Jägerpfade von Charly89 (Ein Horizon Zero Dawn MSP) ================================================================================ Kapitel 5: Gewissensbisse ------------------------- Schwerfällig öffne ich die Augen. Ich fühle mich erschlagen, überfahren und plattgewalzt. Mental und körperlich. Ich bin desorientiert und weiß im ersten Moment weder wo noch wer ich bin. Einen kurzen Augenblick hoffe ich, dass ich einfach nur geträumt habe und einen Traum im Traum hatte. Ich drehe mich um und finde mich in Rosts Hütte wieder. Zumindest das war offensichtlich kein Traum. Mich überkommt Verzweiflung. Ich bin immer noch hier statt zu Hause. Ich setzte mich auf. Meine Muskeln schmerzen ein wenig, scheinbar war der Marsch gestern selbst für die fitte Sanya anstrengend. Ich hocke wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf der Pritsche und schaue dumm aus meiner Nora-Kluft. Was war das für ein eigenartiger Traum? Oder war es womöglich eine Erinnerung? Plötzlich fühle ich mich ganz eigenartig, weil mir plötzlich ein Gedanke kommt, den ich gestern gar nicht hatte. Ich war zu sehr mit Laufen und irgendwie zurechtkommen beschäftigt, dass ich gar nicht darauf gekommen bin: Was ist mit Sanya? Ich habe offenbar ihren Körper „besetzt“, wo ist also ihr Geist? Geht es ihr wie mir in den Traum? Sitzt sie da ganz hinten und muss miterleben, wie ein fremdes Wesen ihren Körper steuert? Das würde mir unfassbar leidtun, auch wenn ich nichts dafür kann. Ich entschuldige mich gedanklich bei Sanya, für den Fall, dass sie tatsächlich da ist. Und wenn nicht? Wo ist sie? Was könnte passiert sein? Und dann: Ist das hier überhaupt real? Ich erinnere mich an den Realitätscheck, den ich im Traum gemacht habe … Ich halte mir also die Nase zu und hoffe inständig, dass das Gleiche passiert. Nein, ich bekomme keine Luft – das hier ist also wirklich echt. Fuck. Ich sehe mich niedergeschlagen um. Rost ist weg, die Ecke in der er geschlafen hat ist verwaist und er ist auch sonst nirgends zu sehen. Ich bin allein und das sorgt dafür, dass ich darüber nachdenken, was zu Hause wohl passiert. Meine Männer werden mich nicht vermissen, weil wir eh noch drei Wochen keinen Kontakt haben können. Das nimmt mir ein wenig die Last. Trotzdem fühle ich mich traurig und irgendwie ängstlich. Diese Welt hier ist gefährlich: was passiert, wenn ich sterbe? Ich bin kein Pfadfinder und auch sonst hält sich mein Wissen über Überlebenstaktiken in der Wildnis in Grenzen. Ich sollte schnellstmöglich herausfinden, wie ich hierhergekommen bin; und ich habe das Gefühl, dass das mit Sanya und ihrem „Verschwinden“ zu tun hat. Und vielleicht auch mit Graik. Wo ist er? Aus einem merkwürdigen Reflex heraus, will ich den Bogen auf meinem Rücken richten; und greife ins Leere. Huh? Ich sehe über meine Schulter, nichts. Mein Bogen ist … Ich überleg angestrengt. Habe ich ihn gestern vom Rücken genommen, als ich mich hingelegt habe? Ich glaube nicht. Was eigenartig ist. Wie kann man mit Bogen auf dem Rücken schlafen? Wahrscheinlich Gewohnheit oder so. Es erklärt aber nicht, wo der Bogen jetzt ist. Ich taste die Pritsche ab, sehe unter die Decken und Felle – nichts. Nun gut, er kann mir grundlegend nicht vom Rücken gerutscht sein. Das geht nicht, auf Grund der Art wie er „befestigt“ war. Die einzige Möglichkeit ist dementsprechend, dass ihn jemand genommen hat, oder? Da nur Rost und Aloy hier waren schränkt, dass die Verdächtigen ein. Aber warum sollte einer der beiden meinen Bogen genommen haben? „Guten Morgen!“, tönt es fröhlich und reißt mich aus meinen Gedanken. Aloy steht im Raum und lächelt mich an. Der Moment für mich alleine in dem ich ungestört nachdenken konnte ist vorbei. Ich stehe auf und strecke mich ein wenig. „Guten Morgen“, grüße ich zurück und lächle ebenfalls. „Danke für gestern“, beginnt die Teenagerin zu reden, während sie ein wenig Ordnung im Raum schafft. „Rost ist oft so … so …“ Sie ringt um Worte und seufzt. Ah, ich weiß, was sie meint. „Hör mal, Aloy, ich verstehe, dass dich sein Verhalten und seine Bevormundung manchmal nerven oder verletzen; aber dir ist schon klar, dass er das nicht macht, um dich zu ärgern?“ Sie hält inne und denkt kurz nach, dann lässt sie Schultern ein wenig hängen. „Ja“, nörgelt sie. „Aber er meint es einfach zu gut. Ich bin doch kein Kind mehr. Außerdem ist die Erprobung der einzige Weg, dass die Stammmütter mir meinen Wunsch erfüllen.“ In einem Anflug von Empathie und Muttergefühlen gehe ich zu ihr und nehme sie kurz in den Arm. Ich spüre, dass sie einen Augenblick verwirrt und überfordert ist davon, dann erwidert sie die Geste zögerlich. Ich vermute, dass „in den Arm genommen werden“ nichts ist, was sie oft erlebt hat. Rost ist ein guter Kerl, aber in dieser Welt dürften solche Dinge generell zu kurz kommen. Und ohne Mutter bzw Frau steht er ganz allein mit allen Aufgaben des täglichen (Über)Lebens da, sich da noch Zeit für so etwas zunehmen dürfte fast unmöglich sein. „Er macht sich halt Sorgen“, erkläre ich, nachdem ich sie wieder losgelassen habe. „Die Erprobung ist nicht ungefährlich, und die Vorbereitung dafür auch nicht. Versuche einfach, ab und zu ein bisschen Verständnis zu zeigen.“ „Wozu?“, fragt sie mich irritiert. Ich muss schmunzeln. Egal wie, wo und zu welcher Zeit: Teenager sind scheinbar immer gleich. „Weil er dann vielleicht auch ab und zu etwas Verständnis zeigt“, stelle ich als mögliches Ergebnis vor. Aloy zuckt mit den Schultern. „Mal sehen“, murmelt sie. Nachdem sie den Raum fertig aufgeräumt hat, setzten wir uns und essen die Reste vom gestrigen Eintopf. Es ist nicht mehr viel, aber besser als nichts. Plötzlich fällt mir eine Kleinigkeit auf, der ich noch nie Beachtung geschenkt habe: Aloy hat keine typische blaue Kriegsbemalung im Gesicht. Ich grüble tatsächlich einige Augenblicke darüber nach, ob die anderen Kids im Prolog des Spiels die Nora-Bemalung bereits hatten; ich glaube ja. Sie hat keine, weil sie nie ein Mitglied des Stammes war … Apropos Nora. „Wo ist Rost eigentlich?“, frage ich. „Der ist schon los: jagen“, erklärt Aloy. „Ich muss dann auch gleich los, ich muss Beeren und Wurzelgemüse sammeln.“ Mein Blick fällt auf den Topf, der jetzt leer ist. Mir wird mir plötzlich etwas schmerzlich bewusst: ohne mich hätten sie wahrscheinlich zwei Tage davon leben können, aber jetzt … Mein Gewissen meldet sich. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, was es in dieser Welt bedeutet, jemanden zu beherbergen. Wir gehen einfach in einen Laden und kaufen uns unser Essen, aber hier muss jeder Bissen mühsam gesammelt, gejagt und bearbeitet werden. Dadurch, dass ich hier war, habe ich den beiden erhebliche Mehrarbeit verschafft … „Ich würde gern noch bleiben, aber ich habe viel zu tun.“ Aloy steht auf, wäscht unsere Schüsseln kurz aus und nimmt dann ihre Sachen. Als sie nach ihrem Bogen greift, fällt mir etwas ein. „Hast du meinen Bogen gesehen? Gestern Abend hatte ich ihn noch, aber jetzt …“ Die Teenagerin runzelt die Stirn und sieht sich um. Dann greift sie in ihre Tasche und holt ihren Fokus hervor, klemmt ihn sich ans Ohr und aktiviert ihn. Stimmt, das hatte ich total vergessen. Sie besitzt den ja bereits, seit sie Klein war. Während sie den Raum scannt, überlege ich fieberhaft, ob ich jetzt erstaunt oder entsetzt reagieren müsste. Da Aloy ihren Fokus, zumindest meiner Erinnerung nach, im Spiel immer recht offen getragen hat, dürfte Sanya davon wissen. Aber wie steht sie dazu? Schnell versuche ich mir eine logische Reaktion zusammen zu basteln. Ich bin offenbar erst seit einigen Monaten eine Ausgestoßene. Ich nehme an, dass ich vorher ein „ordentliches“ Stammesmitglied war und mit den entsprechenden Ansichten großgezogen wurde, auch wenn der Traum letzte Nacht mir einen anderen Eindruck vermittelt hat. Also sollte ich zumindest „Bedenken“ äußern, oder? „Solltest du das so einfach nutzen? Es ist von den Alten und könnte gefährlich sein“, sage ich bemüht misstrauisch. „Du hörst dich gerade an wie Rost“, werde ich angemault. Autsch, der hat gesessen. Ich ziehe den Kopf ein und seufze. Zumindest fand sie meine Bemerkung nicht merkwürdig, was mich ein wenig beruhigt. „Da ist er“, sagt Aloy stolz und deutet auf eine Ecke. Tatsächlich, etwas versteckt hinter einem Balken lehnt mein Bogen an der Wand. Das ist merkwürdig. Wie ist er denn auf die andere Seite des Raums gekommen? Oder generell von meinem Rücken verschwunden? Mich überkommt Misstrauen und nehme ich ihn argwöhnisch in die Hand. Ich sehe ihn mir ganz genau an. Er ist intakt und auch sonst ist nichts Auffälliges zu erkennen. Alles wirklich eigenartig. „Ich muss aber jetzt wirklich los“, sagt die Teenagerin und ist schon auf dem Sprung und öffnet die Tür. „Ich würde dich gern begleiten“, sage ich noch etwas gedankenverloren, während ich den Bogen auf meinen Rücken packe. „Wirklich?“, fragt sie überrascht und begeistert zu gleich. „Ja, ich muss meinen Reiseproviant auffüllen und nachdem ich die Nacht hierbleiben durfte, ist es doch das mindeste, dass ich dir helfe“, erkläre mit einem sanften Lächeln. „Du kannst auch etwas von uns haben. Wir haben noch Brot, falls du möchtest.“ „Rost würde dir etwas erzählen, wenn er erfährt, dass du euer Essen verschenkst“, lache ich. Mein Blick geht zu dem leeren Topf, in dem eigentlich noch Essen sein sollte. Ich mache eine ablehnende Geste mit der Hand. „Ihr habt euer Abendessen mit mir geteilt, das ist schon mehr, wie ich hätte erwarten können.“ Aloy zuckt mit Schultern und geht zur Tür hinaus. Ich sammle schnell meine Taschen ein und folge ihr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)