Bruder von Lady_Ocean ================================================================================ Kapitel 13: Bonus: Bruder (Jiang Chengs Perspektive) ---------------------------------------------------- Wei Wuxian war so tief in seinem Albtraum gefangen, dass er nicht einmal mitbekommen hatte, dass die Gefahr vorüber war. Die Schreie nach “LAN ZHAN!!” hallten unverändert von den Höhlenwänden. “Nun komm mal wieder zu dir!”, murmelte Jiang Cheng schließlich. Er wünschte, seine Schwester wäre hier, die in solchen Situationen immer gewusst hatte, was zu tun war. Was sollte er, Tölpel, der er nun einmal war, denn ausrichten? Damals, als Wei Wuxian mitten in der Nacht fortgelaufen war, weil Jiang Cheng gedroht hatte, Hunde auf ihn zu hetzen, hatte sie alle beide nach Hause zurückgetragen. Aber auch mit zwei unverletzten Beinen könnte er ihn wohl kaum auf seinen Rücken laden und hier heraustragen. Allein über diese Vorstellung fühlte er eine ungelenke Verlegenheit in sich aufkommen. Stattdessen versuchte er es zögerlich mit einem Händedruck auf der Schulter – einen Herzschlag lang, dann fühlte sich auch diese Geste deplatziert an und er zog seine Hand schleunigst zurück und drehte sich weg. “Ich hab dir doch versprochen, wenn ich einen Hund sehe, verjage ich ihn für dich”, flüsterte er das Versprechen, das er Wei Wuxian einst gegeben hatte. Eigentlich hätte Jiang Cheng nicht damit gerechnet, dass seine Worte Gehör finden, doch das Schreien und Scharren stoppte. Jiang Cheng atmete tief durch. Bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, besah er sich die eingestürzte Wand, um herauszufinden, wie sie hier am schnellsten wieder rauskamen. Doch Wei Wuxians nächste Worte trieben ihm kalten Schweiß auf die Stirn. “Suibian?” Seine linke Hand schnellte an seinen Gürtel, das Schwert samt Griff und Scheide mit seinem Ärmel verdeckend. “Wenn du dein Schwert vermisst, schicke ich es dir später zurück”, versuchte Jiang Cheng abzulenken. “Das rote Leuchten war Suibian”, beharrte Wei Wuxian und drehte sich mit seinem verheulten Gesicht zu ihm um, starrte auf Jiang Chengs Ärmel und das dahinter liegende Schwert. Jiang Cheng musste einsehen, dass sein Ablenkungsversuch gescheitert war, und änderte seine Taktik. Er streckte seinen Rücken, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte gleichgültig auf Wei Wuxian herab. “Sandus Klinge wurde bei der letzten Nachjagd beschädigt. Wenn dein alter Zahnstocher schon bei mir rumliegen muss, kann er sich auch nützlich machen.” Wei Wuxian musterte ihn eine Weile schweigend. “Es tut mir leid.” Musste der denn ausgerechnet dann reumütig werden, wenn man es am wenigsten gebrauchen konnte? Jiang Chengs Puls beschleunigte sich, während er sich fieberhaft nach einem Ausweg aus diesem Gespräch umsah. Er legte keinen Wert auf diese Auseinandersetzung. Jetzt nicht, und auch nicht sonst irgendwann. “Vergiss es. Es ist Vergangenheit. Das hast du selbst gesagt.” “Aber für dich ist es das nicht. Und dass ich mein Versprechen gebrochen habe – das werde auch ich nie vergessen können.” Er musste hier weg. Mit steifen Schritten marschierte Jiang Cheng an ihm vorbei und inspizierte die Geröllmauer. “Mach dich nützlich und überleg lieber, wie wir hier wieder rauskommen.” Aber Wei Wuxian wäre nicht Wei Wuxian, wenn er auch nur EINMAL das tun würde, was man von ihm will. “Ehrlich gesagt, ich hab mich oft gefragt, ob wir diese Sache nicht endlich aus der Welt schaffen können, damit ich wieder zum Lotus Pier kommen kann. Umziehen wird nicht gehen, dafür haben Lan Zhan und ich in der Wolkenschlucht zu viel zu tun. Aber ich könnte alle paar Monate als Gastlehrer vorbeikommen und beim Training helfen. Oder wir koordinieren uns bei den Nachtjagden oder veranstalten gemeinsame Trainingsprogramme. Die Clans würden ohnehin davon profitieren, wenn wir die ganze Konkurrenz und das Misstrauen der älteren Generationen nicht auf die jüngeren übertragen.” “Ich sagte, ES IST GENUG!” Dieser Bastard raubte ihm noch den letzten Nerv! “Du kannst doch nicht ernsthaft wollen, dass alles so bleibt, wie es ist!”, rief Wei Wuxian, offenbar nun selbst die Geduld verlierend. “Und du kannst nicht einfach alles umkrempeln, wie es dir passt, und so tun, als wär nie was gewesen!”, brüllte Jiang Cheng zurück. “JIANG CHENG! Spring EINMAL über deinen gottverdammten Schatten und sei nicht so ein verbohrter Dickschädel! Ist es dir vollkommen egal, dass alles, was wir früher hatten, in Scherben liegt?!”, donnerte es tausendfach durch die Höhle. “DANN SAG DU MIR DOCH, WAS ICH TUN SOLL! ICH HAB DICH UMGEBRACHT, VERDAMMT!!” In dem Moment, da die Worte ausgesprochen waren, erreichten sie plötzlich eine Tragweite, der Jiang Cheng sich bis dahin nie bewusst gewesen war. Und auf einmal ergab alles so viel Sinn. Die Albträume, die Unruhe, die schwelende Angst, die ständige Wut. Wut auf sich selbst. “... Was?” Und zum ersten Mal in dessen zwei Leben erlebte Jiang Cheng Wei Wuxian sprachlos. Er gaffte ihn an, als hätte Jiang Cheng ihm soeben eröffnet, dass er schwanger war. “Ich hab dich umgebracht”, wiederholte er die Worte, diesmal flüsternd, auf der Zunge abwägend, ob sie tatsächlich die Antwort bereit hielten, die ihm sein Instinkt nahe legte. Und je länger er darüber nachdachte, desto logischer erschien alles. Und mit der Erkenntnis kam der Schmerz. “Jiang Cheng! Du hast lediglich den Bannkreis durchbrochen. Ich hab die Kontrolle verloren. Ich hätte das Amulett längst zerstören sollen und nicht erst, nachdem ich solch ein Blutbad angerichtet hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das seine Kräfte verstärkt hat. Es grenzte an ein Wunder, dass mich nicht schon die andere Hälfte zerrissen hat.” “Darum geht es doch gar nicht!”, fauchte Jiang Cheng dazwischen. “Ich war da! Ich hab sie gesehen! Das Balg, die Alten, die Krüppel.” Er besann sich zurück an all die gebrochenen, verängstigten Gesichter. Bis auf Wen Qing hatte nicht einer von ihnen einen goldenen Kern besessen. “Ich wusste ganz genau, dass du da keine Armee aufbaust, sondern von der Hand in den Mund lebst. Und ich hab nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht und den Gerüchten Einhalt geboten.” Jiang Chengs Beine gaben nach. Er sackte auf die Knie, sein Kopf kippte gegen die erdige Wand. “Ich hätte ihnen einfach einen Platz am Lotus-Pier anbieten sollen, dann hättest du dich nicht zwischen ihnen und mir entscheiden müssen und niemand hätte noch gewagt, einen Keil zwischen uns zu treiben.” Heiße Tränen bahnten sich ihren Weg an die Oberfläche, doch er hatte weder die Kraft sie zurückzuhalten, noch seinen Arm zu heben und sie fortzuwischen. “Ich hätte auf dem Goldschuppenplateau für dich einstehen müssen, nach der Sache mit dem Arbeitslager am Qiongqi-Pass, als alle die Tatsachen verdreht haben und dich zur Rechenschaft ziehen wollten. Mir war klar, dass sie nichts weiter als neidisch auf deine Macht waren und die zukünftige Stärke vom Lotus-Pier fürchteten. Aber was mach ich? Ihnen nach dem Mund reden und dich rauswerfen! Weil ich dich lieber meinem kranken Stolz opfere als auf deine Loyalität zu vertrauen! Nicht du hast dein Versprechen gebrochen! ICH habe alles zunichte gemacht!” “JIANG CHENG!!” Grob wurde er an den Schultern gepackt und in Wei Wuxians Arme gezogen, kraftlos, wie eine Puppe, eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt hatte. Die Tränen liefen unaufhörlich weiter. “Mach dich nicht schlechter, als du bist. Ich bin kein Heiliger”, drang eine zittrige Stimme durch Stoff und Arme zu seinem in Watte getauchten Kopf. “Und damals erst recht nicht. Du hattest so recht, ich HATTE einen verdammten Heldenkomplex. Ich hab nie verstanden, wie beschissen es sich anfühlt, wenn andere für dich ins Verderben rennen und du nur ohnmächtig zusehen kannst. Ich hätte dich einfach fragen sollen, ob du uns einen Platz am Lotus-Pier gibst. Aber ich wollte es allein schaffen. Und wenn ich ehrlich bin: Selbst wenn du mir das damals angeboten hättest, ich hätte abgelehnt. Ich war verblendet und … und …” Die Umarmung wurde fester, ein schweres Schlucken unterbrach die Rede. “Genauso in Lanling. Wenn ich damals ernsthaft argumentiert hätte, wäre den anderen Clans gar nichts anderes übrig geblieben, als die Füße stillzuhalten. Aber überheblich und eingebildet wie ich war, hielt ich es nicht für nötig, mich anständig zu erklären. Ich hab erwartet, dass alle nach meiner Pfeife tanzen, aus Schuldgefühlen wegen der Sunshot-Kampagne oder zumindest aus Angst vor meiner Macht. Jiang Cheng, verstehst du? Diesen Weg ins Verderben habe ich ganz allein beschritten! Ich hab mir Feinde gemacht, wo immer ich hinging. Vielleicht hätten die anderen Clans aufgegeben, mich stürzen zu wollen, wenn sie gesehen hätten, dass sie an uns als Einheit nicht vorbeikommen. Vielleicht hätte es das Unausweichliche aber auch nur hinausgezögert. Und vielleicht hätte es auch gar nichts geändert und wir wären am Ende nur beide gestorben, und der Yunmeng Jiang-Clan mit dir.” Die Umarmung lockerte sich, Wei Wuxian drückte ihn ein wenig von sich, blickte ihm ins Gesicht. Trotz allem Schmutz und all der Tränen - oder vielleicht gerade deshalb - strahlte er eine Ernsthaftigkeit aus, die Jiang Cheng bis ins Mark fuhr. “Ja, wir haben Fehler gemacht. Beide. Aber vom rechten Weg sind wir nie abgekommen. Jin Guangshan hat Zivilisten in Arbeitslager gesteckt und ermorden lassen! Jin Zixun hat mir den Fluch der Tausend Löcher angehängt und mich in einen Hinterhalt gelockt. Und von dem, was Jin Guangyao alles verbrochen hat, will ich gar nicht erst anfangen. Das war nicht unsere Schuld und es lässt sich nicht mehr ändern, hörst du? Egal, wie sehr ich es mir wünsche, wir bekommen Shijie nicht zurück. Jin Zixuan kommt nicht zurück. Das Blutbad, das ich in der Nachtlosen Stadt angerichtet habe, wird nicht ungeschehen. Aber … Jin Ling ist noch da. Du bist noch da. Bitte, ich will wenigstens meinen Neffen und meinen Bruder nicht verlieren!” … Bruder … Das Wort schmiegte sich an seine blutende Seele. Jiang Cheng schwirrte der Kopf. Der ganze Redeschwall ergab im Moment noch nicht viel Sinn. Aber es tat gut, Wei Wuxian bei sich zu haben. Es tat gut, trotz all seiner Vergehen nicht verurteilt zu werden, sondern einen Platz im Herzen der Person angeboten zu bekommen, die er so schmerzlich vermisst hatte. Neue Tränen rannen ihm über die Wangen. Wie hatte er all die Jahre ausblenden können, wie sehr er sich nach Wei Wuxian gesehnt hatte? Bruder. Zittrig hob Jiang Cheng die Arme, legte sie dem anderen zögerlich an den Rücken, zog ihn an sich heran, schloss die Augen. Er würde Zeit brauchen, um über all das nachzudenken. Aber für den Moment war es nicht von Bedeutung. Zum ersten Mal seit vierzehn Jahren fühlte sich sein Innerstes irgendwie richtig an. Sofern man inmitten dieser tosenden Taubheit von “fühlen” reden konnte. “Bruder.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)