Bruder von Lady_Ocean ================================================================================ Kapitel 9: Aufklärung --------------------- “... Eine Idee, wie wir hier rauskommen?” Jiang Chengs Blick war auf das Desaster vor sich gerichtet, welches den Ausgang blockierte. Er spürte die Schamesröte auf seinen Wangen brennen und war froh, dass Wei Wuxian es in dem spärlichen Licht – und unter dem ganzen Dreck ohnehin – nicht bemerken würde. Lange hatten sie in ihrer Umarmung verharrt. Bis die Tränen längst versiegt waren und die Gemüter sich beruhigt hatten. Bis sich Scham in seine Brust schlich und er begonnen hatte zu hoffen, Wuxian möge doch bitte die Atmosphäre anständig deuten und ihn freigeben. Natürlich konnte man bei diesem Querschläger auf sittliches Verhalten lange warten, und so wurde aus Jiang Chengs peinlicher Berührtheit ein ausgewachsenes Im-Boden-Versinken-Wollen, so dass er den anderen schließlich selbst mit einem gemurmelten “Jetzt ist aber gut! Hast du immer noch keinen Anstand?” sacht von sich drückte. Für einen kurzen Moment sah er noch das amüsierte Funkeln in den Augen seines Bruders, dann hatte er den Blick bereits abgewandt. ‘Bruder’ ... Es fühlte sich an wie ein Traum, ein weiteres seiner Wunschdenken. Sollte er sich tatsächlich erlauben dürfen, wieder so von Wei Wuxian zu sprechen? Und wenn ja, zu was für Brüdern machte sie das jetzt? Jiang Cheng konnte nicht leugnen, dass da plötzlich eine Nähe zwischen ihnen war, eine Vertrautheit, wie er sie seit vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte. Und doch war sie wie ein verwundetes Reh, das in seinem langen, traurigen Leben zu viel Leid hatte erfahren müssen, um nun noch einmal bereitwillig seinen Kopf nach der dargebotenen Hand ausstrecken zu können. – Vor allem, nachdem es besagte Hand fürchterlich gebissen hatte. Mehrmals. Wie könnte er ihre dargebotene Wärme derart schamlos ausnutzen? Wenn Jiang Cheng daran dachte, was er alles angerichtet hatte! Gerade jetzt erst wieder angerichtet hatte! Wie er Wei Wuxian zugerichtet hatte, beinah getötet hätte in seiner blinden Wut- Er riss seine Gedanken gewaltsam aus dem Strudel aus Übelkeit, Angst und Selbsthass. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen. Statt in Selbstmitleid zu versinken, sollte er zusehen, wie er seinen Bruder hier rausschaffen und seine Verletzungen versorgen lassen konnte. Genauso wie Jin Lings. Sie waren nun bereits seit einer ganzen Weile hier eingeschlossen, so lange, dass ihm sogar das Atmen allmählich schwerer fiel und sich erste Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Das bedeutete, dass es in der Richtung, aus der das Yao gekommen war, keinen Ausgang geben dürfte. Jin Ling sollte noch immer in Ordnung sein, sonst hätte er Veränderungen an der Barriere, mit der er ihn umgeben hatte, gespürt. Aber es ließ ihm dennoch keine Ruhe. Jiang Cheng ließ einen Strom Qi durch seine Hand und in die Geröllwand fließen, um ihre Dicke und Beschaffenheit zu ergründen. Aus dem Augenwinkel konnte er wahrnehmen, wie Wei Wuxian dasselbe tat. Der Einsturz war mehrere Meter breit. Es war nicht unmöglich, sich durch den Fels zu sprengen, aber es war aufwendig und er fürchtete, dass sich weitere Teile der Felsdecke über ihnen lösen könnten. “Wir sollten unsere Kräfte koordinieren”, erklang Wei Wuxians Stimme neben ihm. Jiang Cheng nickte. “Dein Qi ist besser auf direkte Angriffe ausgerichtet. Ich stabilisiere die Decke.” “Ich habe einige Talismane dabei, die hierfür ganz nützlich sein könnten. Das ist eine gute Gelegenheit, sie endlich auszuprobieren.” Jiang Chengs Augenbraue zuckte in die Höhe. “‘Auszuprobieren’?” “Nichts Gefährliches”, winkte Wei Wuxian ab. “Vertrau mir. Aber vorher …” Und damit drehte er sich vollends zu Jiang Cheng um und musterte diesen von oben bis unten, wobei sein Blick schließlich an dem verletzten Bein verweilte. “... würde ich mir gern dein Bein ansehen.” Jiang Cheng missfiel dieser Gedanke auf Anhieb. “Nicht nötig”, lehnte er brüskiert ab. “Was ist los?” Verwirrt schnellte Wei Wuxians Blick hoch zu Jiang Chengs Gesicht und der Clanführer musste einen Moment schlucken, verwirrt über sein eigenes Verhalten. Ja – warum eigentlich nicht? “... Nichts.” Er wandte den Blick ab. “Danke.” Trotzdem konnte er das Gefühl des Unwillens nicht abschütteln. Doch da er keine Erklärung dafür finden konnte, schluckte er sein Unwohlsein herunter, setzte sich mit Wei Wuxians Hilfe auf den Boden und zog den Saum seiner Hose so weit hoch, dass der zerschundene Stiefel darunter zum Vorschein kam. Wei Wuxian entfuhr ein erschrockenes Zischen. Sofort machte er sich daran, den Stiefel zu öffnen und abzustreifen. Jiang Cheng biss die Zähne zusammen, um sich den messerscharfen Schmerz nicht anmerken zu lassen. “Was hat dich da gebissen?”, fragte Wei Wuxian fassungslos. “Eine Schlange”, entgegnete Jiang Cheng gezwungen unbeteiligt, doch sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, als Wei Wuxian so über seiner Wunde aufragte. “Ein Yao”, erklärte der Yiling-Patriarch ihn, seine Augen leuchtend rot, “von derselben Energie, die auch Jin Ling und diesen Wolf befallen hat. Mächtig. Kein Wunder, dass du sogar gestürzt bist.” Was-?! Wei Wuxians Hand schnellte vor, ergriff den verletzten Knöchel und eine eisige Kälte attackierte die berührte Stelle. Jiang Cheng wollte sein Bein wegziehen, doch Wuxians linke Hand schnellte ebenso hervor und packte seinen Oberschenkel. “Halt still! Das Qi will sich bei dir einnisten.” !!! Grauen packte ihn. Jiang Chengs Herz schlug immer wilder. Die eisige Energie kroch weiter, durch seinen Fuß, in seine Wade, feinste Ausläufer erstreckten sich in seinen Oberschenkel, seinen Bauch- Ruckartig zog sie sich zurück und es fühlte sich an, als würde sie irgendetwas mit sich reißen. Einen Herzschlag später war die Kälte verschwunden und hatte ein Gefühl der Leere hinterlassen. Eine angenehme Leere. Wie das Fehlen eines Fremdkörpers, eines Splitters, der nach langem Stören endlich entfernt war. “Geschafft.” Wei Wuxians rote Augen betrachteten besorgt wie fasziniert den winzigen grauen Nebel, der sich um seine Finger wand und sich langsam aufzulösen begann. Und Jiang Cheng bemerkte: Die extreme Abneigung und die Aufregung, die er gerade eben noch verspürt hatte, waren wie weggeblasen. “... Das Zeug hat meine Emotionen manipuliert!”, entfuhr es ihm schockiert. Wei Wuxians Blick schnellte ebenso erschrocken zu ihm, dann zurück zu der Materie in seiner Hand. Er bewegte seine Finger, ließ den schwachen Rauch rotieren, schien auf seine eigene Art mit ihm zu interagieren. “... Ich habe noch nie so ein seltsames Qi gesehen”, murmelte er besorgt. Schließlich fischte er mit seiner linken Hand in seiner Brusttasche nach einem Geister-Beutel. “Du willst dieses Zeug nicht ernsthaft mitnehmen?!” Jiang Cheng war fassungslos. “Ich will wissen, womit wir es hier zu tun haben”, entgegnete Wei Wuxian ernst, während er die Reste des dünnen Nebels in den Beutel dirigierte und ihn verschloss. “Vielleicht finde ich dann heraus, was mit Jin Ling passiert ist. Und diesem … Wolf …” “Es ist genau dasselbe Qi?”, hakte Jiang Cheng nach. Wei Wuxian nickte. “Und es verhält sich seltsam. Als hätte es ein Eigenleben, einen eigenen Willen. Aber noch kann ich es nicht richtig begreifen, deswegen will ich es mit Lan Zhan untersuchen, wenn wir zurück in der Wolkenschlucht sind.” Jiang Cheng presste die Lippen aufeinander. “Jin Ling…” “Er sollte für den Moment in Sicherheit sein. Mein negatives Qi hält es in Schach.” Die Erklärung jagte einen schmerzhaften Stich der Reue durch Jiang Chengs Herz. Das war es, was du mir vorhin versucht hast zu sagen? Warum du deine negative Energie bei Jin Ling einsetzen musstest? Jiang Cheng wandte sich ab und schloss die Augen, kämpfte die schier übermenschlichen Schuldgefühle, die Übelkeit ob seines schrecklichen Versagens nieder. “Hast du Heilkräuter?”, riss Wei Wuxians Stimme ihn aus dem dunklen Sumpf seiner Gedanken. “Nicht mehr viele …”, murmelte Jiang Cheng und reichte ihm seinen Speicher-Beutel. Einen Teil hatte er nach dem Schlangenbiss bereits benutzt und von seinen heilenden Talismanen war auch nur noch einer übrig. Mit den anderen beiden hatte er Jin Ling versorgt. Der Gedanke an seinen Neffen ließ ihn scharf die Luft einziehen, seine Hände ballten sich zu Fäusten. “War ich zu grob?”, erkundigte sich Wei Wuxian, der seine Reaktion wohl mit dem Versorgen der Wunde in Verbindung gebracht hatte. “Jin Ling”, klärte Jiang Cheng ihn auf. “Ich habe seine Wunden mit Heiltalismanen versorgt. Sie könnten dein Qi beeinträchtigen.” Wei Wuxian hielt kurz inne, nachdenklich. Dann blickte er wieder auf. “Dann sollten wir keine weitere Zeit verlieren.” Er verrieb die letzten Kräuter um den geschwollenen Knöchel, heftete den Talisman darüber und zog Jiang Chengs Stiefel vorsichtig wieder an. “Zumindest scheint nichts gebrochen zu sein. Glück gehabt”, kommentierte er sein Werk nach getaner Arbeit und Jiang Cheng pflichtete ihm bei. Der Schmerz hatte bereits deutlich nachgelassen, seit er begonnen hatte, sein Qi in den Fuß zu leiten. Nicht, dass es reichte, um sein rechtes Bein wieder normal belasten zu können, aber er würde zumindest ohne Hilfe aus der Höhle heraushumpeln können, sobald der Eingang frei war. So konzentrierte er nun seine gesamte Energie in seinen Hände und leitete sie in den eingestürzten Gang weiter, ließ eine kuppelförmige Barriere entstehen, die einen erneuten Felsrutsch verhindern sollte – wenn sie nicht zu unvorsichtig waren. “Nun du”, ließ er Wei Wuxian wissen, doch als er das schalkhafte Funkeln in den Augen des anderen sah, kam er nicht umhin hinterherzuschieben: “Und mach es vernünftig! Leb deinen Spieltrieb aus, wenn nicht irgendwer in Lebensgefahr ist.” “Jiang Cheng, etwas mehr Vertrauen! Als ob ich so etwas riskieren würde.” Jiang Cheng verkniff sich einen Kommentar. Er vertraute Wuxian, dass sich so etwas wie in der Nachtlosen Stadt niemals wiederholen würde. Sein Bruder wirkte bei der Verwendung negativer Energie sehr viel gefestigter als damals. Aber der schale Beigeschmack, den diese Erinnerung stets mit sich brachte, würde sich wohl nie auslöschen lassen. Und auch Wei Wuxian schien einen Augenblick später in diese Erinnerung zurückgekehrt zu sein, denn das übermütige Funkeln in seinen Augen erstarb, wich einer matten Melancholie. “... Zumindest nicht mehr. Nie mehr”, hauchte er. Jiang Chengs Hand zuckte, wollte nach Wei Wuxians Oberarm greifen und ihn sanft drücken, doch einen Augenblick später unterdrückte er den Impuls. Es fühlte sich nicht richtig an. Sie wussten beide, dass in jener Nacht zu viel passiert war, als dass eine Geste des Trosts irgendetwas richten könnte. Wei Wuxian straffte seine Schultern. Aus seinem Gewand zog er einen vorbereiteten Talisman hervor. Mit einem Messer schnitt er sich in die Fingerkuppe, ergänzte das Zeichen für “Schlange” auf dem Papierstreifen und brachte ihn zum Erstrahlen. Sofort heftete er ihn an die Geröllwand und sandte eine gehörige Menge dunkler Energie hinein. Als Talisman und Fels die Energie absorbiert hatten, trat er zurück zu Jiang Cheng, sein Gesichtsausdruck noch immer konzentriert, die Augen rot leuchtend, doch ein zufrieden wirkendes Nicken signalisierte ihm, dass wohl alles vorbereitet war. “Der Weg sollte jeden Moment frei sein.” Jiang Cheng debattierte noch mit sich, ob sein Stolz es zuließe, dem Ego dieses verrückten Erfinders noch ein wenig zu schmeicheln und zu fragen, was es mit diesem Talisman auf sich hatte, als auch schon ein Knirschen und Beben durch die Geröllwand gingen und sich die Felsbrocken und Steine Sekunden später in Bewegung setzten, eine Art Schlange bildeten, die gemächlich nach draußen schlängelte und sich neben dem Höhleneingang zusammenrollte und erneut zu einem Haufen toten Gesteins wurde. “Wofür experimentierst du mit Schlangen-Golems?”, fragte Jiang Cheng skeptisch. Abgesehen von ihrer jetzigen skurrilen Situation konnte er sich kaum eine Verwendungsmöglichkeit für solch einen Talisman vorstellen. “Nicht Schlangen-Golems”, korrigierte Wei Wuxian ihn stolz, “Formwandler. Sie sollen jede Gestalt annehmen, die der Beschwörer mit der Beschriftung des Talismans vorgibt. Diesmal erschien mir eine Schlange am sinnvollsten.” Insgeheim musste Jiang Cheng zugeben, dass dies kein dummer Gedanke war, doch einen Kommentar dazu sparte er sich lieber, bevor Wei Wuxian noch vor Eitelkeit platzte. Und doch … tat es irgendwo auch gut zu wissen, dass manche Dinge noch immer so waren wie früher. “Gehen wir!”, bestimmte er und humpelte voraus, so dass Wei Wuxian das leichte Ziehen seiner Mundwinkel nicht bemerken konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)