Mein Weg zu Dir von Khaleesi26 ================================================================================ Kapitel 37: Mimi ---------------- Heute habe ich mich mit Kari verabredet. Ich habe sie eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich glaube, das letzte Mal, auf Tais Geburtstag, als Sora und Tai … nein, allein bei der Vorstellung wird mir ganz anders. Daran will ich jetzt nicht denken. Ich freue mich auf das Treffen mit Kari, denn wir haben früher zwangsläufig viel Zeit zusammen verbracht, weil ich regelmäßig bei den Yagamis ein und aus gegangen bin, als Tai noch bei seinen Eltern gewohnt hat. Das waren wirklich schöne Zeiten. Tai und mich hat es nie genervt, wenn Kari sich mit zu unseren DVD Abenden gesellt oder sie mit uns zusammen gegessen hat. Wir beide haben immer viel gequatscht und Tai aufgezogen. Leider ist das alles in letzter Zeit viel zu kurz gekommen. Ich sehe Kari nicht mehr so häufig, seit Tai ausgezogen ist. Sie hat sich schon ein paar Mal bei mir gemeldet und gefragt, wie es mir geht, doch ich habe mir nie wirklich Zeit genommen, um mit ihr zu reden. Ich denke, ich hatte einfach zu viel Angst davor, dass das Thema auf Tai, Sora und das Baby fallen könnte. Und das hätte ich nur schwer ertragen. Aber heute wollen wir shoppen gehen. Und das ist genau das, was ich gerade brauche. Mädchen, Mädchengespräche, Mädchenkram, Mädchenquatsch - Hauptsache ich muss nicht eine Sekunde an Tai denken. Oder an Matt. Oder an sonst irgendwen. Heute geht es nur um Kari und mich. »Mimi«, fällt sie mir auch schon in die Arme, als ich beim Shopping Center ankomme. Wir schenken uns gegenseitig eine innige Umarmung und ich seufze an ihrer Schulter. »Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich habe dich echt vermisst.« »Geht mir genauso. Es tut gut, dich zu sehen, Mimi.« Kari lächelt mich an und wir gehen rein. Als erstes steuern wir ein Schuhgeschäft an, wo ich natürlich auch gleich fündig werde. Meine Wahl fällt auf ein paar coole, schwarze Boots, die meine Beine gut zur Geltung bringen. Es folgen noch ein Dutzend weitere Geschäfte, denn wir schlendern durch so ziemlich jeden Laden, den es gibt. Kari erzählt mir, dass sie vorhat, nach ihrem Abschluss ein Jahr ins Ausland zu gehen - wahrscheinlich Deutschland - und ich finde, das ist eine großartige Idee. »Du bist plötzlich richtig erwachsen geworden«, stelle ich verblüfft fest, während wir einige Kleiderständer durchwühlen. »Wann ist das passiert?« Kari, die mir gegenübersteht und ihren Blick fest auf eine blaue Bluse gerichtet hat, schnaubt plötzlich. »Da müsstest du mal Tai fragen, der sieht das nämlich ganz anders.« Im selben Moment, wo sie den Satz beendet, sieht sie mit geweiteten Augen zu mir auf. Auch ich habe den Mund geöffnet, weiß jedoch nicht, was ich sagen soll. »Es tut mir leid«, schießt es sofort aus ihr heraus. »Ich wollte nicht von ihm anfangen, das war wirklich keine Absicht.« Ich schenke ihr ein gequältes Lächeln. »Schon gut. Wieso denkt er, dass du nicht erwachsen bist?« Trotz allem stelle ich diese Frage, weil es Kari ganz offensichtlich zu belasten scheint. Was wäre ich für eine Freundin, wenn ich denken würde, ihre Probleme wären weniger erwähnenswert als meine? Sie zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder den Klamotten auf der Stange zu. »Offenbar hat er ein Problem damit, dass ich jetzt bald meinen Abschluss mache und ab und zu spät nach Hause komme. Nichts Dramatisches. Aber du kennst ja Tai. Er macht sich bei allem immer gleich Sorgen und meckert mich jedes Mal an, wenn ich abends ausgehe.« Ich runzle die Stirn. Was? So ein Spießer ist Tai nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so überreagiert, auch wenn sie seine kleine Schwester ist. »Na, wie auch immer. Reden wir nicht mehr von ihm«, grinst Kari plötzlich breit und irgendwie wirkt es aufgesetzt. Ich habe ein ungutes Gefühl, sage jedoch nichts mehr, weil ich glaube, dass sie das Thema selbst nicht gern weiter vertiefen möchte. »Ich könnte noch ein Geschenk für mein Geschwisterchen gebrauchen«, überlege ich, als wir den Laden mit leeren Händen verlassen, weil wir dann doch nichts gefunden haben. »Meine Mom und ich treffen uns nächste Woche kurz nach ihrem Ultraschalltermin.« Karis Augen beginnen zu leuchten. Kein Wunder, sie hat Kinder schon immer geliebt. »Weißt du denn schon, was es wird?« Ich nicke. »Es wird ein Junge. Ich werde wirklich noch mal eine große Schwester«, verkünde ich nun doch ein wenig stolz. »Wer hätte das gedacht? Anfangs war ich wirklich nicht besonders angetan von dieser Neuigkeit. Außerdem wollte ich früher nie einen Bruder oder eine Schwester haben - nichts für ungut.« Kari winkt ab. »Aber ich war wirklich gerne ein kleines, verwöhntes Einzelkind. Inzwischen verwöhnt mich niemand mehr und jetzt freue ich mich darauf, meinen kleinen Bruder nach Strich und Faden zu verwöhnen.« Ein breites Grinsen legt sich auf mein Gesicht, weil ich mich immer sehr glücklich fühle, wenn ich daran denke, dass ich schon bald mit ihm spielen kann. Ehrlichgesagt hatte ich nie was für kleine Kinder übrig. Und schon gar nicht für den neuen Typen meiner Mom. Oder das, was es alles mit sich gebracht hat, die Scheidung und so weiter. Aber auf diese eine Sache freue ich mich. Es ist wie ein kleines Licht in der Dunkelheit. Ein kleiner Mensch, der mit all dem Drama hier nichts zu tun hat und der völlig unschuldig auf die Welt kommt. Ein Mensch, der die Möglichkeit hat, ein fantastisches Leben zu führen. Er fängt ganz von vorn an und ich möchte unbedingt Teil davon werden. »Du wirst sicher eine fantastische große Schwester werden«, sagt Kari lächelnd und stupst mich von der Seite an. »Ja, das hoffe ich.« Wir steuern ein Babygeschäft an, wo es allen möglichen Kram gibt, was man für Babys so braucht. Vielleicht kaufe ich ihm schon mal eine Rassel oder so was in der Art. Brauchen Babys so was überhaupt? Ich habe echt keine Ahnung von der Materie, aber irgendwas Schönes werde ich schon finden. Doch kurz nachdem wir das Geschäft betreten haben, bleibe ich abrupt stehen. Alle Tische und Regale sind vollgestopft mit Babyspielzeug, Kleidung und kleinen Schühchen. Alles in rosa und himmelblau. Babykram, egal, wo man hinsieht. Und Schwangere mit dicken Bäuchen, die zusammen mit ihren Freundinnen oder Männern am Shoppen sind. Ich spüre, wie das Blut aus meinem Gesicht verschwindet und meine Glieder sich versteifen. Ich kann mich keinen Zentimeter mehr rühren. »Mimi?« Kari, die schon ein paar Schritte weiter gegangen ist, dreht sich verwundert zu mir um, weil ich ihr nicht mehr folge. »Was ist los? Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.« Ich schlucke hart. Aber der dicke Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, will einfach nicht verschwinden. Natürlich ist hier alles bis unter die Decke mit Babysachen vollgestopft - was hatte ich erwartet? Wenn ich es geschafft hatte, bis jetzt nicht viel an Tai und Sora denken zu müssen, dann ist dies jetzt vorbei. Bilder, wie die beiden hier vielleicht schon gemeinsam einkaufen waren, schießen in meinen Kopf. Wie sie sich alle Sachen angeschaut, rumgestöbert haben und am Ende mit einer riesen Einkaufstüte voller Babyklamotten und Spielzeug rausgegangen sind. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, flüstere ich mehr zu mir selbst, als zu Kari, denn mein Blick geht ins Leere. Dass Sora von Tai schwanger ist, war für mich bis jetzt ein absolut rotes Tuch. Es war nicht wirklich greifbar, denn ich sehe weder Sora, noch Tai. Ich weiß nicht, in welcher Woche sie ist oder ob es ein Mädchen oder ein Junge wird. Ich weiß nicht, welchen Namen sie sich vielleicht schon ausgesucht haben. All das habe ich so gut es ging verdrängt. Ich wollte mich nicht damit beschäftigen. Und wenn man etwas nicht sieht oder nicht mitbekommt, kann man sich schnell einreden, dass das alles gar nicht da ist. Es war bis jetzt einfach noch zu weit weg. Aber jetzt, wo ich hier stehe, und das alles sehe und mir klar wird, dass es tatsächlich passieren wird … dass Tai und Sora wirklich ein Baby zusammen bekommen werden … weiß ich plötzlich, dass es unumstößlich ist. Die beiden werden auf jeden Fall ein Kind bekommen und nichts und niemand kann etwas daran ändern. Sie werden für immer verbunden sein. Für immer. Und was verbindet Tai und mich noch? Gar nichts? Die Wucht dieser Erkenntnis trifft mich so hart und unerwartet, dass ich am liebsten auf der Stelle zusammenbrechen würde. »Mimi«, sagt Kari noch einmal, nun deutlich beunruhigter als zuvor. Ich hebe den Blick und schaue in ihr besorgtes Gesicht. »Tut mir leid, ich kann das nicht«, kommt es mir nur schwer über die Lippen, ehe ich mich umdrehe und aus dem Laden stürme. Schnellen Schrittes verlasse ich das Einkaufscenter, während Kari mir folgt. Draußen angekommen, schnappe ich wie eine Ertrinkende nach Luft. Was ist nur los mit mir? Ich dachte, ich schaffe es, das alles rund um Tai und Sora auszublenden, zumindest so weit, dass es mir einigermaßen gut geht. Und dann drehe ich wegen ein paar Babyklamotten komplett durch? Was für eine Scheiße! Mich auf meinen Knien abstützend, spüre ich, wie schnell meine Atmung geht. Ich schlucke die Übelkeit hinunter, die in meiner Kehle hochkriecht. Ich kenne so was aus dem Fernsehen … ist das so was wie eine Panikattacke? »Ist alles in Ordnung?« Kari tritt neben mich und legt mir eine Hand auf den Rücken. Ich atme noch mal tief durch und richte mich langsam auf, aber das Zittern meiner Hände, kann ich nicht unterdrücken. »Ja … geht schon wieder.« Schön wäre es. »Komm, setzen wir uns. Ich hole uns was zu Trinken.« Kari führt mich zu einer leeren Bank, die gegenüber von einem Springbrunnen steht und ich lasse mich dankend darauf sinken. Als sie mit zwei Dosen Cola in der Hand wiederkommt und mir eine davon reicht, mustert sie mich mit einem besorgten Blick, während sie sich neben mich setzt. Sie beobachtet genau, wie ich ein paar Schlucke von der süßen Flüssigkeit nehme und mich langsam wieder entspanne. »Geht's dir besser?«, fragt sie nach einer Weile und ich nicke. »Ja, danke. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Das tut mir leid.« »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich kann mir vorstellen, was passiert ist.« »So?« Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu. Kari schnaubt und ihre Mundwinkel verziehen sich tatsächlich zu einem sehr traurigen Grinsen. »Natürlich, Mimi. Wahrscheinlich wäre es mir an deiner Stelle nicht anders gegangen. Ich ärgere mich, dass ich dich nicht davon abgehalten habe, dieses Geschäft zu betreten.« Energisch schüttle ich den Kopf. »Du kannst überhaupt nichts dafür, Kari. Es war doch meine Idee.« »Trotzdem«, entgegnet Kari geknickt und öffnet nun ebenfalls ihre Dose mit einem Klicken, um einen Schluck davon zu nehmen. »Ich hätte es besser wissen müssen.« Verwirrt sehe ich sie an. Ich schlucke schwer. »Was genau hat Tai dir eigentlich alles erzählt?« Kennt sie die ganze dramatische Geschichte? Kari legt einen gequälten Gesichtsausdruck auf und sieht dabei aus, als würde sie erst mal ganz genau überlegen müssen, ob und wie sie mir auf diese Frage antwortet. Und ich kann sie verstehen. Allein diese Frage grenzt an Folter. Aber ich will es trotzdem wissen. Ich will wissen, was Tai denkt. »Ich weiß zumindest, dass das alles nie Tais Absicht war«, antwortet Kari schließlich ausweichend, was mir jedoch nur ein verächtliches Schnauben entlockt. »Was war denn nicht seine Absicht? Mir seine Liebe zu gestehen, nur um mir dann nicht einmal 24 Stunden später das Herz zu brechen? Oder Sora zu schwängern? Ha, nein, warte. DAS war ganz sicher nicht seine Absicht.« Die Verbitterung in meiner Stimme lässt sich nicht verbergen, woraufhin Kari schwerfällig seufzt. »Ach, Mimi«, entgegnet sie traurig. »Weißt du eigentlich, wie sehr mein Bruder dich liebt?« Bei diesen Worten setzt mein Herz einen Schlag aus, nur um kurz darauf umso heftiger weiterzuschlagen. Meine Finger schließen sich fester um die Coladose, während mein Blick zu Boden gerichtet ist. »Nichts für ungut, Kari, aber ich denke, das macht es leider auch nicht besser. Es ist wie es ist. Liebe oder Freundschaft reichen manchmal einfach nicht aus.« »Ich verstehe«, ist alles, was Kari daraufhin erwidert. Sie versucht auch nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen und dafür bin ich sehr dankbar. Denn das würde mein armes, liebeskrankes Herz nicht ertragen. Während ich meine Cola in einem Zug leere, unterdrücke ich krampfhaft die Tränen, die sich mal wieder einen Weg an die Oberfläche bahnen wollen. Aber ich habe mir geschworen, nicht mehr wegen ihm zu weinen. Ich kann es nicht mehr. Ich will es nicht mehr. Dieser kleine Beinahe-Zusammenbruch, den ich eben in diesem Geschäft hatte, wird der Letzte dieser Art gewesen sein - zumindest nehme ich mir das fest vor. »Hey«, stoße ich plötzlich aus, stehe auf und strecke mich. »Hast du heute Abend schon was vor?« Kari schüttelt den Kopf. »Nein, was hast du vor?« Ich sehe sie an und grinse. Ein paar Stunden später sitzen wir in einer Karaoke Bar und trinken unser erstes Bier. Das war zwar nicht ganz mein Plan, aber es ist genau das, was ich jetzt brauche. Nach unserer mehr oder weniger erfolgreichen Shopping Tour, sind wir zu mir nach Hause gegangen und haben uns rausgeputzt. Nicht zu viel - wir wollen ja schließlich niemanden abschleppen. Aber schick genug für einen Mädelsabend zu zweit. Kari hat sich eine Bluse und einen Jeans Rock von mir geliehen. Immerhin konnte ich sie dazu überreden, wenigstens eine Strumpfhose drunter zu ziehen, damit es nicht ganz so freizügig ist. Ich trage eine schwarze Lederjacke und darunter ein schlichtes, rotes Cocktailkleid, was mir bis über die Knie reicht. »Für heute lass ich's gut sein!«, proste ich mir selbst zu und gönne mir einen großen Schluck, während Kari mich irritiert ansieht. »Was willst du gut sein lassen?« »Ach, nichts«, grinse ich breit. »Ich habe nur laut gedacht.« Wir sitzen an einem kleinen Tisch und die Bar ist brechend voll. Auf der Bühne singen irgendwelche halb betrunkenen Jugendlichen ein Lied von den Backstreet Boys … ob die überhaupt wissen, wer das ist? Erst jetzt, als ich meinen Blick durch die Karaoke Bar schweifen lasse, fällt mir auf, dass viele Leute hier jünger sind als ich, sogar jünger als Kari. »Sag mal, kommst du oft hierher?«, frage ich mit hochgezogener Augenbraue, weil es Kari war, die den Vorschlag gemacht hat, hierhin zu gehen. Sie nickt. »Ja, viele meiner Freunde sind jedes Wochenende hier.« »Verstehe«, sage ich und fühle mich ein wenig alt, was völliger Blödsinn ist, aber … na ja, aufreißen werde ich hier definitiv niemanden. »Außerdem ist das die einzige Karaokebar in der Gegend, die es am Einlass nicht so genau nimmt mit dem Alter. Hast du ja vorhin gesehen - man sagt einfach, man ist 20 und man darf rein. Die wollen nie einen Ausweis sehen oder so«, erzählt Kari weiter und ich nicke. Ich dachte eigentlich, wir gehen ins Kino, doch Kari wollte unbedingt hierher kommen und für mich ist das in Ordnung. Ich bin ja schließlich nicht ihre Nanny und auch nicht ihre große Schwester. Von mir aus kann sie machen, was sie will, sie ist immerhin 18 und ziemlich vernünftig. Trotzdem weiß ich, dass Tai mich einen Kopf kürzer machen würde, wenn er wüsste, dass ich mit seiner kleinen Schwester in einer Bar sitze und Bier trinke. Wir unterhalten uns eine ganze Weile und lachen über die Kids, die auf der Bühne stehen und ihr Gegröle zum Besten geben. Es ist wirklich unterhaltsamer als ich zuerst dachte und das Wichtigste: es lenkt mich ab. »Ich hole uns noch was zu trinken«, sage ich und gehe mit unseren leeren Gläsern zur Bar. Ich bestelle noch zwei Biere und warte mit dem Rücken gegen die Theke gelehnt darauf. Plötzlich tritt jemand in mein Sichtfeld, obwohl ich gerade dabei war, den Leuten auf der Bühne zuzusehen. Ich lehne mich zur Seite, um an demjenigen vorbeizusehen, doch dann sagt der Fremde: »Hi.« Ich sehe auf und, obwohl der Typ größer ist als ich, sieht man ihm doch sein Alter nur allzu deutlich an - 16, höchstens 17 würde ich schätzen. Er grinst mich schief an. »Ich hab dich hier noch nie gesehen.« »Weil du zum ersten Mal hier bist?«, entgegne ich deutlich desinteressiert, aber der Kerl lässt nicht locker. »Nein«, grinst er anzüglich. »Ich bin jedes Wochenende hier und du wärst mir ganz sicher aufgefallen.« Würg. Sein Blick gleitet über meinen Körper, was absolut schräg auf mich wirkt, aber irgendwie wundert es mich auch nicht. Heutzutage stehen die Kids anscheinend auf ältere Frauen. »Hör mal«, räuspere ich mich und richte mich etwas auf. »Wenn das ein Anmachspruch werden sollte, dann solltest du den definitiv noch mal üben. Außerdem will ich morgen früh keinen Ärger mit deiner Mami bekommen, wenn ich heute mit dir nach Hause gehe und sie uns morgen früh in deinem Kinderzimmer erwischt, wenn sie dir gerade dein Toast mit abgeschnittener Rinde nebens Bett stellen will. Also spar dir lieber die Luft für Mädchen in deinem Alter auf.« Kurz wirkt der Typ ernsthaft perplex über meine freche Antwort, aber er fängt sich schnell wieder und bricht in Gelächter aus. »Was denkst du, wie alt ich bin?« »Hoffentlich alt genug, um zu wissen, dass man nicht lügen darf?« »Ich bin schon 20«, lacht der Typ und ich nicke anerkennend. Okay, doch älter als ich dachte. »Dann musst du also nicht um 22 Uhr zu Hause sein. Wie schön für dich. Nimm's mir nicht übel, aber ich muss weiter«, sage ich, weil mir der Barkeeper in dem Moment zwei Bier auf die Theke stellt. »Sag mal, wie alt bist du eigentlich?«, bedrängt mich der Typ weiter. Ich stöhne und will ihn gerade zur Seite schieben, als sich eine Hand auf seine Schulter legt und das für mich erledigt. »Hey Alex, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht irgendwelche fremden Frauen belästigen.« Oh, die Stimme kenne ich. »Und schon gar nicht sie. Mit Mimi könntest du ohnehin nicht mithalten.« Und das Gesicht auch. »T.K.?« Fragend lege ich den Kopf schief, während er hinter diesem Alex auftaucht und mich breit anlächelt. »Hi, Mimi.« T.K.'s Freund schaut verwirrt zwischen uns beiden hin und her. »Ihr kennt euch?« »Ja, und das ziemlich gut sogar«, entgegnet T.K. mit einem eindeutigen Blick, der keine Zweifel mehr zulässt. Ich sehe, wie Alex schluckt und in sich zusammensackt. »Ähm … sorry, das wusste ich nicht. Tut mir echt leid, ich wollte nicht …« Warum wird er plötzlich so nervös? »Ich geh dann mal. Bis später, Takeru.« Verwirrt schaue ich ihm hinterher, nun doch etwas verwundert, dass er so schnell das Weite gesucht hat, wo er doch vorher so selbstbewusst wirkte. Doch als T.K. ihm ebenfalls hinterher sieht und auflacht, dämmert es mir. »Denkt er etwa, wir beide haben was miteinander?« Ich deute mit dem Finger auf T.K. und auf mich, während T.K. sich lässig neben mir an die Bar lehnt. »Tut er, aber das ist nicht schlimm. Anders wärst du ihn sicher nicht losgeworden. Was hat er dir erzählt, wie alt er ist?« »20.« T.K. sieht mich an. »Das war gelogen. Er ist erst 16. Aber er sieht ein bisschen älter aus, was ihm schon einige Dates mit älteres Mädchen verschafft hat.« Ha, wusste ich's doch! Empört schüttle ich den Kopf. »Und er dachte wirklich, er könnte bei mir landen? Das ist lustig und traurig zugleich. Er sollte sich ein Mädchen in seinem Alter suchen.« »Ja, das sollte er wohl«, lacht T.K. auf und bestellt sich ebenfalls ein Bier. Dann fällt sein Blick auf meine beiden Getränke. »Mit wem bist du hier?« »Oh«, mache ich und deute hinter mich. »Nur mit …« »Mimi, wo bleibst du?«, höre ich Karis Stimme hinter mir. T.K. und ich drehen uns gleichzeitig um. »Du bist nicht wieder gekommen, deshalb wollte ich mal sehen, wo du … oh.« Verblüfft sieht sie in T.K.'s Gesicht, weil sie ihn offensichtlich erst jetzt registriert hat. Sofort verändert sich etwas in ihrem Blick, aber ich kann nicht genau sagen, was es ist. Überraschung? Oder ist sie schockiert? Und wenn ja, warum? »Hallo, Kari. Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist«, begrüßt T.K. sie und schenkt ihr ein warmes Lächeln. Andere Menschen, die die beiden nicht kennen, würden denken, dass alles in Ordnung wäre. Eine normale, freundliche Begrüßung unter zwei Freunden. Aber ich sehe sofort, dass etwas nicht stimmt, denn Kari ist quasi zur Salzsäule erstarrt. Völlig verkrampft steht sie da und weiß nicht, wohin mit sich. Sie hat ein viel zu gezwungenes Lächeln aufgelegt und es verlangt ihr viel zu viel ab, T.K. überhaupt in die Augen zu sehen. Ihrem eigentlich besten Freund. Was ist nur passiert? »Okay, ich muss dann mal wieder zu meinen Freunden«, meint T.K., als sein bestelltes Bier über den Tresen geschoben wird. Er deutet in eine Richtung, wo eine kleine Gruppe von Leuten steht, die ich nicht kenne. »Viel Spaß euch beiden noch. Man sieht sich.« Mit einem Lächeln auf den Lippen verschwindet er in der Menge. Endlich löst Kari sich aus ihrer Starre und kommt zu mir rüber. Gestresst lässt sie sich mit dem Rücken gegen die Theke fallen und seufzt. »Was … war … das?«, frage ich betont langsam, während ich T.K. immer noch ungläubig hinterher starre. »Das war total strange. Es wirkte, als wärt ihr … keine Ahnung, entfernte Bekannte oder so. Nachbarn sind freundlicher zueinander als ihr beide.« Ich wage einen Blick in Karis Richtung, aber sie verzieht nur das Gesicht. »Ist eine lange Geschichte.« »Wie gut, dass ich Zeit habe.« »Es ist kompliziert«, ist das Einzige, was sie mir offenbart, bevor sie sich umdreht, sich ihr Bier schnappt und in einem Zug leert. Mit großen Augen starre ich sie an, bis sie die leere Flasche absetzt und sich über den Mund wischt. »Ich will nicht darüber reden.« »Okay«, erwidere ich nur, während sie sich gleich das Nächste bestellt. Sorgenvoll sehe ich sie an. Warum wirkt sie plötzlich fix und fertig? Und was hat T.K., ihr bester Freund, damit zu tun? Egal, was es ist, sie tut gerade das, was viele in ihrer Situation tun würden - sie versucht, es mit Alkohol zu betäuben. »Mach mal langsam«, sage ich deshalb, als sie schon das nächste Bier runter schüttet, als wäre es Wasser. Für diesen Kommentar fange ich mir einen tadelnden Blick ein. »Willst du mich jetzt auch bevormunden, wie mein Bruder?« »Nein, aber …« »Gut«, entgegnet Kari und bestellt sich noch eins. Was ist los mit ihr? So habe ich sie noch nie erlebt. Kari hat anscheinend gerade soeben beschlossen, sich komplett abzuschießen und … Oh Gott. Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Es kam wie es kommen musste. Eine Stunde später ist Kari nicht wiederzuerkennen, denn sie ist stockbesoffen. Ich habe in dem Moment aufgehört zu trinken, als sie angefangen hat, ein Bier nach dem anderen in sich reinzukippen. Ich dachte mir schon, dass der Abend nicht gut endet, aber ich konnte sie auch nicht davon abhalten. T.K. hat sie mit keiner Silbe mehr erwähnt. Stattdessen hat sie den ganzen Abend gelacht und Witze gerissen, als wäre alles in bester Ordnung. Aber das ist es ganz und gar nicht und nur ein Blinder wäre auf diese Scharade reingefallen. »Wir müssen dich nach Hause bringen«, sage ich, als wir die Bar verlassen. Ich stütze Kari, weil sie nicht mehr allein geradeaus laufen kann, doch in dem Moment, wo ich das sage, lässt sie sich fallen, wie ein nasser Sack. »Oh«, stöhne ich erschrocken auf, als sie mir aus den Fingern gleitet und zu Boden sackt. Wie ein kleines, bockiges Kind bleibt sie auf dem Asphalt sitzen. »Ich will nicht nach Hause.« Au Backe, auch das noch. Innerlich seufze ich und verfluche mich für diese Idee, heute Abend auszugehen. Aber wer konnte das schon ahnen? Ich gehe vor ihr in die Hocke und schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Aber es ist wirklich schon spät und du hast zu viel getrunken. Du musst ins Bett.« Kari hebt den Kopf und sieht mich mit verklärtem Blick an, während ihr die Haarsträhnen ins Gesicht fallen. »Genau das ist es ja«, beginnt sie zu jammern wie ein Hund. Ich zucke zurück. Diese plötzlichen Wesensveränderungen von Betrunkenen haben mich schon immer irritiert. »Tai ist zwar gerade bei Sora, aber er kommt morgen früh vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Und wenn er mich so sieht, dann …« Meine Mundwinkel zucken belustigt. »Was, dann? Versohlt er dir dann den Hintern oder petzt es Mama und Papa?« Ich grinse, doch Kari sieht mich mit einem so ernsten Blick an, dass ich schnell still bin. Sie findet die Vorstellung anscheinend gar nicht lustig. Wobei ich es wirklich gut finden würde, wenn jemand wie Tai mit auf sie aufpassen könnte. Kurz überlege ich, ihn anzurufen. »Nicht«, sagt Kari und legt schnell eine Hand auf meine, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Wenn Tai mich so sieht, rastet er aus, das weiß ich. Tu mir das nicht an, Mimi. Ich habe so schon genug Ärger.« In dem Moment, als sie das sagt, übergibt sie sich. Ich springe zur Seite und schnappe mir schnell ihre Haare, um sie zu halten. Hätte ich sie danach nicht aufrecht gehalten, wäre sie geradewegs mit ihrem Gesicht in ihr Erbrochenes gefallen. Verdammt, das waren definitiv mindestens 5 Bier zu viel. So kann ich sie unmöglich alleine lassen. Und so kann ich sie auch nicht nach Hause bringen. Allerdings traue ich mir auch nicht zu, sie mit zu mir zu nehmen. Außerdem ist meine Wohnung viel zu weit weg. Wie soll ich sie bis dahin schleppen? Ich bin ja selbst angetrunken. So ein verfluchter … Mir fällt mal wieder nur ein Ort ein, an dem ich sie definitiv hinbringen kann. Ich fummle in Karis Handtasche und reiche ihr ein Taschentuch, damit sie sich den Mund abwischen kann. Dann nehme ich ihr Handy und öffne den Chatverlauf mit Tai. Ich schreibe: »Übernachte bei einer Freundin. Bin morgen Nachmittag wieder zu Hause, falls du vorbei kommen willst. Bis dann.« Senden. Gut, das wäre erledigt. Jetzt muss ich sie nur noch irgendwie von hier weg kriegen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)