Bruder von Lady_Ocean ================================================================================ Prolog: Vergangenheit --------------------- “Wei Ying.” Lan Wangjis Stimme sickerte mit Verzögerung in Wei Wuxians in Watte gepackten Kopf. Er hatte gewusst, dass seine erste Rückkehr an diesen Ort ihn empfindlich treffen würde. Deshalb hatte er sie so lange hinausgezögert. Aber wenigstens zum Totenfest musste er einfach hier sein. “Wei Ying”, erklang Lan Wangjis sanfte Stimme erneut. Ich weiß. Es war Zeit zu gehen. Sie hatten die Gräber gesäubert, Räucherstäbchen angezündet und Totengeld verbrannt. Wei Wuxian hatte in die Stille hineingebetet, wissend, dass seine Gedanken niemanden mehr erreichten, und es ließ ihn verloren zurück, riss kaum geschlossene Wunden wieder auf. Die Seelen der verstorbenen Wen, seines kleinen Dorfes, das ihm kostbare Momente der Normalität geschenkt hatte in der schwersten Zeit seines Lebens, waren in den Kreislauf der Wiedergeburt zurückgekehrt. Er wusste, dass sie ihm nichts nachtrugen, dass sie ihm dankbar dafür waren, dass er sie aus der Unterdrückung der Jin gerettet und ihnen eine neue Chance auf Leben gegeben hatte. Dennoch hatte er sie im Stich gelassen. Sein Hochmut war ihr aller Untergang geworden. Er hatte ihnen nie sagen können, wie leid es ihm tat, und er würde es auch niemals können. Eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter, erdete sein aufgewühltes Gemüt. Wei Wuxian ließ sich an Lan Wangjis Brust ziehen, schöpfte Kraft aus dem stillen Trost. Er schluckte schwer. Die Brust, auf der das Mal der Sonne prangte, das Lan Wangji sich im Schmerz des Verlusts selbst eingebrannt haben musste. Dreiunddreißig Peitschenhiebe. Drei Jahre lang war er bewegungsunfähig gewesen. Welch unsäglichen Schmerz musste er dreizehn endlose Jahre lang erlitten haben. Wei Wuxian griff nach dem Arm, der sich um seinen Bauch geschlungen hatte. “Ich bin so blind gewesen.” Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. “Dein Herz ist nie vom Weg abgekommen. Du hast dein Bestes gegeben.” “Es hätte besser sein müssen.” “Jetzt ist es besser.” Lan Wangjis linker Arm glitt von Wei Wuxians Schulter, strich zärtlich den Oberarm hinab, schlängelte sich unter der Hand hindurch und umfasste Wei Wuxians Brust, zog ihn enger an sich. Wei Wuxian wusste nicht, ob Lan Wangji von den Wen oder von ihm oder von sich selbst sprach. Vielleicht alles irgendwie. Wären ihre Rollen vertauscht, würde er genauso denken. So, wie er auch den Verlust seines goldenen Kerns hinter sich gelassen hatte und Jiang Cheng nur bitten konnte, ebenfalls loszulassen. Doch solange die Schuldgefühle ihn begleiteten wie ein Schatten, ging diese Rechnung nicht auf und keine noch so gut gemeinten Worte konnten etwas daran ändern. Wohin mit dieser Last, wenn niemand sie sehen wollte? Ob er es Jiang Cheng am Ende nur schwerer gemacht hatte mit seiner Bitte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen? Jiang Cheng hatte sich oft genug darüber aufgeregt, er hätte einen Heldenkomplex. Allmählich hatte Wei Wuxian das Gefühl, er verstand, was dieser gemeint hatte. Kapitel 1: Versprechen ---------------------- Jiang Cheng durchbrach die letzte Barriere wilder Zombies, seine Arme längst bleiern und taub vom stundenlangen Niedermähen dämonischer Kreaturen, Sandus grelles violettes Leuchten unter den zahllosen Schichten an Schmutz, Schleim und Hautfetzen kaum noch zu erahnen. Erschöpft lehnte er sich für einen Augenblick an den Eingang der Höhle, die die letzte Bastion des Yiling-Patriarchen darstellte, zwang seine Atmung in einen ruhigeren Rhythmus. Irgendwo inmitten dieses Chaos hinter ihm kämpften noch immer die Mitglieder seines Clans zusammen mit ihren Verbündeten, den Lin und Nie. Er hatte längst alle aus dem Auge verloren. Was für ein mieser Clanführer ich bin. Aber jetzt war nicht die Zeit, um zu reflektieren oder Schwäche zu zeigen. Er musste diesem Terror ein Ende bereiten! Sobald die Wurzel allen Übels aus der Welt geschafft war, würde das Toben auf den Grabhügeln enden. Das war der einzige Weg, und er führte direkt hinunter in den schwarzen Schlund, aus dem beständig feine Schwaden diabolischer Yin-Energie strömten. Jiang Cheng erneuerte den Griff um sein Schwert, stützte sich von der Höhlenwand ab und hiefte sich weiter. Es war nicht nur die Verantwortung für seinen Clan, die ihm ungeahnte Kräfte verlieh. Seine Lippen pressten sich mit grimmiger Genugtuung zu einem blutleeren Schlitz zusammen. Er war der Erste hier. Er würde diesem Bastard den Todesstoß versetzen. Er würde ihm heimzahlen, ihm Yanli, seine geliebte Schwester geraubt zu haben! Wei Wuxian!! Dort saß er, der Dämonenfürst, umhüllt von tiefschwarzen Schwaden, die Augen leuchtend in diesem irren Rot, welches der Welt der Kultivatoren das Fürchten gelehrt hatte, gebeugt über ein kaum handtellergroßes, pulsierend leuchtendes Objekt, dem er beständig schwarze Energie einflößte. Als ob Jiang Cheng ihn mit dem verfluchten Yin-Tiger-Amulett noch mehr Schaden anrichten lassen würde! Jiang Cheng stürmte voran, riss Sandu hoch und durchbrach das letzte Siegel, das ihn von seiner Nemesis trennte. Mit einem Knall, der die Höhlenwände erzittern ließ, zerbarst die Barriere, und erst jetzt bemerkte der Dämonenfürst in ihrem Zentrum den Eindringling. Wei Wuxians rechter Arm schnellte hoch, mit einem donnernden “NEIN!!” jagte er dunkle Energie in Jiang Chengs Richtung. Doch die Tentakel kamen nicht weit. Wellen schwärzester Energie pulsierten aus dem Tiger-Amulett, erfüllten die Höhle, durchdrangen Jiang Chengs Körper und raubten ihm den Atem. Wei Wuxians Tentakel schlugen einen Haken, attackierten nun das immer greller aufleuchtende Siegel, doch offenbar ohne Wirkung. Der Yiling Patriarch warf sich darüber,  riss erneut den Kopf hoch und brüllte, schrill, die Augen panisch aus den Sockeln tretend: “VERSCHWINDE!!” Die negative Energie wurde zurück in das Amulett gesogen, zusammen mit Wei Wuxians eigenem Qi, komprimierte sich zu einem gleißenden Strahlen, so durchdringend, dass es selbst den Körper seines Schöpfers durchleuchtete - um sich im nächsten Augenblick in einer ohrenbetäubenden Detonation zu entladen.   “WUXIAN!!!” Jiang Chengs donnernde Stimme riss den Traum in Fetzen, doch seine schattenhaften Krallen hielten ihn eisig umklammert. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, sein gesamter Körper zitterte und war von kaltem Schweiß überzogen. Und noch immer sah er nichts anderes als diesen panischen Blick, hallte dieser letzte verzweifelte Schrei in seinen Trommelfellen wider und wider. Der Moment, als das Siegel außer Kontrolle geriet und seinen Meister in so kleine Teilchen zersetzte, dass nicht einmal ein Haar übrig geblieben war, war unbarmherzig in seinen Geist gebrannt. Jiang Cheng schloss die Augen, bedeckte Mund und Nase mit einer Hand und konzentrierte sich darauf, die Übelkeit niederzukämpfen. Es war nur ein Traum. Doch die Eindrücke waren so real wie in jener Nacht, und statt zu verblassen, wurden sie mit jedem Mal intensiver. Er schwang die Beine aus dem Bett, warf sich einen einfachen Umhang über und wie von selbst führten ihn seine Schritte zu den Gemächern seiner Geschwister. Egal, wie lange sie schon fort waren - Jiang Cheng hatte es nie über sich gebracht, die Zimmer für neue Zwecke umbauen zu lassen. Dabei war gerade das von Wei Wuxian nichts als eine Farce. Die alten Bilder, seine Basteleien, die Kritzeleien an seinem Bett waren ohnehin längst fort, den Flammen zum Opfer gefallen, als sein Clan den Wens in die Hände gefallen war. Alles, was danach kam, war eher steril geblieben. Wei Wuxian war nicht mehr derselbe gewesen. Keine Kritzeleien mehr, keine Spiele, keine schmutzigen Heftchen. Er hatte sich einzig in seinen skurrilen Experimenten vergraben und alles mitgenommen, als er ihm und dem Clan den Rücken gekehrt hatte. Den kläglichen Rest, der zurückgeblieben war, hatte Jiang Cheng persönlich zu Kleinholz verarbeitet, nachdem Yanli seinem Leichtsinn und seiner Überheblichkeit zum Opfer gefallen war. Und erst vor fünf Monaten wieder aufbauen lassen, nachdem sich der Staub vom Vorfall im Guanyin-Tempel etwas gesetzt hatte. Wuxians Zimmer? Was für ein heuchlerischer Witz! Lange Zeit war Chenqing das einzige Überbleibsel seines früheren Bruders gewesen. Nun war die Geisterflöte zurück bei ihrem Besitzer und das Schwert Suibian hatte ihren Platz eingenommen. Jenes durchbohrte er nun mit hasserfüllten Blicken, die Hände auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten geballt, vor Zorn bebend. “Bastard!”, zischte er durch zusammengebissene Zähne. “Warum verfolgt mich dein verdammter Schatten immer noch?” Warum ausgerechnet dein goldener Kern? Und dann verschwindest du mit so 'ner Ansage, dass das alles nicht mehr von Bedeutung ist?! Am liebsten würde er ihm seine Faust ins Gesicht rammen, doch in Ermangelung des eigentlichen Zieles seiner Wut diese an Suibian auszulassen, machte selbst in seiner jetzigen Rage wenig Sinn. “Wie mickrig soll ich mich neben dir eigentlich noch fühlen? Du mit deinem arroganten Heldensyndrom! Ich hab nie darum gebeten, deinen verfickten Kern zu bekommen!” Wie jede Nacht lieferte er sich einen erbitterten Kampf mit den Tränen. Er hasste sie. Hasste die Sentimentalität, die Schwäche, die sie verrieten. Hasste Wei Wuxian dafür, ihn in solch einen miserablen Zustand zu versetzen. Die Explosion am Grabhügel hatte ihn zerbrochen. Die Panik, als er von Nie Mingjue, Jin Guangshan und den Anhängern ihrer Clans umringt war, stand jener verhängnisvollen Nacht, in der er seine Mutter, seinen Vater, seinen Clan, seine Heimat - sein gesamtes Leben verloren hatte, in nichts nach. Der Schock war erstickend. “Zerfetzt. Von seinen eigenen Dämonen”, bekam er schließlich herausgewürgt, als er das Bewusstsein wiedererlangte und die Fragen nach den Geschehnissen in der Höhle auf ihn niederprasselten. Zahllose Hände versorgten mit heilendem Qi seine Wunden, beruhigten seine Atmung und stabilisierten seinen goldenen Kern. Er wäre beinah einer Qi-Entartung erlegen. Er hatte es nicht ertragen. Es konnte nicht wahr sein. Es DURFTE nicht! Und so tat er das Einzige, wozu er in diesem Zustand totaler Verlorenheit fähig gewesen war: die ganze Sache neu zu interpretieren. Wei Wuxian hatte die Macht des Amuletts auf ihn losgelassen. Sie war ihm außer Kontrolle geraten und im letzten Moment hatte er sich über das dämonische Artefakt geworfen, um ihn mit sich in die Hölle zu reißen. Der panische Blick? Der verzweifelte Schrei? Alles Einbildung. Ein Trick seines schwachen Herzens, das offenbar immer noch nicht akzeptieren wollte, dass Wei Wuxian der dämonischen Macht doch verfallen war, diese ihn über seinen Hochmut in solch ein Monster verwandelt hatte. Dreitausend Kultivatoren hatte er hingerichtet in der Nachtlosen Stadt, kaum mehr von einem wilden Zombie zu unterscheiden, blutüberströmt, schreiend, jaulend, mit blanken Händen Berge von Flüchtenden und Toten in Stücke reißend. Das war es, was aus Wei Wuxian geworden war. Mit dieser Überzeugung war endlich Ruhe eingekehrt in sein Gemüt und er hatte Wei Wuxian dreizehn Jahre lang aus ganzem Herzen hassen können für all das, was dieser Bastard ihm genommen hatte. Bis er wieder aufgetaucht war und sein penibel zurechtgelegtes Weltbild aus den Fugen brachte. Mit seiner immerwährenden dämlichen Angst vor Hunden, seiner Sorge um Jin Ling. Der erneuten Eskalation am Grabhügel und seiner dummen Aktion mit dem Geister-anziehenden Talisman als der ewige Märtyrer, der er war. Und als wäre dem nicht schon genug, tauchte diese Pest von einem Wen mit Suibian auf und schleuderte ihm die Wahrheit über den goldenen Kern seines einstigen Bruders ins Gesicht. Es hatte die ganze verfickte Welt auf den Kopf gestellt! Jiang Cheng wusste nicht mehr, was er tun oder auch nur denken sollte. Er wollte sich diesen Frust von der Seele schreien. Seine Hände um eine Kehle schließen, bis all der Zorn aus ihm geblutet wäre. Nur um wessen? Wen Nings? Hanguang Juns? Wei Wuxians? Für die Albträume, die dieser Bastard ihm bescherte? Seit einem halben Jahr hatte Jiang Cheng keine ruhige Nacht mehr verbracht, Übelkeit und Herzrasen waren seine ständigen Begleiter. “Und dann besitzt du auch noch die Dreistigkeit, einfach deines Weges zu gehen. Und ich? Was soll ich bitteschön tun? Egoistischer Bastard!” Doch Suibian blieb so stumm wie eh und je. Langsam verebbte Jiang Chengs Zorn und ihm wurde wieder klar, wie lächerlich er sich benahm. Zum Glück schlief der Lotus-Pier um diese Zeit, und die gesamte Jiang-Residenz sowieso. “Wasser-Ghouls greifen an!”, schallte es plötzlich durch die Nacht. “Wo ist Clanführer Jiang?” Sofort entwickelte sich ein ganzes Chaos aufgeregter Stimmen. “In seinen Gemächern habe ich ihn nicht gefunden!” “Sucht weiter!” … Jiang Chengs rechte Augenbraue zuckte. Wasser-Ghouls? Solch ein Aufstand wegen ein paar Wasser-Ghouls? Wofür trainierten sie eigentlich, wenn wegen jeder Lappalie nach ihm geschrien wurde?! Unfähiges Pack! Ab morgen wird das Trainingsprogramm verdoppelt! Ruckartig stand er auf, drauf und dran, in sein Zimmer zurückzustürmen, um sich Sandu zu schnappen. Doch nach dem ersten Schritt hielt er inne. Zögerlich warf er einen Blick über die Schulter zurück, wo Suibian  auf seinem Ständer ruhte und Wei Wuxians Stimme ihm einladend zuflüsterte: ‘In Zukunft wirst du der Clanführer sein und ich bin dein Untergebener. So wie Gusu Lan seine zwei Jadeprinzen hat, hat der Yunmeng Jiang-Clan seine zwei stolzen Helden!’ Jiang Cheng schnalzte brüsk mit der Zunge. Wird Zeit, dass du dein Versprechen einlöst, Bastard. In einer fließenden Bewegung ergriff er das Schwert und stürmte nach draußen, um der nächtlichen Störung ein Ende zu bereiten. Kapitel 2: Langya ----------------- “Sizhui? Bist du liebeskrank? Trinkst du heimlich Emperor’s Smile?”, neckte Wei Wuxian seinen Schüler lautstark, als er die Tür zum geschäftigen Studierzimmer aufriss, und genoss es, wie sein Ziehsohn schlagartig die Farbe einer gekochten Garnele annahm. “N-nein! Verehrter Senior Wei, bitte verzeiht diesem unnützen Schüler, dass der Abschlussbericht immer noch nicht fertig ist.” Hastig sortierte Lan Sizhui die Blätter neu, die er bei Wei Wuxians effektvollem Eintritt durcheinandergewirbelt hatte. Bei seinem Studium zum Gruppenführer machte er gute Fortschritte, weshalb er seit neuestem für die Zusammenfassung der Erkundungsberichte der jüngeren Kultivierer verantwortlich war. Von der Neugier gepackt, spähte Wei Wuxian über die zahlreichen Zettel. Mit so vielen Berichten hätte er gar nicht gerechnet. “Was hält dich denn so lange auf?” “Vielleicht bin ich nur übermäßig nervös, aber irgendetwas stimmt nicht”, erklärte sein Schüler, dankbar für den Themenwechsel. “Bei Guangling wurde ein Massengrab geschändet.” Wei Wuxian zog eine Augenbraue hoch, forderte Sizhui stumm auf fortzufahren. Dieser reichte ihm eines der Blätter und erklärte: “Es gibt dort nichts zu plündern. Keiner der Toten hat Angehörige, nicht einmal ein anständiges Grab. Es ist ein Friedhof für Heimatlose, Ausgestoßene und Verbrecher. Einzig Kultivatoren, wenn sie entsprechend entlohnt werden, betreten gelegentlich den Friedhof, um die negative Energie ein Stück weit zu neutralisieren. Sonst wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie Zombies, Monster oder Yao hervorbringt. Aber seit der Plünderung ist die gesamte dunkle Energie wie weggefegt. Es heißt, das Qi sei dort im Moment so rein wie bei unseren Gräbern.” “Oho!” Wei Wuxians zweite Augenbraue wanderte ebenfalls in die Höhe. Er stützte sich auf seinen rechten Ellbogen, machte es sich bequem. Das hier könnte eine längere Unterhaltung werden. “Dann das hier.” Sizhui reichte ihm zwei weitere Blätter. Während Wei Wuxian sie überflog, hörte er mit einem Ohr den Ausführungen seines Schülers zu. “In den Wäldern um Lanling wurden seltsame Tierkadaver gefunden.” “Inwiefern seltsam?” “Vögel, Nagetiere, zwei Marderhunde und ein Reh. Ein ziemlich junges sogar, und gesund. Die Todesursache aller Tiere ist unklar. Das Reh hatte eine Bisswunde am Hals, aber nicht lebensbedrohlich. Das kommt in der Natur bei Revierkämpfen oder Fressfeinden öfter vor. Darüber hinaus gibt es keinerlei Anzeichen, woran die Tiere gestorben sein könnten. Aber sie alle wirkten … ausgezehrt. Vertrocknet. Und auch sie strahlten keinerlei negative Energie aus.” “Interessant!” Wei Wuxians Feuer war entfacht. “Körper, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind, strahlen normalerweise besonders viel negative Energie ab, da die Todesumstände mit viel Leid, oft auch Rachegelüsten verbunden sind. Tiere sind da nicht anders als Menschen. Du vermutest also, das hängt mit dem Friedhof zusammen?” Sizhui nickte fest. “Ein Friedhof, auf dem es nichts zu plündern gibt, gesunde Tiere, die ohne ersichtliche Verletzung sterben. Und alle strahlen Yang aus. Das kann kein Zufall sein. Also habe ich nachgeforscht. Aber es gibt keinerlei Berichte, dass in den letzten Wochen oder Monaten Kultivatoren diese Gegenden bereist und das Tierreich geläutert hätten.” “Kultivatoren könnten das negative Qi reinigen”, stimmte Wei Wuxian seinem Schüler zu. “Aber wozu sollte sich irgendjemand mit Kleintieren aufhalten? Und von einem weiteren Heiland wie unserem Lan Zhan hätten wir gehört.”  Sizhui nickte. “Solange diese Tiere keine Bedrohung für Menschen darstellen, wird niemand nach einem Kultivator schicken. Es ist erstaunlich, dass sie den einfachen Menschen überhaupt aufgefallen sind.” “Wer hat sie denn entdeckt?” “Dorfbewohner, die in der Nähe der verendeten Tiere leben. Jingyi hat auf einer Patrouille mit einem Mann gesprochen, dessen Sohn die toten Vögel eingesammelt hatte. Der Junge hatte die Tiere wohl als Spieltrophäe mit nach Hause gebracht, aber dem Vater war der unerklärliche Tod unheimlich. Sie haben die Tiere dann auf den Misthaufen geworfen, wo Jingyi sie inspizieren konnte und die fehlende negative Energie festgestellt hat.” “Einen Kultivator können wir also wahrscheinlich ausschließen. Hast du noch andere Vermutungen?”, nahm Wei Wuxian den vorherigen Faden der Unterhaltung wieder auf. Sizhui zögerte. “Vielleicht …” “Hm?” “Vielleicht gab es aber doch einen Kultivator, der sich um die Tiere gekümmert hat”, setzte Sizhui schließlich zögerlich fort. “Aber das Massengrab …” Er schüttelte den Kopf. “Es ergibt keinen Sinn. Warum sollte ein Kultivator einen Friedhof für Verbrecher aufgraben, bevor er den dortig angestauten Groll neutralisiert?” Wieder blickte Sizhui auf seine Unterlagen, biss sich in angestrengtem Nachdenken auf die Unterlippe. “Wenn ich es gewesen wäre, hätte ich euch mitgenommen!”, scherzte Wei Wuxian. “Ich weiß”, antwortete Sizhui unverändert ernst. “Der Kultivator - wahrscheinlich war es ein Kultivator - ist auch längst tot.” Er überreichte Wei Wuxian ein weiteres Dokument. “Nahe Shangqiu wurde ein menschlicher Leichnam gefunden. Gleiche Umstände wie die Tiere in der Ostregion. Zum Zeitpunkt der Entdeckung war der Körper bereits bis zur Unkenntlichkeit verrottet, die Kleidung war kaum noch zu erkennen. Aber an den Rändern der Ärmel waren Ansätze eines Wolkenmusters zu erkennen und der Gürtel hatte eine dunkle Farbe, möglicherweise violett. Es könnte sich um einen Kultivator der Moling Su-Sekte gehandelt haben.” “Habt ihr schon dort nachgefragt?”, hakte Wei Wuxian nach. “Vorgestern, ja. Offenbar wird tatsächlich ein Clanmitglied vermisst. Und sie haben uns beschuldigt, dafür verantwortlich zu sein.” Ein frustriertes Seufzen folgte, das in einen gequälten Ausdruck überging. “Verehrter Senior Wei, ich fürchte, ich habe ein Hornissennest aufgestochen.” Doch Wei Wuxian machte eine abtuende Handbewegung. “Gegen Leute, die nur Streit suchen, keine Gerechtigkeit, ist kein Kraut gewachsen. Irgendeinen Anlass finden die immer. Diskussionen bringen dich hier nicht weiter, also konzentriere dich einfach auf das, was du tun kannst. Wenn es dir gelingt, diesen Fall aufzuklären, verlieren sie ohnehin ihre Angriffsgrundlage.” Sizhui nickte, die Funken seines Eifers erneut geschürt. “Also diese Person ist ebenfalls gestorben, ebenfalls ohne einen Rest von Groll, und der Reaktion der Moling Su-Sekte nach muss es sich um einen ihrer Kultivatoren gehandelt haben”, fasste er noch einmal zusammen. “Ein Problem ist, dass alle bisher gefundenen Kadaver bereits so gealtert waren, dass sich nicht konstruieren lässt, in welcher Reihenfolge sie gestorben sind, welche Route dieses Unheil eingeschlagen hat. Ich kann nur das ungefähre Gebiet eingrenzen, und das erstreckt sich von Moling über Shangqui bis nach Langya.” “Was habt ihr denn in Langya gefunden?” Langya lag unmittelbar vor Langling - direkt vor Jin Lings Haustür. Sein Neffe hatte es unter den claninternen Machtkämpfen und Jin Guangyaos Skandalen schwer genug. Wei Wuxian wollte ungern eine weitere Sorge in Jin Lings Umgebung wissen. “Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob Langya mit diesen Vorfällen zusammenhängt”, begann Sizhui. “Über einen Kadaver ohne negative Energie wurde dort noch nicht berichtet. Aber ein riesenhaftes Wildschwein hat wohl den örtlichen Friedhof zerstört und auch in der Stadt gewütet. Die Residenz der Kaufmannsgilde wurde zerstört, und ein Freudenhaus.” “Geiz, unglückliche Frauen und niederträchtige Freier”, griff Wei Wuxian Sizhuis Gedankengang auf, woraufhin dieser nickte. “Orte mit starker Negativität.” “Gab es Opfer?”, hakte Wei Wuxian nach. “Über zwanzig. Fünf Wachposten, die die Gilde gesichert hatten, acht Händler sowie neun Frauen und Männer des Freudenhauses. Dann traf wohl Verstärkung vom Langling Jin-Clan ein, aber das Wildschwein hat sie ebenfalls verletzt und konnte fliehen. Später sind die beiden Kultivatoren ihren Verletzungen erlegen.” Die Aufzählung wischte den Schalk aus Wei Wuxians Gesicht. “Das ist ein beträchtlicher Schaden.” Seine Gedanken waren bei Jin Ling, seinem Neffen, und den zahlreichen Gefahren, in denen er jedes Mal nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen war. Im Kampf gegen die göttliche Statue auf dem Berg Dafan. Im Säbelgrab des Nie-Clans. In der Geisterstadt Yi. Im Guanyin-Tempel. Jin Ling hatte einen äußerst ungesunden Drang, sich beweisen zu müssen, und überschätzte sich dabei regelmäßig. Jetzt, wo das Amt des Clanführers auf seinen Schultern lastete und die Schmach seines Vorgängers und Onkels Jin Guangyao zu einem vernichtenden Schwund an Mitgliedern geführt hatte, konnte diese Angewohnheit nur schlimmer geworden sein. Und Hilfe? Selbst wenn Jin Ling nicht zu hochmütig wäre, sie zu erbitten, würde niemand diesem Clan, der zum Gespött der gesamten Kultivatorenwelt geworden war, zu Hilfe eilen. “Du hast recht, dass die Hinweise zu dünn sind, um sie zweifelsfrei mit dem fehlenden negativen Qi in Zusammenhang zu bringen. Aber ich würde mir dieses Wildschwein trotzdem gern ansehen.” Wei Wuxian erhob sich und mit dieser fließenden Bewegung kehrte auch das übermütige Grinsen in sein Gesicht zurück. “Lust, einen Freund zu besuchen?” Sizhui erwiderte den Blick mit einem aufrichtigen Lächeln. “Er wird nicht begeistert sein.” “Hält dich das davon ab?” Sizhui gluckste. “Nein. Ich gebe Jingyi Bescheid. Aber Onkel Ning lassen wir diesmal lieber zu Hause. Ich möchte ihn ungern in der Nähe wissen, falls sich dort doch das Groll fressende Monster herumtreibt.” Kapitel 3: Hilferuf ------------------- Langya bot einen wahrlich bemitleidenswerten Anblick. Der Trümmerhaufen, welcher einst die Residenz der Kaufmannsgilde gewesen war, wirkte eher, als sei sie vom Xuanwu des Gemetzels niedergetrampelt worden als von einem Wildschwein. Wie groß muss dieses Tier gewesen sein? Das Bordell sah kaum besser aus. Und zahlreiche weitere Schäden wie knöcheltiefe Furchen in der Straße, niedergerissene Zäune, eingeknickte Balken und Dächer und Dellen in Häuserwänden zeugten von dem Weg, den das Ungetüm durch die Stadt genommen hatte. Vor dem Krankenlager stapelten sich die Verletzten, obdachlos Gewordene bettelten um eine Schüssel Reisbrei. Kinder weinten, den Alten stand noch immer das Grauen ins Gesicht geschrieben. “Ich kann kaum in Worte fassen, wie viel uns Euer Erscheinen in unserem unbedeutenden, ärmlichen Ort bedeutet. Es ist mir äußerst unangenehm, den hochverehrten Gusu Lan-Clan um Hilfe zu bitten, ohne eine angemessene Belohnung in Aussicht stellen zu können.” Ohne Unterlass verbeugte sich das Stadtoberhaupt, während er Wei Wuxian, Lan Wangji, Lan Sizhui und Lan Jingyi zu den Schauplätzen des Unglücks führte. Wei Wuxian blieb vor dem zerstörten Tor der Kaufmanns-Residenz stehen und fuhr mit den Fingerspitzen die tiefen Kerben im Holz nach. Sie passten zweifelsfrei zu den Hauern eines Ebers, waren aber weit tiefer als gewöhnlich und in Hüfthöhe, nicht wie zu erwarten zwischen seinen Knöcheln und Schienbeinen. Das Tier musste mindestens doppelt so groß sein wie seine Artgenossen. “Überlasst dieses Wildschwein Lan Zhan und mir”, wies Wei Wuxian seine beiden Schüler an. Sowohl die physische Konstitution als auch der Grad der Kultivierung der beiden waren nicht zu unterschätzen, doch beim Anblick dieser Schäden und der Erinnerung daran, dass bereits zwei Kultivatoren ihr Leben an dieses Wesen verloren hatten, kam er nicht umhin, ein flaues Gefühl in der Magengegend zu verspüren. Jingyi wirkte alles andere als begeistert und holte bereits Luft, um zu protestieren, doch Sizhui trat mit einem schnellen Schritt vor ihn und verbeugte sich vor den beiden Älteren. “Das Dorf braucht Hilfe. Ich werde mich im Lazarett erkundigen, wie ich mich nützlich machen kann.” Lan Wangji deutete ein Nicken an. “Gute Entscheidung.” Damit war Jingyi der Wind aus den Segeln genommen. Schmollend, aber zumindest seinen Protest einstellend, fügte er hinzu: “... Ich helfe beim Wiederaufbau.” Wei Wuxian grinste und wuschelte beiden, sehr zu deren Verdruss, durch die Haare. “Macht Gusu Lan stolz!” Kaum dass ihre Schüler verschwunden waren, wandte Wei Wuxian sich voller Vorfreude an seinen Liebsten. Sein Herz schlug höher bei der Aussicht auf eine gemeinsame Jagd - nur sie allein. Wie lange waren sie nicht mehr in diesen Genuss gekommen? Er wollte gerade den Mund öffnen, als am Himmel über dem Wald eine riesige goldene Pfingstrose aufleuchtete. Das Notsignal des Lanling Jin-Clans! Jin Ling! “Lan Zhan!” Erschrocken griff Wei Wuxian nach der Hand seines Partners, doch dieser blieb stehen. “Wei Ying.” Einen Augenblick spiegelte sich Verwirrung in Wei Wuxians Blick, doch dann begriff er. Sie wussten zu wenig über die Situation. Sie wussten nicht, ob Jin Ling an dieses Wildschwein geraten war oder ob diese Notsituation anderer Natur war. Das Wildschwein könnte sich weiterhin in der Nähe des Dorfes aufhalten. Ebenso wenig war auszuschließen, dass es die einzige Bedrohung in der Umgebung war. Sie konnten Langya nicht unbewacht zurücklassen. Wei Wuxian nickte. “Ich verfolge das Notsignal, du bewachst die Stadt.” Lan Zhans Blick zeigte Zuneigung und einen Hauch Sorge. Pass auf dich auf. Mittlerweile verstand Wei Wuxian Lan Wangjis subtile Mimik genug, um nicht mehr auf die Übersetzungen von dessen Bruder Lan Xichen angewiesen zu sein. Er streckte sich nach vorn, hauchte seinem Partner einen flüchtigen Kuss auf die Lippen und stürmte los. Kapitel 4: Gefahr ----------------- Der Wald war totenstill. Als hätte sich sämtliches Leben versteckt vor der Gefahr, die ihn heimsuchte. Das völlige Ausbleiben von Kampfgeräuschen ließ Wei Wuxian das Schlimmste befürchten. Hektisch tasteten seine Blicke den Waldboden ab, während er in schwindelerregender Höhe im Zickzack durch das Geäst sprang. Wo war nur Jin Ling?! Wei Wuxian konnte ihn unmöglich übersehen haben und er musste dem Ausgangspunkt des Signals sehr nah sein. Da! Einige hundert Meter entfernt entdeckte er rechter Hand auf einer felsigen Lichtung einen reglosen Körper. Wei Wuxians Herz setzte aus. Ein ersticktes “Jin Ling!”entkam seiner Kehle, und mit einem letzten halsbrecherischen Sprint war er an seinem Ziel. Er ergriff den regungslosen  Arm - und taumelte vor Erleichterung, als er den stabilen Puls und den ruhigen Fluss des Qi unter seinen Fingern spürte. Auch Jin Lings Atmung war ruhig und gleichmäßig. “Jag mir nie wieder so einen Schrecken ein, Junge.” Wei Wuxian inspizierte Jin Lings Erscheinung. Sein Hanfu war an einigen Stellen schmutzig und zerrissen, auch die rechte Schulter und der linke Unterarm trugen Kratzer davon. Sie waren angefüllt mit negativer Energie, die sich langsam, aber stetig in Jin Lings Körper vortastete. Sein Torso war unversehrt geblieben, aber sein rechtes Bein wies ebenfalls verseuchte Kratzer auf. Suihua lag gezogen neben seinem rechten Arm. Irgendetwas hatte Jin Ling angegriffen, doch er hatte sein Leben verteidigt und den Angreifer in die Flucht geschlagen. Die Verletzungen, die er bei dem Aufeinandertreffen davongetragen hatte, waren vergleichsweise milde und konnten mit einer Reisbrei-Kompresse gut behandelt werden. Einzig um Jin Lings Kopf machte Wei Wuxian sich Sorgen. Möglicherweise hatte er sich bei seinem Sturz verletzt. Vorsichtig tastete er sich an Jin Lings Schläfe entlang, schob erst Finger, dann die Handfläche seiner rechten Hand unter den Hinterkopf, inspizierte mit seiner linken Hand den Nacken. Er erspürte eine kleine Platzwunde und ließ heilendes Qi durch seine Finger fließen. Die leichten Bewegungen schienen bereits genug Reiz zu sein, um den Jungen erwachen zu lassen. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, bildeten tiefe Furchen zwischen den Augen, die sich, begleitet von einem benommenen Stöhnen, flatternd öffneten. Kurz irrte sein Blick hin und her, doch dann sah er Wei Wuxian, erkannte ihn. Überraschung schlug in Verzweiflung um, Tränen brachen ungehemmt an die Oberfläche, Hände krallten sich in Wei Wuxians Hanfu. “ONKEL!” Wie Eiswasser ergoss sich das Wort über ihn. Was? “Hilf ihr! BITTE! Ich- OHMEINGOTT-” “Beruhige dich, Jin Ling!”, unterbrach Wei Wuxian ruhig, aber eindringlich das zusammenhanglose Gestotter. “Wer braucht Hilfe?” “Fairy!”, heulte Jin Ling auf. Seine in Wei Wuxians Kragen gekrallten Fäuste bebten, seine Atmung wurde stockend, flach, doch noch immer überschlug sich seine Stimme. “Verletzt! Ich habe- Ich- ICH WOLLTE NICHT-!” Wei Wuxian spürte, wie die negative Energie an Jin Lings Wunden erwachte, mit Eifer an seinem geschwächten Wirt zu zehren begann. Nicht gut. Jin Lings bisher recht stabiler Zustand schlug ins Bedrohliche um. Mit einem gezielten Schlag in den Nacken beförderte Wei Wuxian ihn zurück in die Bewusstlosigkeit. Eine andere Möglichkeit, seinen Geist augenblicklich in einen ruhigen Zustand zurückzuversetzen, sah er nicht. Doch statt sich wieder zu beruhigen, wurde die negative Energie nur noch unruhiger. Was zum-?! Sie fing an, nach Wei Wuxians Qi zu lecken! Wei Wuxian hatte noch nie solch eine aktive, ja, regelrecht lebendige Form von negativer Energie erlebt. Vielleicht konnte er sie aus Jin Lings Körper herauslocken? Er konzentrierte einen Teil seines Qi in seiner Handfläche und tatsächlich, die negative Energie in Jin Ling begann, sich nach dieser Quelle auszurichten. Jedoch weigerte sie sich, den Körper des Jungen zu verlassen und griff erneut die Energie des Jungen an, wenn er sich zu weit wegbewegte. Offenbar war sie sehr vorsichtig. Dann blieb ihm im Moment nur eines. Er legte sein eigenes negatives Qi über die Wunden, band es an diese peripheren Regionen und versah es mit genügend Intensität, dass es nicht von dieser fremden Macht überwältigt werden würde. So konnte er diese seltsame Energie in Jin Ling zumindest in Schach halten, bis sie zurück in Langya waren. Wei Wuxian richtete sich auf und ordnete die wenigen Informationen, die er hatte. Dem Hund war etwas zugestoßen. Ausgerechnet dem Hund. Wei Wuxian war zum Heulen zumute. Ausgerechnet Jin Lings Hund. An jede andere dieser Bestien hätte er keinen weiteren Gedanken verschwendet, aber ihm war klar, dass dieser spirituelle Hund Jin Lings einziger Rückhalt in Langling war, wenn Jiang Cheng ihn nicht gerade besuchte. Und das konnte wahrlich nicht oft der Fall sein. Als Clanführer besaß Jiang Cheng ebenso wenig wie Jin Ling die Freiheit, zu kommen und zu gehen, wie ihm beliebte. Und wie sollte er Jin Lings gebrochenen Anblick ertragen, sollte dem Hund etwas zugestoßen sein? Mit zittrigen Beinen und klopfendem Herzen wandte Wei Wuxian sich um. Aus dem Felsen, der in die kleine Lichtung hineinragte, gähnte ihm ein dunkler Höhlenschlund entgegen. Die Spur negativer Energie, die in ihn hineinführte, ließ keinen Zweifel daran zu, wo er die Gefahr und Jin Lings Hund finden würde. Er schluckte hart. Chenqing fest umklammernd, zwang er seine Beine, sich in Bewegung zu setzen. Wie sehr er es bereute, Lan Zhan in Langya zurückgelassen zu haben! Kapitel 5: Sorge ---------------- Als die Nachricht vom Angriff auf Langya Jiang Cheng erreichte, versteinerte seine Miene. Jin Ling. Er wollte nicht wie eine Glucke wirken. Aber wann immer Jin Ling in Gefahr geraten könnte, umkrallte eine unbeschreibliche Ohnmacht sein Herz und sein Kopf malte sich die wildesten Horrorszenarien aus, wie er auch das letzte Mitglied seiner Familie verlor - den Jungen, den er zur Hälfte selbst aufgezogen hatte. Konnte er nach Lanling reisen? Es würde seinen Clan verletzlich machen. Der Yunmeng Jiang-Clan hatte in den letzten Jahren ganz guten Zulauf erhalten, jüngst nicht zuletzt durch den Fall des Lanling Jin-Clans, doch seit die Zeiten mehr oder minder friedlich geworden waren, waren die Mitglieder einfach nicht mehr aus demselben Holz geschnitzt wie früher. Sie hatten keine höheren Ambitionen. Sie hängten sich nicht mehr so ins Training rein. Sie machten kaum Fortschritte. Und sie waren unselbstständig. Gut, für die paar Tage, die er in Lanling sein würde, konnte er den Clan getrost seiner rechten Hand, Shou Duanhai, und Dan Xiandan, dem ältesten Schüler überlassen. Aber was ihm am meisten Kopfzerbrechen bereitete, war der Besuch des Runan Wang-Clans, der in drei Tagen bevorstand. Es würde schwierig werden, rechtzeitig zurück zu Hause zu sein. Und schließlich war da noch Jin Ling. Wie machte er seinem Neffen den plötzlichen Besuch, noch dazu gerade während dieser brenzlichen Zeit, klar, ohne wie eine besorgte Mutter zu klingen? “Clan-Führer Jiang, Ihr solltet nach dem Rechten sehen. Wir werden schon auf den Pier und Yunmeng aufpassen”, ermutigte ihn Shou Duanhai, der ihm die Nachricht überbracht hatte. Jiang Cheng maß ihn mit einem abschätzigen Blick. “Das hast du nicht zu entscheiden.” Er wedelte mit seiner Hand, um seinem Bediensteten zu signalisieren, dass dieser sich nun entfernen könne. Es gefiel Jiang Cheng nicht, dass Shou Duanhai ihm seine Gedanken so leicht am Gesicht ablesen konnte. Aber er war ein fähiger Mann, der ihn noch dazu schon lange kannte - länger als jeder andere des Clans. Er stammte aus Yunmeng, hatte die Zerstörung durch die Wen vor vierzehn Jahren aus nächster Nähe miterlebt und sich als einer der ersten gemeldet, um beim Wiederaufbau zu helfen und das Kultivieren zu lernen. Seine spirituellen Fähigkeiten waren nicht herausragend, aber er kompensierte es mit Erfahrung und einer guten Beobachtungsgabe. Es war wohl kein Wunder, dass ihm Jiang Chengs Gedanken nicht verborgen geblieben waren. Und vielleicht hatte er ja recht. Er würde bei Rulan Wang anfragen, ob sich deren Besuch um zwei Tage verschieben ließe. Und sollte das nicht gehen, so müssten Shou Duanhai und Dan Xiandan ihre Gäste die Anfangszeit bewirten. Es wäre vielleicht eine gute Gelegenheit für die Jüngeren, um neue Erfahrungen zu sammeln. Jiang Cheng machte sich auf den Weg in seine Residenz, Vorbereitungen treffen. Auf dem Weg dahin gab er Anweisungen an die Bediensteten. “Sendet eine Mitteilung nach Lanling, dass ich in zwei Tagen in der Nähe sein werde. Morgen breche ich auf. Verstärkt die Verteidigungsanlagen. Bereitet die Quartiere für die Ankunft des Rulan Wang-Clans vor. Ich bin in ein paar Tagen zurück. Und sollte ich irgendjemanden erwischen, der sein Training vernachlässigt hat, breche ich ihm die Beine!” “Zu Befehl, Clanführer Jiang!” Die Bediensteten stoben auseinander. Jiang Cheng erreichte sein Zimmer. Aus dem Schrank suchte er einen unbenutzten Geister-Beutel und einen Speicher-Beutel, dazu ein kleines Säckchen für Heilkräuter. Seinen Talisman-Vorrat musste er auch aufstocken. Aber zuerst war das Schreiben an den Rulan Wang-Clan aufzusetzen. Und … Sein Blick glitt über Suibian. Das Schwert sollte er wohl polieren. Die Gespräche, die er mit Wei Wuxian geführt hatte, hallten in seinen Ohren wider. Wei Wuxian hatte seine Penibilität bei der Schwertpflege stets belächelt. ‘Wie oft polierst du dein Schwert denn noch?’ ‘Dreimal am Tag. Und du? Wann hast du dein Schwert das letzte Mal poliert?’ Das vertraut gewordene schlechte Gewissen schnürte ihm die Brust ein. Suibian war wie ein Teil seines Körpers! Und er hat keine Gelegenheit für einen Zweikampf ausgelassen. Warum bin ich nicht skeptisch geworden, als er so plötzlich vorgab, jegliches Interesse verloren zu haben? Doch die Gewissensbisse bezogen sich nicht allein auf Wei Wuxian. Sein Blick wanderte weiter, auf den dahinterliegenden Schwertständer, den eigentlichen Herrn dieses Hauses: Sandu. Wie ein Beschützer ragte Suibian vor ihm auf, ein Vasall, der keine Gefahr zu seinem Herrn hindurch lassen würde. Dafür war aus der ehemals gefürchteten Klinge ein betagter, träger Mönch geworden, der kaum noch das Tageslicht erblickte. ‘Ich hab es in mein Zimmer geworfen. Einmal im Monat reicht’, hallte der Rest ihres Arguments zur Schwertpflege in Jiang Chengs Ohren nach. Mit einer tiefen Verbeugung entschuldigte sich Jiang Cheng bei seiner Klinge - und seinem Vater, der sie ihm geschenkt hatte. Er würde heute beide Schwerter polieren. Das war das Mindeste, was er tun konnte, wenn er es momentan schon nicht fertig brachte, sein eigenes Schwert mit sich zu führen.   Jiang Cheng war geradewegs zu Goldschuppenplateau geflogen, nur um unverrichteter Dinge wieder umzukehren. Der Clanführer sei nicht zu Hause, hieß es. Jagte derzeit ein mutiertes Wildschwein. Nun zog Jiang Cheng Kreise über den Baumwipfeln und hielt Ausschau nach seinem Neffen. Wo steckte dieser Bengel nur? Etwas Dunkles erregte seine Aufmerksamkeit. Suibian beschrieb einen Bogen und steuerte auf den großen zottigen Kadaver am Waldboden zu. Es musste sich um das Wildschwein handeln, welches Langya angegriffen hatte. Es war wahrhaft gigantisch. Seine Borsten waren büschelweise ausgefallen, die Haut darunter war trocken und ansatzweise ledrig. Ein beißender Geruch lag in der Luft, und Jiang Cheng wollte den Berg von einem Leichnam nicht einmal mit seiner Schuhspitze berühren aus Angst, irgendeine faulige Blase aufplatzen zu lassen und vor lauter Gestank sein Frühstück wieder herauszubringen. Trotz allen Ekels zwang er sich jedoch dazu, nicht einfach kehrt zu machen und den Kadaver sowie seine Umgebung genauer zu inspizieren. Nicht nur der Zustand des Kadavers war ein einziger Widerspruch - von ihm ging auch keinerlei negative Energie aus. So sehr er sich auch konzentrierte, das Tier war rein. Die gesamte Umgebung wies kaum eine Spur Negativität  auf. Das konnte nicht sein. Positive Energie konnte nicht allein existieren. Bei einem Wesen, das eines unnatürlichen Todes gestorben war, schon gar nicht. Und kein Groll verflüchtigte sich einfach so. Es dauerte lange, bis er sich unter natürlichen Bedingungen zersetzt hatte. Ein goldenes Aufleuchten am Himmel unterbrach Jiang Cheng in seiner Inspektion. Eine goldene Pfingstrose. Das Wappen des Lanling Jin-Clans. Eisige Furcht umklammerte Jiang Chengs Herz und Kehle. Jin Ling! Suibian schoss wie ein roter Blitz aus seiner Scheide, doch als Jiang Cheng aufspringen wollte, hielt ihn ein stechender Schmerz am Knöchel zurück. Das fehlte gerade noch! Eine Schlange hatte sich in seinem Fuß verbissen. Solch ein schwaches Tier hätte eigentlich überhaupt nicht in der Lage sein sollen, das Leder seiner Stiefel zu durchbohren. Und nicht nur das: Neben dem Gift spürte Jiang Cheng, wie noch etwas anderes über die Wunde in seinen Körper strömte - dunkle Energie. Dieses Tier war verseucht davon! Was stimmt mit diesem Wald nicht?! Ein Hieb von Suibian und Schlangenkopf und -körper fielen reglos zu Boden, doch der Schaden an seinem rechten Fuß war bereits angerichtet. Das Gift brannte und fraß sich zusammen mit der negativen Energie höher. Hastig riss Jiang Cheng den Stiefel herunter, löste sein Haarband, schnürte seinen Knöchel ab und schnitt eine tiefe Wunde quer über die Bisswunde. Er regulierte seine Atmung, zwang seinen Kreislauf zur Ruhe. Die Bisslöcher befanden sich an der Außenseite seines Fußes, er erreichte sie nicht, um das Gift herauszusaugen. So konnte er nur mit weiteren Schnitten und massierenden Bewegungen nachhelfen, um möglichst viel Blut herauszudrücken. Doch noch immer quollen dichte Schwaden dunkler Energie aus dem zerschnittenen Schlangenkörper, griffen nach seiner Wunde, versuchten weiter vorzudringen. Er zog eine Handvoll Geister-anziehende Talismane aus seinem Ärmel, klatschte sie auf den Schlangenkörper und atmete erleichtert auf, als die dunklen Schwaden sich zurückzogen, seinen Körper verließen, sich in der Schlange konzentrierten. Wenigstens  etwas  Nützliches, das dieser Idiot zustande gebracht hat. Kaum dass der letzte Rest seinen Körper verlassen hatte, hob er Suibian, jagte so viel Qi in seine Klinge, dass seine rote Aura fast weiß erstrahlte, und ließ sie niederschmettern. Als der Staub sich legte, waren Schlange, Talismane und die negative Energie restlos verschwunden. Mit einem erschöpften Ausatmen ließ Jiang Cheng die Klinge sinken und widmete sich wieder seinem Fuß. Das Gift musste unter Kontrolle gebracht werden, sonst käme er hier nicht weg. Mit zwei routinierten Schlägen verschloss er die Druckpunkte für den Blutfluss um seinen Fuß, verzögerte so die Ausbreitung des Giftes, und versorgte zusätzlich die Wunde mit Heilkräutern aus seinem Speicher-Beutel. Es würde das Problem nicht lösen, seine Verschlimmerung aber zumindest lange genug hinauszögern, dass er sich zuerst dem dringlicheren Problem widmen konnte. Jin Ling. Jin Ling!!! Kapitel 6: Konfrontation ------------------------ “JIN LING!!” Jiang Cheng heulte auf wie ein verletztes Raubtier, als er seinen Neffen bewusstlos am Boden liegen sah. Er sprang von Suibian, vergaß die Taubheit seines rechten Beines, stürzte neben dem Jungen ins Laub, rappelte sich wieder auf und überprüfte Atmung und Puls. Nur bewusstlos. Tränen der Erleichterung wollten sich einen Weg nach außen bahnen, doch Jiang Cheng verbot sich solch eine Sentimentalität und untersuchte Jin Ling weiter.  Sein Atem stockte. Er wollte nicht glauben, was er hier spürte, doch die Tatsachen waren eindeutig. Das ist Wei Wuxians Werk?! Aus mehreren Wunden waberte tiefschwarze Energie. Ihre Signatur würde er überall wiedererkennen. Der Schmerz, der ob dieser Gewissheit sein Herz durchbohrte, ließ Jiang Cheng vollends begreifen, wie tief er Wei Wuxian wieder in sein Herz gelassen hatte, trotz aller Versuche, ihn und ihre schwierige Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er hatte es nicht gekonnt. In seinem tiefsten Innern hatte er an Wei Wuxians Aufrichtigkeit glauben und die Zerrüttungen zwischen ihnen überwinden wollen. Doch nun lag diese Hoffnung endgültig in Trümmern. Zittrig umklammerte er die bleiche, mit kaltem Schweiß überzogene Hand seines Neffen, presste sie gegen seine Stirn, verzweifelt um Fassung ringend, während die Welt um ihn herum zerbrach. Er hatte Wuxian vertraut. Nach über einem Jahrzehnt, das er ihn als die Verkörperung des Bösen gehasst und für all das Unheil in der Nachtlosen Stadt, für Yanlis und ZiYuans Tod verantwortlich gemacht und als Verräter an seinem Clan, seiner Familie und an ihm selbst verabscheut hatte, hatte sich seine Sicht auf die damaligen Geschehnisse zu ändern begonnen. Und mit dem Eingeständnis, dass er ihm Unrecht getan hatte, waren die Gewissensbisse gekommen, welche ihn nun Nacht für Nacht heimsuchen. Und jetzt?! Jetzt kam er sich vor wie der dümmste, blindeste Narr, den die Kultivatorenwelt je gesehen hatte, und kauerte vor dem bewusstlosen Körper seines Neffen, seines letzten Familienmitglieds. Sein Herz und sein Verstand zerrissen einander in einem erbarmungslosen Kampf, so rasend, dass es ihm die Sinne raubte. WARUM?! Sollte tatsächlich alles, was Wuxian seit seiner Wiedergeburt getan hatte, reine Heuchelei gewesen sein? Ein Spiel zum Zeitvertreib? Ein perfider Plan, um sich dem wachsamen Auge der Gesellschaft zu entziehen und seine wahren Absichten verwirklichen zu können? Jin Guangyao hätte wahrlich nicht vor solchen Mitteln zurückgeschreckt, hätte Jiang Cheng sich ihm gegenüber eine Schuld aufgeladen, wie er sie gegenüber Wuxian trug. Doch sollte Wei Wuxian am Ende aus demselben Holz geschnitzt sein? Doch je länger Jiang Chengs Blick auf der blassen, gegen die verfluchte Energie kämpfenden Gestalt seines Neffen ruhte, desto stärker sah er sich gezwungen, seinen Blickwinkel zu ändern. Der Beweis, dass er sich geirrt hatte, lag vor ihm – und wäre wahrscheinlich nicht nur verwundet und bewusstlos, sondern tot, wenn ihm nicht ein großer Zufall zu Hilfe gekommen wäre. Wahrscheinlich hatte Fairy seinen Meister in letzter Sekunde beschützt und Wuxian in die Flucht geschlagen. Wäre Jin Ling tatsächlich gestorben – Jiang Cheng hätte diesen Verlust nicht überstanden. Das war auch Wei Wuxian klar. Und gäbe es eine bessere Chance, Jin Ling zu ermorden und ungeschoren davonzukommen als während einer Nachtjagd gegen solch ein Biest? Wahrscheinlich hatte dieser Leichenschänder bei diesem dubiosen Monster ebenfalls seine Finger im Spiel gehabt und das Ungetüm auf Langya losgelassen. Denn nach allem, was Wuxian selbst widerfahren war - wie könnte er nicht nach Rache dürsten? “Wei Wuxian!!!” Seine Zähne knirschten, die Knöchel seiner zitternden Fäuste knackten vor unterdrückter Wut. Wie gerechtfertigt Wei Wuxians Hass auf ihn auch sein mochte, er würde sich nicht fügen und auf seinen Tod warten. Und ganz sicher würde er Jin Ling nicht in diese Sache hineinziehen. Das betraf allein ihn und Wuxian. Und es würde heute enden. Jiang Cheng streifte Zidian, den er inzwischen offiziell seinem Neffen vermacht hatte, von Jin Lings Finger und steckte ihn sich selbst an. Aus seinem Speicher-Beutel nahm er zwei reinigende Talismane, legte einen über Jin Lings Arm und einen über seine Schulter, wo die Verunreinigungen durch die negative Energie am intensivsten waren. Er aktivierte sie, erhob sich, zog eine schützende Barriere und ließ seinen Blick für einige weitere Augenblicke auf seinem Neffen verweilen. Dann riss er sich von dem Anblick los, folgte der dichten Spur negativer Energie bis zu einer nahen Höhle. Bitterkeit verfinsterte seinen Blick, so wie sie ihn schon einmal umklammert hatte, als er, an einen Höhleneingang lehnend, zum letzten Gefecht gegen den Yiling-Patriarchen aufgebrochen war. Zidian leuchtete gleißend hell auf, als er hineinstürmte. Der Bastard stand nur wenige Meter entfernt  und schien unvorbereitet. “Jiang Cheng? Gott sei Dank bist du hier! Hier ist-” Jiang Cheng gab nichts auf diesen lächerlichen Ablenkungsversuch und ließ die Peitsche niederschmettern. Doch statt seines Ziels sprengte Zidian lediglich eine tiefe Furche in den Fels. Wei Wuxian war im letzten Moment zur Seite gesprungen. Aber das würde ihm nicht immer gelingen. “Was soll das?!” Jiang Cheng ignorierte sein Schauspiel des Unschuldslamms. Ohne zu zögern zuckte Zidian erneut durch die Luft, ging krachend nieder, ließ die Höhle erzittern. Jedoch zerschlug er wiederum nur die Felswand. Wei Wuxian hatte sich erneut mit einem Hechtsprung in Sicherheit gebracht. “JIANG CHENG!!! Bist du wahnsinnig?!” “ICH bin wahnsinnig?!”, entfuhr es ihm, Zidian erneut nach seinem Ziel jagen lassend. “Wenn DU meinen Neffen ermorden willst?” “Was…?” Wei Wuxian entgleisten die Gesichtszüge. “Jiang Cheng, bist du dumm?” Wieder schlug die Peitsche in die Felswand ein, doch diesmal änderte Wei Wuxian seine Taktik. Kurz neben dem Einschlag kam er zum Stehen und packte Zidian mit der bloßen Hand. Ihre Qis explodierten, sandten mächtige Druckwellen durch den engen Raum. “Wie kommst du auf so einen Irrsinn?!”, rief der Dämonenmeister entrüstet, doch von solch einem billigen Schauspiel würde Jiang Cheng sich nicht täuschen lassen. “Dein Qi spricht für sich, Bastard!”, ließ er sich dennoch zu einer Erwiderung hinreißen. “Ich musste es einsetzen, sonst-” Jiang Cheng war diese Ausreden so leid! Ein weiterer mächtiger Schub seines Qi ließ Zidian gleißend aufleuchten, die Höhle erneut erbeben, und endlich begann sich das Blatt zu wenden! Wei Wuxian ging in die Knie, das Gesicht vor Schmerz verzerrt. Doch plötzlich wurde aus dem Donnern ihrer aufeinanderprallenden Energien ein knirschendes Dröhnen und Bersten, das dem tiefsten Innern des Gesteins zu entspringen schien. Beide zuckten zusammen. Risse sprengten Wände und Decke, Erde und Steine rieselten herab als Vorboten dessen, was in wenigen Augenblicken auf sie niederstürzen würde. Vergessen war der Kampf, als sie gleichzeitig zum Sprint ansetzten, um der einstürzenden Höhle zu entkommen. Doch Jiang Cheng kam nicht weit. Ein gleißender Schmerz explodierte in seinem verletzten Knöchel und brachte ihn zu Fall. Sein frustrierter Fluch wurde von der donnernden Katastrophe verschluckt, die in diesem Moment über ihn hereinbrach. Decke und Wände gaben nach, doch hörte und spürte er mehr, als dass er sah, wie die Felsbrocken um ihn herum niedergingen; Erde und Staub nahmen ihm die Sicht. Verzweifelt bäumte er sich auf, doch ein Fels schlug in seinen Rücken ein und beförderte ihn zurück in den Staub. Ich darf hier nicht sterben! Wieder versuchte Jiang Cheng auf die Beine zu kommen, raus aus dieser Hölle, irgendwie, doch er konnte die aufkommende Panik nicht länger unterdrücken. Die Schmerzen und Atemnot übermannten ihn und führten ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation unbarmherzig vor Augen. Mit einem Ruck wurde ihm die Kehle zugeschnürt, etwas riss ihn von den Füßen und  wirbelte ihn durch die staubige, steinige Luft, während unzählige kanonenharte Hiebe und messerscharfe Schnitte auf ihn niedergingen. Sein rationaler Verstand verabschiedete sich vollends, sein Überlebensinstinkt übernahm die Kontrolle, trieb jede seiner Zellen zum Äußersten. Sein Körper war wie durch einen Immobilisierungszauber zusammengekrümmt, die Arme über seinem Kopf fixiert, sein Brustkorb presste erbarmungslos erstickende Staubluft in seine brennenden Lungen, verzweifelt gegen die übermächtige Naturgewalt kämpfend. Doch der Berg zahlte erbarmungslos heim, was man ihm angetan hatte. Kapitel 7: Entscheidung ----------------------- Plötzlich herrschte Stille. Einzig durchbrochen von dem hellen Surren in seinen Ohren. Seine Ohren surrten. Er konnte Stille wahrnehmen. Ich lebe noch. Schmerzen begannen, durch seinen Körper zu pulsieren. Als hätte ihn eine Horde wilder Pferde niedergetrampelt. Und als stünden sie immer noch auf ihm. Ächzend stemmte er sich auf seine Unterarme, bäumte sich auf. Gesteinsbrocken rollten von seinem Rücken und das Atmen wurde leichter, doch ein scharfer Schmerz in seinem Fuß ließ ihn sofort wieder zusammenzucken, gefolgt von einem Hustenanfall, der ihm erneut die Sinne schwinden ließ. Seine Lungen brannten von all dem Staub, den sie aufgenommen hatten und weiter aufnahmen. Hastig hielt er sich seinen Ärmel vor das Gesicht, doch es war ein harter und langer Kampf gegen die Atemnot und Übelkeit, bis er endlich die Kontrolle wiedererlangt hatte. Irgendwie schien bei diesem Kampf sein Fuß freigekommen zu sein, denn als Jiang Cheng matt auf den kalten Felsboden zurücksackte, war zwar der pulsierende Schmerz noch da, doch die peinigende Fessel war verschwunden.  Er nahm sich Zeit für eine kurze Bestandsaufnahme. Das Geröll hatte ihn übel erwischt. Der Fuß war wahrscheinlich gebrochen. Gleichzeitig erschien es ihm wie ein schieres Wunder, dass er nicht vollends zerquetscht worden war. Offenbar hatten sich die Felsen so günstig um ihn herum verkeilt, dass ihm eine Nische zum Überleben geblieben war. “Besser?”, vernahm er eine verhasst-vertraute Stimme. Mitleidig. Oh, wie er es verabscheute! Er hatte dieses verfickte Mitleid nicht nötig! Seine zornesfunkelnden Augen wanderten nach oben und erst jetzt bemerkte er, dass die Umgebung von einem Feuertalisman zu Wei Wuxians Füßen notdürftig beleuchtet wurde. Doch selbst in diesem schwachen Licht erkannte er deutlich, wie mitgenommen auch Wuxian aussah. Seine Haltung war steif, das Gesicht angespannt, glänzend feucht und ein dünnes Rinnsal noch leicht schimmernden Blutes zog sich wie eine Furche von seiner linken Schläfe über das Kinn bis hinunter zum Hals. Jiang Cheng ballte seine rechte Hand zur Faust, stemmte sich in die Höhe. Der Schmerz in seinem Bein raubte ihm schier den Verstand und er musste sich an der Felswand abstützen, um nicht zu stürzen, doch er würde jetzt nicht nachgeben. Was auch immer ihm diese göttliche Chance beschert hatte, er würde sie nicht verstreichen lassen. Und in gewisser Hinsicht konnte er wohl von Glück reden, dass ausgerechnet sein verletztes Bein den weiteren Schaden abbekommen hatte. So konnte er das andere weiterhin voll belasten. Zidian manifestierte sich. Wei Wuxians Augen weiteten sich ungläubig. “Hast du noch nicht genug?!” Jiang Cheng quittierte es mit einem abfälligen Schnauben. Genug wäre es erst, wenn er es zu Ende gebracht hatte - und das würde hier und heute geschehen! “Ich werde Gerechtigkeit einfordern für das, was du Jin Ling angetan hast.” Die Blitzpeitsche schnellte hervor, auch wenn Jiang Cheng mit Unmut feststellen musste, dass ihre Energie nur noch ein müder Schatten ihrer wahren Stärke war. Doch es musste einfach reichen! Jiang Cheng zwang seinen bleischweren Arm nach oben und ließ Zidian mit letzter Kraft erneut niederpeitschen. Wei Wuxian sah sich fahrig um, schwankte zur Seite und riss im letzten Moment seinen Arm nach oben, um zumindest seinen Kopf vor dem Angriff zu schützen. Das Ende der Peitsche wickelte sich um seinen Armschützer, der einen Teil der Elektrizität abblockte - jedoch nicht alles. Als die violetten Blitze auf seinen Arm und Brustkorb übergriffen, zwangen ihn die Schmerzen in die Knie.  Wei Wuxian würde diesen Kampf verlieren, das konnte Jiang Cheng deutlich sehen. Zidian hatte es noch nie geschafft, so weit in seinen Körper vorzudringen, so viel Schaden anzurichten - und das trotz der Schwäche des Angriffs. Seine Hand, die den Ring führte, begann zu zittern, dann sein gesamter Arm und sein Oberkörper. Kalter Schweiß brach auf seinem Rücken aus.  War es vor Erschöpfung? Vor Schmerz, wegen seines Beines? Sollte ihm nicht eigentlich heiß sein? Was auch immer. “Lass mich nur einmal erklären, du sturer Esel!”, presste Wei Wuxian zwischen verkrampften Kiefern hervor. “Ich würde Jin Ling niemals etwas tun! Er wurde angegriffen und wir müssen dieses Biest finden und-” Ein markerschütterndes Heulen ließ beide erstarren. Eilig rief Jiang Cheng Zidian zurück und brachte humpelnd so viel Abstand zwischen sich und Wei Wuxian, wie es dieser enge Hohlraum zuließ. Was auch immer sich ihnen näherte, es würde all seine Kräfte und Waffen benötigen. – Aber vielleicht reichte auch schon ein wenig Kampfbereitschaft, damit sich das Wesen zuerst um Wei Wuxian kümmerte. Dem Laut nach musste es etwas Wolfsähnliches sein, und Wei Wuxians panisches Aufjapsen bekräftigte Jiang Chengs Einschätzung. Schlagartig wurde der ach so große Yiling-Patriarch einige Stufen blasser, krabbelte auf allen Vieren bis zum verschütteten Ausgang und rollte sich dort zu einem Ball zusammen, den Kopf eingezogen und die Arme darüber geschlagen. Jiang Cheng konnte nicht anders, als mit den Augen zu rollen. Wei Wuxian übertrieb es wieder einmal maßlos. Trieb Scherze mit wilden Zombies und machte sich bei einem Tier ins Hemd. Das Kratzen von Krallen auf dem felsigen Boden hallte von den Wänden heran. Als das Wesen in den spärlichen Schein des Feuer-Talismans trat, sah sich Jiang Cheng gezwungen, seinen ersten Eindruck zu relativieren. Dieser Wolf hatte eine gewaltige Ladung negativer Energie absorbiert, er war zu einem Yao mutiert. Trotzdem bloß ein Wolf. Jiang Chengs Körper hatte sich inzwischen so weit an den Schmerz gewöhnt, dass er wieder freihändig stehen konnte, wenn er sein rechtes Bein nicht belastete. Umsichtig sammelte er sein Qi in seinen Beinen, um notfalls flexibler agieren zu können. Er nahm Kampfhaltung ein, seine rechte Hand sachte über dem Schwertgriff schwebend, das Yao genau beobachtend, jederzeit bereit, es niederzustrecken. Wei Wuxian hingegen verlor nun vollends die Nerven, warf sich mit einem panischen Schrei gegen die Geröllwand und begann, mit seinen blanken, verbrannten Fingern daran zu scharren. “LAN ZHAN! LAN ZHAN!” Der Anblick ließ Jiang Chengs Herz erneut schneller schlagen, doch er versuchte, das irritierende Gefühl mit einem Schnauben zu zerstreuen. “Wenn du dich dem Yao auf dem Silbertablett präsentieren willst, mach nur weiter so.” Doch Wei Wuxian hörte ihn nicht. Viel zu tief war er in seinem alten Trauma gefangen. Der Anblick zerrte Erinnerungen an vergangene Tage an die Oberfläche. Erinnerungen an einen kleinen Jungen, der sich wegen eines Welpen die Augen ausweinte und in die Robe seines Vaters krallte, darum bettelnd, auf den Arm genommen zu werden. “LAN ZHAN! LAN ZHA~AN!!” Die Schreie wurden immer verzweifelter. Und das Yao war vollkommen auf dieses erbärmliche Häufchen Elend fixiert, das der Großmeister der dämonischen Lehre sein wollte. Es bleckte die Zähne, Speichel tropfte von seinen Lefzen und ein hungriges Knurren verließ seinen Hals, sich über eine besonders leckere Mahlzeit freuend. Die Erleichterung darüber, tatsächlich nicht zum Ziel des Yao geworden zu sein, wollte sich einfach nicht einstellen, und es frustrierte Jiang Cheng. Was sollte schon wieder diese unangebrachte Sentimentalität? Hatte er noch immer nicht dazugelernt? Ließ er sich noch immer von Wei Wuxians Schwächen über dessen wahren Charakter täuschen? Betont lässig gab er seine Kampfhaltung auf, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete den Fortgang des Dramas. … Und wenn er sich doch getäuscht hatte? – Nein. Jin Ling draußen vor der Höhle war der eindeutige Beweis. Bewusstlos, durchdrungen von Wei Wuxians dunkler Energie. Dennoch hätte sein Zustand nach einem Angriff eines so fähigen Kultivators nicht so stabil sein sollen. Wenn er es gewollt hätte, hätte Wuxian ihn binnen eines Wimpernschlags töten können. Hatte er seinen Neffen foltern wollen? Hatte Fairy deswegen rechtzeitig eingreifen können? Wo steckte der Hund überhaupt? Wäre es ratsam gewesen, ihn ausreden zu lassen, bevor er ein endgültiges Urteil fällte? War Jin Ling tatsächlich von einem Biest – möglicherweise diesem Wolfs-Yao – angegriffen worden, so wie Wuxian es soeben angedeutet hatte? Oder war das nichts als Lug und Trug gewesen? Könnte er Jin Ling so eiskalt missbrauchen? Erinnerungen, die Jiang Cheng eisern zurückgehalten hatte, durchfluteten seine Gedanken. Wei Wuxian, wie er im Guanyin-Tempel Jin Ling in die Arme schloss. Wei Wuxian, der am Blutsee in den Grabhügeln mit einer geisteranziehenden Flagge auf seiner Kleidung gegen eine Übermacht Untoter kämpfte, um hunderte Kultivatoren entkommen zu lassen. Wei Wuxian, der sich in der Höhle des Xuanwu vor die im Grunde fremde Luo Qingyang warf, um das Brandeisen der Wen abzufangen, welches für ihr Gesicht bestimmt gewesen war. Ein Stich durchfuhr seine Brust. Das Yao kam hinter Wei Wuxian zum Stehen, spannte seine Muskeln an und machte sich bereit zum Sprung. Sollte er Wei Wuxian glauben, aber damit Jin Ling und sich selbst womöglich in Gefahr bringen? Oder auf seine erste Eingebung vertrauen und Wei Wuxian ein zweites Mal in den Tod treiben? Wenn er die falsche Wahl traf, würde er die Konsequenzen nicht überstehen. Aber war es nicht Wunder genug, dass er überhaupt am Leben war? Wei Wuxian hätte die Flucht nach draußen schaffen müssen und trotzdem stand er hier, eingesperrt, bei Jiang Cheng. Schwankend. Verausgabt. Verletzt. Hatte er ihn aus den einstürzenden Trümmern gezogen, so wie er einst Su She aus dem Abgrund des Wasserdämons gezogen hatte, nur um selbst davon verschlungen zu werden? So wie er vor vierzehn Jahren in den Grabhügeln seinen eigenen Körper benutzt hatte, um ihn vor der Macht des Tiger-Amuletts zu schützen. Mit diesem panikverzerrten Ausdruck, der sich tief in seine Seele gebrannt hatte. ‘VERSCHWINDE!!!’ Das Biest sprang, Zähne gefletscht, Speichel spritzte aus seinem Maul. Jiang Chengs Hände reagierten von selbst, formten das Siegel, das die Seele des Schwertes befehligte. Ein roter Blitz durchzuckte die Höhle und Suibian hieb dem Wolf den Kopf ab. Kapitel 8: Bruder ----------------- Wei Wuxian war so tief in seinem Albtraum gefangen, dass er nicht einmal mitbekommen hatte, dass die Gefahr vorüber war. Die Schreie nach “LAN ZHAN!!” hallten unverändert von den Höhlenwänden. “Nun komm mal wieder zu dir!”, murmelte Jiang Cheng schließlich. Er wünschte, seine Schwester wäre hier, die in solchen Situationen immer gewusst hatte, was zu tun war. Was sollte er, Tölpel, der er nun einmal war, denn ausrichten? Damals, als Wei Wuxian mitten in der Nacht fortgelaufen war, weil Jiang Cheng gedroht hatte, Hunde auf ihn zu hetzen, hatte sie alle beide nach Hause zurückgetragen. Aber auch mit zwei unverletzten Beinen könnte er ihn wohl kaum auf seinen Rücken laden und hier heraustragen. Allein über diese Vorstellung fühlte er eine ungelenke Verlegenheit in sich aufkommen. Stattdessen versuchte er es zögerlich mit einem Händedruck auf der Schulter – einen Herzschlag lang, dann fühlte sich auch diese Geste deplatziert an und er zog seine Hand schleunigst zurück und drehte sich weg. “Ich hab dir doch versprochen, wenn ich einen Hund sehe, verjage ich ihn für dich”, flüsterte er das Versprechen, das er Wei Wuxian einst gegeben hatte.   Das erste, was Wei Wuxian bewusst wahrnahm, war die Stille. Dann, nach und nach, drangen weitere Eindrücke in seinen Geist vor und ließen ihn sich ein Bild von der veränderten Situation machen. Die Präsenz des Yao war verschwunden. Sein negatives Qi waberte diffus, aber harmlos, und löste sich auf. Jiang Cheng hatte es gerichtet. Ein roter Schwertgeist hatte es gerichtet. “Suibian?” Wei Wuxian war fassungslos. Und unsicher. Wie konnte das sein? “Wenn du dein Schwert vermisst, schicke ich es dir später zurück”, entgegnete Jiang Cheng gespielt nonchalant, doch Wei Wuxian entging der nervöse Unterton in seiner Stimme nicht. Es bestand kein Zweifel - es musste tatsächlich Suibian gewesen sein. “Das rote Leuchten war Suibian”, murmelte er halb zu sich selbst, halb zu Jiang Cheng. Er drehte sich um und es überraschte ihn nicht, dass Jiang Cheng das Schwert hinter seinem Ärmel zu verstecken versuchte. Die Frage blieb: Warum Suibian? Warum nicht Sandu? Schließlich musste wohl auch Jiang Cheng eingesehen haben, dass sein Ablenkungsversuch gescheitert war, reckte das Kinn empor und verschränkte mit versteinerter Miene seine Arme vor der Brust. “Sandus Klinge wurde bei der letzten Nachtjagd beschädigt. Wenn dein alter Zahnstocher schon bei mir rumliegen muss, kann er sich auch nützlich machen.” Wei Wuxian kannte den Erben des Jiang-Clans zu gut, um auf solch eine Ausrede hereinzufallen, vor allem, wenn dieser bereits zwei Ablenkungsversuche vorausgingen. Wenn Jiang Cheng Suibian tatsächlich ohne Hintergedanken mit sich geführt hätte, hätte er auf Wei Wuxians Feststellung geradeheraus geantwortet. Wei Wuxian musterte seinen früheren Seelenbruder schweigend. Dieser musste Suibian schon seit einer ganzen Weile den Vorzug geben, sonst hätte er es niemals in Gegenwart seines alten Meisters befehligt und dann zu verstecken versucht. Diese Tatsachen sagten mehr über Jiang Cheng aus, als dieser jemals bereit wäre, mit Worten zuzugeben. Wieder jagte ihn Jiang Chengs tränenreicher Ausbruch vor einem halben Jahr im Guanyin-Tempel. ‘Du hast gesagt, ich werde der Clanführer und du mein Untergebener! Dass du mich dein Leben lang unterstützen wirst, und solange Gusu Lan seine zwei Jadeprinzen hat, hat der Yunmeng-Jiang-Clan seine zwei stolzen Helden! Dass du mich und den Jiang-Clan niemals verraten würdest!’ Jiang Cheng trug eine ebenso rohe, blutende Wunde in seiner Seele wie Wei Wuxian. Und mit dem Zurückhalten seiner Gedanken und schließlich seiner Bitte, die Sache mit dem goldenen Kern endlich hinter sich zu lassen, hatte er sie nur weiter aufgerissen. Wie hatte er annehmen können, Jiang Cheng hätte durch ihr beider Schweigen irgendetwas überwunden, wo er selbst doch genauso wenig mit seiner Vergangenheit hatte abschließen können? “Es tut mir leid.” Doch Jiang Chengs Miene verfinsterte sich. “Vergiss es. Es ist Vergangenheit. Das hast du selbst gesagt.” Die halb vernarbte Wunde in Wei Wuxians Herzen riss auf und blutete erneut. Er schluckte schwer. Es war, als hätte man ihm einen Spiegel vorgehalten. Jiang Chengs wiederholte Fragen, warum er sich weigerte, sein Schwert zu tragen. Sein stummes Flehen, er möge ihm erklären, warum er ihn und seinen Clan vor den anderen Kultivatoren so das Gesicht verlieren ließ. Warum er lieber mit einem Haufen wildfremder Wen-Bastarde davonzog und dem Clan den Rücken kehrte, dem er sein Leben zu verdanken hatte und dem er ewige Treue geschworen hatte. Nun war er es, der verzweifelt versuchte, die wichtigen Fragen zu klären, doch Jiang Cheng wandte sich von ihm ab. Er entglitt ihm. Wie Sand rieselte er ihm durch die Finger und schürte eine Panik, die Wei Wuxian schon lange nicht mehr gespürt hatte. Er konnte jetzt einfach nicht aufgeben. “Aber für dich ist es das nicht!” Er musste Jiang Cheng zum Reden bringen. Irgendwie. Also wagte er einen beherzten Schritt: “Und dass ich mein Versprechen gebrochen habe – das werde auch ich nie vergessen können.” Endlose Sekunden verstrichen. Nicht ein Muskel zuckte in Jiang Chengs maskenhaftem Gesicht. Mit steifen Schultern hinkte er schließlich an ihm vorbei und inspizierte die Geröllmauer. “Mach dich nützlich und überleg lieber, wie wir hier rauskommen.” Wei Wuxians Herz zerbrach. Und gleichzeitig frustrierte es ihn. Es war zum Haareraufen! Warum konnte dieser sture Esel nicht einmal über seinen Schatten springen? – Nein, damit tat er Kleiner Apfel Unrecht. Jiang Cheng war weit schlimmer. Und würde eines Tages an seiner eigenen Sturheit zugrunde gehen. Wie schlimm es um sein Inneres stehen musste, hatte sein fanatischer Wutausbruch eindrucksvoll gezeigt. Nie Mingjue hatte auch so ausgesehen, kurz bevor eine Qi-Entartung sein Leben gekostet hatte, genauso wie Jiang Cheng jetzt! Zeitweise hatte Wei Wuxian um sein Leben gefürchtet. Und wenn sie jetzt hier raus gingen und sich ihre Wege wieder trennten – Jiang Cheng würde vor dem davonlaufen, was er gerade getan hatte, und Wei Wuxian packte die stumme Angst, dass dies das letzte Mal sein könnte, dass er seinen alten Bruder lebend sah. Er musste Jiang Cheng irgendwie aus dieser Sackgasse herausholen, ihm begreiflich machen, dass er seine Fehler der Vergangenheit endlich verstanden hatte. Dass er es besser machen wollte. Dass er sich nach einer Zukunft sehnte, die an ihre Kindheit und Jugend anknüpfen konnte. “Ehrlich gesagt, ich hab mich oft gefragt, ob wir diese Sache nicht endlich aus der Welt schaffen können, damit ich wieder zum Lotus Pier kommen kann. Umziehen wird nicht gehen, dafür haben Lan Zhan und ich in der Wolkenschlucht zu viel zu tun. Aber ich könnte alle paar Monate als Gastlehrer vorbeikommen und beim Training helfen. Oder wir koordinieren uns bei den Nachtjagden oder veranstalten gemeinsame Trainingsprogramme. Die Clans würden ohnehin davon profitieren, wenn wir die ganze Konkurrenz und das Misstrauen der älteren Generationen nicht auf die jüngeren übertragen.” “Ich sagte, ES IST GENUG!” Es war zum Verrücktwerden mit diesem sturen Esel! “Du kannst doch nicht ernsthaft wollen, dass alles so bleibt, wie es ist!”, rief Wei Wuxian, ebenso die Nerven verlierend. “Und du kannst nicht einfach alles umkrempeln, wie es dir passt, und so tun, als wär nie was gewesen!”, brüllte Jiang Cheng zurück. “JIANG CHENG! Spring EINMAL über deinen gottverdammten Schatten und sei nicht so ein verbohrter Dickschädel! Ist es dir vollkommen egal, dass alles, was wir früher hatten, in Scherben liegt?!” “DANN SAG DU MIR DOCH, WAS ICH TUN SOLL! ICH HAB DICH UMGEBRACHT, VERDAMMT!!” Die Offenbarung war wie ein Schlag in den Magen. Wei Wuxian war sprachlos. Einige erdrückend laute Herzschläge lang schien die Welt um sie herum eingefroren. Er hätte mit vielem gerechnet – Groll, Vorhaltungen, aber … damit … “... Was?”, hauchte er fassungslos. “Ich hab dich umgebracht”, wiederholte Jiang Cheng seine Worte, diesmal flüsternd, abwägend, so als müsste er selbst noch über die Bedeutung dessen, was er gerade geäußert hatte, nachdenken. “Jiang Cheng!”, unterbrach Wei Wuxian ihn alarmiert, sah die Gedanken seines Bruders eine gefährliche Richtung einschlagen. “Du hast lediglich den Bannkreis durchbrochen. Ich hab die Kontrolle verloren. Ich hätte das Amulett längst zerstören sollen und nicht erst, nachdem ich solch ein Blutbad angerichtet hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das seine Kräfte verstärkt hat. Es grenzte an ein Wunder, dass mich nicht schon die andere Hälfte zerrissen hat.” “Darum geht es doch gar nicht!”, fauchte Jiang Cheng. “Ich war da! Ich hab sie gesehen! Das Balg, die Alten, die Krüppel. Ich wusste ganz genau, dass du da keine Armee aufbaust, sondern von der Hand in den Mund lebst. Und ich hab nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht und den Gerüchten Einhalt geboten.” Jiang Chengs Blick verlor sich im Nichts, er taumelte gegen die Geröllwand und sackte an ihr herab. Schnell packte Wei Wuxian ihn an den Schultern, bevor er sich den Kopf anschlug. Jiang Cheng schien es kaum wahrzunehmen. Seine Schultern und Stimme bebten, als er weitersprach. “Ich hätte ihnen einfach einen Platz am Lotus-Pier anbieten sollen, dann hättest du dich nicht zwischen ihnen und mir entscheiden müssen und niemand hätte noch gewagt, einen Keil zwischen uns zu treiben.” Tränen brachen hervor und liefen in Rinnsalen über seine Wangen, doch Jiang Cheng machte keine Anstalten, sie zu verbergen oder fortzuwischen. Wei Wuxians Hände begannen zu zittern ob der Tragweite dieser Worte. “Ich hätte auf dem Goldschuppenplateau für dich einstehen müssen, nach der Sache mit dem Arbeitslager am Qiongqi-Pass, als alle die Tatsachen verdreht haben und dich zur Rechenschaft ziehen wollten. Mir war klar, dass sie nichts weiter als neidisch auf deine Macht waren und die zukünftige Stärke vom Lotus-Pier fürchteten. Aber was mach ich? Ihnen nach dem Mund reden und dich rauswerfen! Weil ich dich lieber meinem kranken Stolz opfere als auf deine Loyalität zu vertrauen! Nicht du hast dein Versprechen gebrochen! ICH habe alles zunichte gemacht!” “JIANG CHENG!!” Wei Wuxian packte seine Schultern fester und zog ihn mit einem Ruck in seine Arme. Jiang Cheng ließ es kraftlos mit sich geschehen, wie eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt hatte. Er schluckte schwer, um das kehlige Schluchzen niederzukämpfen, das mit aller Gewalt hervorbrechen wollte. Seine Augen wurden feucht. Das Zittern seiner Hände hatte nun seinen gesamten Körper erfasst und übertrug sich auf seine Stimme, als er endlich die ersten Worte herauspressen konnte. “Mach dich nicht schlechter, als du bist. Ich bin kein Heiliger.” Er schluckte und zwang seine Atmung zur Ruhe. “Und damals erst recht nicht. Du hattest so recht, ich HATTE einen verdammten Heldenkomplex. Ich hab nie verstanden, wie beschissen es sich anfühlt, wenn andere für dich ins Verderben rennen und du nur ohnmächtig zusehen kannst. Ich hätte dich einfach fragen sollen, ob du uns einen Platz am Lotus-Pier gibst. Aber ich wollte es allein schaffen. Und wenn ich ehrlich bin: Selbst wenn du mir das damals angeboten hättest, ich hätte abgelehnt. Ich war verblendet und … und …” … wie hätte ich unseren Clan solch einer Gefahr aussetzen können? Er presste die Augen zusammen. Ein Schwall heißer Tränen quoll hervor und verschwand in Jiang Chengs Haaren und Kragen. “Genauso in Lanling. Wenn ich damals ernsthaft argumentiert hätte, wäre den anderen Clans gar nichts anderes übrig geblieben, als die Füße stillzuhalten. Aber überheblich und eingebildet wie ich war, hielt ich es nicht für nötig, mich anständig zu erklären. Ich hab erwartet, dass alle nach meiner Pfeife tanzen, aus Schuldgefühlen wegen der Sunshot-Kampagne oder zumindest aus Angst vor meiner Macht.” Je länger er sprach, desto leichter wurde das erdrückende Gewicht, das all die Jahre auf seinem Herzen gelastet hatte. Erst jetzt, wo er all diese Gedanken in Worte fassen konnte, verstand er vollends, wie sehr er diese Aussprache gebraucht hatte. Es ließ einen erneuten Strom nicht enden wollender Tränen hervorbrechen, doch sie fühlten sich nun ruhiger an, befreiender. Sein Gesicht schmiegte sich enger an Jiang Chengs Nacken. “Jiang Cheng, verstehst du? Diesen Weg ins Verderben habe ich ganz allein beschritten. Ich hab mir Feinde gemacht, wo immer ich hinging. Vielleicht hätten die anderen Clans aufgegeben, mich stürzen zu wollen, wenn sie gesehen hätten, dass sie an uns als Einheit nicht vorbeikommen. Vielleicht hätte es das Unausweichliche aber auch nur hinausgezögert. Und vielleicht hätte es auch rein gar nichts geändert und wir wären am Ende nur beide gestorben, und der Yunmeng Jiang-Clan mit dir.” Wei Wuxian atmete tief durch. Sein Herz schlug wieder ruhiger. Ihre Herzen. Jiang Chengs Haltung war unverändert, doch es schien, als würden ihre Herzen einander rufen und sich antworten; etwas aufgeregt, unbeholfen, verletzlich. Aber im Gleichklang. Er lockerte seine Umarmung und löste sich so weit von dem anderen, dass er ihn ansehen konnte. Wässriges Grau blickte unsicher, verwirrt und Halt suchend in seine Seele. Es stach so klar unter all den Kratzern, Staub und dunklen Schlieren hervor wie ein Leuchtfeuer in einer finsteren Nacht: ein Wegweiser. Ein Rettungsanker. “Ja, wir haben Fehler gemacht. Beide. Aber vom rechten Weg sind wir nie abgekommen. Jin Guangshan hat Zivilisten in Arbeitslager gesteckt und ermorden lassen! Jin Zixun hat mir den Fluch der Tausend Löcher angehängt und mich in einen Hinterhalt gelockt. Und von dem, was Jin Guangyao alles verbrochen hat, will ich gar nicht erst anfangen. Das war nicht unsere Schuld und es lässt sich nicht mehr ändern, hörst du? Egal, wie sehr ich es mir wünsche, wir bekommen Shijie nicht zurück. Jin Zixuan kommt nicht zurück. Das Blutbad, das ich in der Nachtlosen Stadt angerichtet habe, wird nicht ungeschehen. Aber … Jin Ling ist noch da. Du bist noch da. Bitte, ich will wenigstens meinen Neffen und meinen Bruder nicht verlieren!” Erneut legte sich eine bleierne Stille über sie und noch immer blickten ihn nassgraue Augen mit diesem halb abwesenden, halb flehenden Ausdruck an. Wei Wuxian wartete. Wartete auf eine Regung, eine Antwort, ein Zeichen der Vergebung. Er hatte seine gesamte Seele offengelegt, mit jedem einzelnen Wort, bis alles gesagt war. Und nun … Würde Jiang Cheng seine Hand ergreifen oder sich abwenden? War es zu spät für sie, war zu viel verbrannt, als dass auf diesem toten Boden noch einmal Pflanzen sprießen könnten? Mit jedem weiteren unerhörten Herzschlag wuchs Wei Wuxians Angst. Bis es erneut schmerzhaft wurde und die Tränen abermals an die Oberfläche zu dringen drohten, als- Ein Arm erhob sich, langsam, zittrig, fuhr zögerlich an seine Seite, um seinen Rücken. Aus dem Hauch einer Berührung wurde ein sanfter Druck, der Wei Wuxian erneut an Jiang Chengs Brust gleiten ließ. Die wohltuende Wärme eines weiteren Armes umschmiegte seine andere Seite. Erneut rannen ihm Tränen über die Wangen, als er seine Augenlieder aufeinander presste und die Umarmung erwiderte, und etwas ebenso Feuchtes benetzte seinen Nacken. Es war nicht mehr als ein schwaches Flüstern, ein Atemzug, doch in der Stille der Höhle und aus nächster Nähe drang Jiang Chengs Stimme klar und deutlich durch seinen Körper und an seine Ohren. “Bruder.” Kapitel 9: Aufklärung --------------------- “... Eine Idee, wie wir hier rauskommen?” Jiang Chengs Blick war auf das Desaster vor sich gerichtet, welches den Ausgang blockierte. Er spürte die Schamesröte auf seinen Wangen brennen und war froh, dass Wei Wuxian es in dem spärlichen Licht – und unter dem ganzen Dreck ohnehin – nicht bemerken würde. Lange hatten sie in ihrer Umarmung verharrt. Bis die Tränen längst versiegt waren und die Gemüter sich beruhigt hatten. Bis sich Scham in seine Brust schlich und er begonnen hatte zu hoffen, Wuxian möge doch bitte die Atmosphäre anständig deuten und ihn freigeben. Natürlich konnte man bei diesem Querschläger auf sittliches Verhalten lange warten, und so wurde aus Jiang Chengs peinlicher Berührtheit ein ausgewachsenes Im-Boden-Versinken-Wollen, so dass er den anderen schließlich selbst mit einem gemurmelten “Jetzt ist aber gut! Hast du immer noch keinen Anstand?” sacht von sich drückte. Für einen kurzen Moment sah er noch das amüsierte Funkeln in den Augen seines Bruders, dann hatte er den Blick bereits abgewandt. ‘Bruder’ ... Es fühlte sich an wie ein Traum, ein weiteres seiner Wunschdenken. Sollte er sich tatsächlich erlauben dürfen, wieder so von Wei Wuxian zu sprechen? Und wenn ja, zu was für Brüdern machte sie das jetzt? Jiang Cheng konnte nicht leugnen, dass da plötzlich eine Nähe zwischen ihnen war, eine Vertrautheit, wie er sie seit vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte. Und doch war sie wie ein verwundetes Reh, das in seinem langen, traurigen Leben zu viel Leid hatte erfahren müssen, um nun noch einmal bereitwillig seinen Kopf nach der dargebotenen Hand ausstrecken zu können. – Vor allem, nachdem es besagte Hand fürchterlich gebissen hatte. Mehrmals. Wie könnte er ihre dargebotene Wärme derart schamlos ausnutzen? Wenn Jiang Cheng daran dachte, was er alles angerichtet hatte! Gerade jetzt erst wieder angerichtet hatte! Wie er Wei Wuxian zugerichtet hatte, beinah getötet hätte in seiner blinden Wut- Er riss seine Gedanken gewaltsam aus dem Strudel aus Übelkeit, Angst und Selbsthass. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen. Statt in Selbstmitleid zu versinken, sollte er zusehen, wie er seinen Bruder hier rausschaffen und seine Verletzungen versorgen lassen konnte. Genauso wie Jin Lings. Sie waren nun bereits seit einer ganzen Weile hier eingeschlossen, so lange, dass ihm sogar das Atmen allmählich schwerer fiel und sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Das bedeutete, dass es in der Richtung, aus der das Yao gekommen war, keinen Ausgang geben dürfte. Jin Ling sollte noch immer in Ordnung sein, sonst hätte er Veränderungen an der Barriere, mit der er ihn umgeben hatte, gespürt. Aber es ließ ihm dennoch keine Ruhe. Jiang Cheng ließ einen Strom Qi durch seine Hand und in die Geröllwand fließen, um ihre Dicke und Beschaffenheit zu ergründen. Aus dem Augenwinkel konnte er wahrnehmen, wie Wei Wuxian dasselbe tat. Der Einsturz war mehrere Meter breit. Es war nicht unmöglich, sich durch den Fels zu sprengen, aber es war aufwendig und er fürchtete, dass sich weitere Teile der Felsdecke über ihnen lösen könnten. “Wir sollten unsere Kräfte koordinieren”, erklang Wei Wuxians Stimme neben ihm. Jiang Cheng nickte. “Dein Qi ist besser auf direkte Angriffe ausgerichtet. Ich stabilisiere die Decke.” “Ich habe einige Talismane dabei, die hierfür ganz nützlich sein könnten. Das ist eine gute Gelegenheit, sie endlich auszuprobieren.” Jiang Chengs Augenbraue zuckte in die Höhe. “‘Auszuprobieren’?” “Nichts Gefährliches”, winkte Wei Wuxian ab. “Vertrau mir. Aber vorher …” Und damit drehte er sich vollends zu Jiang Cheng um und musterte diesen von oben bis unten, wobei sein Blick schließlich an dem verletzten Bein verweilte. “... würde ich mir gern dein Bein ansehen.” Jiang Cheng missfiel dieser Gedanke auf Anhieb. “Nicht nötig”, lehnte er brüskiert ab. “Was ist los?” Verwirrt schnellte Wei Wuxians Blick hoch zu Jiang Chengs Gesicht und der Clanführer musste einen Moment schlucken, verwirrt über sein eigenes Verhalten. Ja – warum eigentlich nicht? “... Nichts.” Er wandte den Blick ab. “Danke.” Trotzdem konnte er das Gefühl des Unwillens nicht abschütteln. Doch da er keine Erklärung dafür finden konnte, schluckte er sein Unwohlsein herunter, setzte sich mit Wei Wuxians Hilfe auf den Boden und zog den Saum seiner Hose so weit hoch, dass der zerschundene Stiefel darunter zum Vorschein kam. Wei Wuxian entfuhr ein erschrockenes Zischen. Sofort machte er sich daran, den Stiefel zu öffnen und abzustreifen. Jiang Cheng biss die Zähne zusammen, um sich den messerscharfen Schmerz nicht anmerken zu lassen. “Was hat dich da gebissen?”, fragte Wei Wuxian fassungslos. “Eine Schlange”, entgegnete Jiang Cheng gezwungen unbeteiligt, doch sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, als Wei Wuxian so über seiner Wunde aufragte. “Ein Yao”, erklärte der Yiling-Patriarch ihn, seine Augen leuchtend rot, “von derselben Energie, die auch Jin Ling und diesen Wolf befallen hat. Mächtig. Kein Wunder, dass du sogar gestürzt bist.” Was-?! Wei Wuxians Hand schnellte vor, ergriff den verletzten Knöchel und eine eisige Kälte attackierte die berührte Stelle. Jiang Cheng wollte sein Bein wegziehen, doch Wuxians linke Hand schnellte ebenso hervor und packte seinen Oberschenkel. “Halt still! Das Qi will sich bei dir einnisten.” !!! Grauen packte ihn. Jiang Chengs Herz schlug immer wilder. Die eisige Energie kroch weiter, durch seinen Fuß, in seine Wade, feinste Ausläufer erstreckten sich in seinen Oberschenkel, seinen Bauch- Ruckartig zog sie sich zurück und es fühlte sich an, als würde sie irgendetwas mit sich reißen. Einen Herzschlag später war die Kälte verschwunden und hatte ein Gefühl der Leere hinterlassen. Eine angenehme Leere. Wie das Fehlen eines Fremdkörpers, eines Splitters, der nach langem Stören endlich entfernt war. “Geschafft.” Wei Wuxians rote Augen betrachteten besorgt wie fasziniert den winzigen grauen Nebel, der sich um seine Finger wand und sich langsam aufzulösen begann. Und Jiang Cheng bemerkte: Die extreme Abneigung und die Aufregung, die er gerade eben noch verspürt hatte, waren wie weggeblasen. “... Das Zeug hat meine Emotionen manipuliert!”, entfuhr es ihm schockiert. Wei Wuxians Blick schnellte ebenso erschrocken zu ihm, dann zurück zu der Materie in seiner Hand. Er bewegte seine Finger, ließ den schwachen Rauch rotieren, schien auf seine eigene Art mit ihm zu interagieren. “... Ich habe noch nie so ein seltsames Qi gesehen”, murmelte er besorgt. Schließlich fischte er mit seiner linken Hand in seiner Brusttasche nach einem Geister-Beutel. “Du willst dieses Zeug nicht ernsthaft mitnehmen?!” Jiang Cheng war fassungslos. “Ich will wissen, womit wir es hier zu tun haben”, entgegnete Wei Wuxian ernst, während er die Reste des dünnen Nebels in den Beutel dirigierte und ihn verschloss. “Vielleicht finde ich dann heraus, was mit Jin Ling passiert ist. Und diesem … Wolf …” “Es ist genau dasselbe Qi?”, hakte Jiang Cheng nach. Wei Wuxian nickte. “Und es verhält sich seltsam. Als hätte es ein Eigenleben, einen eigenen Willen. Aber noch kann ich es nicht richtig begreifen, deswegen will ich es mit Lan Zhan untersuchen, wenn wir zurück in der Wolkenschlucht sind.” Jiang Cheng presste die Lippen aufeinander. “Jin Ling…” “Er sollte für den Moment in Sicherheit sein. Mein negatives Qi hält es in Schach.” Die Erklärung jagte einen schmerzhaften Stich der Reue durch Jiang Chengs Herz. Das war es, was du mir vorhin versucht hast zu sagen? Warum du deine negative Energie bei Jin Ling einsetzen musstest? Jiang Cheng wandte sich ab und schloss die Augen, kämpfte die schier übermenschlichen Schuldgefühle, die Übelkeit ob seines schrecklichen Versagens nieder. “Hast du Heilkräuter?”, riss Wei Wuxians Stimme ihn aus dem dunklen Sumpf seiner Gedanken. “Nicht mehr viele …”, murmelte Jiang Cheng und reichte ihm seinen Speicher-Beutel. Einen Teil hatte er nach dem Schlangenbiss bereits benutzt und von seinen heilenden Talismanen war auch nur noch einer übrig. Mit den anderen beiden hatte er Jin Ling versorgt. Der Gedanke an seinen Neffen ließ ihn scharf die Luft einziehen, seine Hände ballten sich zu Fäusten. “War ich zu grob?”, erkundigte sich Wei Wuxian, der seine Reaktion wohl mit dem Versorgen der Wunde in Verbindung gebracht hatte. “Jin Ling”, klärte Jiang Cheng ihn auf. “Ich habe seine Wunden mit Heiltalismanen versorgt. Sie könnten dein Qi beeinträchtigen.” Wei Wuxian hielt kurz inne, nachdenklich. Dann blickte er wieder auf. “Dann sollten wir keine weitere Zeit verlieren.” Er verrieb die letzten Kräuter um den geschwollenen Knöchel, heftete den Talisman darüber und zog Jiang Chengs Stiefel vorsichtig wieder an. “Zumindest scheint nichts gebrochen zu sein. Glück gehabt”, kommentierte er sein Werk nach getaner Arbeit und Jiang Cheng pflichtete ihm bei. Der Schmerz hatte bereits deutlich nachgelassen, seit er begonnen hatte, sein Qi in den Fuß zu leiten. Nicht, dass es reichte, um sein rechtes Bein wieder normal belasten zu können, aber er würde zumindest ohne Hilfe aus der Höhle heraushumpeln können, sobald der Eingang frei war. So konzentrierte er nun seine gesamte Energie in seinen Hände und leitete sie in den eingestürzten Gang weiter, ließ eine kuppelförmige Barriere entstehen, die einen erneuten Felsrutsch verhindern sollte – wenn sie nicht zu unvorsichtig waren. “Nun du”, ließ er Wei Wuxian wissen, doch als er das schalkhafte Funkeln in den Augen des anderen sah, kam er nicht umhin hinterherzuschieben: “Und mach es vernünftig! Leb deinen Spieltrieb aus, wenn nicht irgendwer in Lebensgefahr ist.” “Jiang Cheng, etwas mehr Vertrauen! Als ob ich so etwas riskieren würde.” Jiang Cheng verkniff sich einen Kommentar. Er vertraute Wuxian, dass sich so etwas wie in der Nachtlosen Stadt niemals wiederholen würde. Sein Bruder wirkte bei der Verwendung negativer Energie sehr viel gefestigter als damals. Aber der schale Beigeschmack, den diese Erinnerung stets mit sich brachte, würde sich wohl nie auslöschen lassen. Und auch Wei Wuxian schien einen Augenblick später in diese Erinnerung zurückgekehrt zu sein, denn das übermütige Funkeln in seinen Augen erstarb, wich einer matten Melancholie. “... Zumindest nicht mehr. Nie mehr”, hauchte er. Jiang Chengs Hand zuckte, wollte nach Wei Wuxians Oberarm greifen und ihn sanft drücken, doch einen Augenblick später unterdrückte er den Impuls. Es fühlte sich nicht richtig an. Sie wussten beide, dass in jener Nacht zu viel passiert war, als dass eine Geste des Trosts irgendetwas richten könnte. Wei Wuxian straffte seine Schultern. Aus seinem Gewand zog er einen vorbereiteten Talisman hervor. Mit einem Messer schnitt er sich in die Fingerkuppe, ergänzte das Zeichen für “Schlange” auf dem Papierstreifen und brachte ihn zum Erstrahlen. Sofort heftete er ihn an die Geröllwand und sandte eine gehörige Menge dunkler Energie hinein. Als Talisman und Fels die Energie absorbiert hatten, trat er zurück zu Jiang Cheng, sein Gesichtsausdruck noch immer konzentriert, die Augen rot leuchtend, doch ein zufrieden wirkendes Nicken signalisierte ihm, dass wohl alles vorbereitet war. “Der Weg sollte jeden Moment frei sein.” Jiang Cheng debattierte noch mit sich, ob sein Stolz es zuließe, dem Ego dieses verrückten Erfinders noch ein wenig zu schmeicheln und zu fragen, was es mit diesem Talisman auf sich hatte, als auch schon ein Knirschen und Beben durch die Geröllwand gingen und sich die Felsbrocken und Steine Sekunden später in Bewegung setzten, eine Art Schlange bildeten, die gemächlich nach draußen schlängelte und sich neben dem Höhleneingang zusammenrollte und erneut zu einem Haufen toten Gesteins wurde. “Wofür experimentierst du mit Schlangen-Golems?”, fragte Jiang Cheng skeptisch. Abgesehen von ihrer jetzigen skurrilen Situation konnte er sich kaum eine Verwendungsmöglichkeit für solch einen Talisman vorstellen. “Nicht Schlangen-Golems”, korrigierte Wei Wuxian ihn stolz, “Formwandler. Sie sollen jede Gestalt annehmen, die der Beschwörer mit der Beschriftung des Talismans vorgibt. Diesmal erschien mir eine Schlange am sinnvollsten.” Insgeheim musste Jiang Cheng zugeben, dass dies kein dummer Gedanke war, doch einen Kommentar dazu sparte er sich lieber, bevor Wei Wuxian noch vor Eitelkeit platzte. Und doch … tat es irgendwo auch gut zu wissen, dass manche Dinge noch immer so waren wie früher. “Gehen wir!”, bestimmte er und humpelte voraus, so dass Wei Wuxian das leichte Ziehen seiner Mundwinkel nicht bemerken konnte. Kapitel 10: Vertrautheit ------------------------ Auf den ersten Blick wirkte Jin Lings Gestalt noch immer friedlich und in Sicherheit. Als Jiang Cheng seine Barriere entfernte und sie die negativen Energien genauer inspizierten, mussten sie jedoch feststellen, dass die heilenden Talismane doch einigen Schaden angerichtet hatten. Wei Wuxians negatives Qi hatte sich fast aufgelöst und das fremde Qi hatte erneut begonnen, sich zu vermehren und tiefer in Jin Lings Körper vorzudringen. Sie konnten von Glück reden, dass Jin Ling bewusstlos war und sein Kreislauf entsprechend stark verlangsamt. Hastig entfernte Wei Wuxian die zwei Talismane und versuchte erneut, die fremde Energie mit seinem eigenen Qi zu locken, doch diesmal ging sie ihm nicht in die Falle. Sie hatte dazugelernt. Er nahm Chenqing zu Hilfe und begann eine süße, lockende Melodie zu spielen. Wieder nahmen seine Augen diesen leuchtenden Rotton an und Jiang Cheng konnte spüren, wie die Melodie an Intensität gewann. Die Energie änderte ihren Fluss. Ein Teil schien sich der Quelle des Liedes entgegenzustrecken, doch sie ließ nicht vollständig von ihrem Opfer ab. Jin Ling zog in seiner Bewusstlosigkeit scharf die Luft ein, seine Mimik verzerrte sich, die Hände krallten sich in die Erde. Sofort wechselte Chenqings Melodie in einen ruhigen Rhythmus, ein sanftes Wiegenlied. Als sich Jin Lings Züge wieder entspannt hatten und auch die dunkle Energie in seinem Körper nur noch matt flimmerte, setzte Wei Wuxian die Geisterflöte mit einem erschöpften Seufzen ab. Doch auch Jiang Cheng konnte das bittere Gefühl nicht abschütteln, welches ihm die Luft abschnürte. Zwar breitete sich die dunkle Materie für den Moment nicht weiter aus, aber ihre Ausläufer waren weit in Jin Lings Körper vorgedrungen. Sein überstürztes Eingreifen war Schuld daran, dass sich die Gefahr für seinen Neffen darart verschlimmert hatte. Nicht nur Wei Wuxian - sogar Jin Ling hatte er durch seine hitzige Fehleinschätzung in größte Gefahr gebracht. Wenn Wuxian in dieser Höhle tatsächlich gestorben wäre oder wenn sie es nicht rechtzeitig heraus geschafft hätten, dann … “Wie lange hält Chenqings Effekt an? Wir können Jin Lings Meridiane nicht verschließen. Sie sind zu eng mit lebenswichtigen Funktionen verbunden.” “Eine halbe, vielleicht eine Shichen. Zumindest lange genug, um ihn nach Langya zu bringen”, teilte Wei Wuxian seine Einschätzung mit. “Wie viele Leute habt ihr dort?” “Noch drei. Lan Zhan, Sizhui und Jingyi.” Jiang Cheng nickte. So sehr es ihm widerstrebte, sich an einem Ort mit dem zweiten Lan-Bruder aufzuhalten und sich noch dazu in dessen Schuld zu begeben, so wusste er auch, dass dies nicht der rechte Zeitpunkt für alte Feindseligkeiten und falschen Stolz war. Aber wenn der Bengel wieder bei Sinnen war, dann würde er ihm die Beine brechen für so viel Irrsinn, es mit solch einer Gefahr allein aufnehmen zu wollen!   “Also …” Jiang Cheng räusperte sich, humpelte ein paar Schritte schneller und hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Sie hatten bereits mehr als die Hälfte der Strecke nach Langya zurückgelegt. Bei ihrer Ankunft wäre ihre Chance auf dieses Gespräch vertan. Er musste sich endlich aufraffen. “Also”, setzte er erneut an, “wenn du mal frei hast, dann lass dich am Lotus-Pier blicken.” Er spürte, wie sein Kopf einige Nuancen dunkler wurde und bereute augenblicklich, die Einladung nicht doch einfach in Briefform überreicht zu haben. Oder gar nicht. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Wei Wuxians Kopf zu ihm herüberschnellte, die Augen groß, erst vor Unglauben, dann erfüllt von dieser kindlich-naiven Freude, die ihm immer ins Gesicht geschrieben stand, wenn ihn irgendwas begeisterte. Manche Dinge änderten sich wohl selbst nach einer Wiedergeburt in einem fremden Körper nicht. Jiang Cheng stierte verbissen geradeaus. “Wenn’s unbedingt sein muss, bring deine schlechtere Hälfte mit.” “Jiang Cheng!” Mit einem Satz stieß Wei Wuxian gegen ihn und schlang einen Arm über Jiang Chengs Schulter, was Jin Ling beinah von seinem Rücken rutschen ließ. Sofort schnellte der aufdringliche Arm zurück, Wei Wuxian strauchelte und rettete in letzter Sekunde den bewusstlosen Jungen vor dem Absturz. “Wenn mein Neffe deinetwegen im Dreck landet, zieh ich’s zurück!” “Ich hüte ihn wie meinen Augapfel!”, versprach er feierlich und streckte zur Untermauerung seiner Worte die Nase in die Höhe, nur um gleich darauf ungelenk an Jin Lings Arm zu zupfen und ihn mit den Schultern in eine etwas bequemere Position zu bringen. Jiang Cheng verdrehte die Augen. “Shijie hat damals sogar uns beide nach Hause zurückgetragen”, erklang Wei Wuxians Stimme kurz darauf sinnierend. Jiang Cheng würde es niemals aussprechen, aber es tat gut zu wissen, dass diese Erinnerung auch in Wuxians Herzen einen besonderen Platz hatte. ‘Bruder.’ Der Gedanke ließ ihn sich so geborgen wie unsicher fühlen, ungewohnt, ein wenig peinlich berührt, und so versuchte er, das Gespräch in unverfänglichere Gefilde zurückzulenken. “Werd nicht übermütig! So stark wie meine Schwester wirst du nie.” Wei Wuxian gluckste. “Das wäre wahrhaftig vermessen.” Für sie beide. Doch Yanli war und blieb Jiang Chengs Ideal, sein Fixstern, der ihm so oft den Weg wies, wenn er in der Finsternis die Orientierung verlor. Und wahrscheinlich ging es Wei Wuxian ähnlich. “Und Lan Zhan ist also meine ‘schlechtere Hälfte’?”, hakte sein Bruder nach. “Dass ich aus deinem Mund mal ein Kompliment höre … Die Zeiten haben sich wahrlich geändert.” “Träum weiter. Dass er noch unerträglicher ist als du, spricht nicht für dich.” “Haha! Wenn der alte Lan Qiren das hören könnte!” “Dass ihr es so lange an einem Ort aushaltet, ist sowieso ein Wunder. Ist er noch nicht an einem Herzinfarkt gestorben?” “Jiang Cheng, du kränkst mich! Ich bin die Unschuld in Person!” Jiang Cheng quittierte es mit einem Schnauben. Dieser Kommentar war keiner Antwort wert. “Oder lebt ihr außerhalb der Clanmauern? Eher geht die Welt unter, als dass du dich an deren dreitausend Regeln hältst. Sind es inzwischen nicht sogar noch mehr?” “Über fünftausend.” “Da hast du ja ganze Arbeit geleistet.” “Man tut, was man kann.” Wei Wuxians schalkhaftes Grinsen entfaltete sich zu voller Pracht und er versuchte, stolz die Brust zu recken, was mit Jin Ling auf dem Rücken jedoch reichlich albern aussah. Ein kurzes Zucken in den Mundwinkeln konnte sich selbst Jiang Cheng nicht verkneifen. Er musste zugeben, es hatte ihnen allen damals gut getan, dass Wei Wuxian es sich in seinem fünfzehnjährigen Übermut zur Lebensaufgabe gemacht hatte, jede einzelne dieser Regeln zu brechen und für etwas Abwechslung im tristen Gusu-Lan-Alltag zu sorgen. “Aber irgendwie haben wir uns mittlerweile arrangiert”, gab der Unruhestifter schließlich zu. “Du wirst es kaum glauben, aber die drücken tatsächlich ein Auge zu. Wenn ich nachts um zehn noch über die Mauer klettere, wird dezent weggeguckt, solange die Jungspunde nicht in der Nähe sind. Es beschwert sich auch niemand, wenn ich nicht zum gemeinsamen Wasser-und-Gras-Abendessen auftauche. Außer es steht irgendeine hochwichtige Lan-Feierlichkeit an. Dann komm ich nicht drumrum. Und der Wein! Jiang Cheng, erblasse vor Neid! Du findest nirgends auf der Welt einen besseren Wein als Emperor’s Smile, und solange ich ihn bloß im Jingshi trinke, gilt: Was niemand sieht, ist nicht passiert.” Jiang Cheng war sprachlos. “Irgendwie tun mir die Lan-Ältesten schon leid. Dass sie für ihren ‘Preisgekrönten Jade-Prinzen’ so viel über sich ergehen lassen müssen.” “Hey! Du tust ja grad so, als würde ich ihnen nur auf der Tasche liegen”, beschwerte sich Wei Wuxian. Jiang Cheng hob eine Augenbraue. “Ist es denn nicht so? Was tust du denn noch, außer dich um sämtliche Regeln zu drücken und dich heimlich an ihrem Frust zu ergötzen?” “Mit den Jungspunden und Wen Ning allerlei gruseliges Geschöpf auf Nachtjagden aufmischen.” Jiang Cheng quittierte es mit einem Schnauben. “Und ihre Aufsätze kontrollieren.” “Du bist unter die Lehrer gegangen?” “Jepp, und jetzt halt dich fest: Ab Frühjahr startet sogar mein erster eigener Kurs. In den dunklen Künsten natürlich.” Jiang Cheng blieb der Mund offen stehen und Wei Wuxian ergötzte sich ganz ungeniert an diesem Anblick, ehe er weiter prahlte. “Überleg dir schon mal, wen du anmelden willst, und mach die Formalitäten fertig. Wenn wir den Kurs öffentlich ausschreiben, wird uns die Kultivatorenwelt die Tore einrennen.” Beleidigt klappte er den Mund wieder zu und presste die Lippen aufeinander. “Das ist ein Scherz.” “Nein, mein voller Ernst.” “Wie konnte denn DAS passieren?!” “Lange Geschichte. Aber hauptsächlich, um den Schaden zu minimieren, den laienhafte Nachahmer sich und anderen zufügen, wenn sie blindlings mit dem Feuer spielen.” Sie waren an ihrem Ziel. Ein Wachtposten am Tor von Langya begrüßte sie schon von Weitem mit einer Verbeugung und drehte sich dann um, um ihre Rückkehr zu verkünden. “Die Langversion bist du mir noch schuldig”, beendete Jiang Cheng das Thema, denn schon hatte Sizhui sie entdeckt und rannte ihnen mit alarmiertem Blick entgegen. “Gern”, quittierte Wei Wuxian mit einem kurzen Lächeln, ehe er Jin Ling in Sizhuis Arme gleiten ließ und ihm die Lage erklärte. Dann erspähte er im Innern des Dorfes Lan Wangji, sein Gesicht klarte auf wie der Himmel nach einem Wolkenguss, und er war verschwunden. Kapitel 11: Fairy ----------------- Die Entfernung des fremdartigen Qi, das sich in Jin Ling festgesetzt hatte, war zu einem nervenaufreibenden Spektakel geworden. Das Wesen – Wei Wuxian fand keinen passenderen Begriff, das Verhalten dieser Energie zu beschreiben – wehrte sich mit Zähnen und Klauen dagegen, seinen Wirt zu verlassen. Letztendlich hatte es der vereinten Kraft von Lan Wangjis Zither, seiner Geisterflöte Chenqing, einem Bannkreis und einer Reihe geisteranziehender Talismane bedurft, um das immer stärker außer Kontrolle geratende Wesen Jin Lings Körper zu entziehen, während Jiang Cheng, Sizhui und Jingyi Jin Lings eigenen Energiefluss unter Kontrolle gehalten und fortwährend die durch den Kampf entstehenden inneren Verletzungen versorgt hatten. Nach zwei endlosen Stunden war es ihnen endlich gelungen, die unheilvollen Schwaden restlos zu entfernen und in einem weiteren Geister-Beutel zu bannen. Wei Wuxian würde sich später eingehender damit befassen. Nun sollte er schleunigst sein eigenes Qi unter Kontrolle bringen. Der Kampf gegen Zidian, aber vor allem die Verletzungen, die er von dem Höhleneinsturz davongetragen hatte, hatten ihn an den Rand seiner Kraft gebracht. Zittrig gaben seine Knie nach und er ließ sich unzeremoniell und mit einem theatralischen Seufzen auf den Hintern fallen. Er hoffte nur, Lan Zhan würde nicht misstrauisch. Er könnte ihn nicht anlügen, aber er wollte Lan Zhan auch keinen weiteren Anlass geben, Jiang Cheng zu verachten und die Bande, die sich gerade erst zwischen den Brüdern neu zu knüpfen begonnen hatten, in Gefahr bringen. Um keinen Preis wollte er das je wieder verlieren. Lan Wangjis Zither erklang erneut, diesmal in den sanften, klaren Tönen einer heilenden Melodie. Wei Wuxian blickte auf und sah sich Auge in Auge mit seinem Geliebten, der sich wortlos nach seinem Zustand erkundete. Ein warmes Lächeln legte sich auf Wei Wuxians Lippen. Wenn seine Beine nicht so zittern würden, wäre er noch einmal aufgestanden und hätte seinen Kopf auf seinem Lieblingsplatz in Lan Zhans Schoß gebettet, doch so beließ er es bei dankbaren, liebevollen Blicken. Bevor er jedoch begann, das Chaos in seinen Meridianen zu ordnen, ließ er seinen Blick noch einmal zu Jiang Cheng schnellen, der mit hölzerner Miene und betont steif zu Jin Ling ging, um sich neben ihm niederzulassen. “Sizhui, Jingyi”, verschaffte Wei Wuxian sich Aufmerksamkeit, “fragt nach, wo es hier das nächste Medizinhaus gibt und holt eine Salbe und Arznei gegen Prellungen und Entzündungen.” Sizhui wurde blass. “Verehrter Senior Wei-” “Nicht ich”, unterbrach er seinen Ziehsohn mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem leichten Schmunzeln. “Dein Onkel Jiang ist nur zu stolz, um selbst um Hilfe zu bitten.” “Hüte deine Zunge!”, wurde er von besagtem ‘Onkel’ auch prompt angezischt und auch Sizhuis Gesichtsfarbe wechselte schneller als ein Krebs, den man in kochendes Wasser warf. Der Anblick ließ Wei Wuxian sich vor Lachen den Bauch haltend nach hinten fallen. “Jiang Cheng! Dein Drachenrot beißt sich schrecklich mit Sizhuis Tomatenrot!” “ICH GEB DIR GLEICH ‘DRACHENROT’!” Doch bevor Jiang Cheng sich auf seinen spöttischen Bruder stürzen konnte, erstarb die heilende Melodie der Zither mit einem tiefen, warnenden Ton. “Ruhe für die Verletzten”, mahnte Lan Wangji streng und ließ seinen Blick von Jin Ling über Jiang Cheng bis hin zu Wei Wuxian wandern. “Alle.” Damit war der Streit im Keim erstickt und die heilende Melodie setzte wieder ein. “Jingyi”, fügte Lan Wangji kurz darauf hinzu, “sieh dir Clanführer Jiangs Verletzung an. Sizhui, besorge die besagte Medizin. Bring außerdem etwas gegen Kopfschmerzen und Schwindel sowie Tränke zum Auffrischen von Energiereserven mit.” “Nicht nötig”, lehnte Jiang Cheng brummend ab und Lan Jingyi, der sich auf die Anweisung seines Seniors hin sofort in Bewegung gesetzt hatte, blieb überfordert und peinlich berührt auf halber Strecke stehen. “Hilfe auszuschlagen zugunsten derer, die sie dringender benötigen, ist edel, aber aus falschem Stolz, das ist fahrlässig. Als Clanführer solltest du die Verantwortung für deine Gesundheit ernster nehmen”, rügte Lan Wangji Jiang Chengs Sturheit, der sogleich in seine Drachenfärbung zurückwechselte und die Hände so fest zu Fäusten ballte, dass seine Knöchel knackten. “Schön!” Er verschränkte die Arme vor der Brust, verengte die Augen zu Schlitzen und streckte sein verletztes Bein zur Inspektion aus. “Wenn es deine kleinkarierten Moralvorstellungen befriedigt. Aber erwarte nicht zu viel. Ich kümmere mich bereits selbst darum und in wenigen Stunden dürfte von solch einer Lappalie ohnehin nichts mehr zu sehen sein.” Damit blickte er wieder auf Jin Ling, ignorierte Lan Jingyis verschüchtertes “Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit” und ließ ihn gewähren. Von Lan Sizhui war bereits nichts mehr zu sehen. Wei Wuxian kicherte vor sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und kümmerte sich um sein Qi. Die Sonne hing bereits tief am Horizont, als Jin Ling sein Bewusstsein endlich wiedererlangte. Ein gequältes Stöhnen zog alle Aufmerksamkeit auf sich. “JIN LING!!” Sofort ergriff Jiang Cheng die Hand seines Neffen und überprüfte erneut den Puls. “Onkel…?”, rollte sein erstes Wort matt und kratzig von der noch trägen Zunge. Doch es dauerte kaum einen Herzschlag, dass er mit schreckgeweiteten Augen von seiner Liege aufsprang. “FAIRY!!” Panisch blickte er sich um. “Onkel, wo ist Fairy?! Hast du sie nicht gefunden?” Sein diffuser Blick blieb an Wei Wuxian hängen. “Onkel Wei!” Wieder dieses Gefühl, als würde ihm eine stählerne Klaue die Eingeweide herausreißen. Wei Wuxian wünschte, der Junge würde diese Anrede unter anderen Umständen verwenden. Fahrig rappelte sein Neffe sich auf und torkelte auf ihn zu. “Du hast sie gefunden, oder? Bitte sag mir, dass du sie gerettet hast!” Jin Ling wäre gestürzt, hätte Wei Wuxian ihn nicht im letzten Moment gehalten. Doch die Art, wie der Junge sich nun in seinen Hanfu klammerte und ihn mit großen, tränenglänzenden Augen voller verzweifelter Erwartung anblickte, machten die nächsten Worte nicht einfacher. “Wir haben sie leider nicht gefunden.” “Reiß dich zusammen und erzähl ordentlich, was passiert ist!”, mischte sich Jiang Cheng ruppig ein. “Wie sollen wir dir sonst helfen können?” Nach wenigen Augenblicken schienen die strengen Worte seines Onkels Wirkung zu zeigen. Er schluckte schwer, ließ von Wei Wuxians Kleidung ab und begann mit bebenden, aber verständlichen Worten zu berichten. “Fairy und ich sind aufgebrochen, um das Wildschwein zu jagen. Sie muss seine Fährte aufgenommen haben und ist davongerannt. Ich habe sie einen ganzen Tag gesucht. Als ich sie endlich gefunden habe, war sie von dunkler Energie verseucht und hat- und hat mich angegriffen.” Jin Ling konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Ungehemmt rannen sie ihm über die Wangen. Doch er ignorierte sie eisern und zwang sich, seinen Bericht abzuschließen. “Ich habe sie mit meinem Schwert verletzt. Sie- sie ist mir in die Klinge gesprungen. Dann ist sie davongerannt, in die Höhle. Onkel Jiang, Onkel Wei … Sie war dabei, zu einem Yao zu mutieren. Wenn sie nicht schnell gefunden wird, könnte es zu spät sein.” Wei Wuxians Kopf schnellte zu Jiang Cheng und in dessen Augen spiegelte sich dasselbe Entsetzen, welches ihm selbst soeben in die Eingeweide gefahren war. Jiang Cheng stürmte nach draußen, Wei Wuxian setzte augenblicklich nach. Das wolfsartige Yao, das sie in der Höhle angegriffen hatte - DAS sollte Fairy gewesen sein?! Jiang Cheng rief Suibian, sprang auf und deutete Wei Wuxian mit einem knappen Nicken an, es ihm gleich zu tun. Es war ein seltsames Gefühl. Nicht nur, mit jemand anderem als Lan Zhan auf einem Schwert zu fliegen, sondern auch noch auf jenes eingeladen zu werden, das, genau genommen, ihm gehörte. Doch das war nun unwichtig. Kaum dass Wei Wuxian hinter Jiang Cheng Position bezogen hatte, schoss Suibian durch die Luft, zurück zu der Höhle, in der sie vor einem halben Tag gegen das Yao gekämpft hatten. Fairy war ein spirituelles Tier. Ihre Seele war von besonderer Stärke und würde sich nicht so schnell auflösen. Seelen wie die ihre überdauerten normalerweise mehrere Generationen, weil sie so, wie sie das Leben geformt hatte, einen neuen Körper beziehen konnten. Sie trugen oft die Erinnerungen von zwei oder drei Leben in sich. Besonders starke Seelen wahrscheinlich sogar noch mehr. Es ähnelte der Übernahme eines fremden Körpers, nur dass spirituelle Seelen keine Körper einnahmen, denen bereits eine Seele innewohnte, sondern um den Zeitpunkt der Geburt herum, wenn eine Seele diesen neuen Körper besiedeln wollte, mit diesem verschmolzen. Sie konnten nur hoffen, dass Fairys Seele stark genug war, der Verunreinigung durch das Yao bis jetzt standgehalten zu haben – so gering die Chancen auch sein mochten. Suibian schoss über die Baumwipfel. Die Lichtung mit der Höhle zeichnete sich bereits in der Ferne ab. Sie landeten direkt vor dem Höhleneingang, doch während Jiang Cheng keine Sekunde verlor, in den unheilvollen Schlund zurückzukehren, waren Wei Wuxians Beine wie festgewurzelt. Er wollte da hineingehen. Er wollte Jin Ling helfen, das wollte er wirklich. Und er wusste, dass jede Sekunde zählte. Dennoch war er machtlos gegenüber der Ohnmacht, die ihn packte, wenn er daran dachte, zu dem Kadaver des mutierten Wolfes zurückkehren zu müssen, sich mit einem Hund, zwar nur in Form einer Seele, aber dennoch mit einem Hund würde auseinandersetzen müssen. Jiang Cheng hatte sein Zögern bemerkt und sich skeptisch zu ihm umgedreht. “Du kannst auch hier draußen warten”, bot er ihm an. Wei Wuxian wusste das Angebot zu schätzen. Er wusste aber auch, dass es im Umgang mit Seelen auf sehr viel Fingerspitzengefühl ankam. Und er hatte definitiv mehr Erfahrung damit. Falls die Seele des Hundes bereits dabei war, sich aufzulösen, hätte er die besseren Chancen, dies zu verhindern. Und er würde sich auch um die dunkle Materie kümmern müssen. Jiang Cheng würde es kaum gelingen, sie von Fairys Seele zu trennen, ohne dieser noch mehr Schaden zuzufügen. Es führte kein Weg daran vorbei. Ergeben schüttelte Wei Wuxian den Kopf und trat einige zögerliche Schritte auf Jiang Cheng zu. Sie mussten einander nichts erklären. Wei Wuxian war sich sicher, dass sein Bruder seine Gedanken auch so verstand. Wei Wuxian griff vorsichtig nach einem Zipfel der violetten Robe und war Jiang Cheng insgeheim dankbar dafür, dass dieser so tat, als würde er nichts bemerken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als sich der zottelige Körper und der abgetrennte Kopf im schwachen Licht der Abenddämmerung abzeichneten und starre Augen und Fangzähne orangerot aufblitzten. Seine Hände schwitzten und er wischte sie hastig an seiner Kleidung ab – mehr, um sich etwas zu tun zu geben, als dass es wirklich etwas nützte. “Was kann ich tun?”, brachte ihn Jiang Chengs Stimme zurück zu ihrer Aufgabe. Unsere Aufgabe. Jin Ling. Konzentrier dich, versuchte Wei Wuxian, seinen aufgewühlten Geist in geordnete Bahnen zu lenken. Er besah sich die dunkel umwaberte Seele, die einige Fingerbreit über dem Tierkadaver schwebte. Dem Himmel sei dank, dass sie sich noch nicht aufgelöst hatte! Aber es fehlte nicht mehr viel. Ihr Leuchten war unter der dunklen Masse kaum mehr wahrnehmbar. Wei Wuxian zog eine Handvoll geisteranziehender Talismane aus seinen Ärmeln und drückte sie Jiang Cheng in die Hand. “Versuch, die Materie von der Seele wegzulocken.” Damit setzte Wei Wuxian Chenqing an seine Lippen. Ruhige, schwere Töne erklangen, die das dunkle Qi träge machten, in einen traumartigen Zustand versetzten, so wie es ihm auch bei Jin Ling gelungen war. Als die Bewegungen der dunklen Materie sich deutlich verlangsamt hatten, nickte er Jiang Cheng zu, der daraufhin den ersten der Talismane aktivierte und probeweise näher an die Seele heranführte. Einige Ausläufer reagierten auf die Verlockung des Talismans, begannen nach ihm zu greifen. Wei Wuxian atmete innerlich auf. Außerhalb eines lebendigen Körpers schien das seltsame Qi einfacher manipulierbar zu sein. Er ließ weitere süße Töne in seine Melodie einfließen und gab Jiang Cheng mit einem Nicken in Richtung der Talismane zu verstehen, die Intensität zu erhöhen. Sein Bruder aktivierte einen weiteren. Weitere Fühler formten sich aus dem wolkenartigen schwarzen Kern, welcher sich allmählich von einem Kreis zu einem Oval verlängerte. Offensichtlich war sie interessiert an dem, was sich ganz in ihrer Nähe abspielte, jedoch weiterhin unwillig, von ihrer ergatterten Seele abzurücken. Möglicherweise war diese Seele sein Lebensanker. Die Materie schien sich nur von Wirt zu Wirt fortbewegen zu können. Als Jiang Cheng Stunden zuvor das Yao gerichtet hatte, hatten sich große Teile seiner negativen Energie aufgelöst. Wahrscheinlich war nur so viel zurückgeblieben, wie sich von der Kraft der Hundeseele ernähren konnte. Auch in den Erkundungsberichten der Lan-Schüler war sie nie gesichtet worden, ja, überhaupt nur durch ihre unnatürliche Abwesenheit aufgefallen, und im zerstörten Langya waren ebenfalls keine Reste zurückgeblieben. Fairy musste das Yao-Wildschwein ausfindig gemacht haben, als das dunkle Qi am Rande des Verlöschens gestanden hatte. Der Kampf gegen die Kultivatoren von Langling dürfte es empfindlich getroffen haben. So konnten die Reste des Qi den Hund als neuen Wirt infizieren und erneut an Stärke gewinnen. Doch als der infizierte Hund auf seinen Herren traf, konnte die Materie diesem trotz kaum vorhandener Gegenwehr kaum Schaden zufügen. Es war ihr also noch nicht gelungen, komplett die Kontrolle über die spirituelle Seele zu übernehmen. Das hatte Jin Ling das Leben gerettet. Der Hund hatte ihm, in seinem verzweifelten Kampf gegen dieses übermächtige Qi, das Leben gerettet. Hatte sich mit jeder Faser seines Seins dagegen gewehrt, seinem Herren zu schaden, sich in die Höhle zurückgezogen und auf sein Ende gewartet – bis Wei Wuxian und Jiang Cheng mit ihrem Auftauchen den letzten Widerstand gebrochen hatten. Eine seltsame Energieform, die sich mit aller Macht an das Leben krallte. Ein Hund, der dieser Macht die Stirn bot und sich für seinen Herren aufopferte. Wo war er hier nur hineingeraten? Er musste zugeben, dieses regelrecht lebendige dunkle Qi faszinierte ihn. Doch er konnte dessen Überlebensinstinkt nicht über das Wohl der Hundeseele stellen. Nicht, wenn es sich um den wichtigsten Beistand seines Neffen handelte. Jiang Cheng aktivierte einen weiteren Talisman und Wei Wuxian ließ mehr seines negativen Qi in Chenqings Melodie einfließen. Endlich begann auch der Kern der dunklen Wolke sich in Richtung der Talismane zu bewegen und darunter kam der bläulich schimmernde Kern der Seele zum Vorschein. Allerdings wurde die Materie nun auf Jiang Cheng aufmerksam, der mit deutlichem Unbehagen beobachtete, wie sie seine Finger, den Handrücken und schließlich auch das Handgelenk umspielte. Wei Wuxian umrundete Jiang Cheng, griff nach Suibian, zog es einige Zentimeter aus der Scheide und schnitt sich in die Fingerkuppe. Kaum begann frisches Blut aus dem Schnitt zu quellen, zeichnete er einen kleinen Bannkreis vor ihre Füße, während er mit seiner linken Hand Chenqings Melodie weiterführte. Mit einem Kopfzeig deutete er seinem Bruder an, die Talismane dort hineinfallen zu lassen, und dieser verschwendete keinen Augenblick, dem nachzukommen. Die Geisterflöte nun wieder mit beiden Händen führend, verlieh Wei Wuxian dem Instrument neue Kraft und die Materie konzentrierte sich immer zügiger auf die Talismane im Innern des Bannkreises, nicht ahnend, dass sie sich in ihr letztes Gefängnis begab. Als die Materie endlich gebannt war und Chenqings Melodie verklang, entfuhr Jiang Cheng ein kehliger Atemzug der Erleichterung, wohingegen Wei Wuxian die Luft geradezu im Hals steckenblieb. Mit dunklen Mächten konnte er umgehen, aber der weit schwierigere Teil lag noch vor ihm. Auch wenn es sich nur um eine Seele handelte und keinen Körper mit scharfen Klauen und Fangzähnen, die ihm wochenlange Entzündungen bescheren würden, handelte es sich noch immer um eine Hundeseele, die er hier bergen und mit sich nehmen müsste. Rein rational wusste er, dass seine Angst unbegründet war, aber dennoch … “Sag mir, was ich tun soll”, holte Jiang Chengs Stimme ihn aus seinen festgefahrenen Gedanken. In der Hand hielt sein Bruder bereits einen Geister-Beutel. “Hast du schon einmal eine Seele transferiert?”, erkundigte sich Wei Wuxian, auch wenn er das darauffolgende Kopfschütteln schon erwartet hatte. Die Handhabung spiritueller Seelen gehörte nicht zu den Grundlagen der orthodoxen Kultivierung. Und er selbst kannte die Lehren des Jiang-Clans gut genug, um zu wissen, dass ihre Stärken in anderen Bereichen lagen. Die Seele dieses Hundes war zudem kein geeignetes Übungsobjekt, um in diese Disziplin einzusteigen, selbst wenn es sich nicht um Jin Lings Gefährtin gehandelt hätte. Der Kampf gegen die dunkle Materie hatte deutliche Spuren hinterlassen. Ihr mattes Leuchten zeugte von einem stark geschwächten Zustand. Zudem zogen sich zahlreiche feine Risse durch den Kern, was bedeutete, dass die Seele bei unbedarfter Handhabung zersplittern könnte. Statt sie direkt zu berühren, war es ratsamer, sie zu bitten, von sich aus in den Geister-Beutel zu schweben und sie zu begleiten. Wei Wuxian versuchte, sie mit seinem Bewusstsein zu erreichen, doch es gelang nicht. Seine Gedanken einer tierischen Seele näherzubringen, war ohnehin schwieriger als bei menschlichen Seelen. Zudem war diese erschöpft und verschreckt. Sie schien seine Präsenz kaum wahrzunehmen. “Jiang Cheng, kannst du mir kurz dein Glöckchen leihen?” Wei Wuxian streckte seine Hand aus, bemüht, das Zittern zu unterdrücken, aber er sah selbst, dass er kläglich daran scheiterte. Jiang Cheng überreichte ihm den gewünschten Gegenstand mit einem “Wofür brauchst du die?” “Ich will sehen, ob sich die Seele an Jin Ling erinnert. Vielleicht lässt sie sich dann in den Beutel locken.” Sollte dies ebenfalls nicht klappen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie mit seinem Qi zu berühren, was aus zweierlei Hinsicht gefährlich war. Nicht nur die Berührung an sich könnte die Seele zersplittern lassen. Was Wei Wuxian viel mehr sorgte, war die Gefahr, dass er über seine Angst das Qi in seinen Fingern nicht angemessen unter Kontrolle behielt und er somit den Zerfall der Seele selbst zu verantworten hätte. Jin Ling. Er konzentrierte sich voll und ganz auf seinen Neffen, als sein Bewusstsein erneut nach der Seele des Hundes tastete und das Glöckchen ein sanftes Klingen ertönen ließ. Jin Ling. Nicht nur der Seele sollte dieser Gedanke eine Orientierung geben. Wei Wuxian brauchte ihn ebenso, um diese Prozedur durchzustehen. Er tat das hier für Jin Ling. Der Junge brauchte diesen Begleiter. Und tatsächlich, die Seele reagierte. Es war ein schwaches Flackern, kaum mehr als eine ersterbende Kerzenflamme in einem Windhauch. Doch es war Zeichen genug, dass die Seele verstand und neuen Lebenswillen schöpfte. Sie erinnerte sich an Jin Ling. Sie wollte weiterleben, für ihn. Wei Wuxian atmete geräuschvoll aus. In diesem Zustand würde die Hundeseele den Transport im Geister-Beutel überstehen. Er trat einen Schritt zurück, so dass Jiang Cheng ihr entgegenkommen und sie in den geöffneten Beutel hineingleiten lassen konnte. Wei Wuxian graulte es dennoch vor Jin Lings Reaktion, wenn er mit dem Zustand seiner Gefährtin konfrontiert würde. Kapitel 12: Familie ------------------- “Fairy…” Jin Ling strauchelte, ging auf die Knie. Augenblicklich waren Wei Wuxian und Sizhui bei ihm und packten ihn unter den Armen, bevor ihm gänzlich die Beine versagten. Dicke Tränenschwalle strömten aus schockgeweiteten Augen, die Lippen stumm bebend, nicht in der Lage, seinen starren Blick von dem Geister-Beutel in den Händen seines Onkels zu lösen. Selbst Jiang Cheng wirkte überfordert. Kein Laut kam ihm über die Lippen, kein Muskel regte sich. Starr wie eine Statue der personifizierten Reue stand er Jin Ling gegenüber, den Beutel mit der Seele seiner Gefährtin Fairy in der ausgestreckten Handfläche. Wei Wuxian war nicht gut mit solchen Situationen. Es schnürte ihm die Brust ab, Jin Ling so zu sehen. Unweigerlich drängte sich die Frage auf, ob er diesen Verlust nicht hätte verhindern können, wenn er sofort bemerkt hätte, dass dieses Yao Fairy gewesen war. Vielleicht hätte er die Transformation noch aufhalten, vielleicht sogar rückgängig machen können? Wenn er- Er unterbrach sich, als er die Abwärtsspirale erkannte, in die er geriet. Fest schloss er seinen Neffen in die Arme. “Es tut mir leid.” Ein Schluchzen entkam Jin Lings Kehle. Es folgte ein hektisches Kopfschütteln. Dann wurde die Umarmung erwidert und wehleidige Klagelaute erfüllten den Raum, gedämpft durch den Stoff von Wei Wuxians Robe.   “Wuxian, mach endlich!” Hilfesuchend ging Wei Wuxians Blick zu Lan Wangji, der diesen stumm erwiderte und ihm eine stützende Hand darbot, die sehr bereitwillig ergriffen wurde - was aber nicht bedeutete, dass er der Aufforderung Jiang Chengs nachkam. “Dann bleib doch einfach hier!”, fauchte der Wartende schließlich entnervt. “Wangji, gib mir den Beutel.” Der Angesprochene nahm den Geister-Beutel, in welchem die Seele von Fairy sich vom Angriff der dunklen Materie erholt hatte, aus seiner Brusttasche und überreichte ihn. In den letzten Wochen hatte sich die Seele dank Lan Wangjis regelmäßigem Musizieren auf der Guqin wieder stabilisiert und sollte den Transfer in einen neuen Körper ohne Schwierigkeiten bewältigen können. Einen potenziellen Körper hatte man ebenso gefunden. Jin Lings Wahl war auf eine Hündin gefallen, die derselben Rasse angehörte wie Fairy. Soeben waren sie informiert worden, dass die Wehen eingesetzt hatten. Die Geburt der Welpen würde jeden Moment beginnen. Nun war der Zeitpunkt, an dem sich zahlreiche Seelen um den Mutterleib scharten und die Verschmelzung mit den Welpen stattfand. Wei Wuxian hatte sich angeboten, die Seelen zu überwachen und dafür zu sorgen, dass die spirituelle Seele Fairys einen der Körper würde beziehen können. Nur war das leichter gesagt als getan, wenn er dafür mit diesem Monster in unmittelbaren Kontakt treten musste. Jiang Cheng hatte den Geister-Beutel bereits in seinem eigenen Gewand verstaut und sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen gewandt. “W-warte! Ich komm ja schon…!”, rief Wei Wuxian ihm eilig nach und wandte sich mit einem weiteren verzweifelten Blick seinem Geliebten zu. “Du bleibst bei mir?” “Das verspreche ich.” “Die ganze Zeit?” “Die ganze Zeit.” “Du lässt mich nicht los?” “Niemals.” Zur Bestätigung seiner Worte umfasste er Wei Wuxians Hand noch fester. “Wei Ying.” Lan Wangji umfasste die zweite Hand ebenso und sah ihm fest in die Augen. “Du musst das nicht tun. Es wird schon gut gehen." Nach einigem Zögern seufzte Wei Wuxian resigniert und schüttelte den Kopf. “Es ist keine vollkommen sichere Sache. Spirituelle Seelen sind stark, aber es gehört auch Durchsetzungsvermögen dazu, sich gegen andere Seelen zu behaupten und in einem Körper einzunisten. Und manche können sehr rabiat sein.” “Wenn sie zurückscheut, kann Clanführer Jiang sie in den Geister-Beutel zurückrufen und wir warten auf eine neue Gelegenheit”, tröstete ihn Lan Wangji. “Und ertragen noch einmal Jin Lings gebrochenen Ausdruck? Seine Hoffnungslosigkeit? Seine Einsamkeit? Selbst Sizhui ist ganz verausgabt, so sehr hat Jin Lings Zustand ihn mitgenommen. Von meinem armen Herzen ganz zu schweigen.” Wei Wuxian schüttelte erneut den Kopf. “Dann gehen wir?” Wieder ein Zögern, dann ein Kopfnicken, und Wei Wuxian ließ sich von Lan Wangji aus dem Jingshi führen. Sie folgten Jiang Cheng mit einiger Verzögerung. Normalerweise genoss Wei Wuxian es, dicht an Lan Zhans muskulösen Rücken geschmiegt mit diesem auf Bichen zu fliegen, den Duft von Sandelholz und des einzigartigen Aromas seines Geliebten in der Nase. Und irgendwie genoss er es ja auch heute. Ein Stück weit. Aber es hatte nicht die beruhigende Wirkung, die es sonst auf ihn ausübte. “Wei Yin ist die mutigste Person, die ich kenne”, ertönte Lan Wangjis Stimme an seinem Ohr, vibrierte wohlig durch Wei Wuxians Brust. Doch der Satz ließ ihn nur peinlich berührt auflachen. “Was soll an mir denn bitteschön mutig sein?” “Dass du gegen deine Angst kämpfst, um anderen zu helfen.” Wei Wuxians Herz machte einen schweren Satz, so als wollte es aus seiner Brust hinaus und in Lan Zhans hineinspringen. “Warne mich, wenn du so etwas sagst. Ich falle vor Überwältigung noch von Bichen.” “Ich fange dich auf.” Mit einem wohligen “Hm” schmiegte Wei Wuxian sich noch ein wenig fester an den Menschen, dem sein Herz und seine Seele gehörten.   Jiang Cheng erwartete sie im Hof des Bauern, dessen Hündin die Welpen gebar. Er überging das unziemliche Geschmuse seines Bruders mit dem Jade-Prinzen und stellte sich an Wei Wuxians freie Seite, nachdem die Klette sich zumindest so weit gelöst hatte, dass sie laufen konnten. Normalerweise hätte er ihn für solch einen Affront zurechtgewiesen – nicht, dass es je etwas genützt hätte – aber im Moment hoffte selbst Jiang Cheng, dass diese Nähe seinem Bruder helfen würde, die Nerven zu bewahren. Denn wenn er ehrlich war, behagte ihm die Vorstellung, den Seelentransfer ohne Wei Wuxian durchführen zu müssen, ebenfalls wenig. Er hatte sich in den letzten Wochen zur Beschaffenheit und Handhabung von Seelen belesen und sich ein wenig mit der Seele in seinem Geister-Beutel vertraut gemacht, aber das ersetzte längst keine praktischen Erfahrungen. Der Bauer führte sie zu dem Stall, in dem die Hündin ruhte. Jin Ling saß bei ihr, den Rücken zur Tür gewandt, und beobachtete das erschöpft hechelnde Tier. Als er die Ankommenden hörte, drehte er sich um. “Onkel Jiang, Onkel Wei.” Und, mit etwas Verzögerung und einem angedeuteten Nicken: “Hanguang Jun.” Jiang Cheng war sogleich bei seinem Neffen, legte diesem eine Hand auf die Schulter und holte den Geister-Beutel hervor. Wei Wuxian zwang sich, seinen Blick von den Lefzen des Tieres abzuwenden und seinen Neffen anzublicken. Er versuchte, Kraft aus der Tatsache zu schöpfen, dass Jin Ling ihn noch immer mit “Onkel” ansprach und es sich warm und geborgen anfühlte, jetzt, wo dieses Wort nicht mehr die blanke Panik verkörperte. Aber er war sich nicht sicher, ob das an seinem momentanen Gefühlszustand tatsächlich etwas änderte. Sein Blick schnellte zurück zu dem Hund. Den Lefzen, den Krallen, dem prallen Bauch, der sich unter schweren Atemzügen hob und senkte. Automatisch wurde sein Griff um Lan Wangjis Hand fester und er trat einen halben Schritt zurück, doch der Händedruck, stark und gleichzeitig sanft, hinderte ihn daran, weiter zu fliehen. Schnell schloss sich Lan Wangjis linke Hand um ihre verschlungenen Finger, löste seine rechte aus dem Klammergriff. Die freigewordenen Finger wiederum fuhren nun um Wei Wuxians Rücken und legten sich auf der Hüfte an seiner anderen Seite nieder, dirigierten Wei Wuxian subtil vor Lan Wangjis Körper, wo sie Rücken an Brust verharrten. “Wenn du gehen willst-”, begann Lan Wangji dennoch, wurde aber von Wei Wuxian unterbrochen. “Nein, es ist gut so.” Und wie zur Bestätigung seiner Aussage, zum Dank für den Halt, den sein Geliebter ihm gab, schmiegte Wei Wuxian sich noch enger an ihn. Lan Wangji ließ es geschehen, hielt, glühend heißer Ohren zum Trotz, sein Versprechen. Ein gequältes Fiepen entfuhr der Hündin, und Wei Wuxian entfuhr beinah die Seele, so heftig zuckte er zusammen. Lan Wangji konnte nicht anders, als selbst seinen letzten Anstand über Bord zu werfen und beide Arme fest um Wei Wuxians Körper zu schlingen. Und es half. Irgendwie. Wei Wuxian wusste, dass er längst wahnsinnig geworden wäre, wenn sein Partner nicht solch ein Rettungsanker für ihn wäre. Aber es war nicht genug. Auch wenn der letzte Rest seines rationalen Verstandes ihm sagte, dass dieser Hund gerade die schlimmsten Schmerzen eines Lebewesens durchmachte und keinesfalls angreifen könnte, dass er nicht allein war und nicht nur Lan Zhan, sondern auch Jiang Cheng und alle anderen Anwesenden um jeden Preis verhindern würden, dass dieses Monster auch nur auf Schwertlänge an ihn herankommen würde, dass er selbst längst stark genug war, um es spielend leicht mit solch einer Gefahr aufnehmen zu können – es half alles nichts. Er verlor halb den Verstand vor Angst. Oder das Bewusstsein. Sein Puls raste, seine Atmung ging viel zu flach, viel zu schnell. “Onkel Wei, du … du musst das nicht tun. Ich … schaff das schon”, drang die schwache, unsichere Stimme seines Neffen zu ihm durch. Vor der gebärenden Hündin kniend, ihm den Rücken zugewandt, Kopf und Schultern kraftlos nach vorn gefallen. Die zu Fäusten geballten Hände im starken Kontrast zum Rest von Jin Lings Körper, ein Kontrast, der auch im Innern des Jungen toben musste. Dieser Anblick erdete Wei Wuxian mehr als alles andere. Es brachte ihn zurück zu dem Grund seines Hierseins. Jin Ling. Er wollte ihm beistehen. Wollte sein Möglichstes tun, um seinem Neffen das schwere Schicksal, welches auch er ihm auferlegt hatte, wenigstens ein kleines Stück weit leichter zu machen. Weder Jin Lings Vater, Jin Zixuan, noch seine Mutter, Wei Wuxians geliebte Shijie, konnten dem Jungen in seiner Einsamkeit und Trauer beistehen. Wei Wuxian würde ihn nicht im Stich lassen. Sie mochten nicht blutsverwandt sein – oder zumindest waren sie es ursprünglich nicht gewesen – aber im Herzen war der Junge schon immer sein Neffe gewesen. Jin Rulan, der Junge, dem er seinen Gesellschaftsnamen gegeben hatte. “Ich bleibe”, hauchte Wei Wuxian mit zittriger Stimme, aber dennoch bestimmt, und zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Seelen zu lenken, die sich immer enger um den Hundeleib versammelten. Ein weiterer stöhnender Laut, ein erneutes Zusammenzucken Wei Wuxians in Lan Wangjis schützenden Armen, und der erste Welpe wurde, ummantelt von seiner noch intakten Fruchtblase, herausgepresst. Als die Hündin mit ihren weiß aufblitzenden Fangzähnen die Fruchtblase aufbiss und fraß, verlor Wei Wuxian beinah das Bewusstsein. Als er sich wieder gefangen hatte, hatte bereits eine der gewöhnlichen Seelen den neuen Körper bezogen und Wei Wuxian schalt sich dafür, nicht besser aufgepasst zu haben. “Es ist ein Rüde!”, informierte ihn der Bauer, der neben seiner Hündin kniend die Geburt überwachte. Zumindest war es somit keine verlorene Chance. Sie waren auf den Körper einer Hündin aus. Wieder stöhnte die Hündin, alle ihre Muskeln verkrampften sich. Doch diesmal würde Wei Wuxian durchhalten. Er klammerte sich an Lan Wangjis Hände und beobachtete die Seelen, erzeugte eine dünne Barriere unmittelbar am Hinterleib der Hündin, so dass die Seelen sich nicht wieder sofort auf den neugeborenen Welpen stürzen könnten. Wieder zerbissen spitze Hundezähne die Fruchtblase und die Barriere drohte einen Moment sich aufzulösen, als Wei Wuxian erneut gegen die Ohnmacht kämpfte, doch einen Herzschlag später hatte er sich wieder unter Kontrolle. “Noch ein Rüde”, informierte der Bauer sie und Wei Wuxian ließ die Barriere verschwinden. Kaum war ihre Energie verloschen, stürzten sich die Hundeseelen auf den noch reglosen Welpen, einer gelang die Verschmelzung und sie hauchte dem Tier Leben ein. Was, wenn es gar keine Weibchen gibt?, ging es Wei Wuxian verzweifelt durch den Kopf. Allein der Gedanke, das hier noch einmal durchstehen zu müssen, trieb ihm Tränen der Verzweiflung in die Augen. Sein Blick legte sich wieder auf Jin Ling, der genauso angespannt war, genauso zitterte, wenn auch aus einem anderen Grund. Lass ein Weibchen dabei sein! Wieder spannte die Hündin sich an, wieder kratzte Wei Wuxian seine letzten Nerven zusammen, um eine sanfte Barriere zu erzeugen. Wieder wurden sie enttäuscht. Keine Hündin. Das Warten ging weiter und die Hoffnung begann zu schwinden. Wieder setzte das Krampfen ein, wieder zog Wei Wuxian eine sacht schimmernde Barriere auf und ertrug den kalten Schweiß beim Anblick des Zerbeißens der Fruchtblase. Alle hielten den Atem an. “Eine Hündin!”, verkündete der Bauer und die Erleichterung im Raum war regelrecht greifbar. Wei Wuxian vergrößerte die Barriere um die gesamte Hündin und drückte die suchenden Seelen sanft zurück. Die Mutter zerbiss sogleich erneut die Fruchtblase und begann, ihr Junges abzulecken. Jiang Cheng kniete sich neben den Welpen und streckte seine Hand mit dem geöffneten Geisterbeutel ins Innere der Barriere. Sofort erhob sich die spirituelle Seele und verschwand im Körper des kleinen Hundes. Einen weiteren Herzschlag blieb er regungslos, dann zuckten seine Beine und ein Schnaufen verkündete, dass er seinen ersten Atemzug, den ersten Schritt ins Leben, genommen hatte. Wei Wuxians Barriere zerstarb, sein Kopf fiel schwach gegen Lan Zhans Wange, er schloss die Augen und ließ einen zittrigen Atemzug erweichen. Jin Ling schniefte und führte unsicher einen Finger an den winzigen Kopf des Welpen, der von seiner Mutter weiter ausgiebig gesäubert wurde. “Fairy …” “Du kannst sie kurz nehmen”, ermutigte ihn der Bauer, nahm das winzige Mündel vorsichtig in seine großen Hände und überreichte es dem weinenden Jungen. Zögerlich hielt er es an seine Brust und schirmte es mit seiner freien Hand von der kühlen Umwelt ab. “Onkel Jiang …” Tränennasse Augen suchten seinen Onkel. “Onkel Wei …” Sein Blick wanderte weiter zu Wei Wuxian. Es folgte eine tiefe Verbeugung. “Ich danke euch so sehr …!” Jiang Cheng fuhr sich fahrig durch die Haare und ließ seine Hand dann schwer auf den Kopf seines Neffen fallen. “Pass gefälligst besser auf sie auf!” “Das werde ich!”, versprach Jin Ling und hob den Kopf, sein Blick voller Entschlossenheit. “Und halt sie mir vom Leib!”, setzte Wei Wuxian nach. Es hatte ein Scherz werden sollen, doch so elend, wie er dabei aussah und klang, wusste er selbst, dass er dabei kläglich versagt hatte. “Versprochen!” Der Bauer nahm ihm den Welpen wieder ab und brachte ihn zurück zu seiner Mutter, die augenblicklich ihr Abschlecken wieder aufnahm. Als Jin Ling sich vergewissert hatte, dass es Fairy gut ging, blickte er erneut nach seinen Onkeln. Lan Wangji hatte sich auf ein sittliches Maß zurückgezogen und beschränkte sich nun darauf, Wei Wuxians Hand fest zu halten. Jiang Cheng war zu seinem Bruder getreten und legte ihm eine Hand auf die Schulter. “Danke.” Wei Wuxian wusste, dass sich das nicht auf seine ‘unverzichtbare’ Leistung bezog. Die Barriere hätte auch Jiang Cheng erzeugen können. Und selbst wenn er sich unsicher gewesen wäre, gleichzeitig die fragile Barriere und die Seele im Geister-Beutel zu kontrollieren, hätte Lan Zhan sich um die Barriere kümmern können. Aber Wei Wuxian war da. Er war geblieben, trotz all der tief verwurzelten Furcht, um ein Auge darauf zu haben, dass nichts schief ging, und auch einfach, um Jin Ling beizustehen. “Ich kann doch unseren Neffen nicht im Stich lassen”, kommentierte er mit einem erschöpften, schiefen Lächeln. “Onkel Wei! Onkel Jiang!” Mit drei schnellen Schritten hatte Jin Ling die Distanz zu seinen Onkeln überwunden, seine Arme um sie geschlungen und sein Gesicht zwischen ihren Schultern vergraben. Er klammerte sich an sie, so wie es vor gerade einmal einem halben Jahr Sizhui bei ihm und Lan Zhan getan hatte. Wei Wuxian blieben die Worte im Hals stecken ob der Gefühle, die diese Innigkeit in ihm aufwallen ließen, die ihm zeigte, stärker, als Worte es je vermocht hätten, dass seine Familie wieder ein Stück gewachsen war. Seine Familie. Kapitel 13: Bonus: Bruder (Jiang Chengs Perspektive) ---------------------------------------------------- Wei Wuxian war so tief in seinem Albtraum gefangen, dass er nicht einmal mitbekommen hatte, dass die Gefahr vorüber war. Die Schreie nach “LAN ZHAN!!” hallten unverändert von den Höhlenwänden. “Nun komm mal wieder zu dir!”, murmelte Jiang Cheng schließlich. Er wünschte, seine Schwester wäre hier, die in solchen Situationen immer gewusst hatte, was zu tun war. Was sollte er, Tölpel, der er nun einmal war, denn ausrichten? Damals, als Wei Wuxian mitten in der Nacht fortgelaufen war, weil Jiang Cheng gedroht hatte, Hunde auf ihn zu hetzen, hatte sie alle beide nach Hause zurückgetragen. Aber auch mit zwei unverletzten Beinen könnte er ihn wohl kaum auf seinen Rücken laden und hier heraustragen. Allein über diese Vorstellung fühlte er eine ungelenke Verlegenheit in sich aufkommen. Stattdessen versuchte er es zögerlich mit einem Händedruck auf der Schulter – einen Herzschlag lang, dann fühlte sich auch diese Geste deplatziert an und er zog seine Hand schleunigst zurück und drehte sich weg. “Ich hab dir doch versprochen, wenn ich einen Hund sehe, verjage ich ihn für dich”, flüsterte er das Versprechen, das er Wei Wuxian einst gegeben hatte. Eigentlich hätte Jiang Cheng nicht damit gerechnet, dass seine Worte Gehör finden, doch das Schreien und Scharren stoppte. Jiang Cheng atmete tief durch. Bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, besah er sich die eingestürzte Wand, um herauszufinden, wie sie hier am schnellsten wieder rauskamen. Doch Wei Wuxians nächste Worte trieben ihm kalten Schweiß auf die Stirn. “Suibian?” Seine linke Hand schnellte an seinen Gürtel, das Schwert samt Griff und Scheide mit seinem Ärmel verdeckend. “Wenn du dein Schwert vermisst, schicke ich es dir später zurück”, versuchte Jiang Cheng abzulenken. “Das rote Leuchten war Suibian”, beharrte Wei Wuxian und drehte sich mit seinem verheulten Gesicht zu ihm um, starrte auf Jiang Chengs Ärmel und das dahinter liegende Schwert. Jiang Cheng musste einsehen, dass sein Ablenkungsversuch gescheitert war, und änderte seine Taktik. Er streckte seinen Rücken, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte gleichgültig auf Wei Wuxian herab. “Sandus Klinge wurde bei der letzten Nachjagd beschädigt. Wenn dein alter Zahnstocher schon bei mir rumliegen muss, kann er sich auch nützlich machen.” Wei Wuxian musterte ihn eine Weile schweigend. “Es tut mir leid.” Musste der denn ausgerechnet dann reumütig werden, wenn man es am wenigsten gebrauchen konnte? Jiang Chengs Puls beschleunigte sich, während er sich fieberhaft nach einem Ausweg aus diesem Gespräch umsah. Er legte keinen Wert auf diese Auseinandersetzung. Jetzt nicht, und auch nicht sonst irgendwann. “Vergiss es. Es ist Vergangenheit. Das hast du selbst gesagt.” “Aber für dich ist es das nicht. Und dass ich mein Versprechen gebrochen habe – das werde auch ich nie vergessen können.” Er musste hier weg. Mit steifen Schritten marschierte Jiang Cheng an ihm vorbei und inspizierte die Geröllmauer. “Mach dich nützlich und überleg lieber, wie wir hier wieder rauskommen.” Aber Wei Wuxian wäre nicht Wei Wuxian, wenn er auch nur EINMAL das tun würde, was man von ihm will. “Ehrlich gesagt, ich hab mich oft gefragt, ob wir diese Sache nicht endlich aus der Welt schaffen können, damit ich wieder zum Lotus Pier kommen kann. Umziehen wird nicht gehen, dafür haben Lan Zhan und ich in der Wolkenschlucht zu viel zu tun. Aber ich könnte alle paar Monate als Gastlehrer vorbeikommen und beim Training helfen. Oder wir koordinieren uns bei den Nachtjagden oder veranstalten gemeinsame Trainingsprogramme. Die Clans würden ohnehin davon profitieren, wenn wir die ganze Konkurrenz und das Misstrauen der älteren Generationen nicht auf die jüngeren übertragen.” “Ich sagte, ES IST GENUG!” Dieser Bastard raubte ihm noch den letzten Nerv! “Du kannst doch nicht ernsthaft wollen, dass alles so bleibt, wie es ist!”, rief Wei Wuxian, offenbar nun selbst die Geduld verlierend. “Und du kannst nicht einfach alles umkrempeln, wie es dir passt, und so tun, als wär nie was gewesen!”, brüllte Jiang Cheng zurück. “JIANG CHENG! Spring EINMAL über deinen gottverdammten Schatten und sei nicht so ein verbohrter Dickschädel! Ist es dir vollkommen egal, dass alles, was wir früher hatten, in Scherben liegt?!”, donnerte es tausendfach durch die Höhle. “DANN SAG DU MIR DOCH, WAS ICH TUN SOLL! ICH HAB DICH UMGEBRACHT, VERDAMMT!!” In dem Moment, da die Worte ausgesprochen waren, erreichten sie plötzlich eine Tragweite, der Jiang Cheng sich bis dahin nie bewusst gewesen war. Und auf einmal ergab alles so viel Sinn. Die Albträume, die Unruhe, die schwelende Angst, die ständige Wut. Wut auf sich selbst. “... Was?” Und zum ersten Mal in dessen zwei Leben erlebte Jiang Cheng Wei Wuxian sprachlos. Er gaffte ihn an, als hätte Jiang Cheng ihm soeben eröffnet, dass er schwanger war. “Ich hab dich umgebracht”, wiederholte er die Worte, diesmal flüsternd, auf der Zunge abwägend, ob sie tatsächlich die Antwort bereit hielten, die ihm sein Instinkt nahe legte. Und je länger er darüber nachdachte, desto logischer erschien alles. Und mit der Erkenntnis kam der Schmerz. “Jiang Cheng! Du hast lediglich den Bannkreis durchbrochen. Ich hab die Kontrolle verloren. Ich hätte das Amulett längst zerstören sollen und nicht erst, nachdem ich solch ein Blutbad angerichtet hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das seine Kräfte verstärkt hat. Es grenzte an ein Wunder, dass mich nicht schon die andere Hälfte zerrissen hat.” “Darum geht es doch gar nicht!”, fauchte Jiang Cheng dazwischen. “Ich war da! Ich hab sie gesehen! Das Balg, die Alten, die Krüppel.” Er besann sich zurück an all die gebrochenen, verängstigten Gesichter. Bis auf Wen Qing hatte nicht einer von ihnen einen goldenen Kern besessen. “Ich wusste ganz genau, dass du da keine Armee aufbaust, sondern von der Hand in den Mund lebst. Und ich hab nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht und den Gerüchten Einhalt geboten.” Jiang Chengs Beine gaben nach. Er sackte auf die Knie, sein Kopf kippte gegen die erdige Wand. “Ich hätte ihnen einfach einen Platz am Lotus-Pier anbieten sollen, dann hättest du dich nicht zwischen ihnen und mir entscheiden müssen und niemand hätte noch gewagt, einen Keil zwischen uns zu treiben.” Heiße Tränen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche, doch er hatte weder die Kraft sie zurückzuhalten, noch seinen Arm zu heben und sie fortzuwischen. “Ich hätte auf dem Goldschuppenplateau für dich einstehen müssen, nach der Sache mit dem Arbeitslager am Qiongqi-Pass, als alle die Tatsachen verdreht haben und dich zur Rechenschaft ziehen wollten. Mir war klar, dass sie nichts weiter als neidisch auf deine Macht waren und die zukünftige Stärke vom Lotus-Pier fürchteten. Aber was mach ich? Ihnen nach dem Mund reden und dich rauswerfen! Weil ich dich lieber meinem kranken Stolz opfere als auf deine Loyalität zu vertrauen! Nicht du hast dein Versprechen gebrochen! ICH habe alles zunichte gemacht!” “JIANG CHENG!!” Grob wurde er an den Schultern gepackt und in Wei Wuxians Arme gezogen, kraftlos, wie eine Puppe, eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt hatte. Die Tränen liefen unaufhörlich weiter. “Mach dich nicht schlechter, als du bist. Ich bin kein Heiliger”, drang eine zittrige Stimme durch Stoff und Arme zu seinem in Watte getauchten Kopf. “Und damals erst recht nicht. Du hattest so recht, ich HATTE einen verdammten Heldenkomplex. Ich hab nie verstanden, wie beschissen es sich anfühlt, wenn andere für dich ins Verderben rennen und du nur ohnmächtig zusehen kannst. Ich hätte dich einfach fragen sollen, ob du uns einen Platz am Lotus-Pier gibst. Aber ich wollte es allein schaffen. Und wenn ich ehrlich bin: Selbst wenn du mir das damals angeboten hättest, ich hätte abgelehnt. Ich war verblendet und … und …” Die Umarmung wurde fester, ein schweres Schlucken unterbrach die Rede. “Genauso in Lanling. Wenn ich damals ernsthaft argumentiert hätte, wäre den anderen Clans gar nichts anderes übrig geblieben, als die Füße stillzuhalten. Aber überheblich und eingebildet wie ich war, hielt ich es nicht für nötig, mich anständig zu erklären. Ich hab erwartet, dass alle nach meiner Pfeife tanzen, aus Schuldgefühlen wegen der Sunshot-Kampagne oder zumindest aus Angst vor meiner Macht. Jiang Cheng, verstehst du? Diesen Weg ins Verderben habe ich ganz allein beschritten! Ich hab mir Feinde gemacht, wo immer ich hinging. Vielleicht hätten die anderen Clans aufgegeben, mich stürzen zu wollen, wenn sie gesehen hätten, dass sie an uns als Einheit nicht vorbeikommen. Vielleicht hätte es das Unausweichliche aber auch nur hinausgezögert. Und vielleicht hätte es auch gar nichts geändert und wir wären am Ende nur beide gestorben, und der Yunmeng Jiang-Clan mit dir.” Die Umarmung lockerte sich, Wei Wuxian drückte ihn ein wenig von sich, blickte ihm ins Gesicht. Trotz allem Schmutz und all der Tränen - oder vielleicht gerade deshalb - strahlte er eine Ernsthaftigkeit aus, die Jiang Cheng bis ins Mark fuhr. “Ja, wir haben Fehler gemacht. Beide. Aber vom rechten Weg sind wir nie abgekommen. Jin Guangshan hat Zivilisten in Arbeitslager gesteckt und ermorden lassen! Jin Zixun hat mir den Fluch der Tausend Löcher angehängt und mich in einen Hinterhalt gelockt. Und von dem, was Jin Guangyao alles verbrochen hat, will ich gar nicht erst anfangen. Das war nicht unsere Schuld und es lässt sich nicht mehr ändern, hörst du? Egal, wie sehr ich es mir wünsche, wir bekommen Shijie nicht zurück. Jin Zixuan kommt nicht zurück. Das Blutbad, das ich in der Nachtlosen Stadt angerichtet habe, wird nicht ungeschehen. Aber … Jin Ling ist noch da. Du bist noch da. Bitte, ich will wenigstens meinen Neffen und meinen Bruder nicht verlieren!” … Bruder … Das Wort schmiegte sich an seine blutende Seele. Jiang Cheng schwirrte der Kopf. Der ganze Redeschwall ergab im Moment noch nicht viel Sinn. Aber es tat gut, Wei Wuxian bei sich zu haben. Es tat gut, trotz all seiner Vergehen nicht verurteilt zu werden, sondern einen Platz im Herzen der Person angeboten zu bekommen, die er so schmerzlich vermisst hatte. Neue Tränen rannen ihm über die Wangen. Wie hatte er all die Jahre ausblenden können, wie sehr er sich nach Wei Wuxian gesehnt hatte? Bruder. Zittrig hob Jiang Cheng die Arme, legte sie dem anderen zögerlich an den Rücken, zog ihn an sich heran, schloss die Augen. Er würde Zeit brauchen, um über all das nachzudenken. Aber für den Moment war es nicht von Bedeutung. Zum ersten Mal seit vierzehn Jahren fühlte sich sein Innerstes irgendwie richtig an. Sofern man inmitten dieser tosenden Taubheit von “fühlen” reden konnte. “Bruder.” Epilog: Heilung --------------- Wei Wuxian als Bewohner der Wolkenschlucht war schon ein seltsames Bild. Nicht, dass Jiang Cheng das nicht vorher schon gewusst hätte, aber es mit eigenen Augen zu sehen, war doch noch einmal etwas anderes, als es sich nur vorzustellen. Wei Wuxian war und blieb wie ein Tintenklecks auf einer feinen Tuschezeichnung, ein Misston in einer schönen Melodie. Oder halt ein Sturm, der durch die Privaträume des zweiten Jade-Prinzen gefegt war. Nicht, dass Jiang Cheng eine Ahnung hatte, wie dessen Räumlichkeiten vor der Inbeschlagnahme durch Wei Wuxian ausgesehen hätten, doch viel Fantasie brauchte es nicht, um es sich vorzustellen: schlicht, zweckmäßig, farblos. Sprich: unpersönlich und langweilig. Auch wenn die Ornamente am Gebäude und den Möbeln zumindest die berühmte Lan-Ästhetik durchscheinen ließen. Das Zimmer, welches Jiang Cheng jetzt jedoch verstohlen begutachtete, war überhaupt nicht mehr mit dem stoischen Jadeprinzen in Verbindung zu bringen: zerknülltes Papier, Schreibutensilien und Talismane pflasterten den Boden, Hasen- und Landschaftsbilder verliehen den kahlen Wänden einen individuellen Ton, Weinschälchen stapelten sich neben dem Tisch, Bonbonverpackungen achtlos hineingeknüllt. Ein Bündel Chilischoten hing zum Trocknen im Fenster. Hinter einem mit Blattgold verzierten Raumteiler lugten Stoffzipfel achtlos beiseite geschobener Wäsche hervor. “Ich war noch nicht ganz mit Aufräumen fertig”, schmunzelte Wei Wuxian ein wenig beschämt. Jiang Cheng nahm einen Schluck von seinem Tee. ‘Nicht ganz fertig.’ Wei Wuxians Ornungs-Philosophie hatte sich seit ihrer Jugend keinen Deut gebessert. Jiang Cheng kannte es nicht anders und zuckte unberührt mit einer Schulter. “Immerhin hast du es fertig gebracht, den Tisch freizuräumen. Der Rest soll mir egal sein. Ich muss hier nicht wohnen.” Insgeheim genoss er die Vorstellung, wie der penible Lan-Schnösel wohl tagtäglich gegen seine Natur zu kämpfen hatte, um Wei Wuxians Chaos zu ertragen. Dennoch war er froh, den Raum heute nicht mit ihm teilen zu müssen. Ob nun der zweite Lan-Meister von sich aus ausgerechnet heute einen Auftrag außerhalb der Clanmauern angenommen hatte oder Wei Wuxian seine Einladung so geplant hatte – Jiang Cheng war dankbar für die Gelegenheit, sich langsam in diese neue Situation eingewöhnen zu können. Wei Wuxian hatte ihn eingeladen. Vor einer Woche hatte der Brief ihn erreicht. Einen Monat nach dem Transfer von Fairys Seele in den Hundewelpen. Jiang Cheng hatte sich fest vorgenommen, von sich aus einen Schritt auf Wei Wuxian zuzugehen. Das hatte er wirklich. Sonst hätte er sich an jenem Tag nicht mit den Worten “Ich melde mich, sobald meine Aufgaben am Lotus-Pier es zulassen” von ihm verabschiedet. Es gab so vieles, was sie sich noch zu sagen hatten. Was Jiang Cheng seinem Bruder sagen musste. Doch mit den Tagen wuchs die Unsicherheit. Wie sollte er diese Dinge aussprechen, wenn er nicht einmal in seinem eigenen Kopf die richtigen Worte fand? War es überhaupt das Richtige, die Vergangenheit noch einmal aufzuwärmen? Was sollte es jetzt noch bringen, außer dass alte Wunden wieder aufrissen? Und wie sah das überhaupt aus, wenn Jiang Cheng aus heiterem Himmel und ohne einen plausiblen Grund, wie ein einsames, verlorenes Kind, um einen Empfang in der Wolkenschlucht bat? So wurden aus Tagen Wochen und schließlich war er es, der die Einladung erhalten hatte. Immerhin war er nun hier. Und war dankbar für Wei Wuxians Gabe, den Leuten stundenlang ein Ohr abkauen zu können. Ein bisschen Smalltalk, ein paar Fragen, wie sich Yunmeng verändert, wie sich die Yungmeng Jiang-Sekte entwickelt hätte. Ob er Jin Ling seither schon wieder besucht hätte. Auf die Frage hin, was er seit ihrem letzten Treffen gemacht habe, berichtete Wei Wuxian ihm, dass er die ominöse dunkle Materie eingehender untersucht hatte. “Jiang Cheng, ich fürchte, die wird wohl aus meiner Unheilsschmiede gestammt haben”, beichtete er. Jiang Cheng zog skeptisch die Augenbrauen kraus. “Wie das?” “Dieses … Wesen … Im Grunde strebte es einzig und allein danach, negative Energie zu speichern. Als ich damals in die Grabhügel gezogen bin, habe ich an einem Artefakt mit denselben Eigenschaften gearbeitet, nur eben nicht so lebendig. Aber ich brauchte etwas, das in kurzer Zeit große Mengen negativer Energie speichern konnte, um einen Lebensraum für die Wen-Flüchtlinge zu schaffen. Und nun taucht auf einmal solch ein Phänomen auf. Ungefähr zeitgleich mit dem Tod eines Kultivatoren der Moling Su-Sekte.” “Er könnte ebenfalls ein Opfer von diesem Zeug gewesen sein”, wandte Jiang Cheng ein. Doch Wei Wuxian schüttelte den Kopf. “Wenn so etwas eine natürliche Manifestation negativen Qis gewesen wäre, hätte es in unserer Geschichte der Kultivierung bereits ähnliche Entdeckungen geben müssen. Möglicherweise wäre es sogar ein häufig anzutreffendes Phänomen, so wie wilde Zombies oder verunreinigte spirituelle Gegenstände. Aber eine Materie, die dunkle Energie aufsaugt? Sich Wirte sucht und von Ort zu Ort weiterbewegt?” Wei Wuxian schüttelte erneut den Kopf und Jiang Cheng senkte den Blick, einsehend, dass sein Bruder hier einen Punkt hatte. “Es wäre nicht das erste Mal, dass meine alten Aufzeichnungen in fremde Hände gerieten und Schaden anrichteten”, beendete er schließlich seinen Gedankengang. Stille legte sich über sie. Eine erdrückende Stille, von der Jiang Cheng nicht so recht wusste, wie er sie durchbrechen sollte. Er nippte an seinem Tee, nur um festzustellen, dass die Teeschale bereits leer war. Um sich abzulenken, schenkte er ihnen beiden nach. “Danke”, nahm Wei Wuxian die Geste mit einem Lächeln an und trank einen Schluck. “Jedenfalls … Diese Entdeckung hat uns alle nur weiter darin bestärkt, dass ein geregelter Kurs in dunkler Kultivierung in unserer heutigen Zeit mehr als notwendig ist.” Jiang Cheng war mehr als dankbar, dass Wei Wuxian ihr Gespräch in sanfteres Fahrwasser zurückmanövrierte. Und er nutzte sogleich die Gelegenheit, einen der Punkte anzusprechen, wegen denen er heute hier war. “Diese Geschichte bist du mir noch schuldig.” Die Aufforderung entlockte Wei Wuxian ein verschwörerisches Grinsen und an der Art, wie er sich katergleich räkelte und seine Zähne hervorblitzen ließ, wusste Jiang Cheng, dass die kommende Anekdote Unterhaltung versprach.   -~*~-   Man musste nicht Lan Xichen oder Wei Wuxian heißen, um zu erkennen, dass Lan Wangji ausgelaugt war, als er an diesem Abend heimkehrte. Und es war höchst alarmierend, dass ausgerechnet ihm die Erschöpfung so buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand. Der Besuch bei seinem Bruder Xichen musste ihm heute besonders viel abverlangt haben. Wei Wuxian ließ das Küchenmesser sinken, mit dem er gerade Rettich in haarfeine Stifte geschnitten hatte – näher ließ man ihn nach wie vor nicht an die Küchenutensilien heran – und schmiegte sich in Lan Wangjis Arme. Es gab ihnen beiden so viel Halt. Die Umarmung intensivierte sich augenblicklich und er fühlte sich noch tiefer in kühle, weiche Seidenstoffe gehüllt, Lan Zhans einzigartiger Geruch von Sandelholz und Erde gepaart mit wärmender Spätjulisonne, die seine Haare ganz besonders intensiv eingefangen hatten, in der Nase. “Zewu-jun hat nicht vor, seine Isolation in absehbarer Zeit zu beenden, was?”, brachte Wei Wuxian die einzig denkbare Ursache von Lan Wangjis Abgespanntheit zur Sprache. Der Griff um seinen Rücken und seine Schulterblätter festigte sich weiter, so dass es an schmerzhaft grenzte, doch Wei Wuxian störte sich nicht daran. Wenn es Lan Zhan half, seine Gefühle zu ordnen, würde er sogar die ein oder andere gebrochene Rippe in Kauf nehmen. Wange und Nase seines Liebsten schmiegten sich in sein Haar, atmeten Wei Wuxians Geruch ebenso intensiv ein, wie dieser es gerade eben selbst getan hatte. Und noch immer hielt sein Jade-Prinz sein Schweigen aufrecht. “Wie geht es ihm? Isst und trinkt er ausreichend? Findet er genügend Schlaf?”, erkundigte Wei Wuxian sich weiter. “... Es ist schwer zu sagen”, ertönte nach einigen weiteren Atemzügen in inniger Stille Lan Wangjis erschöpfte Stimme. “Er isst und schläft weniger, als er sollte.” Und wer konnte es ihm auch verdenken? Seine Blutsbrüder waren nach Lan Wangji und ihrem Onkel Lan Qiren das nächste, was er an einer Familie gehabt hatte. Lan Xichen und Nie Mingjue hatten sich seit Kindertagen gekannt. Jin Guangyao hatte ihn und einen Großteil der Lan-Bibliothek gerettet, als Wen Xu die Wolkenschlucht niedergebrannt hatte. Jin Guangyao hatte sich für ihn und sie alle in Lebensgefahr begeben, als er sich als Spion in Wen Ruohans unmittelbaren Dunstkreis geschlichen hatte. Ihm war es gelungen, den Tyrannen niederzustrecken und damit den Krieg zu beenden. Zwischen den Blutsbrüdern war es Jin Guangyao gewesen, der am innigsten mit Lan Xichen verbunden gewesen war. Sie hatte eine unerschütterliche Freundschaft und Loyalität zwischen sich aufgebaut. Und wer konnte es nicht irgendwo nachvollziehen, dass Jin Guangyao vom rechten Weg abgekommen war, bei all den Widrigkeiten, mit denen das Leben ihn gestraft hatte? Wem hätte es da nicht das Herz zerschmettert, inmitten der schlimmsten Krise seit fast zwei Jahrzehnten erkennen zu müssen, dass die Person, der man sein Herz und seine Seele anvertraut hatte, diese Geschenke jahrelang ausgenutzt und manipuliert hatte? Und zwar so weit, dass man für den Tod ihres anderen Blutsbruders Nie Mingjue mitverantwortlich geworden war? Um schließlich die Klinge zu führen, die Jin Guangyao den Todesstoß versetzte, nur um während dessen Ableben verstehen zu müssen, dass man wahrscheinlich einem Missverständnis unterlegen war? Um im letzten Moment von diesem zwiegesichtigen, manipulativen und doch innig geliebten Bruder vor dem sicheren Tode bewahrt zu werden? Wer sollte nach all dem noch wissen, woran man glauben soll, und die Kraft finden, wieder aufzustehen, die Scherben seines Herzens einzusammeln und die Vergangenheit hinter sich zu lassen? Wei Wuxian verstand sehr wohl den bitteren Albtraum, aus dem Lan Xichen einfach nicht auszubrechen vermochte. Ebenso wie Lan Wangji. Und so sehr es sie auch schmerzte, Lan Xichens innere Qualen mitansehen zu müssen, so waren ihnen dennoch die Hände gebunden. “Wei Ying, du wirkst erschöpft”, holte Lan Wangji ihn aus seinen trüben Gedanken, ohne die Umarmung zu lösen. Er lächelte matt in den seidenen Kragen seines Partners und tastete mit den Fingern nach den Enden des weißen Lan-Stirnbands. Es half niemandem, wenn sie ebenso an Lan Xichens Schicksal zerbrachen. Sie hatten einen Clan zu führen. Lan Qiren war nicht mehr der Jüngste und konnte nicht mehr alles allein schultern. Wei Wuxians Sorgen waren bei weitem nicht so schwerwiegend wie die von Lan Wangji und gerade deshalb geeignet, ihm aus seinen eigenen trüben Gedanken kurzfristig herauszuhelfen. Es tat immer gut, wenn man sich um die Probleme anderer kümmern konnte. Also seufzte er ergeben. “Es ist nichts Dramatisches.” Lan Wangji gab ihm mit einem fragenden “Hm?” zu verstehen, dass er weitersprechen sollte. “Ich bin mit den Gedanken einfach noch nicht ganz aus den Grabhügeln zurück. Ich weiß, dass ich an der Vergangenheit nichts ändern kann. Aber das allein beschwichtigt die Reue nicht, darüber, wie leichtsinnig ich damals war. Da ist noch immer diese kleine, hartnäckige Stimme in mir, die mich fragt, ob ich Shijies und Jin Zixuans Tod nicht hätte vermeiden können. Und wenn ich dann diese einfältigen Jungspunde sehe … Und es ist ja nicht mal nur der Nachwuchs! Neulich bei einer Nachtjagd hat sogar dieser Hefekloß von einem Clanführer von der Bingzhou Peng-Sekte versucht mich anzuwerben!” “Wei Ying”, rügte Lan Wangji die ausfallende Wortwahl, aber es fehlte die übliche Härte. “Aber es ist doch wahr!” Wei Wuxian schnaubte verächtlich. “Als ob einer von meiner Sorte alle paar Tausend Jahre nicht genug wäre.” Lan Wangji hielt ihn stumm, massierte in leichten, kreisenden Bewegungen seinen Rücken und Nacken. Es dauerte nicht lange, bis Wei Wuxian sich entspannte, die Augen schloss und wohlig ausatmete. “... Vielleicht solltest du tatsächlich Unterricht geben”, vibrierte Lan Wangjis Stimme nach einer Weile erneut sanft an seinem Hinterkopf. Wei Wuxian zog die Augenbrauen zusammen, seine Kiefer spannten sich an. “Lan Zhan, seit wann hast du solch einen sarkastischen Humor?” “Wei Ying”, mahnte er mit unverändertem Sanftmut. Und Wei Wuxian schwieg. Wartete auf eine Erklärung. Denn egal, wie er es drehte, er sah solch ein Unterfangen kein gutes Ende nehmen. Das war einfach kein guter Lehrstoff. Dafür brauchte er nicht einmal Lan Qirens tadelnden Blick. Bei diesem Thema waren sein Schwiegeronkel und er ausnahmsweise einer Meinung, auch wenn besagter Onkel wahrscheinlich nicht einmal ahnte, wie sehr ihre Ansichten hier übereinstimmten. “Fehlendes Wissen lässt die Menschen die Gefahren unterschätzen”, sprach Lan Wangji schließlich weiter. “Sie sehen nur dein jetziges Ich. Es gibt zu wenige Aufzeichnungen über den dunklen Pfad, sowohl seine Eigenarten und Nutzungsmöglichkeiten als auch seine Gefahren. Besonders kleineren Clans und freien Kultivatoren fehlt der Zugang zu diesem Wissen. Eine Weitergabe könnte zu einer Verminderung von Leichtsinn und damit auch zur Vermeidung von Unfällen beitragen.” Wei Wuxian dachte über diese Argumentation nach. Sie ergab durchaus Sinn. Es waren stets jene, die ihn nicht von früher kannten, die von ihm in der dunklen Kultivierung unterrichtet werden wollten. Solche, die die alten Geschichten nicht kannten oder nicht glauben wollten. Die Geschichten jener Helden, die sich dieser Herausforderung gestellt hatten und schrecklich an ihr gescheitert waren. Die Frage war, was genau die Katze diesen kleinen Tigern, jung, unerfahren, übereifrig und von Faszination und Machtstreben verblendet, an Wissen vermitteln müsste, um ihnen den Ernst der Sache begreiflich zu machen, ohne jedoch dabei all ihre Tricks preiszugeben. Erst einmal mussten sie begreifen, dass man die dunkle Kultivierung um Himmels Willen langsam und vorsichtig angehen muss. Ein goldener Kern bildete sich schließlich auch nicht über Nacht. Ideen durchströmten Wei Wuxians Geist und bildeten allmählich ein Konzept. Das … könnte tatsächlich funktionieren. – Vorausgesetzt, sie kämen an der grauen Lan-Eminenz vorbei.   “AUF KEINEN FALL!”, donnerte Lan Qirens Stimme durch den Hanshi. Seine Brust hob und senkte sich ruckartig, Schultern und Kinnbart zitterten vor kaum unterdrückter Wut. “Es war seine Idee!”, platzte Wei Wuxian hastig heraus und schob sich ganz ungeniert hinter Lan Wangji. Und da dies der vollen Wahrheit entsprach und sie ohnehin vorgehabt hatten, Lan Zhan, als dessen  Neffen, ihm diesen Vorschlag näherbringen zu lassen, ließ der zweite Jade-Prinz es auch anstandslos über sich ergehen. “Wangji …! Wie kannst du nur …!” Lan Qiren fehlten die Worte. “Es sind keine Unterweisungen in der Kultivierung dunkler Energie geplant”, erklärte Lan Wangji sachlich. “Das Ziel ist es, über ihre Gefahren aufzuklären, um aus Unwissen resultierende Zwischenfälle besser zu vermeiden. Wenn Onkel diesem Grundgedanken nicht abgeneigt ist, so möchte ich ihn bitten, diese Notizen zu begutachten.” Damit bot er eine Schriftrolle dar, die Lan Qiren nach einigem Zögern und mit noch immer großer Skepsis entgegennahm. “Es ist ein erstes Konzept zum Aufbau und den Inhalten eines möglichen Kurses. Wir möchten Onkel um seine kritische Meinung dazu bitten.” Lan Qiren musterte schweigend die dünne Schriftrolle in seiner Hand. Nach einigen Augenblicken entfuhr ihm ein ergebener Atemzug. “Vorschnelles Urteilen zeugt von einem kleinen Geist und führt zu fehlerhaften Entscheidungen”, antwortete er schließlich. “Ich werde mir dieses Konzept ansehen. Aber erwartet nicht, dass ich auch nur die kleinste Nachsicht bei meiner Entscheidung zeigen werde, auch wenn du es bist, der mich darum bittet, Wangji. Zudem ist das eine Entscheidung von so großer Tragweite, dass das vor den Ältestenrat gebracht werden muss. Sollte entschieden werden, dass diese Idee der Lan-Lehre und dem Wohl der Kultivatorenwelt nicht zuträglich ist, so wünsche ich keine weiteren Widerworte.” “Natürlich.” Lan Wangji verbeugte sich tief und Wei Wuxian tat es ihm gleich. “Wir danken Onkel für seine unparteiische Einschätzung.”   “Der Ältestenrat hat die Ziele und den Entwurf des Kursplans für erstrebenswert befunden”, teilte Lan Qiren Lan Wangji im Beisein von Wei Wuxian eine Woche später mit. “ALLERDINGS”, schob er sofort nach, “unter einer Bedingung: Wei Wuxian soll eine Probestunde durchführen. Die Ältesten sowie weitere Mitglieder des Clans werden sie einschätzen. Er hat sich in der Unterweisung in praktischen Übungen bewährt und unser Vertrauen erworben, aber seine Fähigkeiten bezogen auf den theoretischen Unterricht müssen wir ebenso prüfen.” Sollte heißen: Man traute ihm nicht über den Weg, tatsächlich das zu machen, was im Lehrplan stand. Wei Wuxian sollte es recht sein. Es war eine gute Aufwärmübung für den ersten Durchlauf. Und vielleicht … vielleicht sogar eine Möglichkeit, Lan Xichen aus seinem Schneckenhaus herauszulocken. “Lan Zhan”, verschaffte er sich Aufmerksamkeit, kaum dass sie wieder allein im Jingshi waren. “Meinst du, du kannst Zewu-jun überzeugen, der Probestunde beizuwohnen?” Der Angesprochene blickte ihn unsicher an. “Offiziell ist er der Clanführer und das ist eine weitreichende Entscheidung. Ich denke, er sollte nicht einfach vor vollendete Tatsachen gestellt werden”, erklärte sich Wei Wuxian. “Und irgendwann muss er einfach herauskommen. Für sich selbst und auch für euch. Ich sehe doch, wie sehr du darunter leidest, die Tragik eures Vaters in Form von Zewu-jun erneut mitansehen zu müssen. Dein Onkel ebenso.” “Es wird schwer, meinen Bruder davon zu überzeugen”, gab Lan Wangji kraftlos zu bedenken. “Er selbst fühlt sich noch nicht bereit für diesen Schritt.” Wei Wuxian nickte verständnisvoll. “Wir dürfen ihn nicht überfordern. Versuchen wir es mit kleinen Schritten. Und wenn er noch gar nicht dafür bereit sein sollte, akzeptieren wir das.” Wenig später standen beide vor dem schlichten, kleinen Gebäude, in das der Clanführer sich zurückgezogen hatte. Lan Wangji nahm einen tiefen Atemzug und suchte noch einmal Halt in den Augen seines Partners, bevor er die Hand hob und anklopfte. “Bruder? Wei Ying und ich erbitten einen Besuch. Dürfen wir eintreten?” Ein gedämpftes Rascheln auf der anderen Seite der Tür folgte, dann leise Schritte, und die Tür wurde geöffnet. “Wangji, junger Herr Wei”, begrüßte Lan Xichen seine Besucher, die warmen Worte im starken Kontrast zu seinen eingefallenen Wangen und müden Augen. Wei Wuxian musste schlucken bei diesem Anblick. Er hatte Lan Xichen lange nicht mehr besucht und so war der Kontrast zu seiner früheren Stärke und Gesundheit umso gravierender. “Kommt herein.” Damit trat der Bewohner des Hauses einen Schritt zur Seite und deutete mit seinem freien Arm ins Innere, zu seinem Tisch, auf dem noch eine angebrochene Kanne Tee stand, daneben ein aufgeschlagenes Buch. Das Buch wurde prompt geschlossen und in sein Regal zurückgestellt, dann machte sich Lan Xichen auf den Weg zu seiner Kochnische, um das frisch aufgekochte Wasser vom Herd zu nehmen und eine weitere Kanne Tee aufzugießen. “Entschuldigt, dass ich so schlecht vorbereitet bin auf euren Besuch. Aber ich freue mich über eure Gesellschaft. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben, junger Herr Wei. Ich hoffe, das Leben bei uns wird dir angenehm gemacht?” Lan Xichen hatte schon immer einen Weg mit Worten gehabt, doch jetzt, wo seine warmen Worte kaum mehr als eine Hülle seines einst so sanften und zuversichtlichen Wesens waren, tat es weh, sie zu hören. Wei Wuxian verstand sofort, warum Lan Wangji nach den Besuchen bei seinem Bruder stets so ausgelaugt war. Lan Xichen verströmte eine Aura, die es einem schwer machte, nach seinem Befinden zu fragen oder eine Antwort darauf erhalten zu wollen. “Ja, es ist schön hier”, bestätigte Wei Wuxian ihm, und fügte mit einem Lachen hinzu: “Meine wilden Jahre habe ich wohl langsam hinter mir gelassen.” Wärme flackerte durch Lan Xichens Blick, als er erst ihn, dann Lan Wangji musterte, doch kaum war der Blickkontakt gebrochen, wurde er wieder von Schmerz überschattet. “Das freut mich zu hören …” Es war kaum mehr als ein Hauch, ein kraftloses Knarzen wie der Ast eines abgestorbenen Baumes im Winterwind. Und genau das war der Grund, weshalb Wei Wuxian diesen Ort normalerweise vermied: Sie hatten im Auge desselben Sturms namens Jin Guangyao gekämpft, aber während Lan Wangji und er mit einem glücklichen Ende daraus hervorgegangen waren, hatte Lan Xichen alles verloren. Der ältere der beiden Lan-Brüder würde ihnen das nie vorhalten. Wei Wuxian glaubte sogar, dass er sich aufrichtig für ihn und Lan Wangji freute. Das Wohl seines geliebten kleinen Bruders hatte schon immer an erster Stelle für ihn gestanden. Aber es linderte nicht den Schmerz, den er selbst davontrug. So wollte Wei Wuxian ihm gegenüber zumindest nicht ständig sein eigenes Glück zur Schau stellen. “Bruder”, begann Lan Wangji, als das Schweigen zwischen ihnen eine Gelegenheit bot, “im Clan steht eine Entscheidung an, für die wir gern deine Meinung einholen würden.” Sofort wirkte das höfliche Lächeln auf Lan Xichens Lippen gequält. “Ich vertraue dir und Onkel mit solchen Angelegenheiten voll und ganz. Bitte gebt mir dafür noch etwas Zeit.” “Natürlich werden am Ende die Ältesten die Entscheidung treffen”, kam Wei Wuxian seinem Partner zu Hilfe. “Es würde uns einfach beruhigen, wenn Clanführer Zewu-jun ebenfalls informiert ist und wir wissen, dass wir mit seinem stillschweigenden Einverständnis rechnen können.” Lan Xichen hob skeptisch eine Augenbraue und Wei Wuxian führte sich ermutigt, fortzufahren: “Eigentlich muss Clanführer Lan überhaupt gar nichts sagen – außer wenn es Einwände gibt, natürlich. Es gibt keine Debatten und keine vorbereitenden Berichte zu studieren. Einfach seine Anwesenheit für ein paar Stunden wäre ausreichend, gern zu einem von ihm gewählten Zeitfenster. Alles weitere lässt sich entsprechend organisieren.” Lan Xichens Blick wanderte weiter zu Lan Wangji, gefolgt von der Frage: “Und wovon genau ist hierbei die Rede?” Und Wei Wuxian fiel ein Stein vom Herzen. Lan Xichen fragte nach. Von sich aus. Er zeigte Interesse. Es wären nur ein paar Stunden, doch gemessen an den letzten sieben Monaten, war das ein unbeschreiblicher Fortschritt, hoffentlich der erste in einer Reihe weiterer, um ihn ins Leben zurückzuführen.   Der Lanshi, Quell zahlloser Heldengeschichten und Missetaten für Wei Wuxian. Oh, wie wurde ihm das Herz schwer, seinen früher so verhassten Klassenraum nach all den Jahren mit dieser bittersüßen Nostalgie zu durchschreiten, so wie es einst Lan Qiren getan hatte, als er erstmals vor ihnen, einer Schar naiver, übermütiger Jugendlicher, den Platz hinter seinem Pult bezogen hatte! Er fühlte sich, als wandle er in den Fußstapfen seines ehemaligen Lehrmeisters, als er nun selbst hoch erhobenen Hauptes diesen Weg beschritt. Am Ende der niedrigen Tischreihen angekommen, drehte er sich schwungvoll um und verkündete mit seinem breitesten Strahlen: “Verehrte Schüler! Ich freue mich, euch heute zu unserem ersten Unterricht begrüßen zu dürfen!” Die Bilder der Vergangenheit mit jungen Gesichtern, in denen sich zahllose Emotionen spiegelten – Scheu, Erwartung, Angst, Vorfreude, Langeweile, Neugier – überlagerten sich mit den entsetzten Blicken einer Handvoll verstockter alter Männer, die Gesichter rot wie Truthähne, die zu Fäusten geballten Hände bebend, sämtliche Faltigkeit verloren, die Knöchel weiß hervortretend. Die Emotionen seiner ‘Schülerschaft’ rangierten zwischen ‘kurz vor Qi-Entartung’ und ‘kurz davor, aufzuspringen und tobend den Raum zu verlassen, sämtliche in Stein gemeißelte Lan-Vorschriften vergessen’. Einzige Ausnahme: ein unscheinbarer, dünner Schatten in der hintersten, dunkelsten Ecke des Raumes, der in seiner zusammengesunkenen, teilnahmslosen Erscheinung dem Begriff ‘Trauergewand’ eine ganz neue Bedeutung verlieh. Und doch ließ genau dieser Anblick ein zaghaftes Lächeln über Wei Wuxians Lippen huschen. Die einzige Person, deren heutige Anwesenheit wirklich von Bedeutung war: Lan Xichen. Bevor aber seine eifrig vorbereitete Probestunde und damit der gesamte sehnlichst erwartete Kurs von seinen Richtern auf den Schulbänken abgeschmettert wurde, entschied Wei Wuxian, dass es wohl klüger wäre, seine Schaustellung einen Schritt zurückzurudern. So faltete er ordnungsgemäß die Arme vor seinem Kopf und verbeugte sich tief. “Verehrte Älteste, verehrter Großmeister Lan Qiren, verehrter Clanführer Zewu-jun. Euer simpler Schüler Wei Wuxian bedankt sich aufrichtig für diese großzügige Gelegenheit, die Aufrichtigkeit seines Herzens und seine Qualitäten als Lehrer unter Beweis stellen zu dürfen. Für einen Kurs von so weitreichender Bedeutung halte ich es für notwendig, dass seine Durchführung den künftigen tatsächlichen Bedingungen so nah wie möglich kommt. Ich möchte daher bitten, dass wir alle uns in unsere entsprechenden Rollen hineinversetzen – ich als Lehrer und Ihr als meine Schülerschaft – damit die werten Ältesten sich ein Urteil darüber bilden können, ob mein Umgang mit dem Nachwuchs unserer Kultivatorenwelt angemessen ist.” Nicht, dass es nötig wäre. Von seinen Nachtjagden und seinem Schwerttraining wusste jeder, wie er mit dem Nachwuchs umging. Aber wer wäre er denn, wenn er sich diesen Spaß entgehen ließe? “Nun denn, dann lasst uns beginnen!” Augenblicklich war Wei Wuxian wieder ganz in seiner Lehrerrolle versunken. “Ich hoffe, alle haben den Kursplan studiert und die Literatur für die heutige Stunde gelesen. Wer sich noch einmal über die Kursinhalte versichern will, wirft bitte nach der Stunde einen Blick auf das Programm an der Tür. Sämtliche Texte finden sich in einem ausgewiesenen Regal in der Bibliothek. Also dann! Reden wir über die Geschichte der dunklen Künste! Was wisst ihr denn über historische Ereignisse, in denen die dunklen Künste involviert waren?” Stille. Untersetzt mit einer gehörigen Portion Skepsis. Nun, zumindest waren es keine Mordgelüste mehr, stellte Wei Wuxian zufrieden fest. “... Wie jetzt? Niemand hat je etwas von den dunklen Kultivatoren unserer Geschichte gehört?”, empörte Wei Wuxian sich gespielt. “Wenn ihr stumm seid wie die Fische, wie wollt ihr denn dann voneinander lernen? Wissen muss geteilt werden, damit es nicht verloren geht!” Weitere stille Sekunden verstrichen, doch schließlich erhob sich eine Hand. “Dritter Ältester Wang! Sehr schön!”, freute sich Wei Wuxian. Starr wie ein Untoter erhob der Gelehrte sich und begann nach einer zögerlichen, angedeuteten Verbeugung, seine Meinung zu teilen. “Es gibt bis heute keine gesicherten Beweise für den Gebrauch dämonischer Kultivierung in bedeutenden historischen Ereignissen.” “Das ist richtig.” Wei Wuxian nickte. “Aber einige Ereignisse deuten dennoch auf die Einflüsse dunkler Energie hin.” “Diese Vorfälle ohne Absicherung der dämonischen Kultivierung zuzuordnen, ist Willkür!”, konterte der Gelehrte Wang aufgebracht. “Sehr gut!”, lobte Wei Wuxian ihn prompt. Dann wurde er für einen Moment ernst und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. “Verliert niemals eure Skepsis. Ein vorschnelles Urteil kann ein unschuldiges Leben zerstören. Das würde uns zu denen machen, vor denen wir das einfache Volk und unser Land beschützen wollen.” Keinerlei Regung zuckte durch die versteinerten Mienen der Ältesten. Ihre bohrenden Blicke verließen Wei Wuxian für keine Sekunde. “Ihr fragt euch nun wahrscheinlich”, sprach er weiter und begann, vor seinem Pult auf und ab zu laufen, “was hat diese Grundsatzdebatte nun mit der dunklen Kultivierung zu tun? Nun, eine ganze Menge. Denn ‘nicht vorschnell zu urteilen’ bedeutet, seine Skepsis in allen denkbaren Richtungen zu bewahren, und zwar so lange, bis eine Möglichkeit eindeutig ausgeschlossen werden kann.” Wei Wuxian drehte sich zu dem Ältesten zurück, mit dem er gerade das kurze Streitgespräch geführt hatte. “Könnte der Dritte Älteste Wang uns eine historische Person nennen, die mit der dämonischen Kultivierung in Zusammenhang stehen könnte, und seine Vermutung begründen?” Für einige weitere Herzschläge blieb es totenstill im Raum, die Lippen des Ältesten fest verschlossen. Doch schließlich schnaubte er dezent und brachte einen Blick zustande, der selbst aus seiner niedrigen Position heraus unmissverständlich deutlich machte, was er von Wei Wuxians Unterricht hielt. “Es besteht die Möglichkeit, dass Zhi Yao vom Zhi-Clan mit dunkler Kultivierung in Berührung gekommen sein könnte. Während er in jüngeren Jahren als fähiger Minister und erfolgreicher General geschätzt wurde, wurden seine Entscheidungen in späteren Jahren egoistisch und unbarmherzig. Es ist nicht geklärt, woher sein Sinneswandel kam, daher wird eine Infektion mit dunkler Energie als eine mögliche Erklärung herangezogen.” Wei Wuxian nickte anerkennend. “Am Ende hatte er sich zahlreiche Feinde gemacht, die sich im Krieg gegen ihn verbündet und ihn und seine gesamte Familie niedergestreckt haben. Welche ähnlichen Vorfälle sind noch bekannt?” Wieder meldete sich niemand freiwillig zu Wort, doch Wei Wuxian wartete geduldig. Sie hatten Zeit. Und schließlich gab der nächste Gelehrte unter der gähnenden Langeweile nach, erhob sich und deutete mit dem Kinn ein knappes Nicken an. Wei Wuxian hob eine Augenbraue, sagte aber nichts zu dieser kümmerlichen Zurschaustellung von Respekt. “Yanling Daoren”, konstatierte der Älteste, “Schüler von Baoshan Sanren. Der erste, der ihren heiligen Berg verließ. In den ersten Jahren seines Herabstiegs hochgelobt für seine zahllosen Heldentaten, doch auch sein Charakter änderte sich plötzlich drastisch und er begann, grausam und willkürlich zu morden, bis er von tausenden Schwertern gerichtet wurde.” “Eine tadellose Zusammenfassung”, lobte Wei Wuxian auch den zweiten Redner. Auch wenn die Kooperationsbereitschaft zu wünschen übrig ließ, so machten die Ältesten der Gusu Lan-Sekte in Bezug auf Wissen, die Art, wie sie dieses vermittelten, und kritische Hinterfragung ihrem Ruf alle Ehre. “Sicherlich denken nun alle an den ein oder anderen weiteren mysteriösen Zwischenfall oder Kultivatoren, der mit der dunklen Kultivierung im Zusammenhang stehen könnte. Was verbindet also all diese Elemente? Was lässt uns vermuten, dass es sich hier um die Einwirkung dunkler Energie gehandelt haben könnte?”, führte Wei Wuxian die Analyse weiter. Diesmal war es Lan Qiren höchstpersönlich, der sich erhob und ihn herausfordernd anfunkelte, bevor er zu sprechen begann. “Verehrter Lehrer, mir ist nicht ganz klar, was wir in diesem Kurs über dunkle Kultivierung lernen sollen, wenn wir all diese Dinge bereits in den Geschichtskursen von Lehrmeister Lan Qiren behandelt haben.” “Genau aus diesem Grund machen wir das!”, rief Wei Wuxian enthusiastisch. Endlich kam etwas Leben in den Klassenraum. “Ihr Jungspunde” – ooooh, wie er die überkochende Empörung im Raum genoss – “kommt hier an, voller Erwartung, vom Großmeister persönlich in einem Crashkurs in die dunkle Kultivierung eingewiesen zu werden, und vergesst dabei etwas ganz Essentielles: Was war Zhi Yao wenige Jahre nach dem Verlust seiner Moral und Menschlichkeit? Tot. Was wurde aus Yanling Daoren? Tot. Nun wird mir unser belesener Wang Chong wahrscheinlich gleich entgegenhalten”, aus dem Augenwinkel beobachtete Wei Wuxian, wie sich die Brust des Genannten bereits mit Luft gefüllt und die Arme angespannt hatten, drauf und dran, zum Gegenschlag aufzuspringen, “dass sich Zhi Yao und Yanling Daorens unerklärlicher moralischer Verfall nicht mit Sicherheit auf die dunkle Kultivierung zurückführen lassen. Nun gut! Dann nennt mir ein Gegenbeispiel, und sei es auch nur ein hypothetisches, in dem ein mutmaßlicher dämonischer Kultivator nicht den Gefahren dieser Mächte erlegen ist und eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hat!” Ein kollektives ‘Willst du uns auf den Arm nehmen?!’ schlug Wei Wuxian entgegen, doch er empfing die Welle wie ein Fels in der Brandung und so musste sich die wilde Strömung schließlich zurückziehen und ein weiterer Ältester ließ sich, ganz seiner guten Lan-Erziehung entsprechend, zu einer gesitteten Antwort herab. “Der Yiling-Patriarch steht gesund und … vernünftig” – das letzte Wort wurde als sichtbare Zumutung hervorgepresst – “vor uns.” Wei Wuxian nickte zustimmend. “Und was tat der Yiling-Patriarch bis vor 14 Jahren?” Betretenes Schweigen. Wei Wuxian ersparte es den Anwesenden, ihm die Gräueltaten ins Gesicht zu werfen, und antwortete selbst. “Während der Sunshot-Kampagne Tausende Kultivatoren der Wen-Sekte niederstrecken. Danach eine Gruppe Aufseher eines Arbeitslagers der Jin-Sekte. In der Nachtlosen Stadt drei- bis fünftausend weitere Kultivatoren, unabhängig ihrer Sektenzugehörigkeit oder Beteiligung am Kampfgeschehen. Und schließlich: vernichtet von der ungeheuren Macht des Stygischen Tiger-Amuletts.” Er ließ eine bedächtige Pause. Betretenes Schweigen ob der schonungslosen Erinnerung an all jenes Gräuel lag wie dicke Rauchschwaden in der Luft. “Die Details sind Gegenstand der nächsten Unterrichtsstunde.” Wei Wuxians Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, regelrecht unheimlich in der Grabesstille des Lanshi. “Daher meine Frage: Wollt ihr tatsächlich so enden? Selbst mit der schier unmöglichen Wahrscheinlichkeit, Jahre später ins Leben zurückgerufen zu werden und die Chance für einen Neuanfang zu erhalten? Sagt mir, wer würde dieses Leben mit all seinen Erinnerungen an seine früheren Gräueltaten der Rückkehr in den ewigen Kreislauf vorziehen?” Wei Wuxian schloss die Augen, kontrollierte seine Atmung und zwang seinen Geist zur Ordnung. Er dachte oft über diese Dinge nach und er hatte sich im Grunde damit abgefunden, dass sein Gewissen für den Rest seines Lebens sein strengster Richter bleiben würde. Und die meiste Zeit über trug er es mit Fassung, oft sogar Dankbarkeit. Denn wie sollte er sich selbst ertragen, wenn trotz all seiner Schuld sein Gewissen rein wäre? Dennoch hatte es ihn unvorbereiteter getroffen als erwartet, diese Dinge tatsächlich auszusprechen. Er würde sich auf seinen ersten Kurs, sollte er denn zustande kommen, gut vorbereiten müssen. Als er die Augen wieder öffnete, hatten sich zwei Dinge ereignet, mit denen Wei Wuxian nicht gerechnet hatte: Zum ersten Mal seit seiner Jugend zeigte sich in den Gesichtern einiger Lan-Ältester ihm gegenüber so etwas wie Verständnis. Und: In der hinteren, dunklen Ecke erhob sich eine dünne, blasse Hand. Wei Wuxian traute seinen Augen kaum. Doch als die zusammengesunkene Gestalt sich der Aufmerksamkeit ihres Lehrers sicher war, erhob sie sich schwerfällig und verbeugte sich tief. Der Raum schien nur noch aus ihnen beiden zu bestehen, als Lan Xichens belegte Stimme sich über die Stille erhob. “Wenn man seine Fehler erkannt hat, wie geht man damit um?” Und, nach einer kurzen Pause: “Wie überwindet man diese Schuld?” Wei Wuxian schluckte schwer. Er konnte Lan Xichen verstehen. So sehr verstehen. Und er wusste, dass seine Antwort nicht die Linderung bringen würde, die er sich für seinen Schwager wünschte. “Gar nicht.” Wei Wuxian senkte den Blick, innerlich um Entschuldigung für diesen enttäuschenden Ratschlag bittend. “Der Schmerz wird irgendwann stumpfer, wenn man neue Ziele findet. Dinge, die einem das Gefühl geben, ein Stück dessen zurückgeben zu können, was man genommen hat. Aber verschwinden wird er nie.” Und dabei war es ganz egal, wie viel dieser Schuld man in den Augen anderer tatsächlich selbst zu verschulden hatte oder wie viel man bereits zurückgezahlt hatte. Diesen Kampf trug man einzig mit sich allein aus. Aber dies war etwas, was Lan Xichen genauso wusste wie er und Lan Zhan.   -~*~-   “Na jedenfalls”, beendete Wei Wuxian seine Geschichte mit einer wegwerfenden Handbewegung, “war der Kurs danach beschlossene Sache. Und die Gesichter dieser alten Prediger! Jiang Cheng, das hättest du sehen müssen! Wie überreife Tomaten, allesamt!” Der Gedanke trieb ihm erneut vor Lachen die Tränen in die Augen. Jiang Cheng hingegen fragte sich, ob Wei Wuxian seinem Tee wohl Emperor’s Smile beigemischt hatte. Zugegeben, die Geschichte hatte zeitweise auch ihn sehr amüsiert. Und wer den Ernst der Lage nicht kannte, hätte sich sicherlich bis zum Ende von Wei Wuxians lebhaftem Erzählstil mitreißen lassen. Aber Jiang Cheng war kein unbeteiligter Außenstehender. Egal, wie man es ihm verkaufte – der Schluss war alles andere als eine fröhliche Pointe, die man gern vor seinen Trinkkumpanen zum Besten gab. Er umfasste seine Teeschale mit beiden Händen, konzentrierte sich auf die Wärme, die in seine Fingerspitzen überging. “Wie geht es Zewu-jun jetzt?”, fragte er, als Wei Wuxian sich wieder beruhigt hatte. Eine gewisse Melancholie legte sich auf die Gesichtszüge seines Bruders. “... Besser, schätze ich. Er wird wohl noch eine Weile brauchen, bis er vollständig aus seiner Isolation zurückkehren kann. Aber er ist nicht mehr so verschlossen wie zuvor. Er begleitet Lan Zhan und mich gelegentlich auf Spaziergängen. Er empfängt häufiger Besuch. Er erkundigt sich nach den Geschehnissen des Clans. Neulich … haben wir über Jin Guangyao gesprochen.” Jiang Cheng nickte nachdenklich. Und fühlte sich gleichzeitig noch kindischer und verbohrter, als er es ohnehin schon tat. Alle um ihn herum waren so viel reifer und mutiger als er, sich ihren inneren Dämonen zu stellen. “Und dir?”, hakte er nach. “Hm?” “Wie geht es dir?” Wei Wuxian wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da schickte Jiang Cheng mit einem erbosten Funkeln in den Augen hinterher: “Und sei ehrlich!” Wei Wuxian klappte ertappt den Mund wieder zu und Jiang Cheng konnte nur die Augen verdrehen über dessen chronische Missachtung seines eigenen Seelenwohls. Mit all dem, was Wei Wuxian jahrelang geschafft hatte, vor ihm geheim zu halten, maß er sich nicht mehr an, seinen Bruder in all seinen Belangen zu kennen und durchschauen zu können, aber zumindest Herabspielungen dieser Art würde er nicht übersehen. Er beobachtete seinen Bruder sehr genau. Und wartete. “Es gibt solche und solche Tage”, gestand Wei Wuxian schließlich. “Manchmal steckt mein Kopf tief in der Vergangenheit. Jetzt, mit Zewu-jun. Oder zum Totenfest. Lan Zhan und ich waren zum Totenfest bei den Grabhügeln.” Jiang Cheng hatte es bemerkt. Er hatte die Blumen und die Aschereste des Totengeldes gesehen, als der Sog in seinem Herzen zu stark geworden war und er sich am Abend ebenfalls an jenem Ort wiedergefunden hatte. “An Shijies Geburtstag”, führte Wei Wuxian weiter an. “Auch an Onkel Jiangs und Madame Yus. … An dem Tag, als der Lotus-Pier niedergebrannt ist.” Wei Wuxians Blick schweifte ab, ernst und so weit weg, als suchte er die Vergangenheit, diejenigen, nach denen sein Herz sich so oft sehnte. Jiang Cheng kannte diesen Blick, kannte diese Sehnsucht wie kein Zweiter. “Jiang Cheng.” “Hm?” Jiang Cheng bemerkte, dass sich seine Gedanken wohl auf seine Gesichtszüge übertragen haben mussten. Wei Wuxians Blick ruhte noch immer im diffusen Nebel der Vergangenheit, doch seine Hand fand die seine ohne die kleinste Unsicherheit und drückte sie sanft. “Eigentlich würde ich jetzt gern sagen: ‘Mach dir keine Sorgen um mich’, aber – danke, dass du dir Gedanken machst.” Jiang Cheng erwiderte den Händedruck. Mit Worten wäre er niemals imstande auszudrücken, was ihm dieser Satz bedeutete. “Jiang Cheng, ich- Damals, im Guanyin-Tempel. Als ich gesagt habe, du sollst es vergessen. Vergiss das, dass war dumm vo-” “Es ist in Ordnung”, fuhr Jiang Cheng ihm ruhig dazwischen. Er atmete tief durch, musterte die Reflexionen des Sonnenlichts in seiner Teeschale. “Es … wird in Ordnung. Allmählich. Ich habe viel nachgedacht seit Langya. Über Vieles, worüber ich vierzehn Jahre lang zu feige war nachzudenken. Oder länger. Ich konnte nicht für alles eine Antwort finden. Vielleicht werde ich das nie können. Aber vieles hat sich gebessert, vieles kann ich jetzt klarer sehen. Es geht mir besser.” Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee, um die Nervosität zu überspielen. “Und … Nenn mich egoistisch, aber zu wissen, dass die Vergangenheit genauso ein Teil von dir ist wie von mir, ist irgendwie beruhigend zu wissen. Versteh mich nicht falsch! Auf der anderen Seite mache ich mir Sorgen, dass du mal wieder zu viel in dich hineinfrisst und niemand sieht, wie du daran zugrunde gehst, aber-” “Ist schon gut.” Diesmal war es Wei Wuxian, der ihn unterbrach, unterstrichen von einem weiteren sanften Druck ihrer noch immer verbundenen Hände. “Ich verstehe, was du meinst. Und genau deshalb kann ich endlich mit dir darüber reden.” Und mit einem leisen Glucksen fügte er hinzu: “Besser, als ich es mit Lan Zhan könnte.” Eine wohlige Wärme durchströmte Jiang Chengs Brust. Er erwiderte den Händedruck, suchte Wei Wuxians Blick. Für einige lange, friedvolle Momente blickten sie einander stumm in die Augen, ganz genau wissend, was in dem anderen vor sich ging. “Auch ich möchte, dass es endlich Vergangenheit wird”, hauchte Jiang Cheng schließlich. Wei Wuxian nickte verstehend und Jiang Cheng fügte hinzu: “So weit, wie es eben möglich ist.” Egal, welche Fehler sie beide in der Vergangenheit gemacht haben mochten. Selbst ewige Reue würde nichts besser oder gar ungeschehen machen. Aber was sie tun konnten, war, aus diesen Fehlern zu lernen. Und um diesen Schritt abzuschließen, musste Jiang Cheng noch einen letzten Ballast abwerfen – und hoffen, dass er den seelischen Zustand seines Bruders richtig einschätzte und dieser letzte, schwere Felsen sie nicht wieder unter Wasser ziehen würde. “Wuxian.” “Hm?” Jiang Cheng holte tief Luft. “Damals, nach dem Angriff auf den Lotus-Pier … In der Stadt, wo du Essen für uns gekauft hast?” “Ich erinnere mich”, bestätigte ihm Wei Wuxian, die Stimme ein wenig klamm, vorsichtig. “Da war eine Gruppe Wen-Bastarde, die die Stadt nach uns durchkämmt hat. Wenn ich sie nicht abgelenkt hätte, hätten sie dich erwischt.” Wei Wuxians Augen weiteten sich vor Schock. “Jiang Cheng …!” Doch Jiang Cheng schüttelte den Kopf. “Ich erzähle dir das nicht, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Wenn es eine Sache gibt, die ich nie bereut habe und nie bereuen werde, dann ist es diese. Ich will nur nicht, dass noch länger irgendetwas zwischen uns steht. Sondern dass wir beide ehrlich miteinander sind.” Wei Wuxian atmete geräuschvoll ein, offenbar darum ringend, diese Offenbarung zu verarbeiten. “... Danke”, hauchte er schließlich. “Und Entschuldigung.” “Wofür?” “Es gab Zeiten, da habe ich an uns gezweifelt. Zeiten, in denen es nicht angebracht war”, gestand Wei Wuxian. “Wie hättest du auch anders fühlen können, wenn du nichts wusstest?” Jiang Cheng kannte diese Zweifel nur zu gut. “Deshalb möchte ich, dass du es jetzt weißt. Du bist immer mein Bruder gewesen.” Wei Wuxians Blick war wieder gefestigt, als er Jiang Cheng diesmal geradewegs in die Augen sah und zur Bestätigung seine Hand noch einmal fest drückte. “Schon immer, für immer. Bruder.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)