Bruder von Lady_Ocean ================================================================================ Kapitel 11: Fairy ----------------- Die Entfernung des fremdartigen Qi, das sich in Jin Ling festgesetzt hatte, war zu einem nervenaufreibenden Spektakel geworden. Das Wesen – Wei Wuxian fand keinen passenderen Begriff, das Verhalten dieser Energie zu beschreiben – wehrte sich mit Zähnen und Klauen dagegen, seinen Wirt zu verlassen. Letztendlich hatte es der vereinten Kraft von Lan Wangjis Zither, seiner Geisterflöte Chenqing, einem Bannkreis und einer Reihe geisteranziehender Talismane bedurft, um das immer stärker außer Kontrolle geratende Wesen Jin Lings Körper zu entziehen, während Jiang Cheng, Sizhui und Jingyi Jin Lings eigenen Energiefluss unter Kontrolle gehalten und fortwährend die durch den Kampf entstehenden inneren Verletzungen versorgt hatten. Nach zwei endlosen Stunden war es ihnen endlich gelungen, die unheilvollen Schwaden restlos zu entfernen und in einem weiteren Geister-Beutel zu bannen. Wei Wuxian würde sich später eingehender damit befassen. Nun sollte er schleunigst sein eigenes Qi unter Kontrolle bringen. Der Kampf gegen Zidian, aber vor allem die Verletzungen, die er von dem Höhleneinsturz davongetragen hatte, hatten ihn an den Rand seiner Kraft gebracht. Zittrig gaben seine Knie nach und er ließ sich unzeremoniell und mit einem theatralischen Seufzen auf den Hintern fallen. Er hoffte nur, Lan Zhan würde nicht misstrauisch. Er könnte ihn nicht anlügen, aber er wollte Lan Zhan auch keinen weiteren Anlass geben, Jiang Cheng zu verachten und die Bande, die sich gerade erst zwischen den Brüdern neu zu knüpfen begonnen hatten, in Gefahr bringen. Um keinen Preis wollte er das je wieder verlieren. Lan Wangjis Zither erklang erneut, diesmal in den sanften, klaren Tönen einer heilenden Melodie. Wei Wuxian blickte auf und sah sich Auge in Auge mit seinem Geliebten, der sich wortlos nach seinem Zustand erkundete. Ein warmes Lächeln legte sich auf Wei Wuxians Lippen. Wenn seine Beine nicht so zittern würden, wäre er noch einmal aufgestanden und hätte seinen Kopf auf seinem Lieblingsplatz in Lan Zhans Schoß gebettet, doch so beließ er es bei dankbaren, liebevollen Blicken. Bevor er jedoch begann, das Chaos in seinen Meridianen zu ordnen, ließ er seinen Blick noch einmal zu Jiang Cheng schnellen, der mit hölzerner Miene und betont steif zu Jin Ling ging, um sich neben ihm niederzulassen. “Sizhui, Jingyi”, verschaffte Wei Wuxian sich Aufmerksamkeit, “fragt nach, wo es hier das nächste Medizinhaus gibt und holt eine Salbe und Arznei gegen Prellungen und Entzündungen.” Sizhui wurde blass. “Verehrter Senior Wei-” “Nicht ich”, unterbrach er seinen Ziehsohn mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem leichten Schmunzeln. “Dein Onkel Jiang ist nur zu stolz, um selbst um Hilfe zu bitten.” “Hüte deine Zunge!”, wurde er von besagtem ‘Onkel’ auch prompt angezischt und auch Sizhuis Gesichtsfarbe wechselte schneller als ein Krebs, den man in kochendes Wasser warf. Der Anblick ließ Wei Wuxian sich vor Lachen den Bauch haltend nach hinten fallen. “Jiang Cheng! Dein Drachenrot beißt sich schrecklich mit Sizhuis Tomatenrot!” “ICH GEB DIR GLEICH ‘DRACHENROT’!” Doch bevor Jiang Cheng sich auf seinen spöttischen Bruder stürzen konnte, erstarb die heilende Melodie der Zither mit einem tiefen, warnenden Ton. “Ruhe für die Verletzten”, mahnte Lan Wangji streng und ließ seinen Blick von Jin Ling über Jiang Cheng bis hin zu Wei Wuxian wandern. “Alle.” Damit war der Streit im Keim erstickt und die heilende Melodie setzte wieder ein. “Jingyi”, fügte Lan Wangji kurz darauf hinzu, “sieh dir Clanführer Jiangs Verletzung an. Sizhui, besorge die besagte Medizin. Bring außerdem etwas gegen Kopfschmerzen und Schwindel sowie Tränke zum Auffrischen von Energiereserven mit.” “Nicht nötig”, lehnte Jiang Cheng brummend ab und Lan Jingyi, der sich auf die Anweisung seines Seniors hin sofort in Bewegung gesetzt hatte, blieb überfordert und peinlich berührt auf halber Strecke stehen. “Hilfe auszuschlagen zugunsten derer, die sie dringender benötigen, ist edel, aber aus falschem Stolz, das ist fahrlässig. Als Clanführer solltest du die Verantwortung für deine Gesundheit ernster nehmen”, rügte Lan Wangji Jiang Chengs Sturheit, der sogleich in seine Drachenfärbung zurückwechselte und die Hände so fest zu Fäusten ballte, dass seine Knöchel knackten. “Schön!” Er verschränkte die Arme vor der Brust, verengte die Augen zu Schlitzen und streckte sein verletztes Bein zur Inspektion aus. “Wenn es deine kleinkarierten Moralvorstellungen befriedigt. Aber erwarte nicht zu viel. Ich kümmere mich bereits selbst darum und in wenigen Stunden dürfte von solch einer Lappalie ohnehin nichts mehr zu sehen sein.” Damit blickte er wieder auf Jin Ling, ignorierte Lan Jingyis verschüchtertes “Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit” und ließ ihn gewähren. Von Lan Sizhui war bereits nichts mehr zu sehen. Wei Wuxian kicherte vor sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf, schloss die Augen und kümmerte sich um sein Qi. Die Sonne hing bereits tief am Horizont, als Jin Ling sein Bewusstsein endlich wiedererlangte. Ein gequältes Stöhnen zog alle Aufmerksamkeit auf sich. “JIN LING!!” Sofort ergriff Jiang Cheng die Hand seines Neffen und überprüfte erneut den Puls. “Onkel…?”, rollte sein erstes Wort matt und kratzig von der noch trägen Zunge. Doch es dauerte kaum einen Herzschlag, dass er mit schreckgeweiteten Augen von seiner Liege aufsprang. “FAIRY!!” Panisch blickte er sich um. “Onkel, wo ist Fairy?! Hast du sie nicht gefunden?” Sein diffuser Blick blieb an Wei Wuxian hängen. “Onkel Wei!” Wieder dieses Gefühl, als würde ihm eine stählerne Klaue die Eingeweide herausreißen. Wei Wuxian wünschte, der Junge würde diese Anrede unter anderen Umständen verwenden. Fahrig rappelte sein Neffe sich auf und torkelte auf ihn zu. “Du hast sie gefunden, oder? Bitte sag mir, dass du sie gerettet hast!” Jin Ling wäre gestürzt, hätte Wei Wuxian ihn nicht im letzten Moment gehalten. Doch die Art, wie der Junge sich nun in seinen Hanfu klammerte und ihn mit großen, tränenglänzenden Augen voller verzweifelter Erwartung anblickte, machten die nächsten Worte nicht einfacher. “Wir haben sie leider nicht gefunden.” “Reiß dich zusammen und erzähl ordentlich, was passiert ist!”, mischte sich Jiang Cheng ruppig ein. “Wie sollen wir dir sonst helfen können?” Nach wenigen Augenblicken schienen die strengen Worte seines Onkels Wirkung zu zeigen. Er schluckte schwer, ließ von Wei Wuxians Kleidung ab und begann mit bebenden, aber verständlichen Worten zu berichten. “Fairy und ich sind aufgebrochen, um das Wildschwein zu jagen. Sie muss seine Fährte aufgenommen haben und ist davongerannt. Ich habe sie einen ganzen Tag gesucht. Als ich sie endlich gefunden habe, war sie von dunkler Energie verseucht und hat- und hat mich angegriffen.” Jin Ling konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Ungehemmt rannen sie ihm über die Wangen. Doch er ignorierte sie eisern und zwang sich, seinen Bericht abzuschließen. “Ich habe sie mit meinem Schwert verletzt. Sie- sie ist mir in die Klinge gesprungen. Dann ist sie davongerannt, in die Höhle. Onkel Jiang, Onkel Wei … Sie war dabei, zu einem Yao zu mutieren. Wenn sie nicht schnell gefunden wird, könnte es zu spät sein.” Wei Wuxians Kopf schnellte zu Jiang Cheng und in dessen Augen spiegelte sich dasselbe Entsetzen, welches ihm selbst soeben in die Eingeweide gefahren war. Jiang Cheng stürmte nach draußen, Wei Wuxian setzte augenblicklich nach. Das wolfsartige Yao, das sie in der Höhle angegriffen hatte - DAS sollte Fairy gewesen sein?! Jiang Cheng rief Suibian, sprang auf und deutete Wei Wuxian mit einem knappen Nicken an, es ihm gleich zu tun. Es war ein seltsames Gefühl. Nicht nur, mit jemand anderem als Lan Zhan auf einem Schwert zu fliegen, sondern auch noch auf jenes eingeladen zu werden, das, genau genommen, ihm gehörte. Doch das war nun unwichtig. Kaum dass Wei Wuxian hinter Jiang Cheng Position bezogen hatte, schoss Suibian durch die Luft, zurück zu der Höhle, in der sie vor einem halben Tag gegen das Yao gekämpft hatten. Fairy war ein spirituelles Tier. Ihre Seele war von besonderer Stärke und würde sich nicht so schnell auflösen. Seelen wie die ihre überdauerten normalerweise mehrere Generationen, weil sie so, wie sie das Leben geformt hatte, einen neuen Körper beziehen konnten. Sie trugen oft die Erinnerungen von zwei oder drei Leben in sich. Besonders starke Seelen wahrscheinlich sogar noch mehr. Es ähnelte der Übernahme eines fremden Körpers, nur dass spirituelle Seelen keine Körper einnahmen, denen bereits eine Seele innewohnte, sondern um den Zeitpunkt der Geburt herum, wenn eine Seele diesen neuen Körper besiedeln wollte, mit diesem verschmolzen. Sie konnten nur hoffen, dass Fairys Seele stark genug war, der Verunreinigung durch das Yao bis jetzt standgehalten zu haben – so gering die Chancen auch sein mochten. Suibian schoss über die Baumwipfel. Die Lichtung mit der Höhle zeichnete sich bereits in der Ferne ab. Sie landeten direkt vor dem Höhleneingang, doch während Jiang Cheng keine Sekunde verlor, in den unheilvollen Schlund zurückzukehren, waren Wei Wuxians Beine wie festgewurzelt. Er wollte da hineingehen. Er wollte Jin Ling helfen, das wollte er wirklich. Und er wusste, dass jede Sekunde zählte. Dennoch war er machtlos gegenüber der Ohnmacht, die ihn packte, wenn er daran dachte, zu dem Kadaver des mutierten Wolfes zurückkehren zu müssen, sich mit einem Hund, zwar nur in Form einer Seele, aber dennoch mit einem Hund würde auseinandersetzen müssen. Jiang Cheng hatte sein Zögern bemerkt und sich skeptisch zu ihm umgedreht. “Du kannst auch hier draußen warten”, bot er ihm an. Wei Wuxian wusste das Angebot zu schätzen. Er wusste aber auch, dass es im Umgang mit Seelen auf sehr viel Fingerspitzengefühl ankam. Und er hatte definitiv mehr Erfahrung damit. Falls die Seele des Hundes bereits dabei war, sich aufzulösen, hätte er die besseren Chancen, dies zu verhindern. Und er würde sich auch um die dunkle Materie kümmern müssen. Jiang Cheng würde es kaum gelingen, sie von Fairys Seele zu trennen, ohne dieser noch mehr Schaden zuzufügen. Es führte kein Weg daran vorbei. Ergeben schüttelte Wei Wuxian den Kopf und trat einige zögerliche Schritte auf Jiang Cheng zu. Sie mussten einander nichts erklären. Wei Wuxian war sich sicher, dass sein Bruder seine Gedanken auch so verstand. Wei Wuxian griff vorsichtig nach einem Zipfel der violetten Robe und war Jiang Cheng insgeheim dankbar dafür, dass dieser so tat, als würde er nichts bemerken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als sich der zottelige Körper und der abgetrennte Kopf im schwachen Licht der Abenddämmerung abzeichneten und starre Augen und Fangzähne orangerot aufblitzten. Seine Hände schwitzten und er wischte sie hastig an seiner Kleidung ab – mehr, um sich etwas zu tun zu geben, als dass es wirklich etwas nützte. “Was kann ich tun?”, brachte ihn Jiang Chengs Stimme zurück zu ihrer Aufgabe. Unsere Aufgabe. Jin Ling. Konzentrier dich, versuchte Wei Wuxian, seinen aufgewühlten Geist in geordnete Bahnen zu lenken. Er besah sich die dunkel umwaberte Seele, die einige Fingerbreit über dem Tierkadaver schwebte. Dem Himmel sei dank, dass sie sich noch nicht aufgelöst hatte! Aber es fehlte nicht mehr viel. Ihr Leuchten war unter der dunklen Masse kaum mehr wahrnehmbar. Wei Wuxian zog eine Handvoll geisteranziehender Talismane aus seinen Ärmeln und drückte sie Jiang Cheng in die Hand. “Versuch, die Materie von der Seele wegzulocken.” Damit setzte Wei Wuxian Chenqing an seine Lippen. Ruhige, schwere Töne erklangen, die das dunkle Qi träge machten, in einen traumartigen Zustand versetzten, so wie es ihm auch bei Jin Ling gelungen war. Als die Bewegungen der dunklen Materie sich deutlich verlangsamt hatten, nickte er Jiang Cheng zu, der daraufhin den ersten der Talismane aktivierte und probeweise näher an die Seele heranführte. Einige Ausläufer reagierten auf die Verlockung des Talismans, begannen nach ihm zu greifen. Wei Wuxian atmete innerlich auf. Außerhalb eines lebendigen Körpers schien das seltsame Qi einfacher manipulierbar zu sein. Er ließ weitere süße Töne in seine Melodie einfließen und gab Jiang Cheng mit einem Nicken in Richtung der Talismane zu verstehen, die Intensität zu erhöhen. Sein Bruder aktivierte einen weiteren. Weitere Fühler formten sich aus dem wolkenartigen schwarzen Kern, welcher sich allmählich von einem Kreis zu einem Oval verlängerte. Offensichtlich war sie interessiert an dem, was sich ganz in ihrer Nähe abspielte, jedoch weiterhin unwillig, von ihrer ergatterten Seele abzurücken. Möglicherweise war diese Seele sein Lebensanker. Die Materie schien sich nur von Wirt zu Wirt fortbewegen zu können. Als Jiang Cheng Stunden zuvor das Yao gerichtet hatte, hatten sich große Teile seiner negativen Energie aufgelöst. Wahrscheinlich war nur so viel zurückgeblieben, wie sich von der Kraft der Hundeseele ernähren konnte. Auch in den Erkundungsberichten der Lan-Schüler war sie nie gesichtet worden, ja, überhaupt nur durch ihre unnatürliche Abwesenheit aufgefallen, und im zerstörten Langya waren ebenfalls keine Reste zurückgeblieben. Fairy musste das Yao-Wildschwein ausfindig gemacht haben, als das dunkle Qi am Rande des Verlöschens gestanden hatte. Der Kampf gegen die Kultivatoren von Langling dürfte es empfindlich getroffen haben. So konnten die Reste des Qi den Hund als neuen Wirt infizieren und erneut an Stärke gewinnen. Doch als der infizierte Hund auf seinen Herren traf, konnte die Materie diesem trotz kaum vorhandener Gegenwehr kaum Schaden zufügen. Es war ihr also noch nicht gelungen, komplett die Kontrolle über die spirituelle Seele zu übernehmen. Das hatte Jin Ling das Leben gerettet. Der Hund hatte ihm, in seinem verzweifelten Kampf gegen dieses übermächtige Qi, das Leben gerettet. Hatte sich mit jeder Faser seines Seins dagegen gewehrt, seinem Herren zu schaden, sich in die Höhle zurückgezogen und auf sein Ende gewartet – bis Wei Wuxian und Jiang Cheng mit ihrem Auftauchen den letzten Widerstand gebrochen hatten. Eine seltsame Energieform, die sich mit aller Macht an das Leben krallte. Ein Hund, der dieser Macht die Stirn bot und sich für seinen Herren aufopferte. Wo war er hier nur hineingeraten? Er musste zugeben, dieses regelrecht lebendige dunkle Qi faszinierte ihn. Doch er konnte dessen Überlebensinstinkt nicht über das Wohl der Hundeseele stellen. Nicht, wenn es sich um den wichtigsten Beistand seines Neffen handelte. Jiang Cheng aktivierte einen weiteren Talisman und Wei Wuxian ließ mehr seines negativen Qi in Chenqings Melodie einfließen. Endlich begann auch der Kern der dunklen Wolke sich in Richtung der Talismane zu bewegen und darunter kam der bläulich schimmernde Kern der Seele zum Vorschein. Allerdings wurde die Materie nun auf Jiang Cheng aufmerksam, der mit deutlichem Unbehagen beobachtete, wie sie seine Finger, den Handrücken und schließlich auch das Handgelenk umspielte. Wei Wuxian umrundete Jiang Cheng, griff nach Suibian, zog es einige Zentimeter aus der Scheide und schnitt sich in die Fingerkuppe. Kaum begann frisches Blut aus dem Schnitt zu quellen, zeichnete er einen kleinen Bannkreis vor ihre Füße, während er mit seiner linken Hand Chenqings Melodie weiterführte. Mit einem Kopfzeig deutete er seinem Bruder an, die Talismane dort hineinfallen zu lassen, und dieser verschwendete keinen Augenblick, dem nachzukommen. Die Geisterflöte nun wieder mit beiden Händen führend, verlieh Wei Wuxian dem Instrument neue Kraft und die Materie konzentrierte sich immer zügiger auf die Talismane im Innern des Bannkreises, nicht ahnend, dass sie sich in ihr letztes Gefängnis begab. Als die Materie endlich gebannt war und Chenqings Melodie verklang, entfuhr Jiang Cheng ein kehliger Atemzug der Erleichterung, wohingegen Wei Wuxian die Luft geradezu im Hals steckenblieb. Mit dunklen Mächten konnte er umgehen, aber der weit schwierigere Teil lag noch vor ihm. Auch wenn es sich nur um eine Seele handelte und keinen Körper mit scharfen Klauen und Fangzähnen, die ihm wochenlange Entzündungen bescheren würden, handelte es sich noch immer um eine Hundeseele, die er hier bergen und mit sich nehmen müsste. Rein rational wusste er, dass seine Angst unbegründet war, aber dennoch … “Sag mir, was ich tun soll”, holte Jiang Chengs Stimme ihn aus seinen festgefahrenen Gedanken. In der Hand hielt sein Bruder bereits einen Geister-Beutel. “Hast du schon einmal eine Seele transferiert?”, erkundigte sich Wei Wuxian, auch wenn er das darauffolgende Kopfschütteln schon erwartet hatte. Die Handhabung spiritueller Seelen gehörte nicht zu den Grundlagen der orthodoxen Kultivierung. Und er selbst kannte die Lehren des Jiang-Clans gut genug, um zu wissen, dass ihre Stärken in anderen Bereichen lagen. Die Seele dieses Hundes war zudem kein geeignetes Übungsobjekt, um in diese Disziplin einzusteigen, selbst wenn es sich nicht um Jin Lings Gefährtin gehandelt hätte. Der Kampf gegen die dunkle Materie hatte deutliche Spuren hinterlassen. Ihr mattes Leuchten zeugte von einem stark geschwächten Zustand. Zudem zogen sich zahlreiche feine Risse durch den Kern, was bedeutete, dass die Seele bei unbedarfter Handhabung zersplittern könnte. Statt sie direkt zu berühren, war es ratsamer, sie zu bitten, von sich aus in den Geister-Beutel zu schweben und sie zu begleiten. Wei Wuxian versuchte, sie mit seinem Bewusstsein zu erreichen, doch es gelang nicht. Seine Gedanken einer tierischen Seele näherzubringen, war ohnehin schwieriger als bei menschlichen Seelen. Zudem war diese erschöpft und verschreckt. Sie schien seine Präsenz kaum wahrzunehmen. “Jiang Cheng, kannst du mir kurz dein Glöckchen leihen?” Wei Wuxian streckte seine Hand aus, bemüht, das Zittern zu unterdrücken, aber er sah selbst, dass er kläglich daran scheiterte. Jiang Cheng überreichte ihm den gewünschten Gegenstand mit einem “Wofür brauchst du die?” “Ich will sehen, ob sich die Seele an Jin Ling erinnert. Vielleicht lässt sie sich dann in den Beutel locken.” Sollte dies ebenfalls nicht klappen, blieb ihm nichts anderes übrig, als sie mit seinem Qi zu berühren, was aus zweierlei Hinsicht gefährlich war. Nicht nur die Berührung an sich könnte die Seele zersplittern lassen. Was Wei Wuxian viel mehr sorgte, war die Gefahr, dass er über seine Angst das Qi in seinen Fingern nicht angemessen unter Kontrolle behielt und er somit den Zerfall der Seele selbst zu verantworten hätte. Jin Ling. Er konzentrierte sich voll und ganz auf seinen Neffen, als sein Bewusstsein erneut nach der Seele des Hundes tastete und das Glöckchen ein sanftes Klingen ertönen ließ. Jin Ling. Nicht nur der Seele sollte dieser Gedanke eine Orientierung geben. Wei Wuxian brauchte ihn ebenso, um diese Prozedur durchzustehen. Er tat das hier für Jin Ling. Der Junge brauchte diesen Begleiter. Und tatsächlich, die Seele reagierte. Es war ein schwaches Flackern, kaum mehr als eine ersterbende Kerzenflamme in einem Windhauch. Doch es war Zeichen genug, dass die Seele verstand und neuen Lebenswillen schöpfte. Sie erinnerte sich an Jin Ling. Sie wollte weiterleben, für ihn. Wei Wuxian atmete geräuschvoll aus. In diesem Zustand würde die Hundeseele den Transport im Geister-Beutel überstehen. Er trat einen Schritt zurück, so dass Jiang Cheng ihr entgegenkommen und sie in den geöffneten Beutel hineingleiten lassen konnte. Wei Wuxian graulte es dennoch vor Jin Lings Reaktion, wenn er mit dem Zustand seiner Gefährtin konfrontiert würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)