Bruder von Lady_Ocean ================================================================================ Epilog: Heilung --------------- Wei Wuxian als Bewohner der Wolkenschlucht war schon ein seltsames Bild. Nicht, dass Jiang Cheng das nicht vorher schon gewusst hätte, aber es mit eigenen Augen zu sehen, war doch noch einmal etwas anderes, als es sich nur vorzustellen. Wei Wuxian war und blieb wie ein Tintenklecks auf einer feinen Tuschezeichnung, ein Misston in einer schönen Melodie. Oder halt ein Sturm, der durch die Privaträume des zweiten Jade-Prinzen gefegt war. Nicht, dass Jiang Cheng eine Ahnung hatte, wie dessen Räumlichkeiten vor der Inbeschlagnahme durch Wei Wuxian ausgesehen hätten, doch viel Fantasie brauchte es nicht, um es sich vorzustellen: schlicht, zweckmäßig, farblos. Sprich: unpersönlich und langweilig. Auch wenn die Ornamente am Gebäude und den Möbeln zumindest die berühmte Lan-Ästhetik durchscheinen ließen. Das Zimmer, welches Jiang Cheng jetzt jedoch verstohlen begutachtete, war überhaupt nicht mehr mit dem stoischen Jadeprinzen in Verbindung zu bringen: zerknülltes Papier, Schreibutensilien und Talismane pflasterten den Boden, Hasen- und Landschaftsbilder verliehen den kahlen Wänden einen individuellen Ton, Weinschälchen stapelten sich neben dem Tisch, Bonbonverpackungen achtlos hineingeknüllt. Ein Bündel Chilischoten hing zum Trocknen im Fenster. Hinter einem mit Blattgold verzierten Raumteiler lugten Stoffzipfel achtlos beiseite geschobener Wäsche hervor. “Ich war noch nicht ganz mit Aufräumen fertig”, schmunzelte Wei Wuxian ein wenig beschämt. Jiang Cheng nahm einen Schluck von seinem Tee. ‘Nicht ganz fertig.’ Wei Wuxians Ornungs-Philosophie hatte sich seit ihrer Jugend keinen Deut gebessert. Jiang Cheng kannte es nicht anders und zuckte unberührt mit einer Schulter. “Immerhin hast du es fertig gebracht, den Tisch freizuräumen. Der Rest soll mir egal sein. Ich muss hier nicht wohnen.” Insgeheim genoss er die Vorstellung, wie der penible Lan-Schnösel wohl tagtäglich gegen seine Natur zu kämpfen hatte, um Wei Wuxians Chaos zu ertragen. Dennoch war er froh, den Raum heute nicht mit ihm teilen zu müssen. Ob nun der zweite Lan-Meister von sich aus ausgerechnet heute einen Auftrag außerhalb der Clanmauern angenommen hatte oder Wei Wuxian seine Einladung so geplant hatte – Jiang Cheng war dankbar für die Gelegenheit, sich langsam in diese neue Situation eingewöhnen zu können. Wei Wuxian hatte ihn eingeladen. Vor einer Woche hatte der Brief ihn erreicht. Einen Monat nach dem Transfer von Fairys Seele in den Hundewelpen. Jiang Cheng hatte sich fest vorgenommen, von sich aus einen Schritt auf Wei Wuxian zuzugehen. Das hatte er wirklich. Sonst hätte er sich an jenem Tag nicht mit den Worten “Ich melde mich, sobald meine Aufgaben am Lotus-Pier es zulassen” von ihm verabschiedet. Es gab so vieles, was sie sich noch zu sagen hatten. Was Jiang Cheng seinem Bruder sagen musste. Doch mit den Tagen wuchs die Unsicherheit. Wie sollte er diese Dinge aussprechen, wenn er nicht einmal in seinem eigenen Kopf die richtigen Worte fand? War es überhaupt das Richtige, die Vergangenheit noch einmal aufzuwärmen? Was sollte es jetzt noch bringen, außer dass alte Wunden wieder aufrissen? Und wie sah das überhaupt aus, wenn Jiang Cheng aus heiterem Himmel und ohne einen plausiblen Grund, wie ein einsames, verlorenes Kind, um einen Empfang in der Wolkenschlucht bat? So wurden aus Tagen Wochen und schließlich war er es, der die Einladung erhalten hatte. Immerhin war er nun hier. Und war dankbar für Wei Wuxians Gabe, den Leuten stundenlang ein Ohr abkauen zu können. Ein bisschen Smalltalk, ein paar Fragen, wie sich Yunmeng verändert, wie sich die Yungmeng Jiang-Sekte entwickelt hätte. Ob er Jin Ling seither schon wieder besucht hätte. Auf die Frage hin, was er seit ihrem letzten Treffen gemacht habe, berichtete Wei Wuxian ihm, dass er die ominöse dunkle Materie eingehender untersucht hatte. “Jiang Cheng, ich fürchte, die wird wohl aus meiner Unheilsschmiede gestammt haben”, beichtete er. Jiang Cheng zog skeptisch die Augenbrauen kraus. “Wie das?” “Dieses … Wesen … Im Grunde strebte es einzig und allein danach, negative Energie zu speichern. Als ich damals in die Grabhügel gezogen bin, habe ich an einem Artefakt mit denselben Eigenschaften gearbeitet, nur eben nicht so lebendig. Aber ich brauchte etwas, das in kurzer Zeit große Mengen negativer Energie speichern konnte, um einen Lebensraum für die Wen-Flüchtlinge zu schaffen. Und nun taucht auf einmal solch ein Phänomen auf. Ungefähr zeitgleich mit dem Tod eines Kultivatoren der Moling Su-Sekte.” “Er könnte ebenfalls ein Opfer von diesem Zeug gewesen sein”, wandte Jiang Cheng ein. Doch Wei Wuxian schüttelte den Kopf. “Wenn so etwas eine natürliche Manifestation negativen Qis gewesen wäre, hätte es in unserer Geschichte der Kultivierung bereits ähnliche Entdeckungen geben müssen. Möglicherweise wäre es sogar ein häufig anzutreffendes Phänomen, so wie wilde Zombies oder verunreinigte spirituelle Gegenstände. Aber eine Materie, die dunkle Energie aufsaugt? Sich Wirte sucht und von Ort zu Ort weiterbewegt?” Wei Wuxian schüttelte erneut den Kopf und Jiang Cheng senkte den Blick, einsehend, dass sein Bruder hier einen Punkt hatte. “Es wäre nicht das erste Mal, dass meine alten Aufzeichnungen in fremde Hände gerieten und Schaden anrichteten”, beendete er schließlich seinen Gedankengang. Stille legte sich über sie. Eine erdrückende Stille, von der Jiang Cheng nicht so recht wusste, wie er sie durchbrechen sollte. Er nippte an seinem Tee, nur um festzustellen, dass die Teeschale bereits leer war. Um sich abzulenken, schenkte er ihnen beiden nach. “Danke”, nahm Wei Wuxian die Geste mit einem Lächeln an und trank einen Schluck. “Jedenfalls … Diese Entdeckung hat uns alle nur weiter darin bestärkt, dass ein geregelter Kurs in dunkler Kultivierung in unserer heutigen Zeit mehr als notwendig ist.” Jiang Cheng war mehr als dankbar, dass Wei Wuxian ihr Gespräch in sanfteres Fahrwasser zurückmanövrierte. Und er nutzte sogleich die Gelegenheit, einen der Punkte anzusprechen, wegen denen er heute hier war. “Diese Geschichte bist du mir noch schuldig.” Die Aufforderung entlockte Wei Wuxian ein verschwörerisches Grinsen und an der Art, wie er sich katergleich räkelte und seine Zähne hervorblitzen ließ, wusste Jiang Cheng, dass die kommende Anekdote Unterhaltung versprach.   -~*~-   Man musste nicht Lan Xichen oder Wei Wuxian heißen, um zu erkennen, dass Lan Wangji ausgelaugt war, als er an diesem Abend heimkehrte. Und es war höchst alarmierend, dass ausgerechnet ihm die Erschöpfung so buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand. Der Besuch bei seinem Bruder Xichen musste ihm heute besonders viel abverlangt haben. Wei Wuxian ließ das Küchenmesser sinken, mit dem er gerade Rettich in haarfeine Stifte geschnitten hatte – näher ließ man ihn nach wie vor nicht an die Küchenutensilien heran – und schmiegte sich in Lan Wangjis Arme. Es gab ihnen beiden so viel Halt. Die Umarmung intensivierte sich augenblicklich und er fühlte sich noch tiefer in kühle, weiche Seidenstoffe gehüllt, Lan Zhans einzigartiger Geruch von Sandelholz und Erde gepaart mit wärmender Spätjulisonne, die seine Haare ganz besonders intensiv eingefangen hatten, in der Nase. “Zewu-jun hat nicht vor, seine Isolation in absehbarer Zeit zu beenden, was?”, brachte Wei Wuxian die einzig denkbare Ursache von Lan Wangjis Abgespanntheit zur Sprache. Der Griff um seinen Rücken und seine Schulterblätter festigte sich weiter, so dass es an schmerzhaft grenzte, doch Wei Wuxian störte sich nicht daran. Wenn es Lan Zhan half, seine Gefühle zu ordnen, würde er sogar die ein oder andere gebrochene Rippe in Kauf nehmen. Wange und Nase seines Liebsten schmiegten sich in sein Haar, atmeten Wei Wuxians Geruch ebenso intensiv ein, wie dieser es gerade eben selbst getan hatte. Und noch immer hielt sein Jade-Prinz sein Schweigen aufrecht. “Wie geht es ihm? Isst und trinkt er ausreichend? Findet er genügend Schlaf?”, erkundigte Wei Wuxian sich weiter. “... Es ist schwer zu sagen”, ertönte nach einigen weiteren Atemzügen in inniger Stille Lan Wangjis erschöpfte Stimme. “Er isst und schläft weniger, als er sollte.” Und wer konnte es ihm auch verdenken? Seine Blutsbrüder waren nach Lan Wangji und ihrem Onkel Lan Qiren das nächste, was er an einer Familie gehabt hatte. Lan Xichen und Nie Mingjue hatten sich seit Kindertagen gekannt. Jin Guangyao hatte ihn und einen Großteil der Lan-Bibliothek gerettet, als Wen Xu die Wolkenschlucht niedergebrannt hatte. Jin Guangyao hatte sich für ihn und sie alle in Lebensgefahr begeben, als er sich als Spion in Wen Ruohans unmittelbaren Dunstkreis geschlichen hatte. Ihm war es gelungen, den Tyrannen niederzustrecken und damit den Krieg zu beenden. Zwischen den Blutsbrüdern war es Jin Guangyao gewesen, der am innigsten mit Lan Xichen verbunden gewesen war. Sie hatte eine unerschütterliche Freundschaft und Loyalität zwischen sich aufgebaut. Und wer konnte es nicht irgendwo nachvollziehen, dass Jin Guangyao vom rechten Weg abgekommen war, bei all den Widrigkeiten, mit denen das Leben ihn gestraft hatte? Wem hätte es da nicht das Herz zerschmettert, inmitten der schlimmsten Krise seit fast zwei Jahrzehnten erkennen zu müssen, dass die Person, der man sein Herz und seine Seele anvertraut hatte, diese Geschenke jahrelang ausgenutzt und manipuliert hatte? Und zwar so weit, dass man für den Tod ihres anderen Blutsbruders Nie Mingjue mitverantwortlich geworden war? Um schließlich die Klinge zu führen, die Jin Guangyao den Todesstoß versetzte, nur um während dessen Ableben verstehen zu müssen, dass man wahrscheinlich einem Missverständnis unterlegen war? Um im letzten Moment von diesem zwiegesichtigen, manipulativen und doch innig geliebten Bruder vor dem sicheren Tode bewahrt zu werden? Wer sollte nach all dem noch wissen, woran man glauben soll, und die Kraft finden, wieder aufzustehen, die Scherben seines Herzens einzusammeln und die Vergangenheit hinter sich zu lassen? Wei Wuxian verstand sehr wohl den bitteren Albtraum, aus dem Lan Xichen einfach nicht auszubrechen vermochte. Ebenso wie Lan Wangji. Und so sehr es sie auch schmerzte, Lan Xichens innere Qualen mitansehen zu müssen, so waren ihnen dennoch die Hände gebunden. “Wei Ying, du wirkst erschöpft”, holte Lan Wangji ihn aus seinen trüben Gedanken, ohne die Umarmung zu lösen. Er lächelte matt in den seidenen Kragen seines Partners und tastete mit den Fingern nach den Enden des weißen Lan-Stirnbands. Es half niemandem, wenn sie ebenso an Lan Xichens Schicksal zerbrachen. Sie hatten einen Clan zu führen. Lan Qiren war nicht mehr der Jüngste und konnte nicht mehr alles allein schultern. Wei Wuxians Sorgen waren bei weitem nicht so schwerwiegend wie die von Lan Wangji und gerade deshalb geeignet, ihm aus seinen eigenen trüben Gedanken kurzfristig herauszuhelfen. Es tat immer gut, wenn man sich um die Probleme anderer kümmern konnte. Also seufzte er ergeben. “Es ist nichts Dramatisches.” Lan Wangji gab ihm mit einem fragenden “Hm?” zu verstehen, dass er weitersprechen sollte. “Ich bin mit den Gedanken einfach noch nicht ganz aus den Grabhügeln zurück. Ich weiß, dass ich an der Vergangenheit nichts ändern kann. Aber das allein beschwichtigt die Reue nicht, darüber, wie leichtsinnig ich damals war. Da ist noch immer diese kleine, hartnäckige Stimme in mir, die mich fragt, ob ich Shijies und Jin Zixuans Tod nicht hätte vermeiden können. Und wenn ich dann diese einfältigen Jungspunde sehe … Und es ist ja nicht mal nur der Nachwuchs! Neulich bei einer Nachtjagd hat sogar dieser Hefekloß von einem Clanführer von der Bingzhou Peng-Sekte versucht mich anzuwerben!” “Wei Ying”, rügte Lan Wangji die ausfallende Wortwahl, aber es fehlte die übliche Härte. “Aber es ist doch wahr!” Wei Wuxian schnaubte verächtlich. “Als ob einer von meiner Sorte alle paar Tausend Jahre nicht genug wäre.” Lan Wangji hielt ihn stumm, massierte in leichten, kreisenden Bewegungen seinen Rücken und Nacken. Es dauerte nicht lange, bis Wei Wuxian sich entspannte, die Augen schloss und wohlig ausatmete. “... Vielleicht solltest du tatsächlich Unterricht geben”, vibrierte Lan Wangjis Stimme nach einer Weile erneut sanft an seinem Hinterkopf. Wei Wuxian zog die Augenbrauen zusammen, seine Kiefer spannten sich an. “Lan Zhan, seit wann hast du solch einen sarkastischen Humor?” “Wei Ying”, mahnte er mit unverändertem Sanftmut. Und Wei Wuxian schwieg. Wartete auf eine Erklärung. Denn egal, wie er es drehte, er sah solch ein Unterfangen kein gutes Ende nehmen. Das war einfach kein guter Lehrstoff. Dafür brauchte er nicht einmal Lan Qirens tadelnden Blick. Bei diesem Thema waren sein Schwiegeronkel und er ausnahmsweise einer Meinung, auch wenn besagter Onkel wahrscheinlich nicht einmal ahnte, wie sehr ihre Ansichten hier übereinstimmten. “Fehlendes Wissen lässt die Menschen die Gefahren unterschätzen”, sprach Lan Wangji schließlich weiter. “Sie sehen nur dein jetziges Ich. Es gibt zu wenige Aufzeichnungen über den dunklen Pfad, sowohl seine Eigenarten und Nutzungsmöglichkeiten als auch seine Gefahren. Besonders kleineren Clans und freien Kultivatoren fehlt der Zugang zu diesem Wissen. Eine Weitergabe könnte zu einer Verminderung von Leichtsinn und damit auch zur Vermeidung von Unfällen beitragen.” Wei Wuxian dachte über diese Argumentation nach. Sie ergab durchaus Sinn. Es waren stets jene, die ihn nicht von früher kannten, die von ihm in der dunklen Kultivierung unterrichtet werden wollten. Solche, die die alten Geschichten nicht kannten oder nicht glauben wollten. Die Geschichten jener Helden, die sich dieser Herausforderung gestellt hatten und schrecklich an ihr gescheitert waren. Die Frage war, was genau die Katze diesen kleinen Tigern, jung, unerfahren, übereifrig und von Faszination und Machtstreben verblendet, an Wissen vermitteln müsste, um ihnen den Ernst der Sache begreiflich zu machen, ohne jedoch dabei all ihre Tricks preiszugeben. Erst einmal mussten sie begreifen, dass man die dunkle Kultivierung um Himmels Willen langsam und vorsichtig angehen muss. Ein goldener Kern bildete sich schließlich auch nicht über Nacht. Ideen durchströmten Wei Wuxians Geist und bildeten allmählich ein Konzept. Das … könnte tatsächlich funktionieren. – Vorausgesetzt, sie kämen an der grauen Lan-Eminenz vorbei.   “AUF KEINEN FALL!”, donnerte Lan Qirens Stimme durch den Hanshi. Seine Brust hob und senkte sich ruckartig, Schultern und Kinnbart zitterten vor kaum unterdrückter Wut. “Es war seine Idee!”, platzte Wei Wuxian hastig heraus und schob sich ganz ungeniert hinter Lan Wangji. Und da dies der vollen Wahrheit entsprach und sie ohnehin vorgehabt hatten, Lan Zhan, als dessen  Neffen, ihm diesen Vorschlag näherbringen zu lassen, ließ der zweite Jade-Prinz es auch anstandslos über sich ergehen. “Wangji …! Wie kannst du nur …!” Lan Qiren fehlten die Worte. “Es sind keine Unterweisungen in der Kultivierung dunkler Energie geplant”, erklärte Lan Wangji sachlich. “Das Ziel ist es, über ihre Gefahren aufzuklären, um aus Unwissen resultierende Zwischenfälle besser zu vermeiden. Wenn Onkel diesem Grundgedanken nicht abgeneigt ist, so möchte ich ihn bitten, diese Notizen zu begutachten.” Damit bot er eine Schriftrolle dar, die Lan Qiren nach einigem Zögern und mit noch immer großer Skepsis entgegennahm. “Es ist ein erstes Konzept zum Aufbau und den Inhalten eines möglichen Kurses. Wir möchten Onkel um seine kritische Meinung dazu bitten.” Lan Qiren musterte schweigend die dünne Schriftrolle in seiner Hand. Nach einigen Augenblicken entfuhr ihm ein ergebener Atemzug. “Vorschnelles Urteilen zeugt von einem kleinen Geist und führt zu fehlerhaften Entscheidungen”, antwortete er schließlich. “Ich werde mir dieses Konzept ansehen. Aber erwartet nicht, dass ich auch nur die kleinste Nachsicht bei meiner Entscheidung zeigen werde, auch wenn du es bist, der mich darum bittet, Wangji. Zudem ist das eine Entscheidung von so großer Tragweite, dass das vor den Ältestenrat gebracht werden muss. Sollte entschieden werden, dass diese Idee der Lan-Lehre und dem Wohl der Kultivatorenwelt nicht zuträglich ist, so wünsche ich keine weiteren Widerworte.” “Natürlich.” Lan Wangji verbeugte sich tief und Wei Wuxian tat es ihm gleich. “Wir danken Onkel für seine unparteiische Einschätzung.”   “Der Ältestenrat hat die Ziele und den Entwurf des Kursplans für erstrebenswert befunden”, teilte Lan Qiren Lan Wangji im Beisein von Wei Wuxian eine Woche später mit. “ALLERDINGS”, schob er sofort nach, “unter einer Bedingung: Wei Wuxian soll eine Probestunde durchführen. Die Ältesten sowie weitere Mitglieder des Clans werden sie einschätzen. Er hat sich in der Unterweisung in praktischen Übungen bewährt und unser Vertrauen erworben, aber seine Fähigkeiten bezogen auf den theoretischen Unterricht müssen wir ebenso prüfen.” Sollte heißen: Man traute ihm nicht über den Weg, tatsächlich das zu machen, was im Lehrplan stand. Wei Wuxian sollte es recht sein. Es war eine gute Aufwärmübung für den ersten Durchlauf. Und vielleicht … vielleicht sogar eine Möglichkeit, Lan Xichen aus seinem Schneckenhaus herauszulocken. “Lan Zhan”, verschaffte er sich Aufmerksamkeit, kaum dass sie wieder allein im Jingshi waren. “Meinst du, du kannst Zewu-jun überzeugen, der Probestunde beizuwohnen?” Der Angesprochene blickte ihn unsicher an. “Offiziell ist er der Clanführer und das ist eine weitreichende Entscheidung. Ich denke, er sollte nicht einfach vor vollendete Tatsachen gestellt werden”, erklärte sich Wei Wuxian. “Und irgendwann muss er einfach herauskommen. Für sich selbst und auch für euch. Ich sehe doch, wie sehr du darunter leidest, die Tragik eures Vaters in Form von Zewu-jun erneut mitansehen zu müssen. Dein Onkel ebenso.” “Es wird schwer, meinen Bruder davon zu überzeugen”, gab Lan Wangji kraftlos zu bedenken. “Er selbst fühlt sich noch nicht bereit für diesen Schritt.” Wei Wuxian nickte verständnisvoll. “Wir dürfen ihn nicht überfordern. Versuchen wir es mit kleinen Schritten. Und wenn er noch gar nicht dafür bereit sein sollte, akzeptieren wir das.” Wenig später standen beide vor dem schlichten, kleinen Gebäude, in das der Clanführer sich zurückgezogen hatte. Lan Wangji nahm einen tiefen Atemzug und suchte noch einmal Halt in den Augen seines Partners, bevor er die Hand hob und anklopfte. “Bruder? Wei Ying und ich erbitten einen Besuch. Dürfen wir eintreten?” Ein gedämpftes Rascheln auf der anderen Seite der Tür folgte, dann leise Schritte, und die Tür wurde geöffnet. “Wangji, junger Herr Wei”, begrüßte Lan Xichen seine Besucher, die warmen Worte im starken Kontrast zu seinen eingefallenen Wangen und müden Augen. Wei Wuxian musste schlucken bei diesem Anblick. Er hatte Lan Xichen lange nicht mehr besucht und so war der Kontrast zu seiner früheren Stärke und Gesundheit umso gravierender. “Kommt herein.” Damit trat der Bewohner des Hauses einen Schritt zur Seite und deutete mit seinem freien Arm ins Innere, zu seinem Tisch, auf dem noch eine angebrochene Kanne Tee stand, daneben ein aufgeschlagenes Buch. Das Buch wurde prompt geschlossen und in sein Regal zurückgestellt, dann machte sich Lan Xichen auf den Weg zu seiner Kochnische, um das frisch aufgekochte Wasser vom Herd zu nehmen und eine weitere Kanne Tee aufzugießen. “Entschuldigt, dass ich so schlecht vorbereitet bin auf euren Besuch. Aber ich freue mich über eure Gesellschaft. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben, junger Herr Wei. Ich hoffe, das Leben bei uns wird dir angenehm gemacht?” Lan Xichen hatte schon immer einen Weg mit Worten gehabt, doch jetzt, wo seine warmen Worte kaum mehr als eine Hülle seines einst so sanften und zuversichtlichen Wesens waren, tat es weh, sie zu hören. Wei Wuxian verstand sofort, warum Lan Wangji nach den Besuchen bei seinem Bruder stets so ausgelaugt war. Lan Xichen verströmte eine Aura, die es einem schwer machte, nach seinem Befinden zu fragen oder eine Antwort darauf erhalten zu wollen. “Ja, es ist schön hier”, bestätigte Wei Wuxian ihm, und fügte mit einem Lachen hinzu: “Meine wilden Jahre habe ich wohl langsam hinter mir gelassen.” Wärme flackerte durch Lan Xichens Blick, als er erst ihn, dann Lan Wangji musterte, doch kaum war der Blickkontakt gebrochen, wurde er wieder von Schmerz überschattet. “Das freut mich zu hören …” Es war kaum mehr als ein Hauch, ein kraftloses Knarzen wie der Ast eines abgestorbenen Baumes im Winterwind. Und genau das war der Grund, weshalb Wei Wuxian diesen Ort normalerweise vermied: Sie hatten im Auge desselben Sturms namens Jin Guangyao gekämpft, aber während Lan Wangji und er mit einem glücklichen Ende daraus hervorgegangen waren, hatte Lan Xichen alles verloren. Der ältere der beiden Lan-Brüder würde ihnen das nie vorhalten. Wei Wuxian glaubte sogar, dass er sich aufrichtig für ihn und Lan Wangji freute. Das Wohl seines geliebten kleinen Bruders hatte schon immer an erster Stelle für ihn gestanden. Aber es linderte nicht den Schmerz, den er selbst davontrug. So wollte Wei Wuxian ihm gegenüber zumindest nicht ständig sein eigenes Glück zur Schau stellen. “Bruder”, begann Lan Wangji, als das Schweigen zwischen ihnen eine Gelegenheit bot, “im Clan steht eine Entscheidung an, für die wir gern deine Meinung einholen würden.” Sofort wirkte das höfliche Lächeln auf Lan Xichens Lippen gequält. “Ich vertraue dir und Onkel mit solchen Angelegenheiten voll und ganz. Bitte gebt mir dafür noch etwas Zeit.” “Natürlich werden am Ende die Ältesten die Entscheidung treffen”, kam Wei Wuxian seinem Partner zu Hilfe. “Es würde uns einfach beruhigen, wenn Clanführer Zewu-jun ebenfalls informiert ist und wir wissen, dass wir mit seinem stillschweigenden Einverständnis rechnen können.” Lan Xichen hob skeptisch eine Augenbraue und Wei Wuxian führte sich ermutigt, fortzufahren: “Eigentlich muss Clanführer Lan überhaupt gar nichts sagen – außer wenn es Einwände gibt, natürlich. Es gibt keine Debatten und keine vorbereitenden Berichte zu studieren. Einfach seine Anwesenheit für ein paar Stunden wäre ausreichend, gern zu einem von ihm gewählten Zeitfenster. Alles weitere lässt sich entsprechend organisieren.” Lan Xichens Blick wanderte weiter zu Lan Wangji, gefolgt von der Frage: “Und wovon genau ist hierbei die Rede?” Und Wei Wuxian fiel ein Stein vom Herzen. Lan Xichen fragte nach. Von sich aus. Er zeigte Interesse. Es wären nur ein paar Stunden, doch gemessen an den letzten sieben Monaten, war das ein unbeschreiblicher Fortschritt, hoffentlich der erste in einer Reihe weiterer, um ihn ins Leben zurückzuführen.   Der Lanshi, Quell zahlloser Heldengeschichten und Missetaten für Wei Wuxian. Oh, wie wurde ihm das Herz schwer, seinen früher so verhassten Klassenraum nach all den Jahren mit dieser bittersüßen Nostalgie zu durchschreiten, so wie es einst Lan Qiren getan hatte, als er erstmals vor ihnen, einer Schar naiver, übermütiger Jugendlicher, den Platz hinter seinem Pult bezogen hatte! Er fühlte sich, als wandle er in den Fußstapfen seines ehemaligen Lehrmeisters, als er nun selbst hoch erhobenen Hauptes diesen Weg beschritt. Am Ende der niedrigen Tischreihen angekommen, drehte er sich schwungvoll um und verkündete mit seinem breitesten Strahlen: “Verehrte Schüler! Ich freue mich, euch heute zu unserem ersten Unterricht begrüßen zu dürfen!” Die Bilder der Vergangenheit mit jungen Gesichtern, in denen sich zahllose Emotionen spiegelten – Scheu, Erwartung, Angst, Vorfreude, Langeweile, Neugier – überlagerten sich mit den entsetzten Blicken einer Handvoll verstockter alter Männer, die Gesichter rot wie Truthähne, die zu Fäusten geballten Hände bebend, sämtliche Faltigkeit verloren, die Knöchel weiß hervortretend. Die Emotionen seiner ‘Schülerschaft’ rangierten zwischen ‘kurz vor Qi-Entartung’ und ‘kurz davor, aufzuspringen und tobend den Raum zu verlassen, sämtliche in Stein gemeißelte Lan-Vorschriften vergessen’. Einzige Ausnahme: ein unscheinbarer, dünner Schatten in der hintersten, dunkelsten Ecke des Raumes, der in seiner zusammengesunkenen, teilnahmslosen Erscheinung dem Begriff ‘Trauergewand’ eine ganz neue Bedeutung verlieh. Und doch ließ genau dieser Anblick ein zaghaftes Lächeln über Wei Wuxians Lippen huschen. Die einzige Person, deren heutige Anwesenheit wirklich von Bedeutung war: Lan Xichen. Bevor aber seine eifrig vorbereitete Probestunde und damit der gesamte sehnlichst erwartete Kurs von seinen Richtern auf den Schulbänken abgeschmettert wurde, entschied Wei Wuxian, dass es wohl klüger wäre, seine Schaustellung einen Schritt zurückzurudern. So faltete er ordnungsgemäß die Arme vor seinem Kopf und verbeugte sich tief. “Verehrte Älteste, verehrter Großmeister Lan Qiren, verehrter Clanführer Zewu-jun. Euer simpler Schüler Wei Wuxian bedankt sich aufrichtig für diese großzügige Gelegenheit, die Aufrichtigkeit seines Herzens und seine Qualitäten als Lehrer unter Beweis stellen zu dürfen. Für einen Kurs von so weitreichender Bedeutung halte ich es für notwendig, dass seine Durchführung den künftigen tatsächlichen Bedingungen so nah wie möglich kommt. Ich möchte daher bitten, dass wir alle uns in unsere entsprechenden Rollen hineinversetzen – ich als Lehrer und Ihr als meine Schülerschaft – damit die werten Ältesten sich ein Urteil darüber bilden können, ob mein Umgang mit dem Nachwuchs unserer Kultivatorenwelt angemessen ist.” Nicht, dass es nötig wäre. Von seinen Nachtjagden und seinem Schwerttraining wusste jeder, wie er mit dem Nachwuchs umging. Aber wer wäre er denn, wenn er sich diesen Spaß entgehen ließe? “Nun denn, dann lasst uns beginnen!” Augenblicklich war Wei Wuxian wieder ganz in seiner Lehrerrolle versunken. “Ich hoffe, alle haben den Kursplan studiert und die Literatur für die heutige Stunde gelesen. Wer sich noch einmal über die Kursinhalte versichern will, wirft bitte nach der Stunde einen Blick auf das Programm an der Tür. Sämtliche Texte finden sich in einem ausgewiesenen Regal in der Bibliothek. Also dann! Reden wir über die Geschichte der dunklen Künste! Was wisst ihr denn über historische Ereignisse, in denen die dunklen Künste involviert waren?” Stille. Untersetzt mit einer gehörigen Portion Skepsis. Nun, zumindest waren es keine Mordgelüste mehr, stellte Wei Wuxian zufrieden fest. “... Wie jetzt? Niemand hat je etwas von den dunklen Kultivatoren unserer Geschichte gehört?”, empörte Wei Wuxian sich gespielt. “Wenn ihr stumm seid wie die Fische, wie wollt ihr denn dann voneinander lernen? Wissen muss geteilt werden, damit es nicht verloren geht!” Weitere stille Sekunden verstrichen, doch schließlich erhob sich eine Hand. “Dritter Ältester Wang! Sehr schön!”, freute sich Wei Wuxian. Starr wie ein Untoter erhob der Gelehrte sich und begann nach einer zögerlichen, angedeuteten Verbeugung, seine Meinung zu teilen. “Es gibt bis heute keine gesicherten Beweise für den Gebrauch dämonischer Kultivierung in bedeutenden historischen Ereignissen.” “Das ist richtig.” Wei Wuxian nickte. “Aber einige Ereignisse deuten dennoch auf die Einflüsse dunkler Energie hin.” “Diese Vorfälle ohne Absicherung der dämonischen Kultivierung zuzuordnen, ist Willkür!”, konterte der Gelehrte Wang aufgebracht. “Sehr gut!”, lobte Wei Wuxian ihn prompt. Dann wurde er für einen Moment ernst und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. “Verliert niemals eure Skepsis. Ein vorschnelles Urteil kann ein unschuldiges Leben zerstören. Das würde uns zu denen machen, vor denen wir das einfache Volk und unser Land beschützen wollen.” Keinerlei Regung zuckte durch die versteinerten Mienen der Ältesten. Ihre bohrenden Blicke verließen Wei Wuxian für keine Sekunde. “Ihr fragt euch nun wahrscheinlich”, sprach er weiter und begann, vor seinem Pult auf und ab zu laufen, “was hat diese Grundsatzdebatte nun mit der dunklen Kultivierung zu tun? Nun, eine ganze Menge. Denn ‘nicht vorschnell zu urteilen’ bedeutet, seine Skepsis in allen denkbaren Richtungen zu bewahren, und zwar so lange, bis eine Möglichkeit eindeutig ausgeschlossen werden kann.” Wei Wuxian drehte sich zu dem Ältesten zurück, mit dem er gerade das kurze Streitgespräch geführt hatte. “Könnte der Dritte Älteste Wang uns eine historische Person nennen, die mit der dämonischen Kultivierung in Zusammenhang stehen könnte, und seine Vermutung begründen?” Für einige weitere Herzschläge blieb es totenstill im Raum, die Lippen des Ältesten fest verschlossen. Doch schließlich schnaubte er dezent und brachte einen Blick zustande, der selbst aus seiner niedrigen Position heraus unmissverständlich deutlich machte, was er von Wei Wuxians Unterricht hielt. “Es besteht die Möglichkeit, dass Zhi Yao vom Zhi-Clan mit dunkler Kultivierung in Berührung gekommen sein könnte. Während er in jüngeren Jahren als fähiger Minister und erfolgreicher General geschätzt wurde, wurden seine Entscheidungen in späteren Jahren egoistisch und unbarmherzig. Es ist nicht geklärt, woher sein Sinneswandel kam, daher wird eine Infektion mit dunkler Energie als eine mögliche Erklärung herangezogen.” Wei Wuxian nickte anerkennend. “Am Ende hatte er sich zahlreiche Feinde gemacht, die sich im Krieg gegen ihn verbündet und ihn und seine gesamte Familie niedergestreckt haben. Welche ähnlichen Vorfälle sind noch bekannt?” Wieder meldete sich niemand freiwillig zu Wort, doch Wei Wuxian wartete geduldig. Sie hatten Zeit. Und schließlich gab der nächste Gelehrte unter der gähnenden Langeweile nach, erhob sich und deutete mit dem Kinn ein knappes Nicken an. Wei Wuxian hob eine Augenbraue, sagte aber nichts zu dieser kümmerlichen Zurschaustellung von Respekt. “Yanling Daoren”, konstatierte der Älteste, “Schüler von Baoshan Sanren. Der erste, der ihren heiligen Berg verließ. In den ersten Jahren seines Herabstiegs hochgelobt für seine zahllosen Heldentaten, doch auch sein Charakter änderte sich plötzlich drastisch und er begann, grausam und willkürlich zu morden, bis er von tausenden Schwertern gerichtet wurde.” “Eine tadellose Zusammenfassung”, lobte Wei Wuxian auch den zweiten Redner. Auch wenn die Kooperationsbereitschaft zu wünschen übrig ließ, so machten die Ältesten der Gusu Lan-Sekte in Bezug auf Wissen, die Art, wie sie dieses vermittelten, und kritische Hinterfragung ihrem Ruf alle Ehre. “Sicherlich denken nun alle an den ein oder anderen weiteren mysteriösen Zwischenfall oder Kultivatoren, der mit der dunklen Kultivierung im Zusammenhang stehen könnte. Was verbindet also all diese Elemente? Was lässt uns vermuten, dass es sich hier um die Einwirkung dunkler Energie gehandelt haben könnte?”, führte Wei Wuxian die Analyse weiter. Diesmal war es Lan Qiren höchstpersönlich, der sich erhob und ihn herausfordernd anfunkelte, bevor er zu sprechen begann. “Verehrter Lehrer, mir ist nicht ganz klar, was wir in diesem Kurs über dunkle Kultivierung lernen sollen, wenn wir all diese Dinge bereits in den Geschichtskursen von Lehrmeister Lan Qiren behandelt haben.” “Genau aus diesem Grund machen wir das!”, rief Wei Wuxian enthusiastisch. Endlich kam etwas Leben in den Klassenraum. “Ihr Jungspunde” – ooooh, wie er die überkochende Empörung im Raum genoss – “kommt hier an, voller Erwartung, vom Großmeister persönlich in einem Crashkurs in die dunkle Kultivierung eingewiesen zu werden, und vergesst dabei etwas ganz Essentielles: Was war Zhi Yao wenige Jahre nach dem Verlust seiner Moral und Menschlichkeit? Tot. Was wurde aus Yanling Daoren? Tot. Nun wird mir unser belesener Wang Chong wahrscheinlich gleich entgegenhalten”, aus dem Augenwinkel beobachtete Wei Wuxian, wie sich die Brust des Genannten bereits mit Luft gefüllt und die Arme angespannt hatten, drauf und dran, zum Gegenschlag aufzuspringen, “dass sich Zhi Yao und Yanling Daorens unerklärlicher moralischer Verfall nicht mit Sicherheit auf die dunkle Kultivierung zurückführen lassen. Nun gut! Dann nennt mir ein Gegenbeispiel, und sei es auch nur ein hypothetisches, in dem ein mutmaßlicher dämonischer Kultivator nicht den Gefahren dieser Mächte erlegen ist und eine Schneise der Verwüstung hinterlassen hat!” Ein kollektives ‘Willst du uns auf den Arm nehmen?!’ schlug Wei Wuxian entgegen, doch er empfing die Welle wie ein Fels in der Brandung und so musste sich die wilde Strömung schließlich zurückziehen und ein weiterer Ältester ließ sich, ganz seiner guten Lan-Erziehung entsprechend, zu einer gesitteten Antwort herab. “Der Yiling-Patriarch steht gesund und … vernünftig” – das letzte Wort wurde als sichtbare Zumutung hervorgepresst – “vor uns.” Wei Wuxian nickte zustimmend. “Und was tat der Yiling-Patriarch bis vor 14 Jahren?” Betretenes Schweigen. Wei Wuxian ersparte es den Anwesenden, ihm die Gräueltaten ins Gesicht zu werfen, und antwortete selbst. “Während der Sunshot-Kampagne Tausende Kultivatoren der Wen-Sekte niederstrecken. Danach eine Gruppe Aufseher eines Arbeitslagers der Jin-Sekte. In der Nachtlosen Stadt drei- bis fünftausend weitere Kultivatoren, unabhängig ihrer Sektenzugehörigkeit oder Beteiligung am Kampfgeschehen. Und schließlich: vernichtet von der ungeheuren Macht des Stygischen Tiger-Amuletts.” Er ließ eine bedächtige Pause. Betretenes Schweigen ob der schonungslosen Erinnerung an all jenes Gräuel lag wie dicke Rauchschwaden in der Luft. “Die Details sind Gegenstand der nächsten Unterrichtsstunde.” Wei Wuxians Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, regelrecht unheimlich in der Grabesstille des Lanshi. “Daher meine Frage: Wollt ihr tatsächlich so enden? Selbst mit der schier unmöglichen Wahrscheinlichkeit, Jahre später ins Leben zurückgerufen zu werden und die Chance für einen Neuanfang zu erhalten? Sagt mir, wer würde dieses Leben mit all seinen Erinnerungen an seine früheren Gräueltaten der Rückkehr in den ewigen Kreislauf vorziehen?” Wei Wuxian schloss die Augen, kontrollierte seine Atmung und zwang seinen Geist zur Ordnung. Er dachte oft über diese Dinge nach und er hatte sich im Grunde damit abgefunden, dass sein Gewissen für den Rest seines Lebens sein strengster Richter bleiben würde. Und die meiste Zeit über trug er es mit Fassung, oft sogar Dankbarkeit. Denn wie sollte er sich selbst ertragen, wenn trotz all seiner Schuld sein Gewissen rein wäre? Dennoch hatte es ihn unvorbereiteter getroffen als erwartet, diese Dinge tatsächlich auszusprechen. Er würde sich auf seinen ersten Kurs, sollte er denn zustande kommen, gut vorbereiten müssen. Als er die Augen wieder öffnete, hatten sich zwei Dinge ereignet, mit denen Wei Wuxian nicht gerechnet hatte: Zum ersten Mal seit seiner Jugend zeigte sich in den Gesichtern einiger Lan-Ältester ihm gegenüber so etwas wie Verständnis. Und: In der hinteren, dunklen Ecke erhob sich eine dünne, blasse Hand. Wei Wuxian traute seinen Augen kaum. Doch als die zusammengesunkene Gestalt sich der Aufmerksamkeit ihres Lehrers sicher war, erhob sie sich schwerfällig und verbeugte sich tief. Der Raum schien nur noch aus ihnen beiden zu bestehen, als Lan Xichens belegte Stimme sich über die Stille erhob. “Wenn man seine Fehler erkannt hat, wie geht man damit um?” Und, nach einer kurzen Pause: “Wie überwindet man diese Schuld?” Wei Wuxian schluckte schwer. Er konnte Lan Xichen verstehen. So sehr verstehen. Und er wusste, dass seine Antwort nicht die Linderung bringen würde, die er sich für seinen Schwager wünschte. “Gar nicht.” Wei Wuxian senkte den Blick, innerlich um Entschuldigung für diesen enttäuschenden Ratschlag bittend. “Der Schmerz wird irgendwann stumpfer, wenn man neue Ziele findet. Dinge, die einem das Gefühl geben, ein Stück dessen zurückgeben zu können, was man genommen hat. Aber verschwinden wird er nie.” Und dabei war es ganz egal, wie viel dieser Schuld man in den Augen anderer tatsächlich selbst zu verschulden hatte oder wie viel man bereits zurückgezahlt hatte. Diesen Kampf trug man einzig mit sich allein aus. Aber dies war etwas, was Lan Xichen genauso wusste wie er und Lan Zhan.   -~*~-   “Na jedenfalls”, beendete Wei Wuxian seine Geschichte mit einer wegwerfenden Handbewegung, “war der Kurs danach beschlossene Sache. Und die Gesichter dieser alten Prediger! Jiang Cheng, das hättest du sehen müssen! Wie überreife Tomaten, allesamt!” Der Gedanke trieb ihm erneut vor Lachen die Tränen in die Augen. Jiang Cheng hingegen fragte sich, ob Wei Wuxian seinem Tee wohl Emperor’s Smile beigemischt hatte. Zugegeben, die Geschichte hatte zeitweise auch ihn sehr amüsiert. Und wer den Ernst der Lage nicht kannte, hätte sich sicherlich bis zum Ende von Wei Wuxians lebhaftem Erzählstil mitreißen lassen. Aber Jiang Cheng war kein unbeteiligter Außenstehender. Egal, wie man es ihm verkaufte – der Schluss war alles andere als eine fröhliche Pointe, die man gern vor seinen Trinkkumpanen zum Besten gab. Er umfasste seine Teeschale mit beiden Händen, konzentrierte sich auf die Wärme, die in seine Fingerspitzen überging. “Wie geht es Zewu-jun jetzt?”, fragte er, als Wei Wuxian sich wieder beruhigt hatte. Eine gewisse Melancholie legte sich auf die Gesichtszüge seines Bruders. “... Besser, schätze ich. Er wird wohl noch eine Weile brauchen, bis er vollständig aus seiner Isolation zurückkehren kann. Aber er ist nicht mehr so verschlossen wie zuvor. Er begleitet Lan Zhan und mich gelegentlich auf Spaziergängen. Er empfängt häufiger Besuch. Er erkundigt sich nach den Geschehnissen des Clans. Neulich … haben wir über Jin Guangyao gesprochen.” Jiang Cheng nickte nachdenklich. Und fühlte sich gleichzeitig noch kindischer und verbohrter, als er es ohnehin schon tat. Alle um ihn herum waren so viel reifer und mutiger als er, sich ihren inneren Dämonen zu stellen. “Und dir?”, hakte er nach. “Hm?” “Wie geht es dir?” Wei Wuxian wollte gerade zum Sprechen ansetzen, da schickte Jiang Cheng mit einem erbosten Funkeln in den Augen hinterher: “Und sei ehrlich!” Wei Wuxian klappte ertappt den Mund wieder zu und Jiang Cheng konnte nur die Augen verdrehen über dessen chronische Missachtung seines eigenen Seelenwohls. Mit all dem, was Wei Wuxian jahrelang geschafft hatte, vor ihm geheim zu halten, maß er sich nicht mehr an, seinen Bruder in all seinen Belangen zu kennen und durchschauen zu können, aber zumindest Herabspielungen dieser Art würde er nicht übersehen. Er beobachtete seinen Bruder sehr genau. Und wartete. “Es gibt solche und solche Tage”, gestand Wei Wuxian schließlich. “Manchmal steckt mein Kopf tief in der Vergangenheit. Jetzt, mit Zewu-jun. Oder zum Totenfest. Lan Zhan und ich waren zum Totenfest bei den Grabhügeln.” Jiang Cheng hatte es bemerkt. Er hatte die Blumen und die Aschereste des Totengeldes gesehen, als der Sog in seinem Herzen zu stark geworden war und er sich am Abend ebenfalls an jenem Ort wiedergefunden hatte. “An Shijies Geburtstag”, führte Wei Wuxian weiter an. “Auch an Onkel Jiangs und Madame Yus. … An dem Tag, als der Lotus-Pier niedergebrannt ist.” Wei Wuxians Blick schweifte ab, ernst und so weit weg, als suchte er die Vergangenheit, diejenigen, nach denen sein Herz sich so oft sehnte. Jiang Cheng kannte diesen Blick, kannte diese Sehnsucht wie kein Zweiter. “Jiang Cheng.” “Hm?” Jiang Cheng bemerkte, dass sich seine Gedanken wohl auf seine Gesichtszüge übertragen haben mussten. Wei Wuxians Blick ruhte noch immer im diffusen Nebel der Vergangenheit, doch seine Hand fand die seine ohne die kleinste Unsicherheit und drückte sie sanft. “Eigentlich würde ich jetzt gern sagen: ‘Mach dir keine Sorgen um mich’, aber – danke, dass du dir Gedanken machst.” Jiang Cheng erwiderte den Händedruck. Mit Worten wäre er niemals imstande auszudrücken, was ihm dieser Satz bedeutete. “Jiang Cheng, ich- Damals, im Guanyin-Tempel. Als ich gesagt habe, du sollst es vergessen. Vergiss das, dass war dumm vo-” “Es ist in Ordnung”, fuhr Jiang Cheng ihm ruhig dazwischen. Er atmete tief durch, musterte die Reflexionen des Sonnenlichts in seiner Teeschale. “Es … wird in Ordnung. Allmählich. Ich habe viel nachgedacht seit Langya. Über Vieles, worüber ich vierzehn Jahre lang zu feige war nachzudenken. Oder länger. Ich konnte nicht für alles eine Antwort finden. Vielleicht werde ich das nie können. Aber vieles hat sich gebessert, vieles kann ich jetzt klarer sehen. Es geht mir besser.” Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Tee, um die Nervosität zu überspielen. “Und … Nenn mich egoistisch, aber zu wissen, dass die Vergangenheit genauso ein Teil von dir ist wie von mir, ist irgendwie beruhigend zu wissen. Versteh mich nicht falsch! Auf der anderen Seite mache ich mir Sorgen, dass du mal wieder zu viel in dich hineinfrisst und niemand sieht, wie du daran zugrunde gehst, aber-” “Ist schon gut.” Diesmal war es Wei Wuxian, der ihn unterbrach, unterstrichen von einem weiteren sanften Druck ihrer noch immer verbundenen Hände. “Ich verstehe, was du meinst. Und genau deshalb kann ich endlich mit dir darüber reden.” Und mit einem leisen Glucksen fügte er hinzu: “Besser, als ich es mit Lan Zhan könnte.” Eine wohlige Wärme durchströmte Jiang Chengs Brust. Er erwiderte den Händedruck, suchte Wei Wuxians Blick. Für einige lange, friedvolle Momente blickten sie einander stumm in die Augen, ganz genau wissend, was in dem anderen vor sich ging. “Auch ich möchte, dass es endlich Vergangenheit wird”, hauchte Jiang Cheng schließlich. Wei Wuxian nickte verstehend und Jiang Cheng fügte hinzu: “So weit, wie es eben möglich ist.” Egal, welche Fehler sie beide in der Vergangenheit gemacht haben mochten. Selbst ewige Reue würde nichts besser oder gar ungeschehen machen. Aber was sie tun konnten, war, aus diesen Fehlern zu lernen. Und um diesen Schritt abzuschließen, musste Jiang Cheng noch einen letzten Ballast abwerfen – und hoffen, dass er den seelischen Zustand seines Bruders richtig einschätzte und dieser letzte, schwere Felsen sie nicht wieder unter Wasser ziehen würde. “Wuxian.” “Hm?” Jiang Cheng holte tief Luft. “Damals, nach dem Angriff auf den Lotus-Pier … In der Stadt, wo du Essen für uns gekauft hast?” “Ich erinnere mich”, bestätigte ihm Wei Wuxian, die Stimme ein wenig klamm, vorsichtig. “Da war eine Gruppe Wen-Bastarde, die die Stadt nach uns durchkämmt hat. Wenn ich sie nicht abgelenkt hätte, hätten sie dich erwischt.” Wei Wuxians Augen weiteten sich vor Schock. “Jiang Cheng …!” Doch Jiang Cheng schüttelte den Kopf. “Ich erzähle dir das nicht, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen. Wenn es eine Sache gibt, die ich nie bereut habe und nie bereuen werde, dann ist es diese. Ich will nur nicht, dass noch länger irgendetwas zwischen uns steht. Sondern dass wir beide ehrlich miteinander sind.” Wei Wuxian atmete geräuschvoll ein, offenbar darum ringend, diese Offenbarung zu verarbeiten. “... Danke”, hauchte er schließlich. “Und Entschuldigung.” “Wofür?” “Es gab Zeiten, da habe ich an uns gezweifelt. Zeiten, in denen es nicht angebracht war”, gestand Wei Wuxian. “Wie hättest du auch anders fühlen können, wenn du nichts wusstest?” Jiang Cheng kannte diese Zweifel nur zu gut. “Deshalb möchte ich, dass du es jetzt weißt. Du bist immer mein Bruder gewesen.” Wei Wuxians Blick war wieder gefestigt, als er Jiang Cheng diesmal geradewegs in die Augen sah und zur Bestätigung seine Hand noch einmal fest drückte. “Schon immer, für immer. Bruder.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)