Lincolns Geheimprojekt von Bourbone ================================================================================ Kapitel 5: Stadtgeflüster ------------------------- Am nächsten Tag war es dann soweit. Kurz nach zwei Uhr nachmittags machten sich Lori, Lincoln und Lilly auf den Weg in die Stadt. Nach gut drei Stunden Fahrt waren sie auch schon dort. Die Autofahrt verlief relativ ereignislos. Um Lilly dennoch ein wenig zu unterhalten spielte Lincoln ein paar Spiele mit ihr, wie etwa Straßenbingo und ich sehe was, was du nicht siehst. So einfach gestrickt diese auch waren, Lilly hatte ihren Spaß daran gehabt. Nicht ein einziges Mal hörte Lori sie fragen, wann sie denn endlich da wären. Lincoln hatte seinen Job ganz hervorragend gemacht. „So… Da wären wir endlich“, meinte Lori, als sie ihr Ziel schließlich erreicht hatten. Vor diesem Kino wollte sie sich mit Bobby treffen. Kurzerhand parkte sie ihren Wagen auf einen freien Parkplatz davor und stieg sodann aus diesen. Hoffnungsvoll sah sie sich um, doch von ihren Freund fehlte noch jede Spur. Offensichtlich verspätete er sich. Der Film, den sie sehen wollten, lief in gut zwanzig Minuten an. Um noch gute Plätze zu erwischen sollten sie sich allmählich beeilen. Gegenüber, auf der anderen Seite des Stadtplatzes, stand das Stadttheater in voller Pracht. Reich vergoldete Wände, eine große Kuppel als Dach und große Türen und Fenster. Dort sollte Lincolns und Lillys Zaubershow stattfinden. „Ja… Freiheit!“, rief Lilly gut gelaunt aus, kurz nachdem sie aus dem Wagen gestiegen war. Sie hatte zwar nicht genörgelt aber auch sie war froh, dass diese lange Fahrt endlich ein Ende gefunden hatte. Begeistert sah sie sich um. Das letzte Mal, als sie in der Stadt gewesen war, war sie noch ein kleines Kind. Kaum zwei Jahre alt, wenn sie Lincoln und ihren anderen Schwestern trauen konnte. Entsprechend wenig kam ihr bekannt vor. Alles war so schön aufregend neu für sie. Nie zuvor hatte sie so viele Menschen auf einem Blick gesehen. Die Häuser um sie herum drängten sich dicht an dicht. Das Kino, das Lori besuchen wollte, wirkte von seinen Nachbarn fast schon eingeengt. Das Stadttheater auf der anderen Seite sah da schon deutlich offener und einladender aus. „Toll... Nicht wahr?“, fragte Lincoln seine jüngere Schwester, die sich nach wie vor mit ungebremster Aufmerksamkeit umsah, als auch er aus dem Wagen gestiegen war. Doch Lilly blieb ihm eine Antwort schuldig. Einzig und alleine ein stummes Nicken war zu erkennen gewesen. Gerade haftete ihr Blick an einem offenen Springbrunnen zu ihrer Linken, der ihr scheinbar die Sprache verschlagen hatte. Kein Wunder so schön, wie das Wasser darin erleuchtete wurde. „Laut Ronnie Anne ist das ein beliebter Platz für Jugendliche aller Altersgruppen. Hier gibt es alles was man sich wünscht an einem Ort.“ Selbst dann, wenn Lilly ihn im Moment nur mit einen halben Ohr zuhören sollte, wollte er ihr das noch sagen. Überall in der Nähe standen kleine Geschäfte. Eine Bäckerei Rechts von ihnen. Ein Schuladen direkt daneben. Keine zwei Häuser weiter eine kleine Bücherei, und wenig später ein Spielzeugladen. Ein Schmuckgeschäft, ein Lebensmittelmarkt und selbst ein kleines Fitnessstudio konnte man von ihren Parkplatz aus noch gut erkennen. Eine willkommene Abwechslung zu den großen Einkaufszentren außerhalb der Stadt. „Aber die Zaubershow wird noch besser… Fest versprochen“, fügte er etwas später noch hinzu. Lilly schenkte ihm allerdings auch weiterhin keine Aufmerksamkeit. Zu geblendet war sie von den vielen Eindrücken um sie herum. Unlängst beobachtete sie eine kleine Gruppe Straßenkünstler bei ihrer Vorstellung. Lincoln zuckte mit den Schultern und wandte sich dann an Lori: „Wie geht es jetzt eigentlich weiter?“ „Genau wie abgemacht. Sollte etwas passieren findest du mich hier zusammen mit Bobby. Du kannst mich aber auch jederzeit anrufen. Ich lasse mein Handy eingeschalten. Unser Film endet allerdings etwas früher als eure Zaubershow. Eine Straße weiter ist ein Restaurant. Dort warten Bobby und ich dann auf euch. Du kannst es kaum verfehlen. Es ist das einzige Italienische Restaurant in der Nähe und ist gut ausgeschildert. Lorenzos Spezialitäten nennt es sich.“ „Danke, Lori. Ich denke, ich werde es finden“, antwortete Lincoln, bevor er unerwartet ein bekanntes Gesicht zu seiner Linken erblickt hatte. Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Kannst du bitte kurz auf Lilly achten? Ich denke ich habe Sid gesehen.“ „Sicher doch. Beeil dich aber, Bobby ist bestimmt bald hier“, erwiderte Lori, bevor sie sich zu ihrer kleinen Schwester begab, die weiterhin begeistert die Straßenkünstler beobachtete: Eine Gruppe Breakdancer, die im Moment nicht nur Lillys Aufmerksamkeit fesselten. „Versprochen“, rief Lincoln seiner Schwester noch hinterher. Zielsicher steuerte er auf Sid zu, die scheinbar das Kino besuchen wollte. Seltsam. Eigentlich dachte er, sie würde sich mit Ronnie Anne zusammen ein Wrestling-Match ansehen. Was machte sie also ausgerechnet hier? Es dauerte nicht lange und Lincoln hatte sie erreicht. Ronnie Annes beste Freundin sah sich gerade ein Filmplakat an. Wie üblich trug sie ihre schulterlangen, braunen Haare offen. „Hallo, Sid… Was für ein Zufall. Was machst du denn hier?“, sprach Lincoln sie von der Seite an. Überrascht drehte sie sich zu ihm und war erstaunt, Ronnie Annes langjährigen Freund hier zu sehen. „He, Lincoln. Lange nicht mehr gesehen. Heute läuft ein Filmmarathon in diesem Kino. Die drei Teile meiner Lieblings Horrorparodie an einem Stück. So zu sagen, als Warm-up für Halloween, das wollte ich mir nicht entgehen lassen“, antwortete Sid frei heraus. Lincoln Gesicht erstarrte schlagartig. Seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. „Ist Ronnie Anne auch in der Nähe?“, erkundigte er sich hoffnungsvoll. Er klammerte sich an den letzten Strohhalm, den er hatte greifen können. Vielleicht hatten Sid und Ronnie Anne ihre Pläne für heute Abend ändern müssen, weil irgendetwas passiert war. „Tut mir echt leid. Ich kann mir vorstellen, dass du sie gerne gesehen hättest, aber leider nein. Ich hab sie gefragt, ob sie mitkommen möchte. Schon vor einer Woche, doch sie hat abgesagt. Heute läuft ein Rerun ihrer Lieblingstelenovela – Anna Ronalda, glaube ich –, den wollte sie sich ansehen.“ Sämtliche Farbe verabschiedete sich aus seinem Gesicht. Hatte Ronnie Anne ihn wirklich angelogen? „Ich dachte, ihr wolltet euch gemeinsam ein Wrestling-Match ansehen, hattes du nicht Karten dafür?“ Er hoffte inständig, Sids Antwort würde sich irgendwie mit dieser Geschichte decken, doch insgeheim glaubte er längst nicht mehr daran. „Wie kommst du denn darauf? Nein, wollten wir nicht. Weder hatte ich Karten für ein Wrestling-Match, noch waren wir für heute Abend verabredet.“ Nun war Sid völlig verwirrt. Eine einzelne Träne kullerte aus seinen Augen. Ronnie Anne hatte ihn also tatsächlich angelogen. Er hatte diesen Verdacht zwar schon lange, doch insgeheim hatte er gehofft, es war nicht mehr als das: Ein alberner Verdacht. Am besten ein unbegründeter. Warum erfand Ronnie Anne bitte diese Geschichte mit Sid, wenn sie einfach sagen hätte können, dass ihr Samstagabend mit einer Serie verplant war? „He, Mann… Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Sid. Lincolns trauriges und zu tiefst verletztes Gesicht besorgte sie sichtlich. Hatte sie irgendetwas Falsches gesagt? Zügig wischte sich Lincoln die Tränen aus dem Gesicht und antwortete: „Ja… Alles in Ordnung. Ich hatte nur etwas im Auge.“ Skeptisch beobachtete Sid ihn. So recht konnte sie ihm das nicht glauben. Doch ehe sie etwas sagen konnte rief jemand nach ihm: „He, Lincoln! Was dauert denn da solange?“ Wenig später stand Lori neben ihren Bruder und begrüßte Sid herzlich, die den Gruß erwiderte: „Hallo, Lori… Was machst du denn hier?“ Sie kannte Lori ganz gut, war sie doch die Freundin von Ronnie Annes älteren Bruder. Eigentlich konnte Sid nichts Schlechtes über sie sagen, wenn auch ihres und Bobbys Verhalten manchmal zum fremdschämen war. Verliebt schön und gut, doch diese Beiden hoben das Ganze regelmäßig auf unbekannte Höhen. Die ominöse Wolke sieben hatten Lori und Bobby bestimmt schon vor langer Zeit überflügelt. „Ich möchte mir mit Bobby einen Film ansehen und Lincoln besucht mit Lilly eine Zaubershow.“ „Verstehe… Darum seid ihr beide in der Stadt. Dann will ich euch nicht länger aufhalten.“ Kaum hatte sie das gesagt, drehte Sid ihnen den Rücken zu. Gerade wollte sie das Kino betreten, da hörte sie Loris besorgte Stimme fragen: „Was ist los, Lincoln? Hast du etwa geweint?“ „Nichts… Es ist nur. Ronnie Anne hat mich gestern angelogen.“ Sid wurde hellhörig, das klang so gar nicht nach ihrer Freundin. Bestimmt hatte Lincoln da etwas falsch verstanden. „Eigentlich sollte sie mit Sid zusammen in der Arena von Great Lake City sein, doch scheinbar ist sie zuhause. Sie hat wohl doch genug von mir.“ Geschockt über dieser Nachricht, warf Sid einen heimlich Schulterblick in Richtung der beiden Geschwister. Traurig hatte Lincoln den Kopf gesenkt. Alle zwei hatten ihr unlängst den Rücken zugedreht und wussten wohl nicht, dass sie belauscht wurden. Gerade wollte Lori etwas sagen, da kam Bobby mit Lilly im Schlepptau zu ihnen. Lori hatte kurzer Hand ihren Freund darum gebeten, eine Weile auf ihre Schwester zu achten, während sie nach Lincoln sehen wollte. Bereits von Weiten grüßte ihn Lilly liebevoll. Eine Geste die seine Mundwinkel nach oben wandern ließ. „Hör zu, Lincoln… Wenn du darüber reden möchtest…“ „Bitte, Lori. Lass gut sein“, feil ihr Lincolns überraschend ins Wort. Er wusste, was seine Schwester noch sagen wollten, doch war gerade nicht in Stimmung dafür. „Ich habe Lilly einen schönen Abend versprochen. Und den möchte ich ihr auch geben. Schnell hob Lincoln seinen Kopf, setzte ein Lächeln auf und meinte zu Lilly: „Na... Bereit für das Abenteuer deines Lebens?“ „Und wie. Ich dachte schon, du lässt mich sitzen“, antwortete Lilly gut gelaunt. „Das würde ich niemals tun“, erwiderte Lincoln spielerisch. Seine derzeitige Gefühlsverfassung verbarg er meisterhaft vor Lilly. Das war nicht das erst mal, dass Lori das aufgefallen war. Wenn er wollte konnte Lincoln seine Gefühle überraschend gut verbergen. Zumindest vor seinen jüngeren Schwestern. Seine Älteren hatten allerdings mehr Lebenserfahrung, darum funktionierte das bei ihr, Luna, Luan und Lynn weniger gut. Man könnte meinen, Leni war eine Ausnahme, doch auch diese hatte eine überraschend ausgebregt Empathie für ihre Geschwister, hörte allerdings mehr auf deren Wünsche. Wenn sie schweigen wollten, zwang Leni sie nicht zum reden. Keinen einzigen von ihnen. Frech grinste Lilly ihm entgegen, als sie unerwartet ein Mädchen in Lincolns Alter hinter ihm bemerkte, die an ihren Bruder, ihr selbst und Lori interessiert zu sein schien. „Hallo…“ ungestüm winkte Lilly mit ihren Armen, um das fremde Mädchen auf sich Aufmerksam zu machen. „Bist du vielleicht eine Freundin von meinem Bruder?“ Schnell drehten sich Lori und Lincoln wieder zu ihr, doch ehe sie etwas sagen konnten, hatte Sid bereits das Weite gesucht. Sie wollte ungern in Erklärungsnot geraten und wählte darum die Flucht. „Oh“, meinte Lilly traurig. „Sie hat mich wohl nicht gehört.“ „Mach dir nichts daraus. Das war nur Sid. Eine Freundin von Ronnie Anne.“ Nur Lori bemerkte den traurigen Unterton in seiner Stimme. Was war nur mit Bobbys Schwester los? Lincoln war sicher nicht perfekt, aber dass sie ihn so behandelte, hatte er wirklich nicht verdient. Fest nahm Lori sich vor, mit Bobby über Ronnie Anne zu sprechen. „Verstehe… Eine Freundin deiner Freundin also?“, erkundigte sich Lilly unschuldig. „Ganz genau. Komm wir gehen. Bald beginnt die Show und wir wollen doch Nichts davon verpassen.“ „Nein wollen wir nicht.“ Lilly lief zu ihren Bruder hinüber und verschränkte ihre Linke sogleich mit seiner Rechten, um sodann leicht daran zu ziehen. Sie wollte endlich ins Theater. „Also dann. Lori, Bobby, viel Spaß bei eurem Date.“ Lilly kicherte leise vor sich hin. „Wir sehen uns später.“ „Danke… Den werden wir habe. Das gleiche gilt aber euch für euch. Viel Spaß bei der Show und pass gut auf Lilly auf, Lincoln“, verabschiedete sich Lori von ihren jüngeren Geschwistern. „Immer doch“, antwortete Lincoln noch und setzte sich mit Lilly zusammen in Bewegung. Kurz darauf waren sie in der Menschenmenge verschwunden. Scheinbar war die Zaubershow erfolgreicher, als Lori gedacht hätte. Seit ihrer Ankunft hat sich die Menschenmenge um sie herum vervielfacht. Und nicht wenige schienen dasselbe Ziel wie Lincoln zu haben. „Wir sollten auch allmählich los“, ergriff Bobby das Wort und fasste nach Loris Hand. Mit Freuden verschränkte sie ihre Finger mit seinen. „Bist du sicher, dass ihr nicht über Nacht bleiben wollt?“ „Ja… Mom war da sehr deutlich. Entweder wir fahren nach der Show sofort wieder nach Hause oder Lilly bleibt in Royal Woods. Eigentlich hätte ich also unser Abendessen absagen müssen. Doch was meine Mom nicht weiss, macht sie nicht heiß.“ „Schade... Ronnie Anne hätte sich bestimmt darüber gefreut.“ „Da wäre ich mir nicht so sicher. Scheinbar will sie Lincoln im Moment nicht um sich haben. Aus welchen Gründen auch immer. Weißt du vielleicht mehr darüber?“ „Was?“, fragte ihr Freund erstaunt. „Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Sie freut sich doch jedes Mal so sehr darüber, wenn er sich bei ihr Meldet.“ „Seltsam... Im jeden Fall hat sie Lincoln gestern angelogen. Und wenn ich mich nicht furchtbar irre, war das nicht das erste Mal in den letzten Monaten. Du hättest ihn vorhin sehen sollen. Bestimmt war es nur Lilly zu verdanken, dass er nicht auf der Stelle zu weinen begonnen hat. Manchmal kann er sehr sensibel sein. Ich habe ihn selten so traurig und verletzt gesehen.“ „Echt? Tut mir leid, das zu hören, aber ich weiß nicht, was mit ihr los sein könnte. Es wirkt auch nicht so, als ob Ronnie Anne sauer auf Lincoln wäre. Was auch immer mit ihr los ist. Ich bin mir sicher, dass legt sich wieder. Um lange auf ihn sauer zu sein, mag sie ihn eindeutig zu sehr.“ „Hoffentlich. Ihr Verhalten ist im jeden Fall alles andere als fair, um nicht zusagen, fast schon kindisch. Aber lassen wir das für heute. Wir verpassen noch unseren Film.“ Lori schloss somit, das aktuelle Thema. Egal wie sauer sie im Moment auf Ronnie Anne war, sie wollte diese Diskussion ungern weiter vertiefen, zumindest nicht mit Bobby. Bezüglich seiner kleinen Schwester war er schon immer empfindlich gewesen. Sollte sie zu viel über sie lästern, würden sie sich bestimmt nur wieder streiten. „Ich werde morgen mal mit ihr reden… Okay?“, antwortete ihr Bobby. Die Überraschung stand Lori ins Gesicht geschrieben. Scheinbar war nicht nur sie erwachsener geworden. „Das wäre ohne Witz große Klasse von dir.“ Gut gelaunt legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und gemeinsam betraten sie das Kino. Was sie allerdings nicht wussten war, dass auch noch jemand anderes diesen Entschluss gefasst hatte. Anders als Bobby wollte Sid das allerdings ungern bis morgen aufschieben. Lässig lehnte sie an einer der Kinowände und wählte Ronnie Annes Nummer. Ihr Filmmarathon würde erst in einer halben Stunde starten. Genug Zeit für ein kurzes Gespräch zwischen Freundinnen. Sid wollte wissen, was mit Ronnie Anne los war. Lincoln anzulügen war eine Sache, doch sie ungefragt als Alibi zu nennen, eine ganz andere. Bereits nach wenigen Male läuten hob ihre Freundin ab. „Hallo, Sid... Was geht? Hat dein Filmmarathon schon angefangen?“, meldete sich Ronnie Anne am anderem Ende der Leitung. Mit einen Anruf von Sid hätte sie eigentlich nicht gerechnet. „Noch nicht. Aber bald… Doch darum rufe ich nicht an. Rate mal, wenn ich vor wenigen Minuten getroffen habe?“ Ein wenig Smalltalk vor der großen Enthüllung würde wohl kaum schaden. „Woher soll ich das denn wissen? Vielleicht Laird“, antwortete Ronnie Anne gut gelaunt. „Leider falsch. Lincoln, deinen Freund aus Royal Woods. Ich wusste gar nicht, dass wir beide uns heute Abend ein Wrestling-Match in der Arena von Great Lake City ansehen hätten können.“ Ein paar Schweißperlen bildeten sich auf Ronnie Annes Stirn, doch bevor sie antworten konnte meinte Sid bereits: „Hör mal, Ronnie Anne: Selbst wenn du immer noch glauben solltest, Lincoln hätte sich in dich verknallt, ist das kein Grund ihn so fies anzulügen.“ „Sid… So ist das nicht“, verteidigte sich ihre Freundin wehement. Diesen negativen Eindruck von ihr wollte Ronnie Anne sofort wiederlegen. „Wie dann? Als ich ihm gesagt habe, wir beide hätten heute nichts Besonderes gemeinsam vor, fiel er glatt aus allen Wolken. Bestimmt hat er nur wegen seines Stolzes oder seiner kleinen Schwester nicht geheult. Ich kann dir sagen, das war kein schöner Anblick. Wenn du ein Problem mit ihm hast, dann solltest du es ihm auch sagen. Machen Freunde das nicht so? Wie oft hast du ihn in den letzten Monaten eigentlich angelogen? Einmal, zweimal, vielleicht dreimal? Ich kann mir denken warum, aber das ist herbe unter der Gürtellinie, Ronnie Anne…“ Sid unterbrach sich selbst, um Ronnie Anne die Möglichkeit zu geben, etwas zu sagen, doch wiedererwarten blieb sie stumm. Scheinbar hatte ihre schonungslose Ehrlichkeit ihr die Sprache verschlagen. „Sei wenigsten so ehrlich, und sag ihm, dass du nicht so fühlst wie er“, fügte sie abschließend noch hinzu. „Du hast keine Ahnung, was du da redest, Sid… Lincoln steht nicht auf mich. Ganz bestimmt nicht.“ Der pure Unglaube spiegelte sich in Sids Augen wieder. Und wie Lincoln auf Ronnie Anne stand. Das sah selbst ein blinder mit einem Krückstock, ansonsten hätte er sich kaum so verhalten. „Echt jetzt?“, erkundigte sich Sid. Sie hielt es für besser, ihren Verdacht erstmal für sich zu behalten. Wer wusste schon, was sie von Ronnie Anne noch alles erfahren würde. „Und wo liegt dann bitte das Problem?“ „Ursprünglich wollte Lincoln mich einladen, um mit ihm gemeinsam diese Zaubershow im Stadttheater zu sehen. Aber ich konnte nicht. Darum habe ich ihn angelogen. „Dein Ernst? Wegen deiner Serie?“ Sid konnte kaum fassen, was Ronnie Anne da gerade gesagt hatte. „Es war nicht wegen meiner Serie. Ich hätte sie mir auch aufnehmen können. Die Wahrheit ist, ich wäre gerne mit ihm dort hingegangen, aber ich hatte Schiss.“ „Schiss? Vor was denn? Du hast gerade gesagt, er steht nicht auf dich. Was hätte also großartig passieren können?“ „Aber ich stehe auf ihn… Okay“, erwiderte Ronnie Anne ungehalten. Sofort verirrte sich ihr Blut in ihre Wangen. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? „Bitte was? Sag das noch mal… Seit wann denn das?“ Sid zweifelte wahrlich an ihren Höhrvermögen, doch plötzlich ergab alles einen Sinn. Darum ging ihre Freundin Lincoln also aus dem Weg. „Schon eine Weile“, antwortete Ronnie Anne kleinlaut. Die Wahrheit war ausgesprochen und von jetzt auf gleich wirkten ihre Gefühle realer als je zuvor. „Darum kann ich nichts mit ihm unternehmen. Was ist, wenn ich irgendeinen Mist baue? Wie ihn zu küssen. Sein alberner Charme macht es mir schon schwer genug, überhaupt mit ihm zu Chatten.“ „Und darum lügst du ihn an?“ erkundigte sich Sid überrascht. Ronnie Anne war eigentlich viel mutiger. Dieses kindische Verhalten passt einfach nicht zu dem Bild, das Sid von ihr hatte. „Was soll ich denn sonst machen? Unsere Beziehung ist schon kompliziert genug. Ich will doch nur, dass alles so bleibt wie es ist. Kompliziert unkompliziert, wenn du so möchtest. “ Genervt rollte Sid mit ihren Augen und sagte sodann: „Du könntest zu deinen Gefühlen stehen und es ihm mitten ins Gesicht sagen… Die Ronnie Anne, die ich kenne, würde das tun. Sei ehrlich: Was ist das schlimmste, was passieren könnte?“ „Keine Ahnung… Vielleicht das ich mich am Ende so albern verhalte wie Bobby. Sollte das passieren, Lincoln würde sofort unsere Freundschaft aufkündigen. Das kann ich unmöglich zulassen.“ „Ach komm schon. Das glaubst du doch selbst nicht. Ich kenne Lincoln zwar nicht so gut wie du, aber dass er eure Freundschaft aufkündigen würde, wird ganz sicher nicht passieren. Mit deinen jetzigen Verhalten erreichst du nur, dass Lincoln genau das von dir denkt. Du hättest ihn heute sehen sollen. Das Mindeste was er verdient, ist eine Antwort auf das warum…“ „Du hast leicht reden, Sid… Dir geht es nicht so wie mir“, antwortete Ronnie Anne, der Diskussion überdrüssig geworden. Sid sagte ihr unverblümt alles, was sie gerade nicht hören wollte. „Das mag schon sein, aber ganz ehrlich, Ronnie Anne: Mit der Wahrheit kannst du unmöglich noch mehr kaputt machen, als du bereits kaputt gemacht hast. Meine Güte, dann stehst du halt auf ihn. Das ist nicht das Ende der Welt. Und bevor ich es vergesse. Du und Bobby seid grundverschiedene Menschen. Er ist ein verliebter Dummkopf, der pausenlos auf Wolke sieben schwebt, und Lori scheint sich trotzdem kein bisschen an ihm zu stören…“ „Vielleicht, weil sie genauso ist“, fiel ihr Ronnie Anne ins Wort, doch Sid blieb unbeeindruckt. Unbeirrt setzte sie dort fort, wo ihre Freundin sie rüde unterbrochen hatte: „Du hingegen bist cool, selbstbewusst und mutig. Nie im Leben würdest du so enden wie Bobby. Ganz egal, wie heftig Amors Pfeil dich am Ende auch erwischt haben mag.“ „Wow, Sid… Das war echt nett von dir.“ Erneut errötete Ronnie Anne etwas, diesmal waren aber Sids nett gemeinte Worte der Grund dafür gewesen. „Immer wieder gerne. Ich muss jetzt aber dennoch Schluss machen, mein Film startet gleich. Denk über das nach, was ich dir heute erzählt habe. Versuch wenigstens zu retten, was noch zu retten ist. Ich leiste dir keinen Beistand, wenn Lincoln zukünftig nichts mehr mit dir zu tun haben möchte, weil du ihn angelogen und versäumt hast, die Dinge richtig zu stellen. Sollte Lincoln aber wiedererwarten nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, nachdem du ihm die Wahrheit erzählst hast, dann natürlich schon. Ich wüsste aber nicht, wo das Problem liegen soll. Solltet ihr ein Paar werden, könnt ihr denselben Quatsch machen wie immer, zuzüglich einiger, feiner Extras… Ciao, Ronnie Anne. Wir sehen uns morgen.“ Ohne auf eine Antwort zu warten legte Sid auf. Still lächelte sie in sich hinein. Sie konnte sich Ronnie Annes glühend rote Wangen buchstäblich vorstellen. Es war unmöglich, dass sie ihre Anspielung falsch verstanden haben könnte. Genauso, wie es unmöglich war, das Lincoln ihre Freundin am Ende zurückweisen würde. Kaum fünf Minuten später saß Sid bereits auf ihren Platz, um sich einen schönen Abend mit viel Kunstblut, gefälschten Gedärmen und wütenden Kuscheltieren zu machen. Lori und Bobby warteten schon im Restaurant. Ihr Film war vor gut zwanzig Minuten zu Ende gegangen. Gegen halb neun Uhr abends betraten schließlich auch Lincoln und Lilly das Restaurant. Beide hatten ein fettes Grinsen im Gesicht. Scheinbar war die Zaubershow ein voller Erfolg gewesen. „He, ihr beiden. Hier drüben sind wir“, machte Lori auf sich aufmerksam. Sie erhob sich von ihren Platz und winkt sie zu sich. Wenig später saßen ihre Geschwister bereits neben ihr. „Und, Lilly? Wie war deine erste Zaubershow denn so?“, erkundigte Lori sich anschließend bei ihr. „Total fantastisch“, antwortete Lilly überschwänglich. Ihre Augen leuchteten, als sie zurückdachte: „Der Zauberer hat Kaninchen aus seinem Hut gezaubert. Schmetterlinge aus dem Nichts erscheinen lassen, sich unsichtbar gemacht. Seine hübsche Assistentin in zwei Hälften geteilt und wieder zusammengesetzt. Ein ganzes Auto verschwinden lassen und sich gefesselt in einen Behälter, randvoll gefüllt mit Wasser sperren lassen, nur um wenig später klatschnass und ohne Ketten mitten im Publikum wieder aufzutauchen. Gott, ich hatte voll die Angst um ihn. Und das Beste war, ich durfte bei einen seiner Tricks assistieren, nachdem er seine eigentliche Assistentin in eine Box gesperrt und versehentlich wegezaubert hat... Ich hoffe doch, ihr geht es gut. Bis zum Ende der Show habe ich sie nicht mehr gesehen.“ Lilly redete ohne Pause und strahlte dabei über beide Ohren. Ihr letzter Satz zauberte allen Anwesenden ein Lächeln ins Gesicht. Der fraglichen Assistentin war bestimmt nichts passiert. „Oh… Da ist sie ja“, meinte Lilly, als sie glaubte, die Assistentin in Restaurant gesehen zu haben. Erstaunt sah Lincoln sich um. Und tatsächlich. Einen Tisch weiter saß Chloé gemütlich und wartete auf ihre Bestellung. Lincoln war ihr Name nur deshalb bekannt, weil sie sich zu Beginn der Show vorgestellt hatte. Unverblümt winkte sie Lilly zu. Chloé hatte das kleine, blonde Mädchen aus dem Publikum wiedererkannt. Sie war auch nur deshalb nicht wieder aufgetaucht, weil die Show länger als geplant geworden war, und sie ihre Reservierung ungern versäumen wollte. Das wussten natürlich nur sie alleine und ihr Boss, mit dem das selbstverständlich abgesprochen war. Kurz winkte Lilly zurück. Ihre Erleichterung über Chloés Unversehrtheit, entlockte Lincoln und Lori ein weiteres Schmunzeln. „Aber das war noch nicht alles", begann Lilly wenig später dann von neuem: „Lincoln hat während der Show gemeint, wenn ich möchte, würde er mir ein paar Zaubertricks vorführen.“ Loris glückliches Lächeln wurde eine Spur breite. Neben dem Zeichnen hatte ihr kleiner Bruder noch eine weitere Leidenschaft. Und zwar die Zauberei. Schon lange assistierte er Luan nicht nur bei ihrem Funny Business, sondern war fester Bestanteil ihrer Show geworden. Sofern er Zeit fand, war er gerne bereit dazu, ein kleines, ausgewähltes Publikum prächtig zu unterhalten. „Echt jetzt? Hat er das?“, fragte Lori erstaunt und Lilly nickte begeistert mit ihrem Kopf. Doch ehe Lori noch mehr sagen konnte, trat ein Kellner an ihren Tisch. „Guten Abend, was darf ich Ihnen bringen?“, erkundigte er sich bei seinen neuen Gästen. Lincoln und Lilly gaben ihre Bestellungen auf und baten den Kellner zusätzlich um einen Satz Spielkarten. Schnell war Lori klar, dass Lincoln damit versuchen wollte, Lilly die Wartezeit etwas zu versüßen. Den einen oder anderen raffinierten Kartentrick konnte er seiner kleinen Schwester durchaus vorführen. Am Ende hatte er schließlich fünf verschiedene Kartentricks gezeigt, die nicht nur Lilly begeisterten. Auch Bobby und Lori applaudierten unverfälscht, als Lincoln seine kleine Show schließlich beendete. „Bitte, Lincoln. Willst du mir das nicht beibringen?“, erkundigte sich Lilly bei ihren Bruder. Obwohl sie schon eine halbe Stunde auf ihr Essen warteten, war Lillys gute Laune unverändert. „Bist du dir sicher? Wenn man erst einmal weiß, wie es geht, verflüchtigt sich der Zauber schnell.“ „Das macht Nichts. Bringst du es mir bei? Wenn ich gut darin bin, werde ich später bestimmt eine berühmte Magierin.“ Mit großen Augen sah sie ihren Bruder an. Es war schwer zu übersehen, dass Lilly seine Fingerfertigkeit bewunderte. Wie konnte er da bitte nein sagen? „Na schön… Du hast mich überzeugt. Aber beschwer dich später nicht bei mir.“ Zügig fasste Lincoln nach dem Kartenstapel und fächerte diesen sogleich auf. „Pass jetzt gut auf, Lilly. So funktionierte mein erster Trick…“ Gegen zehn Uhr abends hatten sie das Restaurant schließlich verlassen. Ihre Mägen waren bis zum Bersten gefüllt und Lilly beherrschte immerhin schon einen Kartentrick ganz passabel. Nachdem sie sich von Bobby verabschiedet hatten, stiegen sie in den Wagen, um sich sogleich auf den Heimweg zu machen. Bereits nach wenigen hundert Metern war Lilly auf der Rückbank eingeschlafen. Lincolns Plüschhase Bonbon ruhte dabei sanft in ihren Armen. Als er alt genug war, um seinen langjährigen Freund Lebewohl zu sagen hatte er ihn Lilly überlassen, die sich unheimlich darüber gefreut hatte. Lori dagegen konzentrierte sich auf die Straße, während Lincoln stur aus dem Beifahrerfenster hinaus in die, von den Neonlichtern der Großstadt erhellte, Dunkelheit starte. Stillschweigend seinen eigenen Gedanken nachhing. Eine Zeit lang sagte keiner von ihnen etwas, doch bald wurde es Lori zu unangenehm. Auf den Weg in die Stadt hatte sie kaum eine ruhige Minute gehabt, jetzt, auf den Nachhauseweg, war es dagegen fast schon zu still gewesen. Lori hatte das dringende Bedürfnis, das eiserne Schweigen zu brechen: „He, Lincoln... Wegen der Sache mit Ronnie Anne.“ „Ich komme schon damit klar, Lori. Mach dir keinen Kopf“, antwortete Lincoln. Im Moment war er nicht in der Stimmung, ausgerechnet darüber zu sprechen. „Sie hat bestimmt einen Grund dafür“, erwiderte Lori unbeeindruckt von seinen Worten. Auch wenn es ihrem Bruder unangenehm war. Sie wollte gerne mit ihm sprechen. „Lori, was habe ich gerade gesagt? Natürlich hat sie einen Grund dafür. Offensichtlich will sie nicht länger mit mir gesehen werden. Das ist alles. Keine große Sache. Ich regle meine Probleme alleine.“ „Oh doch, Lincoln. Ganz große Sache. Ich weiß du willst meine Beziehungstipps im Moment nicht hören, aber mach bitte nichts Unüberlegtes.“ „Was soll das denn jetzt heißen!“, wurde Lincoln etwas lauter. Lilly störte sich zum Glück wenig daran. „Morgen rede ich mit ihr und verlange eine klare Antwort: Warum, weshalb, wieso? Das ist alles. Wo ist das bitte unüberlegt? Oder geht es dir am Ende nur darum, dass Bobby nicht wieder sauer auf dich wird…“ Lincoln unterbrach sich selbst. Da war also der Hund begraben. Plötzlich ergab ihre Sorge um ihn einen Sinn. „Keine Panik, ich achte schon darauf, Ronnie Anne nicht wieder zum Heulen zu bringen… Okay?“ „Darum geht es nicht. Hör mal zu, Lincoln. Mir ist durchaus bewusst, dass ich mich selten wie die beste große Schwester der Welt verhalten habe, aber ich versuche trotdem mein Bestes. Du kannst Ronnie Anne gerne so richtig die Meinung geigen. Diesmal halte ich fest zu dir… Versprochen. Selbst dann, wenn Bobby sauer auf mich werden sollte, weil mein kleiner Bruder seiner kleinen Schwester dumm gekommen ist. Ich denke aber, er ist alt genug, um Ronnie Annes Probleme nicht auch zu unseren zu machen. Zumindest hoffe ich das. Alles was ich möchte ist, dass du weißt, dass ich ein offenes Ohr für dich habe." „Lori, dass ist alles total nett von dir... Ehrlich. Aber ich bin kein kleines Kind mehr. Ronnie Anne ist nicht das erste Mädchen, in das ich mich verknallt habe: Christina, Jordan, meine Vertretungslehrerinn Miss D. Martino, Stella. Selbst für dich habe ich mal geschwärmt, damals als ich gerade sechs geworden bin.“ Ein nostalgisches Lächeln schlich sich auf seine Lippen und Lori errötete etwas. „Mit keiner von ihnen ist es am Ende etwas geworden, und ich bin noch immer darüber hinweggekommen. Wenn Ronnie Anne ein Problem damit hat, dass ich mich in sie verknallt habe, dann ist das eben so. Ich werde machen was sie will, mich zukünftig nicht mehr mit ihr verabreden und mich nicht länger bei ihr melden… Ich komme damit klar. So wie immer.“ Eine einsame Träne kullerte aus seinen Augen, bevor er sich wieder seiner vorherigen Beschäftigung widmete: Stur aus dem Fester starren und seinen Gedanken nachhängen. „Da wäre ich mir nicht so sicher“, antwortete Lori besorgt. Sie entschloss sich aber dazu, seinen Wunsch nachzukommen. Vielleicht war es tatsächlich besser, ihn vorerst in Frieden zu lassen. Doch ihr Ärger über Ronnie Anne blieb unverändert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)