Bruder von Lady_Ocean ================================================================================ Kapitel 2: Langya ----------------- “Sizhui? Bist du liebeskrank? Trinkst du heimlich Emperor’s Smile?”, neckte Wei Wuxian seinen Schüler lautstark, als er die Tür zum geschäftigen Studierzimmer aufriss, und genoss es, wie sein Ziehsohn schlagartig die Farbe einer gekochten Garnele annahm. “N-nein! Verehrter Senior Wei, bitte verzeiht diesem unnützen Schüler, dass der Abschlussbericht immer noch nicht fertig ist.” Hastig sortierte Lan Sizhui die Blätter neu, die er bei Wei Wuxians effektvollem Eintritt durcheinandergewirbelt hatte. Bei seinem Studium zum Gruppenführer machte er gute Fortschritte, weshalb er seit neuestem für die Zusammenfassung der Erkundungsberichte der jüngeren Kultivierer verantwortlich war. Von der Neugier gepackt, spähte Wei Wuxian über die zahlreichen Zettel. Mit so vielen Berichten hätte er gar nicht gerechnet. “Was hält dich denn so lange auf?” “Vielleicht bin ich nur übermäßig nervös, aber irgendetwas stimmt nicht”, erklärte sein Schüler, dankbar für den Themenwechsel. “Bei Guangling wurde ein Massengrab geschändet.” Wei Wuxian zog eine Augenbraue hoch, forderte Sizhui stumm auf fortzufahren. Dieser reichte ihm eines der Blätter und erklärte: “Es gibt dort nichts zu plündern. Keiner der Toten hat Angehörige, nicht einmal ein anständiges Grab. Es ist ein Friedhof für Heimatlose, Ausgestoßene und Verbrecher. Einzig Kultivatoren, wenn sie entsprechend entlohnt werden, betreten gelegentlich den Friedhof, um die negative Energie ein Stück weit zu neutralisieren. Sonst wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie Zombies, Monster oder Yao hervorbringt. Aber seit der Plünderung ist die gesamte dunkle Energie wie weggefegt. Es heißt, das Qi sei dort im Moment so rein wie bei unseren Gräbern.” “Oho!” Wei Wuxians zweite Augenbraue wanderte ebenfalls in die Höhe. Er stützte sich auf seinen rechten Ellbogen, machte es sich bequem. Das hier könnte eine längere Unterhaltung werden. “Dann das hier.” Sizhui reichte ihm zwei weitere Blätter. Während Wei Wuxian sie überflog, hörte er mit einem Ohr den Ausführungen seines Schülers zu. “In den Wäldern um Lanling wurden seltsame Tierkadaver gefunden.” “Inwiefern seltsam?” “Vögel, Nagetiere, zwei Marderhunde und ein Reh. Ein ziemlich junges sogar, und gesund. Die Todesursache aller Tiere ist unklar. Das Reh hatte eine Bisswunde am Hals, aber nicht lebensbedrohlich. Das kommt in der Natur bei Revierkämpfen oder Fressfeinden öfter vor. Darüber hinaus gibt es keinerlei Anzeichen, woran die Tiere gestorben sein könnten. Aber sie alle wirkten … ausgezehrt. Vertrocknet. Und auch sie strahlten keinerlei negative Energie aus.” “Interessant!” Wei Wuxians Feuer war entfacht. “Körper, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind, strahlen normalerweise besonders viel negative Energie ab, da die Todesumstände mit viel Leid, oft auch Rachegelüsten verbunden sind. Tiere sind da nicht anders als Menschen. Du vermutest also, das hängt mit dem Friedhof zusammen?” Sizhui nickte fest. “Ein Friedhof, auf dem es nichts zu plündern gibt, gesunde Tiere, die ohne ersichtliche Verletzung sterben. Und alle strahlen Yang aus. Das kann kein Zufall sein. Also habe ich nachgeforscht. Aber es gibt keinerlei Berichte, dass in den letzten Wochen oder Monaten Kultivatoren diese Gegenden bereist und das Tierreich geläutert hätten.” “Kultivatoren könnten das negative Qi reinigen”, stimmte Wei Wuxian seinem Schüler zu. “Aber wozu sollte sich irgendjemand mit Kleintieren aufhalten? Und von einem weiteren Heiland wie unserem Lan Zhan hätten wir gehört.”  Sizhui nickte. “Solange diese Tiere keine Bedrohung für Menschen darstellen, wird niemand nach einem Kultivator schicken. Es ist erstaunlich, dass sie den einfachen Menschen überhaupt aufgefallen sind.” “Wer hat sie denn entdeckt?” “Dorfbewohner, die in der Nähe der verendeten Tiere leben. Jingyi hat auf einer Patrouille mit einem Mann gesprochen, dessen Sohn die toten Vögel eingesammelt hatte. Der Junge hatte die Tiere wohl als Spieltrophäe mit nach Hause gebracht, aber dem Vater war der unerklärliche Tod unheimlich. Sie haben die Tiere dann auf den Misthaufen geworfen, wo Jingyi sie inspizieren konnte und die fehlende negative Energie festgestellt hat.” “Einen Kultivator können wir also wahrscheinlich ausschließen. Hast du noch andere Vermutungen?”, nahm Wei Wuxian den vorherigen Faden der Unterhaltung wieder auf. Sizhui zögerte. “Vielleicht …” “Hm?” “Vielleicht gab es aber doch einen Kultivator, der sich um die Tiere gekümmert hat”, setzte Sizhui schließlich zögerlich fort. “Aber das Massengrab …” Er schüttelte den Kopf. “Es ergibt keinen Sinn. Warum sollte ein Kultivator einen Friedhof für Verbrecher aufgraben, bevor er den dortig angestauten Groll neutralisiert?” Wieder blickte Sizhui auf seine Unterlagen, biss sich in angestrengtem Nachdenken auf die Unterlippe. “Wenn ich es gewesen wäre, hätte ich euch mitgenommen!”, scherzte Wei Wuxian. “Ich weiß”, antwortete Sizhui unverändert ernst. “Der Kultivator - wahrscheinlich war es ein Kultivator - ist auch längst tot.” Er überreichte Wei Wuxian ein weiteres Dokument. “Nahe Shangqiu wurde ein menschlicher Leichnam gefunden. Gleiche Umstände wie die Tiere in der Ostregion. Zum Zeitpunkt der Entdeckung war der Körper bereits bis zur Unkenntlichkeit verrottet, die Kleidung war kaum noch zu erkennen. Aber an den Rändern der Ärmel waren Ansätze eines Wolkenmusters zu erkennen und der Gürtel hatte eine dunkle Farbe, möglicherweise violett. Es könnte sich um einen Kultivator der Moling Su-Sekte gehandelt haben.” “Habt ihr schon dort nachgefragt?”, hakte Wei Wuxian nach. “Vorgestern, ja. Offenbar wird tatsächlich ein Clanmitglied vermisst. Und sie haben uns beschuldigt, dafür verantwortlich zu sein.” Ein frustriertes Seufzen folgte, das in einen gequälten Ausdruck überging. “Verehrter Senior Wei, ich fürchte, ich habe ein Hornissennest aufgestochen.” Doch Wei Wuxian machte eine abtuende Handbewegung. “Gegen Leute, die nur Streit suchen, keine Gerechtigkeit, ist kein Kraut gewachsen. Irgendeinen Anlass finden die immer. Diskussionen bringen dich hier nicht weiter, also konzentriere dich einfach auf das, was du tun kannst. Wenn es dir gelingt, diesen Fall aufzuklären, verlieren sie ohnehin ihre Angriffsgrundlage.” Sizhui nickte, die Funken seines Eifers erneut geschürt. “Also diese Person ist ebenfalls gestorben, ebenfalls ohne einen Rest von Groll, und der Reaktion der Moling Su-Sekte nach muss es sich um einen ihrer Kultivatoren gehandelt haben”, fasste er noch einmal zusammen. “Ein Problem ist, dass alle bisher gefundenen Kadaver bereits so gealtert waren, dass sich nicht konstruieren lässt, in welcher Reihenfolge sie gestorben sind, welche Route dieses Unheil eingeschlagen hat. Ich kann nur das ungefähre Gebiet eingrenzen, und das erstreckt sich von Moling über Shangqui bis nach Langya.” “Was habt ihr denn in Langya gefunden?” Langya lag unmittelbar vor Langling - direkt vor Jin Lings Haustür. Sein Neffe hatte es unter den claninternen Machtkämpfen und Jin Guangyaos Skandalen schwer genug. Wei Wuxian wollte ungern eine weitere Sorge in Jin Lings Umgebung wissen. “Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob Langya mit diesen Vorfällen zusammenhängt”, begann Sizhui. “Über einen Kadaver ohne negative Energie wurde dort noch nicht berichtet. Aber ein riesenhaftes Wildschwein hat wohl den örtlichen Friedhof zerstört und auch in der Stadt gewütet. Die Residenz der Kaufmannsgilde wurde zerstört, und ein Freudenhaus.” “Geiz, unglückliche Frauen und niederträchtige Freier”, griff Wei Wuxian Sizhuis Gedankengang auf, woraufhin dieser nickte. “Orte mit starker Negativität.” “Gab es Opfer?”, hakte Wei Wuxian nach. “Über zwanzig. Fünf Wachposten, die die Gilde gesichert hatten, acht Händler sowie neun Frauen und Männer des Freudenhauses. Dann traf wohl Verstärkung vom Langling Jin-Clan ein, aber das Wildschwein hat sie ebenfalls verletzt und konnte fliehen. Später sind die beiden Kultivatoren ihren Verletzungen erlegen.” Die Aufzählung wischte den Schalk aus Wei Wuxians Gesicht. “Das ist ein beträchtlicher Schaden.” Seine Gedanken waren bei Jin Ling, seinem Neffen, und den zahlreichen Gefahren, in denen er jedes Mal nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen war. Im Kampf gegen die göttliche Statue auf dem Berg Dafan. Im Säbelgrab des Nie-Clans. In der Geisterstadt Yi. Im Guanyin-Tempel. Jin Ling hatte einen äußerst ungesunden Drang, sich beweisen zu müssen, und überschätzte sich dabei regelmäßig. Jetzt, wo das Amt des Clanführers auf seinen Schultern lastete und die Schmach seines Vorgängers und Onkels Jin Guangyao zu einem vernichtenden Schwund an Mitgliedern geführt hatte, konnte diese Angewohnheit nur schlimmer geworden sein. Und Hilfe? Selbst wenn Jin Ling nicht zu hochmütig wäre, sie zu erbitten, würde niemand diesem Clan, der zum Gespött der gesamten Kultivatorenwelt geworden war, zu Hilfe eilen. “Du hast recht, dass die Hinweise zu dünn sind, um sie zweifelsfrei mit dem fehlenden negativen Qi in Zusammenhang zu bringen. Aber ich würde mir dieses Wildschwein trotzdem gern ansehen.” Wei Wuxian erhob sich und mit dieser fließenden Bewegung kehrte auch das übermütige Grinsen in sein Gesicht zurück. “Lust, einen Freund zu besuchen?” Sizhui erwiderte den Blick mit einem aufrichtigen Lächeln. “Er wird nicht begeistert sein.” “Hält dich das davon ab?” Sizhui gluckste. “Nein. Ich gebe Jingyi Bescheid. Aber Onkel Ning lassen wir diesmal lieber zu Hause. Ich möchte ihn ungern in der Nähe wissen, falls sich dort doch das Groll fressende Monster herumtreibt.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)