Mein Weg zu Dir von Khaleesi26 ================================================================================ Kapitel 44: Mimi ---------------- Und wieder knalle ich die Tür hinter mir zu, aber diesmal ist es meine eigene. »Ich projiziere überhaupt nichts! Was bildet er sich ein? Er hat sie doch nicht mehr alle«, rufe ich wütend, streife mir die Schuhe von den Füßen und schleudere sie in die Nächste Ecke. »Mimi?«, dringt Karis Stimme aus dem Wohnzimmer und ich zucke zusammen, als sie ihren Kopf um die Ecke steckt. »Ist alles okay? Hast du dich mit jemanden gestritten?« Au Backe. Jetzt habe ich vor lauter Wut über Matt doch glatt vergessen, dass ich nicht mehr alleine zu Hause bin. Wie blöd von mir. »Äh, nein«, räuspere ich mich und versuche zeitgleich, mich runterzufahren. Kari darf auf keinen Fall irgendwas merken. »Der Nachbar hat sich nur bei mir beschwert, weil ich den Müll nicht richtig getrennt habe.« Ich kratze mich am Hinterkopf, weil es mir unangenehm ist, Kari anzulügen, aber was soll ich machen? »Willst du etwas essen?«, frage ich, um schnell das Thema zu wechseln. Kari nickt und folgt mir in die Küche. »Gern.« Da ich nicht mehr viel zu Hause habe, läuft es auf eine Tiefkühlpizza hinaus. »Tut mir Leid, ich muss morgen unbedingt einkaufen gehen.« Kari winkt schnell ab. »Kein Problem. Wäre ich jetzt zu Hause, hätte ich wahrscheinlich nur Chips und Schokolade in mich reingestopft.« »Typisch Teenager, was?«, entgegne ich grinsend. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, als Tai in deinem Alter war. Er hat Fast Food quasi inhaliert.« Ich verstumme, sobald ich den Satz ausgesprochen habe und mein Grinsen verblasst. Zum Glück legt Kari nur die Stirn in Falten und schenkt mir ein mattes Lächeln, anstatt auf das Gesagte einzugehen. Ich streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr und frage mich, ob das von nun an immer so sein wird? Dass all die schönen Erinnerungen mit und an Tai mit dieser Bitterkeit einhergehen. Mit diesem faden Beigeschmack, dass es nie wieder so sein wird. »Kann ich dich was fragen, Kari?«, wechsle ich das Thema. Kari stemmt sich mit den Händen auf der Arbeitsplatte ab und sieht mich neugierig an. »Natürlich, alles.« »Okay.« Ich wende mich ihr ganz zu. »Ist zwischen dir und T.K. irgendwas gelaufen?« Karis Miene verfinstert sich und wird eiskalt. »Wie kommst du darauf?« Ich zucke mit den Schultern. »Ist so ein Gefühl. Außerdem hat Matt so was erwähnt.« Keine Ahnung, ob es eine gute Idee ist, ihn da mit reinzuziehen, aber eigentlich ist mir das jetzt auch egal. Er kann mich mal. »Na toll«, nuschelt Kari in sich rein und beißt sich auf die Unterlippe. »Jetzt weiß er auch schon Bescheid darüber.« Fragend sehe ich sie an. »Was soll das bedeuten?« Kari seufzt. »Eigentlich wollte ich darüber nie wieder reden. Oder auch nur einen Gedanken daran verschwenden. Aber das schaffe ich eh nicht, also …« Sie geht zum Kühlschrank und öffnet ihn, um sich dann ein Glas Orangensaft einzuschenken. » … ja, es stimmt. Wir hatten was miteinander. Und seitdem verhält er sich wie ein Arschloch.« Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Meine Kinnlade fällt nach unten. Dann hat Matt also nicht übertrieben. »Ich … ich kann mir vorstellen, was du meinst.« »Ach ja?«, schnaubt Kari lachend. »Ja, ich …« Ich nehme die Pizza aus dem Ofen und schneide sie in acht Teile. » … also, ich hatte neulich auch was mit einem Kerl, der es danach bereut hat.« Um genau zu sein gestern. Mit deinem Bruder. Aber das sage ich natürlich nicht. Ich hoffe lediglich, dass Kari sich mir etwas mehr öffnet, wenn ich ihr auch etwas von mir anvertraue. »Ist kein schönes Gefühl.« »Nein, ist es nicht. Seitdem ist es wirklich komisch zwischen uns. Ich kann ihm kaum noch in die Augen schauen. Aber für ihn scheint es irgendwie keine große Sache gewesen zu sein. Es ist nach seiner Geburtstagsfeier passiert. Und nein, wir waren nicht sonderlich betrunken, darauf kann man es also nicht schieben. Ich weiß auch nicht … plötzlich war da diese Anziehung zwischen uns und … es war total schön. Bis es das nicht mehr war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schnell er danach wieder angezogen war. Seitdem hat er das Thema nicht mehr erwähnt. Das hat mich echt verletzt. Er ist mein bester Freund und ich habe das nicht ohne Grund getan. Tja, er anscheinend schon. Offensichtlich brauchen Jungs keinen Grund dafür, um mit ihrer besten Freundin zu schlafen«, sagt Kari und wirkt dabei so geknickt, wie ich sie selten gesehen habe. Noch ein Puzzleteil, welches sich gerade zusammensetzt. »Hast du Gefühle für ihn?« »Ist das wichtig?«, seufzt Kari und folgt mir zum Sofa, wo wir uns hinsetzen und jeder von uns ein Stück Pizza nimmt. »Ganz offensichtlich will er nichts von mir. Also ist es egal.« Innerlich seufze ich auf. Wenn es doch nur so einfach wäre … »Ich wünschte, ich könnte dir irgendetwas Positives sagen«, meine ich und knabbere unzufrieden an meinem Stück Pizza rum. Mir ist der Appetit vergangen. »Aber manchmal tun Menschen etwas, dass sie später bereuen.« »Allerdings«, antwortet Kari und legt ebenfalls ihre Pizza zurück. »Ich bereue es, dass ich ihm meine Jungfräulichkeit geschenkt habe.« Perplex sehe ich sie an, woraufhin Kari matt lächelnd mit den Schultern zuckt. »Was ist? Hast du gedacht, ich mache so was öfters? Das war mein erstes und einziges Mal, Mimi.« Hitze steigt mir in die Wangen. Oh Gott. Das ändert die Lage, sehr sogar. Wie konnte er nur? Dieser kleine, hinterhältige … »Ich bin wirklich wütend auf Matt«, platzt es aus mir heraus. Gleich darauf merke ich meinen Fehler, doch da löchert mich Kari bereits mit fragwürdigen Blicken. »Wieso auf Matt? Was hat er damit zu tun?« »Äh, nichts«, entgegne ich eilig und hebe die Hände in die Höhe. »Ich meinte natürlich T.K. Es ist wirklich unmöglich, wie er sich dir gegenüber verhalten hat.« »Jaah, das stimmt«, meint Kari gedehnt und wirkt immer noch leicht misstrauisch, aber dann entspannt sich ihr Gesichtsausdruck glücklicherweise wieder. »Aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen, richtig? Also ist es das Beste, einfach nicht mehr daran zu denken.« Sie schnappt sich ihr Stück Pizza wieder und beißt beherzt hinein, als wäre nun alles wieder gut. Aber ich weiß, dass es das nicht ist. T.K. hat ihr wehgetan und ich weiß, wie sich das anfühlt. Wie es dich innerlich auffrisst, bis von deinem Herzen nur noch Fetzen übrig sind. Kari ist zu jung für so viel Liebeskummer und ich würde ihr so gerne da raus helfen. Leider bin ich in dieser Situation die schlechteste Ansprechpartnerin, die man sich vorstellen kann. Denn ich weiß es ja selbst nicht besser. Kari schläft noch, als ich am nächsten Morgen die Wohnung ganz früh verlasse. Ich hinterlasse ihr einen Zettel, mit der Nachricht, dass ich meinen Vater besuchen gehe. Ich bin mit Dad zum Frühstück verabredet. In seiner neuen Wohnung. Ich kann es kaum erwarten! Vor einer Woche ist er in eine komplett möblierte Wohnung gezogen. Mom hat ihr Versprechen also gehalten. Ich hoffe so sehr, dass ihm das bei seinem Neustart hilft. Hoffnungsvoll stehe ich vor seinem Apartment und werde nicht enttäuscht, als Dad mir endlich die Tür aufmacht. »Mimi.« Seine Augen strahlen mich an, bevor er mir zur Begrüßung um den Hals fällt. »Komm rein, sieh dir alles an.« »Sehr gern«, schaffe ich es nur zu erwidern, als er mich auch schon mit sich in die Wohnung zieht. »Wow. Sie ist wirklich hübsch.« Die Wohnung ist das komplette Gegenteil von unserem alten Haus. Sie hat viele Fenster, durch die Tageslicht dringt, welches die weißen Wände zum Strahlen bringt. Sie ist noch etwas spartanisch eingerichtet, mit hellen Möbeln, die noch völlig unbenutzt aussehen. »Dein Kollege hat es wirklich schön eingerichtet. Bist du sicher, dass er hier gewohnt hat? Es sieht alles noch so neu und unbenutzt aus«, stellt Dad nüchtern fest, was jedoch nicht seine Begeisterung mindert. Ich sehe mich um und fahre mit dem Finger über die Oberfläche einer Kommode. Nicht ein Körnchen Staub klebt daran. »Nun, er war selten zu Hause. Und sehr minimalistisch eingestellt.« »Und jetzt studiert er in Deutschland, was für ein Glück für mich«, meint Dad und ich nicke lächelnd. Nachdem Mom die Wohnung für ihn gefunden hatte, habe ich ihm erzählt, es sei die Wohnung eines Kollegen, der für ein Auslandssemester nach München gereist ist und für die Zeit nach jemanden auf der Suche sei, der auf seine Wohnung aufpasst. Ich habe sogar ein Namensschild mit irgendeinem fremden Namen an die Klingel geklebt, damit es glaubwürdig aussieht. Ich weiß, dass Dad sonst in irgendeinem dreckigen Hostel sitzen würde. Es ist schwierig ohne Job in der Stadt eine Wohnung zu bekommen und von Mom hätte er sich nie im Leben aushelfen lassen. Daher bin ich trotz der kleinen Notlüge glücklich, es getan zu haben. Er wirkt jetzt schon wie verändert. Richtig aufgeblüht. »Der Tapetenwechsel scheint dir gut zu tun«, stelle ich lächelnd fest und schaue mir ganz nebenbei noch die restlichen Räume an. »Die Wohnung ist perfekt für einen Neuanfang.« Dad nickt eifrig, als mein Blick auf den leeren Küchentisch fällt. Stirnrunzelnd zeige ich mit dem Finger darauf. »Wolltest du mich nicht zum Frühstück einladen?« »Jaah, das hatte ich vor.« Verlegen kratzt Dad sich am Hinterkopf, nur, um gleich darauf auf zwei gepackte Taschen auf dem blauen Sofa zu zeigen, die mir tatsächlich erst jetzt auffallen. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, unterwegs zu frühstücken?« Dad wirkt aufgeregt, als wir in seinen Wagen steigen und losfahren. Neugierig wende ich mich ihm zu. »Erzählst du mir jetzt endlich, wo wir hinfahren?« »Die Klinik hat gestern angerufen«, erzählt er mir endlich. Meine Augen weiten sich vor Überraschung. »Wirklich? Was wollten sie?« Die Frage ist fast überflüssig. Ich kann es mir denken. Trotzdem beschleunigt sich mein Puls vor Aufregung. »Einer ihrer Patienten konnte die Klinik frühzeitig verlassen, also ist ein Platz frei geworden. Sie haben alle auf der Warteliste abtelefoniert und ich war der Einzige, der sofort kommen konnte. Hat also auch was Gutes, keinen festen Job zu haben.« Dad lacht auf und beinahe hätte ich mit gelacht, wenn mir nicht schlagartig bewusst werden würde, was das bedeutet. »Warte mal. Das heißt, du beginnst jetzt schon mit der Therapie? Wie lange wirst du weg sein?« »Das kann man vorher nie so genau sagen«, zuckt Dad mit den Schultern und biegt auf die Autobahn ab. »Ich werde mir so viel Zeit nehmen, wie ich brauche.« Ich nicke. Das klingt vernünftig. Trotzdem bin ich auch ein bisschen wehmütig. »Du wirst mir fehlen«, sage ich. Dad schenkt mir ein schiefes Grinsen. »Besuche sind gestattet, weißt du«, antwortet er und zieht dabei eine Augenbraue in die Höhe. »Wobei wir sicher sechs Stunden unterwegs sein werden. Ich denke nicht, dass du so viel Zeit haben wirst, um diese weite Strecke öfters zu fahren. Wobei du ja jetzt sicher wieder mehr Zeit hast, da du mit deinem Freund Schluss gemacht hast.« Welcher Freund? Verwirrt sehe ich ihn an, da hebt Dad schon entschuldigend die Hand. »Tut mir Leid. Deine Mom hat mir von diesem Matt erzählt und dass du mit ihm Schluss gemacht hast. Vor ihren Augen.« Plötzlich beginnt er herzhaft zu lachen. »Ich hätte zu gern ihr Gesicht gesehen.« Leider kann ich nicht mit lachen. »Du redest mit Mom über mein Liebesleben? Du redest überhaupt wieder mit ihr? Was ist passiert?«, frage ich und kann das Misstrauen in meiner Stimme kaum verbergen. Ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll. Ich will nicht, dass Dad wieder verletzt wird. »Es gab keine Zeit, in der wir nicht miteinander geredet haben. Auch wenn es nicht immer nette Worte waren«, meint Dad, als wäre es das Normalste von der Welt. Mir kommt es eher spanisch vor. »Außerdem bist du unsere gemeinsame Tochter, Mimi. Natürlich reden wir über dich, auch wenn wir getrennt sind.« So? Ich antworte nicht gleich darauf, weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Stattdessen drehe ich meinen Kopf und sehe aus dem Fenster. »Was hat sie dir noch erzählt?«, hake ich nach. Ich hoffe, sie hat nichts von unserer Abmachung erzählt, wenn sie schon so frei heraus über Matt und mich plaudert, als wüsste sie über irgendwas Bescheid. Als hätte sie auch nur irgendeine Ahnung von meinem Liebesleben. »Nichts«, zuckt Dad erneut mit den Schultern. Ich beobachte ihn aus den Augenwinkeln, um irgendein Anzeichen zu erkennen, dass er lügt. Aber da ist nichts. Entweder, er hat ein extrem gutes Pokerface oder Mom hat ihm wirklich nicht mehr als das erzählt. »Also«, beginne ich zaghaft und streiche mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Matt war nicht mein richtiger Freund. Das habe ich Mom nur erzählt, um sie auf die Palme zu bringen. Was übrigens sehr gut geklappt hat.« Nun lacht Dad so herzhaft auf, dass er sich kaum mehr beruhigen kann. »Das ist typisch meine Mimi. Sieht dir ähnlich, deine Mutter ein bisschen zu reizen.« Ich stütze meinen Kopf auf meiner Handfläche ab und sehe weiter aus dem Fenster. »Nun, sie hatte es verdient«, sage ich ruhig. »Manchmal benimmt sie sich einfach unmöglich anderen Menschen gegenüber.« Ich höre, wie Dad neben mir seufzt. »Da ist schon was dran. Aber ich denke, sie versucht auch, sich ein wenig zu ändern. Immerhin wird sie noch mal Mutter.« Und das verändert einen Menschen so sehr? Kann ich mir nicht vorstellen. Aber wie auch immer … »Was ist mit Tai?«, fragt Dad plötzlich und reißt mich somit aus meiner seligen Ruhe. »Was soll mit ihm sein?« Sofort spüre ich, wie mein Körper sich bei dem Gedanken an ihn anspannt, obwohl ich das nicht möchte. Und nicht nur das. Auch mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. »Es gibt da jemand anderen, bei dem er ist. Seitdem herrscht Eiszeit bei uns«, offenbare ich ihm, ohne meinem Dad die ganze Wahrheit zu erzählen. »Ach so? Das wundert mich jetzt aber …« Stirnrunzelnd werfe ich ihm einen Blick zu. »Warum das?« »Das passt nicht zu euch, ganz einfach. Ihr seid immer unzertrennlich gewesen und wart die besten Freunde.« Ja, das dachte ich auch mal. Leider wurde ich eines Besseren belehrt. »Außerdem dachte ich immer, dass ihr später mal heiraten werdet. Hat er dir nicht mit zehn Jahren einen Heiratsantrag gemacht?«, fragt Dad, während ich in meinem Gedächtnis nach dem Ereignis suche, das er meint. Viel zu schnell finde ich es, was meinem Herzen nur noch mehr Schmerz zufügt. »Wir sind keine Kinder mehr, Dad«, erwidere ich tonlos und lehne meinen Kopf ans Fenster. »Stimmt, das seid ihr wirklich nicht mehr«, nickt Dad. »Aber das ändert nichts daran, dass ihr euch sehr gern habt. Nach wie vor.« Ich seufze schwer. »Ja, da könntest du recht haben«, murmle ich in mich hinein, ehe ich das Radio an schalte und es mir wieder im Sitz bequem mache. Ich bin müde und Tai ist der letzte Mensch, über den ich jetzt reden möchte. Der letzte Mensch, an den ich jetzt denken möchte. Also versuche ich, meinen Kopf auszuschalten und schließe die Augen … Ich schrecke von meinen Hausaufgaben hoch, weil ein lautes Klacken mich aus meinen Überlegungen reißt. Ein Stein fliegt gegen mein Fenster. Und dann noch einer. Und noch einer. Ich presse die Lippen aufeinander, als ich aufspringe. Will dieser Idiot ein Loch in meine Scheibe schlagen? Ich beuge mich über meinen Schreibtisch, um das Fenster zur Seite aufzuschieben. Es dauert keine fünf Sekunden, da erscheinen auch schon zwei Hände, die sich am Rahmen festhalten und daran hochziehen. Ihnen folgt natürlich niemand anderer als Tai, der wie selbstverständlich durch mein Fenster klettert. Ich verschränke die Arme vor der Brust und trete mehrere Schritte zurück, um ihm Platz zu machen. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du das lassen sollst? Wir haben eine Haustür.« Tai springt gewohnt lässig vom Schreibtisch, nur, um sich dann vor mir aufzurichten. Ich muss den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um zu ihm aufzuschauen. Nicht nur, dass er fast zwei Jahre älter ist als ich, nein … irgendwann letzten Frühling hat er einen Schuss gemacht und überragt mich mittlerweile um einen ganzen Kopf. Er ist echt groß geworden. Bei seinem Anblick werde ich fast ein wenig rot. »Kannst du knicken«, erwidert er jedoch nur frech. Ja, frech ist er auch geworden. Um nicht zu sagen: rotzfrech. Wenn Jungs zehn werden, werden sie echt komisch. Richtig früh pubertär - mit so was will ich gar nichts zu tun haben. »Ich habe Hausarrest, falls du dich erinnerst. Wenn ich bei euch an der Tür klingle, verpfeift mich deine Mutter doch nur wieder, wie beim letzten Mal.« Ich rümpfe die Nase und strecke meinen Hals. »Pass bloß auf, dass ich dich nicht verpfeife.« Tai schenkt mir ein schiefes Grinsen. Dann grabscht er nach einer Packung Kaugummis, die auf meinem Schreibtisch liegt, nimmt sich einen raus und schiebt ihn sich in den Mund. Das leere Papier steckt er sich in die Hosentasche seiner Jeans. Das macht er immer. Seine Hosentaschen müssen voller leerer Kaugummi Papiere sein, echt eklig. »Würdest du nicht«, sagt er dann selbstsicher und greift wahllos nach eines der Bücher von meinem Nachttisch. Nein, nicht mein Tagebuch! Ich erschrecke und mache einen Satz nach vorne, um es ihm aus der Hand zu reißen, weil er, dreist wie er ist, bereits darin blättert. »Hey, wieso steht da mein Name?«, meint er neckend, während ich ihm das Buch unter der Nase wegschnappe und an meine Brust presse. »Das ist mein Tagebuch, du Idiot.« »Und da stehen Sachen über mich drin?« »Keine Guten.« »Pfft, war ja klar.« Er lässt sich rückwärts auf mein Bett fallen und verschränkt die Arme hinter dem Kopf, während ich das Buch zurück an seinen Platz lege und mich neben ihm auf die Bettkante setze. Dann seufze ich. »Ich verstehe nicht, warum du dir immer so viel Ärger einhandeln musst. Das ist das dritte Mal in diesem Monat, dass du Hausarrest bekommst. Früher hattest du nie welchen.« Beleidigt verzieht Tai das Gesicht. »Na und? Wen juckt's? Nur, weil ich ein Mal mit Matt die Schule geschwänzt habe. Meine Eltern übertreiben total.« Ein ungläubiges Kichern entfährt mir. »Tai, es war nicht ein Mal, sondern an drei Tagen in Folge.« »Das zähle ich als ein Mal.« »Ach so.« Ich werfe einen Blick nach hinten. »Du bist wirklich unmöglich. So bekommst du sicher keine Freundin.« Ich weiß ganz genau, dass Matt und er immer gewetteifert haben, wer als erstes ein Mädchen küsst. Auch wenn Tai immer so tut, als würde ihn das gar nicht interessieren. Ich glaube doch, dass es so ist. Alle Jungs in dem Alter sind blöd und denken sich dämliche Wetten aus. Nun, letztendlich war natürlich Matt derjenige, der sich vor ein paar Tagen von einem Mädchen aus der Oberschule einen Kuss gestohlen hat. Ein älteres Mädchen. Wie hat er das eigentlich angestellt? Ich kann's mir einfach nicht vorstellen … »Ich brauche auch keine Freundin. Ich hab doch dich«, antwortet Tai keck und springt mit einem Satz vom Bett auf. »Was soll das nun wieder heißen?«, fahre ich ihn an. »Man, du nervst echt.« Sein warmes Lächeln trifft mich ganz unerwartet. Werde ich schon wieder rot? Oh nein! »Manchmal bist du ein bisschen süß, Mimi«, sagt er und geht vor mir auf die Knie. Nun ist er es, der zu mir aufschaut. Ich rutsche auf dem Bett zurück. »Und du bist komisch.« Wieder zucken seine Mundwinkel und ich werde das Gefühl nicht los, dass er mich gerade verarschen will. »Wollen wir später heiraten?«, fragt er mich plötzlich und ich schaue ihn perplex an. Heiraten? Hä? Spinnt er? »Ähm, ich muss noch Hausaufgaben machen«, sage ich und zeige mit dem Finger auf meinen Schreibtisch, der übersät ist, mit Büchern und Zettel. Tai lacht kurz auf. »Ich meine mit später doch nicht heute noch, du Dummchen.« »Nenn mich nicht Dummchen«, ist alles, was ich höre. Wieder verschränke ich die Arme vor der Brust und plustere mich auf, wie ein kleiner Vogel mit zu viel Gefieder. »Ich meine mit später, wenn wir mal erwachsen sind. Ist doch klar«, erklärt Tai mir, während er immer noch vor mir kniet. »Das dauert noch lange, Tai«, stelle ich nüchtern fest und warte darauf, dass er mich auslacht, weil er wieder nur einen blöden Witz gemacht hat. Aber er sieht mich einfach nur lächelnd an. Das macht mich nervös. »Du hast ja gar keinen Ring«, sage ich herausfordernd und strecke ihm die Zunge raus. Tai legt den Kopf schief und überlegt. Fragend sieht er sich in meinem Zimmer um, als würde hier irgendwo ein Verlobungsring auf dem Teppich liegen und nur darauf warten, dass er ihn aufhebt. Doch dann scheint er eine Eingebung zu haben. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck holt er das alte Kaugummipapier aus seiner Hosentasche und dreht es so lange zwischen seinen Fingern, bis das zerknitterte Teil wie ein kleiner Ring aussieht. Dann schnappt er sich meine Hand und steckt den selbstgebastelten Ring an meinen kleinen Finger, weil er an keinen anderen passt. »Hübsch«, kommentiere ich unbeeindruckt und lasse die Hand wieder sinken. »Später bekommst du einen Echten.« Ich hoffe sehr, dass er mit später auch erst meint, wenn wir erwachsen sind und nicht, dass er gleich nach Hause geht, seiner Mutter einen Ring klaut und ihn mir bringt. Zuzutrauen wäre es ihm. »Steck deine Nase lieber in Bücher und konzentrier dich auf die Schule, anstatt solche blöden Vorschläge zu machen«, sage ich und schnippe ihm mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Aua«, beschwert Tai sich sofort und reibt sich die Stelle. »Ich nehme alles zurück. Du bist echt gar nicht süß.« Ich kichere und in dem Moment geht meine Zimmertür auf. Mom steht in der Tür. Sie braucht ganze drei Sekunden, um das Bild vor ihren Augen in sich aufzunehmen und dann auszurasten. »Was machst du schon wieder im Zimmer meiner Tochter? Wie bist du überhaupt hier reingekommen? Sag nicht, du bist schon wieder durchs Fenster gestiegen? Du Flegel! Mimi! Warum lässt du ihn überhaupt rein?« Ich ziehe die Schultern hoch und sehe sie verständnislos an. Ist es ihr lieber, wenn er das Fenster mit seinen Steinen kaputt macht? »Und was soll das eigentlich werden, wenn's fertig ist?« Mom verschränkt wütend die Arme vor der Brust. Ihr Blick heftet sich an Tai, der immer noch wie ein Prinz vor mir kniet. Hoffentlich weiß sie nichts von seinem Hausarrest. Neulich hat sie ihn nämlich wirklich bei seiner Mama verpfiffen. Das war echt so peinlich. »Sie stören gerade, wissen Sie das?« Ich halte den Atem an. Das hat er nicht wirklich gesagt. Ist er lebensmüde? Meine Mutter und ich starren ihn beide gleichermaßen fassungslos an. »Ich war gerade dabei Ihrer Tochter einen Heiratsantrag zu machen, sehen Sie das nicht?« Tai deutet total verständnislos auf sich und dann auf mich, während mir vor Entsetzen die Kinnlade runter klappt. Gott, er ist so frech! »Wie bitte?«, keift Mom drauf los und stemmt die Hände in die Hüfte. »Lass den Quatsch!«, sage ich und schlage Tais Hand runter, die immer noch auf mich zeigt. »Raus aus meinem Haus!« Mom funkelt Tai böse an, das kann sie gut. Doch während ich zusammen zucke, springt er lediglich grinsend auf die Beine. »Ist ja schon gut«, meint er und geht zum Fenster. »Durch die TÜR!«, schreit Mom ihn an, aber Tai beeindruckt das gar nicht. Er springt einfach auf meinen Schreibtisch und dreht sich zu mir um. »Bis später, zukünftige Ehefrau.« Als er mir zuzwinkert, rastet meine Mom komplett aus. Sie geht so schnell auf ihn zu, dass ich beinahe Angst habe, dass sie ihn aus dem Fenster schuppst. Aber Tai entwischt ihren Fingern mit einem überheblichen Grinsen auf den Lippen. Und dann … ist er weg. Mom wütet noch eine ganze Weile rum, rennt dann die Treppen runter, um meinem Dad alles zu erzählen. Ich glaube, danach hat sie tatsächlich Tai’s Mama angerufen, um sich bei ihr zu beschweren. Ich sitze wieder allein in meinem Zimmer und erledige meine Hausaufgaben. Dabei starre ich immer wieder auf den Ring aus Kaugummipapier, den er mir gebastelt hat. »Du bist wirklich kindisch, Tai«, murmle ich zu mir selbst und muss doch grinsen … Nach Luft schnappend reiße ich die Augen auf, als hätte ich gerade einen Albtraum gehabt. Dabei war es nur eine Szene aus meiner und Tais Kindheit, die sich in mein Unterbewusstsein geschlichen hat. Und die ich eigentlich schon längst vergessen hatte. Danke, Dad. »Ist alles gut?«, fragt Dad mich von der Seite. Langsam richte ich mich im Beifahrersitz auf. Meine Glieder tun weh. »Wie lang hab ich geschlafen?«, frage ich gähnend und versuche, mich zu strecken. »Fast drei Stunden«, stellt Dad mit einem Blick auf die Uhr fest. Ich erschrecke. »So lang?« »Du warst anscheinend ziemlich müde.« »War ich wohl«, antworte ich. Aber auf diesen Traum hätte ich gut und gerne verzichten können. Ich brauche noch mehrere Minuten, bis ich wieder richtig in der Realität ankomme. Dieser Traum war so real, als wäre es erst gestern geschehen. Gerade kommt es mir wirklich so vor. Als wären Tai und ich immer noch Kinder und immer noch durch dieses zarte, aber unzerstörbare Band der Freundschaft miteinander verbunden. Als wäre es erst gestern gewesen, dass er sich heimlich durch das Fenster in mein Zimmer geschlichen hat. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurück drehen. Dieser Traum führt mir nur all zu deutlich vor Augen, was wir alles verloren haben. Was sich alles verändert hat. Wir sind keine Kinder mehr. Und ans Heiraten denken wir auch nicht mehr. Stattdessen schlafen wir miteinander und schafften es nicht, uns am nächsten Tag ohne Reue in die Augen zu sehen. Wir meiden den jeweils anderen, weil es zu weh tut. Es fühlt sich an wie eine Tragödie. Nur, dass noch keiner von uns tot ist - jedenfalls nicht körperlich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)