Lincolns Geheimprojekt von Bourbone ================================================================================ Kapitel 3: Ungeahnte Talente ---------------------------- Lola langweilte sich. Seit Lana mit Lynn rausgegangen war, um eine Runde mit ihr zu laufen, war eine gute Stunde ins Land gezogen. Bevor Lynn gefragt hatte, waren sie und Lana mit einem Brettspiel beschäftigt gewesen, das Lana bestimmt verloren hätte. Nur darum – so ihre Meinung – hatte Lana sich überhaupt darauf eingelassen. Ihre Zwillingsschwester meinte zwar, sie würde später dort weitermachen, wo sie aufgehört hatten, doch so recht wollte Lola das nicht glauben. Für den Fall der Fälle hatte Lola allerdings alles so belassen, wie es schon vor einer Stunde gewesen war, und hatte dann versucht ihren Ärger mit Fernsehen zu vertreiben. Doch es lief irgendwie Nichts was sie interessiert hätte. Ihr Vater war noch in seinem Restaurant und ihre Mutter war mit Lilly ins Einkaufscenter gefahren, um ihr neue Kleidung zu kaufen. Luna, Lisa und Luan waren sonst wo unterwegs. Leni arbeitete noch und Lincoln war mit Lori eine Runde golfen. Einzig und alleine Lucy war noch zuhause, doch die war gerade auf dem Dachboden und machte, weiß der Teufel was. Selbst wenn Lola den Mut dazu gefunden hätte, Lucy zu unterbrechen, und diese sie dafür nicht verflucht hätte oder dergleichen, hätte ihre ältere Schwester sich wohl kaum mit ihr abgegeben. Manchmal war es frustrierend. Man sollte meinen, in einem Haus mit zehn Geschwistern wäre immer wenigstens eines da, mit dem sie spielen konnte. Doch in letzter Zeit war das überraschend häufig nicht der Fall. Lag es an den Interessen ihrer Geschwister, dass sie kaum für sie Zeit hatten, oder an etwas anderen? In der Regel waren wenigstens Lana und Lincoln dazu bereit, etwas mit ihr zu unternehmen. Aber Lana hatte selten Lust darauf, bei ihrem Mädchenkram mitzumachen, wie sie zu sagen pflegt. Und Lincoln hatte meistens schon etwas mit Lana, ihren anderen Schwestern oder Clyde vor, wenn sie ihn mal darum bat, ihr bei einer ihrer Teepartys Gesellschaft zu leisten, oder sonst etwas mit ihr zu spielen. Nur bei ihren Schönheitswettbewerben stand er ihr immer zu Seite. Was aber sicher daran lag, dass er sich diese in seinem Kalender markierte, um sie nicht zu vergessen. Die wenigen Stunden Training davor und der Wettbewerb selbst waren aber meistens viel zu schnell wieder vorbei. Wenn sie dann zurückdachte, hatte sie mehr das Gefühl, Arbeit geleistet, als Spaß gehabt zu haben. Und bestimmte dachte Lincoln dasselbe. Bei Lana war es dagegen anders. Dann und wann war sie richtig neidisch auf ihre Zwillingsschwester. Immer wenn sie und Lincoln von ihren Aktivitäten zurückkamen, hatten alle beide ein fettes Grinsen im Gesicht und sprachen nicht selten auch noch beim Abendessen mit Freuden über ihren gemeinsamen Tag. Bei seinen Chats mit Ronnie Anne war es dasselbe. Er erwähnte Lynn, Lana, Leni, Lucy, Lisa, Lilly, Luna und Luan. Auch über Lori sprach er ab und zu. Aber ihren Namen hörte sie nie fallen, wenn sie zufällig im richtigen Moment an seiner Tür vorbeikam, Türen und Wände ihren Zweck verfehlten. Vielleicht sollte sie ihn zu seinem Glück zwingen, um sich dann von ihrer besten Seite zu zeigen. Warum eigentlich nicht? Im Moment war keiner zuhause, Lucy mal ausgenommen, doch die war mit sich selbst beschäftigt. Eine gute Gelegenheit, um sich in Lincolns Zimmer zu schleichen, und nach guten Erpressungsmaterial zu suchen. Sie machte das nicht gerne, aber um ihren Bruder zu zeigen, dass er auch mit ihr Spaß haben konnte, musste sie wohl andere Wege finden. Wie war das noch gleich? Der Zweck heiligt die Mittel, oder etwa nicht? Auf ihrem Gesicht zeichnete sich ein verschlagendes Lächeln ab, und keine Minute später stand sie auch schon vor der geschlossenen Tür seines Zimmers. War ihr Plan erst erfolgreich, würde sie sich, so oft er wollte, auf Knien und unter Tränen bei Lincoln entschuldigen. Doch irgendwie musste sie ihn zuerst dazu bringen, nicht ständig Lana zu bevorzugen. Vorsichtig warf sie einen Blick nach Links und Rechts, doch Lucy war nirgendwo zu sehen. Bestimmt war sie immer noch auf dem Dachboden. Leise fasste sie nach der Türklinge und drückte sie hinunter, doch nichts passierte. „Echt jetzt, Lincoln. Seit wann schließt du ab?“ fragte Lola sich verärgert. Wie sollte sie jetzt in sein Zimmer kommen? Ob sie das Schloss mit einer Haarspange knacken konnte? Leni war ein Naturtalent darin, doch sie selbst hatte das noch nie versucht. „Was machst du da?“, hörte sie Lucys monotone Stimme plötzlich von der Seite. Wie von der Tarantel gestochen sprang Lola vor Schreck auf und schrie sich die Seele aus den Leib. „Verdammt nochmal, Lucy… Musst du mich immer so erschrecken?“, brachte Lola schließlich über die Lippen, als sie die Situation als ungefährlich wahrgenommen hatte. „Es ist nicht meine Schuld, dass ihr allesamt so schreckhaft seid“, antwortete ihr Lucy auf ihre übliche, emotionslose Art, und dennoch umspielte ein schmales, fast unkenbares Lächeln ihre Mundwinkel. Völlig egal was sie auch sagte. Lucy hatte Spaß daran, andere Herzen zum rasen zu bringen. Aber nicht auf die gute Art und Weise. „Lincoln ist nicht zuhause. Ich hoffe doch, du hast nicht vor, dich wieder in sein Zimmer zu schleichen. Hast du schon vergessen, was letztes Mal passiert ist?“, setzte Lucy fort. Täuschte Lola sich, oder hörte sie so etwas wie einen Vorwurf in ihrer Stimme? „Das war nicht meine Schuld, sondern Lanas… Okay? Ich wollte sein dummes Modellflugzeug nicht kaputtmachen, sondern es mir nur genauer ansehen“, erwiderte Lola gereizt. Warum mussten ihre Schwestern sie noch Wochen später ständig daran erinnern? Doch plötzlich wurde Lola wieder bewusst, in was für einer Situation sie sich befand. Lucy war nicht Lana, aber auch sie respektierte Lincolns Privatsphäre. Zumindest dann, wenn er nicht zuhause war. Wie sollte sie sich da rausreden? „Wenn du das sagst“, antwortete Lucy. Erneut ohne jegliche Emotion dahinter. „Doch das ändert wenig am Ergebnis. Also warum willst du dich wieder reinschleichen? Stehst du darauf, wenn unser Bruder sauer auf dich ist?“ „Natürlich nicht. Ich wollte nur…“ Lola unterbrach sich selbst. Ihr schlechtes Gewissen hatte sich heftig zurückgemeldet. Aber genau darum wollte sie Lincoln davon überzeugen, dass sie auch ihre guten Seiten hatte. Und ohne Erpressungsmaterial würde das kaum funktionieren. „Nur was?“, wollte ihre Schwester von ihr wissen, als Lola eine Idee hatte. „Heute Vormittag habe ich Lincoln gefragt, ob er bei einer meiner Teepartys mitmachen möchte. Doch er meinte, er hätte schon etwas mit Lynn vor. Da bin ich wieder gegangen und wollte stattdessen etwas mit Lana unternehmen. Doch dann ist Lori nachhause gekommen und hat Lynn Lincoln vor der Nase weggeschnappt, die mir dann Lana vor der Nase weggeschnappt hat. Da ich jetzt keine Spielpartnerin mehr habe, wollte ich eine Tee Party ohne Lincoln abhalten. Nur mit meinen üblichen Gästen. Du verstehst… Doch Junis ist nirgendwo aufzufinden, und ich dachte mir, ich könnte sie vielleicht in Lincolns Zimmer gelassen haben.“ Lola war stolz auf sich selbst. Eine bessere Geschichte hätte ihr kaum einfallen könne. Hoffentlich zerstreut das Lucys Argwohn. „Also gut.“ Lucy atmete lautstark aus. Lola tat ihr irgendwie leid. Verflucht sei ihr schwarzes Herz, das dennoch für ihre Familie schlug. „Ein Ersatzschlüssel liegt im Badezimmerschrank, unter seinen Handtüchern. Aber das hast du nicht von mir… Verstanden?“ Lola konnte ihr Glück kaum fassen, doch Lucy zerstörte ihre Hoffnungen keine Sekunde später von neuem: „Und damit du auch keine Dummheiten anstellst, werde ich dich begleiten. Leb damit, oder hol dir Junis später zurück, wenn Lincoln wieder zuhause ist.“ Na toll. Jetzt würde Lola zwar in Lincolns Zimmer kommen, doch hatte dafür Lucy am Hals. Sie wusste natürlich, dass Junis keinesfalls im Zimmer ihres Bruders lag. Ihr Plüscheinhorn befand sich zusammen mit ihren anderen Artgenossen in ihrem und Lanas Zimmer. Zur Not konnte Lola sich zwar rausreden, dass es schließlich nur eine Vermutung gewesen war. Doch ihre Suche nach brisanten Informationen konnte sie so natürlich vergessen. Aber heute schien ihr das Glück gewogen zu sein. Gerade als sie sich damit abgefunden hatte, hörten sie und Lucy wie etwas auf dem Dachboden zu Boden fiel. „Oh... Die Geister antworten“, hörte sie Lucy noch sagen, bevor sie wieder spurlos verschwunden war. Bestimmt war es nur ihre Katze Cliff gewesen, die irgendetwas umgestoßen hatte, aber Lola sollte es recht sein. Lucy war aus dem Weg und sie selbst würde in Lincolns Zimmer kommen. Besser konnte es kaum laufen. Wieder schlich sich ein verschlagenes Lächeln über ihre Lippen. Gut gelaunt machte sie sich auf den Weg ins Badezimmer, um sich den Ersatzschlüssel zu besorgen. Er lag genau dort, wo Lucy gesagt hatte. Als Lola dann schließlich zum zweiten Mal vor Lincolns Tür stand, schloss sie diese auf und trat ein. Die erste Phase ihres Planes war erfolgreich gewesen. Das Reich ihres Bruders war nicht besonders ausgefallen. In seinem Zimmer standen ein Bett, ein kleiner Kleiderschrank, eine noch kleinere Kommode und ein schlichter Schreibtisch. Von allen ihren Geschwistern hatte Lincoln das kleinste Zimmer. Obwohl sich immer zwei von ihren Schwestern ein Zimmer teilten, hatten diese in der Regel mehr Platz für sich selbst zu Verfügung, als Lincoln. Bestimmt lag das daran, dass ihre Eltern anfangs nicht so viele Kinder wollten, oder das Haus an sich, von Anfang an für deren Pläne zu klein war. Doch trotz des wenigen Platzes liebten sie und ihre anderen Geschwister es, in diesem Haus zu leben. Sicher, es gab Zank und das nicht zu knapp, doch am Ende war noch immer alles wieder gut geworden. Schnell schloss Lola dir Tür hinter sich und sah sich etwas genauer in seinem Zimmer um. „Also gut, Bruderherz. Was hast du alles für mich?“, sprach sie zu sich selbst und machte sich sodann an die Arbeit. Sie durchsuchte den Kleiderschrank, die Kommode und seinen Schreibtisch, doch sie konnte nichts Interessantes finden. Sie blätterte sogar durch seine Comicbücher, in der Hoffnung, dort hatte er etwas Peinliches versteckt. Doch ihre Mühen blieben erfolglos. „Ach komm schon. Wo ist dein Tagebuch, wo deine dummen Pläne?“, fragte sie sich selbst, als ihr Blick wie beiläufig auf sein Bett fiel. Ihre Gesichtszüge hellten sich auf: „Vielleicht dort.“ Mit neuem Elan machte sie sich daran, unter das Bett zu schauen. Tatsächliche hatte sie Erfolg. Ein kleines Papierbündel kam zum Vorschein. Gespannt holte Lola es heraus und warf einen Blick darauf. Es war ein kleiner Comic, etwa fünf Seiten lang, welches davon handelte, dass Lincoln und Ronnie Anne irgendein Theaterstück aufführten. „Das ist doch was.“ Gespannt begann sie zu lesen, doch die ersten zwei Seiten waren nicht besonders spannend gewesen, wenngleich die Charaktere, das Bühnenbild und die Kostüme überraschen professionell wirkten. Es war ungewöhnlich für Lola, Ronnie Anne in einen Kleid zu sehen, doch Lincoln hatte sich große Mühe damit gegeben, das Kleid nicht aufdringlich zu gestalten und seine Freundin natürlich und gut darin aussehen zu lassen. Plötzlich empfand sie so etwas wie Respekt vor Lincolns Zeichnerischem Talent, aber sobald sie die dritte Seit aufschlug, konnte sie sich ein Lachen nicht verkneifen. Bisher hatten Lincoln und Ronnie Anne stur den Text aufgesagt, irgendetwas von Shakespier glaubte Lola zu wissen. Lincoln war mit Feuer und Flamme bei der Sache, wenn sie seinen gezeichneten Gesichtsausdruck richtig deutete, doch Ronnie Anne wirkte gelangweilt. Im Nächsten Abschnitt wurde es ihr dann plötzlich zu blöd und sie sagte folgendes: „Halt die Klappe und Küss mich endlich.“ Im nächsten Bild war Lincolns Gesichtsfarbe einige Nuancen dunklerer geworden und sein Gesicht spielgelt eine Mischung aus blanker Überraschung und Vorfreude wieder. Am besten war aber der Text des Lehrers: „Ronalda, halt dich bitte an den Text.“ Lola konnte sich schon denken was auf dem nächsten Blatt passieren würde, und sie sollte Recht behalten. Eine gesamte Seite zeigte nur wie Lincoln und Ronnie Anne sich innig küssten. Ihre Hände miteinander verschränkt und ihre Augen geschlossen. „Das ist zu früh! Haltet euch an das Drehbuch!“, war noch am Rand zu lesen gewesen, doch die Person, die das zu ihnen gesagt hatte, war nicht mehr auf dem Bild. „Das ist das reinste Gold“, rief Lola enthusiastisch aus. Bestimmte konnte sie Lincoln damit überzeugen, einen Tag nur mit ihr allein zu verbringen. Zumindest dann, wenn er nicht möchte, dass Ronnie Anne diesen Minicomic in absehbarer Zeit in den Händen halten würde. „Was hast du noch für mich?“, sagte Lola zu sich selbst und machte sich nun daran, Lincolns Matratze etwas anzuheben. Ihr Blick fiel sodann auf einen Schnellhefter und ihr Grinsen wurde breiter. „Oh… Noch mehr peinliche Bilder von dir und deiner Freundin?“ Ohne lange zu überlegen fasste Lola mit ihrer freien Hand nach dem Schnellhefter. Sie zog ihn aus seinem Versteck und las folgendes: «The famous fifteen. By Lincoln Loud.» „Hm… Ganz schön schwer“, kommentierte sie das Gewicht des Schnellhefters. Zügig ließ sie die Matratze wieder los und setzte sich sodann auf sein Bett. Den Hefter nun in beiden Händen, öffnete sie ihn. Das erste Bild ließ ihr dem Atem stocken. Scheinbar war es eine Charakterskizze. Und was für eine schöne. Lola glaubte, eine ältere Version von Lucy zu sehen. Diese trug ein schlichtes, schwarzes Kleid. Vor ihr waren der Vollmond und eine altes Schloss in der Ferne zu sehen, das Lucy wehmütig beobachtete. Sie saß auf einen großen Stein und ihr zahme Fledermaus Fangzahn ruhte sanft auf ihrem Kopf. Zu ihrer Rechten war ein knochiger, alter Baum zu sehen gewesen. Ein reichverzierte Rahmen, selbstverständlich per Hand gezeichnet, rundete das Bild ab. »Raven Heartfilia« stand im unteren, rechten Bildabschnitt. Wohl der Name, den Lincoln Lucys alter Ego gegeben hatte. Begeistert blätterte Lola eine Seite weiter. Die nächste Charakterskizze zeigte eine ältere Lana, die mit verschränkten Armen und einem breiten Grinsen an der Seite eines schwarzen Rennwagens lehnte. Sie trug verschmutze Arbeitskleidung und im Hintergrund war eine Autowerkstand zu sehen. Das Rolltor stand offen und ein paar Regale waren schemenhaft zu erkennen gewesen. Wieder rundete ein Rahmen das Bild ab und wieder war unten rechts ein Name zu lesen: »Rosanna Black.« Lola konnte nicht anders und blätterte weiter. Diesmal war eine ältere Version von Lisa zu sehen. Sie trug einen weißen Kittel, saß an einem Tisch in ihrem eigenem Labor und hielt zwei unterschiedliche Reagenzgläser in ihren Händen, die mit zwei verschiedenen Flüssigkeiten befüllt waren. Ein stolzes Lächeln zierte ihr Gesicht, beinahe so, als ob sie etwas gefunden hatte, was die Welt revolutionieren könnte. Rahmen und Name fehlten auch hier nicht: »Mary Oswin« war zu lesen gewesen. Hatte Lincoln einfach nur Lisas zweiten Vornamen verwändet? An seiner Kreativität muss er noch arbeiten, aber seine Bilder waren umwerfend und detailreich. Wenn Lola wollte, könnte sie sämtliche Reagenzgläser in Marys Labor zählen, die allesamt willkürlich platziert waren. Geordnetes Chaos, wie Lisa sagen würde. Selbst die Charakterzüge seiner Musen arbeitete er in die Geschichte ein. Wie selbstverständlich blätterte Lola weiter. Zum ersten Mal waren zwei Leute zu sehen, die Rücken an Rücken lehnten und den Betrachter des Bildes anschauten. Lola erkannte eine ältere Lynn, die mit einem schwarzen Ninja-Anzug bekleidet war und in ihrer linken Hand lässig einen Kampfstab hielt. Neben ihr ein junger Mann, gut gebaut mit überwiegend weißen Haaren, dessen Haaransätze aber schwarz waren. Das konnte ja nur Lincoln selbst sein. Im Hintergrund war ein großes Haus zu sehen, bei dessen Gestaltung bestimmt ein Architekt ausgeholfen hatte. »Logan und Lindsey Redmoor« war im unteren, rechten Bildausschnitt zu sehen. Der bekannte Rahmen fehlte auch hier nicht. Mit unverfälschter Begeisterung widmete Lola sich dem nächsten Bild. Erneut waren zwei Leute zu sehen. Ein altes Herrenhaus befand sich im Hintergrund und eine hübsche Perlenkette schwebte über dessen Köpfen. Ganz klar, hier hatte Lincoln sich an Ronnie Anne und Sid orientierte, selbst wenn die beiden auch hier deutlich älter wirkten. »Ronalda Santana und Sidney Mason« waren ihre Namen. Wieder zeigte sich Lincolns mangelnde Kreativität, doch das Bild büßte dadurch keinesfalls an Charme ein. Allmählich wurde Lola neugierig auf die Geschichte hinter den Charakterskizzen. „Warum bitte, versteckst du das vor uns?“, fragte Lola sich selbst und nahm das nächste Bild in Angriff. Zum wiederholten Male waren zwei Leute zu sehen. Zwei Polizisten, wie Lola an deren beider Uniformen erkannte. Unwissentlich Model dafür gestanden hatten sicher Bobby und Lori. Schon die Körpersprache der beiden zeigte deutlich, dass sich die zwei zueinander hingezogen fühlten. Äußerlich wirkten sie zwar etwas älter, aber die Ähnlichkeiten waren kaum zu übersehen. »Rupert Santana und Lorane Goldsmith« hatte Lincoln sie getauft. Im Hintergrund war ein Streifenwagen mit angeschalteten Blaulicht zu sehen, der querstehend die Straße blockierte. Lori und Bobby standen jeweils auf einer anderen Seite dieser, und warfen sich schmachtende Blicke zu, während der Schein der Straßenlampen die Dunkelheit um sie herum erhellte. Kitschiger ging es kaum, doch Lola war begeistert. Von Bild zu Bild war sie aufgeregter geworden. Alle Schwestern und Freunde von Lincoln schienen eine bestimmte Rolle zu haben. Lola war schon gespannt darauf, was sich ihr Bruder wohl für sie ausgedacht hatte. Vielleicht war sie ja eine Prinzessin in Nöten. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf blätterte sie weiter. Jetzt erkannte sie Luna und Luan, die an einer Bar saßen rücklings gegen die Theke lehnten und mit glücklichen Gesichtern einen leeren Nachtclub begutachteten. „Endlich haben wir es geschafft.“ „Unsere eigener Nachtclub“, konnte Lola in zwei Sprechblassen lesen, die über den Köpfen ihrer älteren Schwestern schwebten. Auch hier war Lola von den vielen Details begeistert. Sie erkannte eine kleine Bühne. Bestimmt für Luna gedacht, um ihre Kundschaft mit ihrer Musik einzulullen. Etliche Tische und vieles mehr. »Sahra und Anna Williams« stand diesmal auf der linken Seite. Wohl weil Lincoln rechts die Theke gezeichnet hatte. Ungeduldig blätterte sie weiter. Lola wollte endlich ihr Alter Ego kennenlernen. Doch wiedererwarten zeigte das nächstes Bild nicht sie sondern Leni, die an einen Schreibtisch saß und an einem Computer arbeitete. Ein einnehmendes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel und eine aufgeschlagene Akte lag auf ihren Schreibtisch. »Polizeibericht zu den Vorfall 00786« konnte Lola entziffern. „Leni arbeitet also auch für die Polizei“, zog Lola den einzigen logischen Schluss daraus. Unmittelbar neben dem Bericht, wie könnte es auch anders sein, lag eine geöffnete Modezeitschrift. Ein Kleid der aufgeschlagenen Seite war fett umrandet. Bestimmt hatte Leni das nächste Kleid gefunden, das sie unbedingt haben wollte. Ihr Büro war wieder überraschen Detailverliebt gestaltet. Zu ihrer Rechten eine offene Tür. Gegenüber ihres Schreibtisches ein Aktenschrank, der bis zum Bersten gefüllt war, und leicht angedeutet, ein Fenster zu ihrer Linken. Auf einem kleineren, zweiten Tisch in der Nähe stand eine Vase mit frischen Blumen. Hier konnten wohl ihre Klienten oder ihre Kollegen sitzen, um mit ihr zu plaudern, oder sie für ihre Schusseligkeit zu tadeln, sollte Lincoln auch Lenis Charakterzüge in seinem Comic eingearbeitet haben. »Antonia Goldsmith« war der Name, den Lincoln sich für sie ausgedacht hatte. Allmählich zeichnete sich ein Muster ab. Scheinbar waren immer zwei von seinen Charakteren miteinander verwandt. Bestimmt waren sie sogar Geschwister. Voller Hoffnung schlug sie das nächste Blatt auf, doch wieder lächelte ihr ein anderes Gesicht entgegen. Ein erwachsener Clyde hatte seinen Weg in die Charakterskizzen gefunden, Lola hatte sich schon gefragt, wann Lincolns bester Freund auftauchen würde. Voller Vorfreude stützte er sich mit beiden Händen an einem Geländer ab. Vor ihm befand sich ein leerer, reichgeschmückter Ballsaal. Große Kronleuchter hingen an der Decke. Riesige Fenster waren zu beiden Seiten des Saals zu sehen, die mit schweren, edlen Vorhängen ausgestattet, jedoch nicht zugezogen waren. Am anderen Ende fand sich noch eine angedeutete Flügeltür. »Adrian Fernandes« war sein Name. Gewaltige Herrenhäuser, alte Schlösser, edle Kleidung, Ballsäle und besorgniserregende Präsenz der Polizei. Ob Lincolns Comic wohl in der Welt der Reichen und Mächtigen spielte? Wenn ja, dann war ihre erste Vermutung bestimmt richtig. Sie musste einfach eine Prinzessin in Nöten sein. Wehe ihren talentierten Bruder wenn nicht. Wieder blätterte Lola weiter und wieder wurde sie gnadenlos enttäuscht. „Das Beste zum Schluss, oder wie?“, fragte sich Lola, als ihr Blick auf eine weitere Charakterskizze fiel. Diesmal handelte es sich um eine ältere Lilly, die ein schönes, weißes Kleid trug und sich eine Blume in ihr schulterlanges Haar gesteckt hatte. Ihr Alter schätzte Lola auf zehn Jahre. Lilly war im Gegensatz zu den anderen das typische Kind. Staunend stand sie in Mitten eines gewaltigen Raumes. Kleiderschränke, ein großes Bett, randvolle Bücherregale, zwei große Fenster und ein gigantischer, runder Teppich auf den Boden, ziemlich genau in der Mitte des Raumes, waren zu sehen gewesen. Was wohl ihre Rolle war? Lillys Charakterskizze war zwar schön anzusehen doch sagte im Grunde genommen wenig, eigentlich nichts über ihre Rolle aus. Ob das Absicht war? Zum Zerreißen gespannt nahm sie die nächste Seite in Angriff. Und siehe da, endlich erblickte sie ihr Alter Ego. Lincolns Lola trug ein langes, reich verziertes Kleid, hatte ihre Hände gefaltet und ihre Beine Überkreuzt. Vor ihr befand sich ein schmaler, gläserner Tisch, auf dem ein Schachbrett stand. Ihr Lächeln wirkte zuversichtlich und auf ihren hübschen Kopf ruhte ein elegantes Diadem. Der reichverzierte Stuhl, auf dem sie stolz platzgenommen hatte, konnte nur einer Prinzessin gehören. Hinter diesem war ein Mann mit einem schwarzen Anzug zu sehen. Er hatte ihr den Rücken zugedreht, schaute aber über seine Schulter zu ihr. Mit der Rechten rückte er sich sein Brille zurecht und in seiner Linken hielt er ein leeres, silbernes Tablett. Lola wusste nicht, wie sie sein Lächeln deuten sollte, das er ihrer Doppelgängerin zuwarf. Es wirkte nicht übelwollend aber dennoch wenig vertrauenserweckend. Doch wichtig war nur eins, sie hatte sogar ihren eignen Butler. »Rosemary Black« hatte Lincoln sie genannt. Ihr Alter Ego war also mit Lanas verwandt. Was für ein Zufall. Der Name ihres Butlers interessierte sie im Moment eher weniger, doch dennoch las sie ihn: »Viktor Brown.« Neugierig warf sie einen Blick auf die nächste Seite. Kapitel eins war dort zu lesen und das Abbild eines alten Herrenhauses im düsteren Mondlicht war zu sehen. Mit den Charakterskizzen war Schluss, die eigentliche Geschichte startete. Gerade wollte Lola zu lesen beginnen, da hörte sie, wie sich die Haustür lautstark öffnete. „Man, wie kann Lincoln sich das bloß freiwillig antun und das jeden verdammten Tag“, hörte sie Lanas schwer atmende Stimme von unten. Bald darauf folgte ein dumpfer Aufprall. Offensichtlich hatte Lana sich erschöpft zu Boden fallen lassen. „Einmal und nie wieder. Hörst du Lynn… Einmal und nie wieder!“, hörte sie ihre Stimme wenig später erneut. Scheinbar war sie wieder zu Atem gekommen. Lynn hatte Lana offensichtlich nicht mit Samthandschuhen angefasst. „Lola, wo bist du?“, erkundigte sich Lana schließlich auch nach ihrem Verbleib. Kaum hatte sie das gesagt, hörte Lola auch schon die ersten Schritte. „Hier oben!“, antwortete sie. Lana würde wohl kaum vermuten, dass sie sich gerade in Lincolns Zimmer aufhielt. Schnell legte sie den Schnellhefter zurück an seinen ursprünglichen Platz. Kaum auszumalen, wenn Lana sie damit erwischen würde. Selbst wenn ihre Schwester sie deshalb nicht gleich, wie eine, in die Enge getriebene Ratte, anspringen würde, um es ihr aus der Hand zu reißen, würde es Lincolns Comic dennoch ähnlich wie seinem Modelflugzeug ergehen. Ihr gesamter Körper schauderte bei diesem Gedanken. Sein Modelflugzeug war eine Sache aber dieses Comic, an dem er schon ewig arbeiten musste, war ein ganz andere. Sollte das zu Bruch gehen und Lincoln würde sie und Lana als die Schuldigen identifizieren? Vehement schüttelte sie mit ihren Kopf. Das würde nicht passieren. Nicht hier und nicht heute oder irgendwann. Dafür würde sie sorgen. „Schön hiebleiben… Ich kümmere mich später um dich“, flüsterte sie den versteckten Schnellhefter zu. So groß die Furcht auch war, die Spannung auf die Geschichte war größer. Lola würde Lincolns Comic noch lesen. Aber ein anderes Mal. Sie schnappte sich eiligst den kleinen Comic von Lincoln und Ronnie Anne, verbarg dieses hinter ihrem Rücken und schlich sich zügig aus Lincolns Zimmer. Sie hatte gerade noch genug Zeit, um die Tür hinter sich halbherzig zu schließen, bevor Lana schon die letzte Stufe der Treppe hinter sich gelassen hatte und sie erblickte. „Hallo Lana… Wie war deine Runde mit Lynn?“, erkundigte sich Lola möglichst natürlich bei ihrer Schwester. Doch irgendetwas schien Lana stutzig zu machen. Der verwirrte Blick, den sie ihr zu warf, war Anhaltspunkt genug dafür gewesen. Interessiert beobachtete Lana ihre Schwester eine Weile. Warum wirkte sie so nervös? Sie schaute an Lola vorbei und bemerkte schnell, dass Lincolns Tür einen Spalt weit offen stand. Hatte er vergessen sie ordentlich zuzuziehen? Ihr Blick wanderte zurück auf ihre Schwester, die scheinbar etwas hinter ihren Rücken verbarg. Eine leise Ahnung machte sich bei ihr breit. Doch diesmal wollte Lana die Sache anders klären. Sie hatte keinen Bock darauf, dass Lincoln erneut tagelang nichts mit ihr unternehmen wollte, weil ihre Zwillingsschwester wieder Mist gebaut hatte. Vielleicht sollte sie Lola einfach ignorieren und Lincoln sagen, dass Lola etwas aus seinem Zimmer geklaut hatte. Dieser Gedanke war genial. So konnte Lincoln sich persönlich darum kümmern und er hatte keinen Grund sauer auf sie zu werden, wenn etwas schieflaufen sollte. Zum ersten Mal würde die Schuld dann nur Lola alleine treffen. Plötzlich wusste Lana, was zu tun war. „Und... Sag schon." Unlängst wirkte Lola furchtbar nervös. Das lange Schweigen Lanas wurde ihr allmählich unangenehm. Hoffentlich hatte sie keinen Verdacht geschöpft. „Ganz ehrlich… Es war die Hölle“, antwortete Lana schließlich. Lola fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte also wirklich nichts bemerkt. „Aber ich habe unser Brettspiel natürlich nicht vergessen. Ich will mir nur schnell neue Sachen überziehen und dann können wir dort weitermachen, wo wir vorhin aufgehört haben. Das habe ich dir doch versprochen. Oder etwa nicht?“ Entgegen ihrer Vermutung schien sich Lola nicht darüber zu freuen, denn ihr Blick wirkte plötzlich erschrocken. „Macht es dir etwas aus, wenn ich zuerst gehe?“ erkundigte sich Lola bei ihrer Schwester. Das begründete Lanas Verdacht ausreichend. „Unser Zimmer ist nicht das Badezimmer. Willst du etwas vor mir verstecken?“, fragte sie beiläufig. Wie gerne hätte sie jetzt ein Foto von Lola geschossen. Ihr Gesichtsausdruck war einmalig gewesen. „Natürlich nicht… Wie kommst du darauf?“, brachte Lola geradeso über ihre Lippen. Ihre Nervosität war unmöglich zu übersehen gewesen. Was hatte sie Lincoln wohl geklaut? „Was denkst du Hopps? Wollen wir zulassen, dass Lola etwas vor uns versteckt?“, fragte Lana ihren kleinen Frosch, der ihr selten von der Seite wich und sich für gewöhnlich unter ihrer roten Mütze verbarg. Auch heute war das nicht anders. Ein unschuldiges Quaken war zu hören gewesen, bevor Lana sagte: „Nur zu, Lola. Geh nur und mach dein Ding.“ „Ich will nichts von dir verstecken… Ehrlich“, antwortete ihr Lola. Schneller als Lana bis drei zählen konnte, war Lola auch schon in ihrem gemeinsamen Zimmer verschwunden. Natürlich stehst darauf bedacht, dass ihre Schwester keinen Blick hinter ihren Rücken werfen konnte. Ein amüsiertes Lächeln umspielte Lanas Mundwinkel. Lolas Verhalten war schon irgendwie amüsant. „Ob sie wohl jemals aus ihren Fehlern lernt?“, fragte Lana sich selbst, doch Hopps antwortete ihr mit einen fröhlichen Quaken. „Du hast ja so Recht, Hopps... Ganz bestimmt nicht.“ Brav wartete Lana darauf, bis ihre Schwester ein geeignetes Versteck für Lincolns Hab und Gut gefunden hatte, und wieder aus dem Zimmer gekommen war, bevor sie selbst es betrat, um sich frischgewaschene Klamotten überzuziehen. Lana mochte es zwar, wenn sie schmutzig war, aber ihre durchgeschwitzte Kleidung wollte sie dennoch so schnell wie möglich loswerden. Nicht dass sie sich am Ende noch erkälten würde. Jetzt wo sie nicht mehr in Bewegung war, spürte sie das kalte Nass ihrer Kleidung deutlich auf ihrer Haut. „Wir treffen uns unten“, sagte sie noch zu ihrer Schwester und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Egal wie neugierig Lana auch war, sie nahm sich fest vor, nicht nach Lincolns Sachen zu suchen, auch wenn sie diese bestimmt schnell gefunden hätte. Am Ende würde das Wissen darum, um was es sich handelte, ihren Entschluss ins Wanken bringen. Und das konnte sie unmöglich zulassen. Diesmal wollte Lana die Erwachsene sein Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)