“ Becky war nun im kompletten Anya-Beschützer-Modus. „Aber sicher wären die Wege wenigstens beleuchtet.“ „Sicher nicht.“ Nein, Damian war nicht im Anya-Beschützer-Modus. Sicher nicht. Er war nur tierisch genervt von der Gesamtsituation. „Wir sollen zeigen, dass wir verstanden haben, wie man Karten liest und einen Kompass benutzt. Glaubt ihr wirklich, sie würden uns den Weg ausleuchten?“ Emile und Ewen öffneten den Mund, schlossen ihn wieder und flüsterten dann doch: „Oh.“ Als wäre ihnen diese Idee bisher nicht gekommen. „Ich will hier so schnell wie möglich durch. Du hast noch fünf Minuten. Danach übernehme ich die Führung.“ Damians Stimme klang zum Glück so entschlossen, wie er es sich vorgestellt hatte. Dabei wollte er nur so schnell wie möglich von ihr wegkommen. Seiner Toleranzgrenze mit ihr war erreicht. „Okay.“ Anya grinste ihn verschwörerisch an und setzte ihren Weg fort. Damian direkt hinter sich, gefolgt von Becky, Emile und Ewen. Um sich auf irgendetwas anderes als ihre Haare, ihren Gang und ihren Rücken zu konzentrieren, zählte Damian im Kopf die Sekunden. Fünf Minuten hatten sie vereinbar, also würde er ihr auch fünf Minuten geben. Drei Minuten waren vorbei. Anya bog nach links ab, den Blick gen Boden gerichtet. Damian zählte weiter. Nur nicht darüber nachdenken, welchen Gesichtsausdruck sie gerade wohl aufgesetzt hatte. Tränen würde er heute definitiv nicht mehr verkraften können. Vier Minuten waren vorbei. Anya blieb ohne Vorankündigung stehen und Damian lief fast in sie hinein. Emile und Ewen hinter ihm kollidierten den Geräuschen zu folge wohl tatsächlich. „Hey, sag uns doch Bescheid, wenn du stehen bleibst!“, rief Emile. Damian machte sich nicht die Mühe, sich umzudrehen. Die beiden würden sicher zurechtkommen. Stattdessen musste er aufpassen, dass er nicht versehentlich an Anyas Haaren schnupperte, die nun keine zehn Zentimeter mehr von ihm entfernt waren. Oh scheiße. Er war ihr plötzlich viel zu nah. Wo war er nochmal stehen geblieben? Wie viel Sekunden hatte sie noch? Er musste sich schnell auf andere Gedanken bringen. Es war Anya, die den Abstand zwischen ihnen vergrößerte. Sie sah ihn nicht an, als sie flüsterte: „Ich kann dich denken hören. Hör auf.“ Im ersten Moment dachte Damian, sie meinte es wörtlich und die Röte schoss ihm ins Gesicht. Bis ihm einfiel, dass Menschen nicht Gedanken lesen konnten. Wahrscheinlich meinte sie seinen Blick, der sich ungewollt in ihren Rücken gebrannt hatte. „Was ist denn los?“, fragte Becky neugierig. Anyas Worte waren anscheinend nur bis zu seinen Ohren gelangt. „Nichts. Ich musste nur kurz auf die Karte schauen“, erwiderte Anya. Nun drehte sie sich doch um. Sie grinste siegessicher und ihre Augen glänzten vor Aufregung. Damians Herz sprang ihm beinahe aus der Brust. Diese verdammte … Tief durchatmen. „Wir müssen noch einmal rechts, dann sind wir da.“ „Das glaub ich erst, wenn ich es sehe!“, rief Emile und zur Überraschung aller, ging er an ihnen vorbei, ob rechts ab und verschwand zwischen den Bäumen. „Hey, Emile!“ Ewen rannte ihm hinterher. „Komische Vögel“, flüsterte Anya. Sagt die Richtige, dachte Damian. Aber nun setzten sich auch die anderen drei in Bewegung und folgten ihren Klassenkameraden. Damian machte sich keine großen Hoffnungen, dass das Ziel tatsächlich direkt vor ihnen lag. Auch, als er auf die Lichtung trat und die Sonne entdeckte, die gerade begann hinter dem Hügel unterzugehen, war er noch immer davon überzeugt, dass sie irgendwo waren. Sicher aber nicht am Ziel. Doch dann entdeckte er Herrn Henderson mit seinen weißen Haaren und Bart, dem strengen Blick und dem Monokel. Damian blinzelte ein paar Mal. Emile und Ewen standen bereits bei den Erwachsenen – neben Herrn Henderson befanden sich noch Herr Green und Herr Evans auf der Lichtung. „Du … du hast es echt geschafft“, flüsterte Damian entsetzt. Er hätte all sein Geld darauf verwettet, dass sie bis tief in die Nacht im Wald herumirren und am Ende von den Lehrern gefunden werden würden. Becky rief fast zeitgleich: „Großartig, Anya. Ich hätte nie an dir zweifeln dürfen.“ Und umarmte ihre beste Freundin stürmisch. So wie es aussah, waren sie sogar die ersten. Damian konnte es noch immer nicht glauben. Als sein Blick nun aber zu Anya wanderte (ein Automatismus, den er nicht loswurde) und sie so ausgelassen lachen sah, verzogen sich seine Lippen zu einem angedeuteten Lächeln und er verspürte ein seltsames Gefühl, dass ihn beinahe an Stolz erinnerte. Es geschahen eben doch noch Zeichen und Wunder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)