Mein Weg zu Dir von Khaleesi26 ================================================================================ Kapitel 29: Mimi ---------------- Ohne Tai an meiner Seite fühle ich mich einfach nur schrecklich. Am meisten schmerzt jedoch, dass es unsere Freundschaft so hart getroffen hat. Das, was ich nie wollte und vor dem ich immer Angst hatte. Es war auch das, was Tai am meisten gefürchtet hatte - dass wir unsere Freundschaft gefährden, wenn wir uns unsere Zuneigung gestehen. Aber nun ist es doch passiert. Nun hat diese kurze Liebe, die wir füreinander empfanden, doch letztendlich dazu geführt, dass wir unsere Freundschaft aufgeben. Das ist das Schlimmste daran. Tai fehlt mir auf so vielen verschiedenen Ebenen, dass es an körperlichen Schmerz grenzt. Wie oft nehme ich mein Telefon und will ihn anrufen, weil wieder irgendetwas passiert ist, was ich ihm unbedingt erzählen muss, halte mich aber im letzten Moment zurück. Dann weine ich - jedes Mal. Tai hat eine Leere in meinem Leben hinterlassen, von der ich nicht weiß, wie ich sie je wieder füllen soll. Hätten wir das alles verhindern können, wenn wir uns unsere Gefühle nicht gestanden hätten? Wären wir dann immer noch Freunde? Diese Frage quält mich am meisten. Haben wir irgendetwas falsch gemacht? Oder sollte es einfach so sein? Seit zwei Wochen vergrabe ich mich nun schon zu Hause und schirme mich völlig von der Außenwelt ab. Ich versank in einer Art Kurzzeit-Depression und durchlief zumindest die ersten beiden Phasen der Trauer - Verleugnung und Schmerz. Im Café habe ich mich krankgemeldet. Ich sagte ihnen, ich hätte einen Virus. Was ich wirklich habe, ist ein gebrochenes Herz. Nur kann ich diese Scharade nicht noch länger aufrecht erhalten. Mir ist sehr wohl bewusst, dass, je länger ich weglaufe, es umso schwieriger werden wird, in die Normalität zurückzufinden. Also ziehe ich mich heute das aller erste Mal wieder richtig an und gehe zur Arbeit. Ein Kollege ist krank geworden und sie fragten mich, ob ich gesund genug sei, um einspringen zu können. Und das tue ich gerade - ich gehe zur Arbeit und lebe mein stinknormales Leben, wie vorher auch. Nur ohne Tai. Vielleicht wird mich die Arbeit ja auch etwas von meinen Problemen ablenken. Die ersten Stunden verlaufen gut und ohne besondere Vorkommnisse. Ich bin wie immer freundlich, den Kunden gegenüber und erledige einfach meinen Job. Bis ich den Kopf hebe, nachdem ich gerade einen der Tische abgewischt habe, aus dem Fenster sehe und unfreiwillig in zwei vertraute Augenpaare schaue. »Oh, Mist«, entfährt es mir, ehe ich es verhindern kann. Tai, Sora und ich sehen uns an, als wären wir drei gerade unwissend auf einen fremden Planeten gelandet. Und irgendwie fühlt es sich auch so an. Sofort wirft Sora einen Blick zu Tai, der mich wie gebannt anstarrt, als wäre ich ein Geist. Ich kann es nicht fassen, dass er wirklich hier aufgetaucht ist - mit ihr! Er weiß doch ganz genau, dass ich hier arbeite. Was soll das? Ich warte gar nicht erst auf eine Reaktion der Beiden, sondern wende mich stattdessen schnell ab, gehe zurück hinter den Tresen und hoffe inständig, dass sie nicht auch noch auf die Idee kommen, ihren Kaffee hier zu trinken. Doch da habe ich mich natürlich zu früh gefreut, denn wenige Sekunden später betritt Tai den Laden - alleine. Abrupt schnappe ich mir erneut den Wischlappen und gehe schnurstracks zu irgendeinen Tisch. Es gibt gerade nichts sauber zu machen, aber das ist mir egal, ich wische trotzdem wie eine irre gleich über mehrere Tische, nur, um nicht mit ihm reden zu müssen. Allerdings fällt es mir schwer, seine Anwesenheit zu ignorieren. Tai verfolgt mich mit seinen Augen, was mir richtig unangenehm ist. Ich traue mich gar nicht, ihn anzusehen. Trotzdem geht er mir hinterher, als ich fertig bin und stellt sich vor den Tresen. »Hey«, sagt er etwas kleinlaut, doch ich ziehe nur eine Augenbraue in die Höhe, während ich versuche, keinen Blickkontakt aufzunehmen. Weder mit ihm, noch mit Sora, die immer noch wie ein Pudel vor der Scheibe steht und ihn bewacht. Als müsste sie aufpassen, dass er nicht gleich über mich herfällt. »Ich dachte, du wärst krank«, sagt Tai tonlos. Jetzt sehe ich doch zu ihm auf. Krank? Woher weiß er davon? Hat er sich nach mir erkundigt? Ich rümpfe die Nase. »Ist mein erster Tag heute, bin für einen Kollegen eingesprungen.« Mir entgeht nicht, wie Sora uns nervöse Blicke zuwirft, während sie eine Hand auf ihren Bauch legt. Mein Herz zieht sich schmerzvoll zusammen und ich schlucke hart. »Was kann ich dir bringen?«, frage ich nun ganz professionell. Ich will einfach nur, dass die beiden so schnell wie möglich wieder gehen. Tai bestellt zwei Kaffee, die ich in Windeseile fertig mache. »Hier, bitte schön.« Lustlos schiebe ich ihm die Becher über den Tresen. »Und das nächste Mal wäre ich dir dankbar, wenn du deinen Kaffee woanders holen würdest. Es sei denn, du willst mich quälen.« Unsere Blicke treffen aufeinander. Meiner: wütend. Seiner: irgendwas zwischen Verwunderung und Ratlosigkeit. Warum bin ich so sauer? Verleugnung und Schmerz kenne ich bereits. Die Wut ist neu. In dem Augenblick, als ich die Worte ausspreche, kommt Sora doch allen Ernstes durch die Eingangstür und direkt auf uns zu. Ich starre sie an. Die hat vielleicht Nerven. Ich muss mir ernsthaft auf die Zunge beißen, um nicht irgendeinen fiesen Kommentar loszuwerden. Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich Soras Meinung irgendwie verstehen kann, aber dass sie Tai mit dem Kind erpresst hat, war eine absolut linke Nummer. Und noch viel schlimmer ist, dass Tai sie mit hierher schleppt, als wären wir drei immer noch ganz normale Freunde. Was soll dieser Mist? »Bist du hier fertig?« Wie bitte? Darf ich jetzt noch nicht mal mehr mit Tai reden? »Wenn es dir nicht passt, mich zu sehen, dann komm doch nicht hier her«, werfe ich spitz ein und mache mir gar nicht erst die Mühe, meine Feindseligkeit zu unterdrücken. Unfassbar, dass wir mal Freunde waren. Aber das ist nun vorbei. Daher muss ich mir auch keine Mühe geben, nett zu ihr zu sein oder irgendetwas vorzuheucheln. Auch nicht, wenn ich hier gerade bei der Arbeit bin. Sora, die bis eben nur Tai angesehen hat, wendet nun den Kopf in meine Richtung und mustert mich mit argwöhnischem Blick. Ihre Augen verengen sich zu zwei schmalen Schlitzen. Sie öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch ich lasse sie gar nicht erst zu Wort kommen, sondern stütze mich stattdessen auf dem Tresen ab und lehne mich ihr entgegen. »Was bildest du dir eigentlich ein, Sora?«, fahre ich sie an, weil mich plötzlich die Wut packt. Ich wollte mich eigentlich aus dieser Sache raushalten, aber jetzt, wo sie so feindselig vor mir steht, kann ich meine Klappe nicht halten. »Wie kannst du es wagen, Tai mit so einer Forderung zu erpressen? Meinst du ernsthaft, du bekommst ihn dadurch zurück? Das ist doch unter deiner Würde.« Sora funkelt mich an, während sie meine Worte schluckt und ich ihrem Blick standhalte, auch wenn es mich alle Kraft kostet. »Ach, komm schon, Mimi«, erwidert sie nun leicht gönnerhaft. »Sei doch froh, dass ich euch beide von dieser Last erlöst habe. Du hast die einzig richtige Entscheidung getroffen. Du wärst sowieso nicht mit der Situation klargekommen, wenn das Baby erst mal auf der Welt ist. Früher oder später hättet ihr euch ohnehin deswegen getrennt.« Wieder landet ihre Hand auf ihrem Bauch, um ihre Behauptung zu untermauern. Ich presse die Zähne aufeinander und überlege kurz, ihr meinen Wischlappen ins Gesicht zu schleudern. Wie kann sie es wagen, sich jetzt auch noch so überheblich aufzuführen? Was ist denn nur in sie gefahren? »Ich hätte nicht gedacht, dass du so durchtrieben bist«, sage ich viel zu laut, während meine Muskeln sich anspannen. »Du bist ein richtiges …« »Na na na«, fährt Sora mir über den Mund und lässt ihren Blick hin und her schweifen. »Das solltest du lieber lassen. Es sei denn, du willst Mitarbeiterin des Monats werden.« Ich drehe den Kopf und bemerke, dass mehrere Kollegen uns bereits von der Seite mustern. »Ist mir egal«, zische ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich werde vor dir nicht …« »Okay, das reicht!«, mischt Tai sich nun ein und geht zwischen uns. Er sieht sauer aus. »Was, aber ich …«, setze ich erneut an, doch Tai fährt mir erneut über den Mund. »Ich habe gesagt, das reicht!« Ich werfe Tai einen giftigen Blick zu, doch dieser ignoriert mich inzwischen völlig. Stattdessen knallt er einfach das Geld auf den Tisch und sieht mich nicht einmal an. »Ihr seid hier fertig. Wir gehen!«, sagt er, packt Sora am Arm und zieht sie mit sich nach draußen. Ich starre ihm nach. Was soll das? Wieso bin ich jetzt die Blöde? Ich habe doch nur versucht, ihn zu verteidigen. Blanker Zorn packt mich. Ich lasse alles stehen und liegen und stürme ihm hinterher. »Hey«, rufe ich. »Können wir kurz reden?« Irritiert schauen die beiden sich um. Ich verschränke die Arme vor der Brust und sehe Tai erwartungsvoll an, damit er genau merkt, dass er gemeint ist, nicht sie. Sora stöhnt auf und hakt sich nun noch fester bei ihm unter. Doch zu meiner Überraschung schiebt er sie von sich. »Schon okay. Ich rede kurz mit ihr. Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.« Sie öffnet den Mund, um zu protestieren, schließt ihn dann jedoch wieder, als sie seinen eisigen Blick begegnet. »Was soll das, Tai?«, frage ich frei heraus, als Sora geht und ich sicher bin, dass sie uns nicht mehr hören kann. »Wieso tauchst du einfach hier auf? War dir nicht klar, dass das eskalieren würde?« Nun wird sein Blick etwas sanfter. »Ich bin nur hergekommen, um zu sehen, ob du wieder arbeitest. Ich war in den letzten Tagen immer mal wieder hier und sie sagten mir, dass du krank wärst.« Ich schnaube verächtlich. »Ach, und da konntest du nicht einfach durch die Scheibe schauen und wieder gehen?« »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.« »Und Sora? Hat sie sich auch Sorgen um mich gemacht, oder warum bringst du sie mit?« Ein frustriertes, tiefes Stöhnen verlässt seine Kehle und er fährt sich gestresst durch die Haare. Was? Ist er etwa genervt, weil ich ihm gerade eine Szene mache? »Ich wollte sie doch gar nicht mitbringen«, sagt er aufgebracht. »Wir haben uns zufällig auf der Straße getroffen und sie meinte, wir müssten noch einiges besprechen. Dann ist sie mir einfach gefolgt. Ich habe sie nicht darum gebeten, mitzukommen. Man, Mimi, das ist doch gerade völlig egal.« Ich beiße mir so schmerzvoll auf die Unterlippe, dass es weh tut, während ich ihn einfach nur ansehe. Er sieht immer noch genauso verzweifelt aus wie vor zwei Wochen, als wir uns getrennt haben. Es tut mir weh, ihn so zu sehen und am liebsten würde ich einknicken und alles zurücknehmen, was ich zu ihm gesagt habe. Aber das darf ich nicht. Soras Reaktion eben hat mir eindeutig gezeigt, dass es immer noch die beste Entscheidung war, die ich für uns treffen konnte. Wir drei und ein Baby? Das wäre niemals gut gegangen. »Du fehlst mir, Mimi«, höre ich Tai plötzlich leise sagen. Er hebt den Kopf und sieht mich an, will einige Schritte auf mich zugehen, um … was? Mich in den Arm zu nehmen? Mich zu küssen? In der Hoffnung, alle Probleme würden sich dadurch lösen? Ich weiche vor ihm zurück und er hält sofort inne. »Nicht, Tai«, sage ich bittend. »Mach es uns nicht so schwer.« Mutlos lässt Tai die Schultern sinken. Seine Hände ballen sich zu Fäusten und er wendet sich von mir ab. »Wie du willst«, sagt er mit einer Mischung aus Verbitterung und Zorn. Als er anschließend geht, ohne sich zu verabschieden, seufze ich schwer. Er hat unsere Trennung immer noch nicht akzeptiert. Ich würde gerne sagen, dass es mir anders geht und ich besser damit fertig werde als er, aber das wäre gelogen. Die Wahrheit ist, dass es uns beide innerlich schmerzt, uns voneinander fernzuhalten. Sonst wäre er heute wohl kaum hier aufgekreuzt. Er hat es nicht mehr ausgehalten, mich nicht zu sehen. Und um ehrlich zu sein, bin ich dankbar dafür. Allein sein Gesicht zu sehen und seine Stimme zu hören, egal wie verzweifelt oder wütend sie klingt, fühlt sich erleichternd an. Es ist zwar nur wie ein Tropfen auf einem heißen Stein, aber wenn das alles ist, was wir in Zukunft voneinander haben werden - flüchtige, rein zufällige Treffen - dann nehme ich auch das. Und früher oder später werden wir uns an die Distanz gewöhnen. Hoffe ich zumindest. Den Rest des Tages kann ich mich kaum noch konzentrieren. Mir unterlaufen so viele Fehler wie lange schon nicht mehr. Man könnte denken, ich wäre eine blutige Anfängerin, so oft, wie ich heute den Kaffee verschüttet, Salz statt Zucker genommen oder das falsche Getränk ausgeteilt habe. Meine Kollegen wollten mich schon nach Hause schicken, weil ich nach Tais plötzlichem Auftauchen einfach nicht mehr ich selbst war und ihnen nicht entgangen ist, dass ich neben mir stehe. Aber das wollte ich nicht. Zu Hause hätte ich nur wieder angefangen zu weinen und die Arbeit ist das Einzige, was mich noch aufrecht hält und mich ablenkt. Ich bringe die Schicht hinter mich, so gut es geht und verlasse sogar als Letzte das Café. Als ich hinter mir abschließe und den Reißverschluss meiner Jacke hochziehe, klingelt mein Handy. Ich krame es aus meiner Tasche und verfalle in eine Art Schockstarre, als ich die Nummer des Krankenhauses aufleuchten sehe. Erschrocken hebe ich ab. »Hallo? Mimi Tachikawa hier. Was ist passiert?« Ich ahne bereits, worum es geht, hoffe jedoch, dass ich Unrecht habe. Bis die Frau am Telefon mir das Gegenteil erzählt: »Hallo, gut, dass wir Sie erreichen. Ihr Vater wurde vor ca. Zehn Minuten hier eingeliefert. Sie sind seine Tochter, richtig? Sie sind bei uns als Notfallkontaktperson hinterlegt.« »Ich komme sofort«, entgegne ich schnell und lege auf, ohne sie ausreden zu lassen, denn ich weiß genau, was passiert ist … sie muss es mir nicht sagen. Ich weiß, dass es um diese Uhrzeit schwer sein wird, ein Taxi zu bekommen und mit der U-Bahn dauert es zu lange. Also tue ich rein instinktiv das, was ich immer tue … ich wähle Tai's Nummer. Mit klopfendem Herzen hebe ich das Handy an mein Ohr, fahre jedoch erschrocken zusammen, als mir mit einem Mal unsere Unterhaltung von vorhin wieder einfällt. Sofort lege ich auf. Scheiße. Vor lauter Sorge um meinen Dad, hätte ich fast vergessen, dass Tai nun nicht mehr zu meinem Leben zählt. Mein ohnehin blutendes Herz schmerzt noch mehr, weil ich nicht gedacht habe, dass es so schnell zu einer Situation kommt, in der ich Tai so sehr brauchen würde. »Verdammt noch mal«, fluche ich schwer atmend. Mir bleibt die Luft weg. Was soll ich tun? Was soll ich tun? Was soll ich tun? Mir schießt eine Erinnerung durch den Kopf und kurzerhand folge ich dem zweiten Instinkt, der mich durchfährt. Ich rufe Matt an. Wieder einmal dauert es nicht lange, bis er abhebt. Hängt dieser Typ denn permanent nur am Handy? »Ja?« Er klingt müde, als hätte er schon geschlafen. »Was gibt's denn Mimi? Weißt du, wie spät es ist?« »Matt«, japse ich. Ich höre mich an, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. »Ich brauche deine Hilfe.« »Wo bist du? Was ist passiert?« Mit einem Mal klingt er hellwach. »Ich stehe vor dem Café. Kannst du mich ins Krankenhaus fahren? Jetzt? Es geht um meinen Vater.« »Bin schon auf dem Weg.« Er legt auf. Ich versuche mich zu beruhigen, indem ich auf der Straße auf und ab gehe, doch es will mir nicht so richtig gelingen. Inzwischen hat es angefangen zu regnen, aber das ist mir egal. Ich spüre die Kälte gar nicht, die bereits durch meine Jacke dringt und mich durchnässt. Tausend Emotionen strömen auf mich ein. Enttäuschung, weil er es wieder getan hat. Weil er wieder getrunken hat. Angst, ihn diesmal wirklich zu verlieren. Wut, weil er zu weit gegangen ist. Gewissensbisse, weil ich in letzter Zeit zu sehr mit mir selbst beschäftigt war, obwohl ich mich hätte mehr um ihn kümmern sollen. Während ich mir den Kopf raufe und versuche, diese armseligen Gedanken loszuwerden, hält ein Motorrad neben mir und Matt klappt das Visier hoch. Es hat keine zehn Minuten gedauert. »Hier, spring auf«, sagt er und hält mir einen Helm hin. Ich zögere keine Sekunde, setze ihn mir auf und schwinge mich hinter ihn. Ich muss alle Kraft aufwenden, um mich bei ihm festzuhalten, während er fährt, denn seine Lederjacke ist ebenfalls nass vom Regen und meine Finger glitschen ständig weg. Kurze Zeit und ein paar rote Ampeln später kommen wir im Krankenhaus an. Ich warte gar nicht erst, bis Matt einen Parkplatz gefunden hat, sondern springe sofort ab und laufe ins Gebäude. Die Schwester am Empfang sagt mir, dass mein Vater gerade noch operiert wird. Er wäre wohl volltrunken aus einer Bar gestolpert und vor ein Auto gelaufen. Gott! WAS? Mit klopfendem Herzen renne ich auf die Station, um vor dem OP Saal zu warten, bis er raus kommt. Doch als ich durch die Tür stürme, komme ich abrupt zum Stehen. Matt, der gerade noch rechtzeitig aufgetaucht ist, um mir zu folgen, stößt unsanft gegen mich, weil er nicht schnell genug abbremsen kann. Ich starre geradeaus, meiner Mutter direkt ins Gesicht. Was macht sie hier? »Du«, fauche ich und setze mich wieder in Bewegung, um schnellen Schrittes auf sie zu zu marschieren. Instinktiv weicht sie einen Schritt vor mir zurück, als wäre ich völlig irre geworden. Denkt sie ernsthaft, ich würde auf sie losgehen? »Was machst du hier?« »Sie … sie haben mich angerufen«, antwortet sie irritiert, als läge das nicht auf der Hand. Dann mustert sie mich. »Mimi, meine Güte. Was ist denn mit dir passiert? Du bist ja völlig durchnässt.« Erst jetzt bemerke auch ich, wie Regentropfen von meinen klitschnassen Haaren auf den Boden tropfen und meine Klamotten wie eine zweite, eiskalte Haut an mir kleben. Ich beginne zu zittern. Nicht vor Kälte, sondern vor Wut. »Beantworte meine Frage! Was machst du hier? Warst du mit ihm zusammen?« »Was?« Meine Mutter runzelt die Stirn. »Mit deinem Vater? Heute Abend? Nein, auf keinen Fall. Sie haben mich nur angerufen, weil ich immer noch als seine Ehefrau im System gespeichert war. Das ist alles.« Natürlich. Und das soll ich dir glauben? »Warum ist er hier? Was machen sie mit ihm? Wie geht es ihm? Ist er schwer verletzt? Wie konnte das nur passieren?« Die Fragen sprudeln nur so aus mir heraus. »Mal langsam, sie operieren ihn gerade. Er ist angeblich sturzbetrunken vor ein Auto gelaufen und hat sich den Arm unglücklich gebrochen. Sie versuchen gerade, das wieder in Ordnung zu bringen. Nichts Ernstes also, er wird wieder ganz gesund werden.« Ganz gesund? Von dem Wort »gesund« ist mein Dad offensichtlich meilenweit entfernt. Er hatte einen Rückfall. Es ist eine Frage der Zeit, bis etwas Schlimmeres passiert als das. Allerdings weiß ich, dass er sich die letzten Wochen über wirklich zusammengerissen und sogar eine ambulante Therapie begonnen hat. Aber anscheinend hat das alles nichts genutzt. »Ich verstehe es nicht«, sage ich verzweifelt und fahre mir durch die nassen Haare. Nun spüre ich, wie Matt von hinten eine Hand auf meine Schulter legt, um mir zu signalisieren, dass er da ist. Immerhin ein kleiner Trost. »Wieso hat er das gemacht? Ich dachte, es geht ihm besser.« Nun senkt meine Mutter gequält den Blick. Ich hebe den Kopf. Das kann nur eins bedeuten. Wissend und mit einem unguten Gefühl im Magen sehe ich sie an. »Mom«, sage ich mit fester Stimme. Sie reagiert nicht. »Mom!« »Schon gut«, fährt sie herum und schaut mich nun mitleidig an, ehe sie die Schultern hebt. »Vermutlich ist er durchgedreht, weil heute unsere Ehe offiziell geschieden wurde. Ab heute sind wir nicht mehr verheiratet.« Mir entgleiten sämtliche Gesichtszüge. Schockiert starre ich sie an. »Und ihr haltet es beide nicht für nötig, mich darüber in Kenntnis zu setzen? Verdammt, Mom«, schreie ich sie nun an, weil ich so unfassbar wütend bin. »Hätte ich das gewusst, wäre ich doch heute nicht zur Arbeit gegangen. Ich wäre für ihn da gewesen und hätte den ganzen Tag auf ihn aufgepasst.« Die Mundwinkel meiner Mutter zucken und eine ihrer Augenbrauen hebt sich wie zum Scherz. »Was denn? Wie auf einen Hund?« Ich presse die Kiefer aufeinander. Macht sie sich über mich lustig? »Mimi, du hast immer noch nicht verstanden, dass dein Vater allein dafür verantwortlich ist, was mit ihm geschieht. Du bist das Kind und er ist der Erwachsene, nicht umgekehrt. Es ist nicht deine Aufgabe, dich um ihn zu kümmern.« »Ach, aber einer muss es ja tun, nachdem du dich verpisst hast.« Ich schleudere ihr die Worte voller Hass entgegen, weil ich es in dem Moment wirklich tue. Ich hasse sie für das, was sie Dad angetan hat. »Mimi«, dringt Matts leise Stimme von hinten an mein Ohr. »Lass gut sein, ja?« Unsanft wische ich seine Hand von meiner Schulter. »Nein, du verstehst das nicht, Matt.« »Oh doch, ich verstehe das sehr gut«, erwidert er. »Und ich weiß genau, wie du dich fühlst und dass das hier nichts bringen wird. Diese Schuldzuweisungen führen doch nirgendwohin.« »Was mischst du dich denn da ein? Was machst du überhaupt hier?«, fällt meine Mutter ihm ins Wort. »Ich kann nicht fassen, dass du ihn mit hierhergebracht hast, Mimi«, nuschelt meine Mutter, als würde Matt nicht genau neben mir stehen und alles hören. »Sag bitte nicht, dass ihr zusammen seid. Das geht nicht, er ist …« »Ach, sei doch ruhig«, fahre ich ihr über den Mund. Ich war schon oft sauer auf meine Mutter, aber das heute, toppt wirklich alles. »Er ist wenigstens für mich da, wenn ich ihn brauche. Nicht so, wie du oder Dad.« »Mimi«, entgegnet Mom empört, als ich Matt am Arm packe und wir uns zum Gehen umdrehen. »Mimi, bleib stehen. Wie kannst du so was nur sagen? Wir sind eine Familie.« Ich sehe über die Schulter und werfe ihr einen giftigen Blick zu. »Ich habe keine Familie mehr.« Dann ziehe ich Matt mit mir und lasse meine Mutter stehen. Ich bin sicher, sie wird noch da sein, wenn mein Dad aus dem OP kommt. Ich gebe am Empfang Bescheid, dass sie mich telefonisch informieren sollen, sobald es Komplikationen gibt, ich aber jetzt leider weg muss. Wutentbrannt stürme ich aus dem Krankenhaus. Es hat aufgehört zu regnen, aber es ist immer noch kalt. Auf dem Boden liegt eine alte Cola Dose. Ich hole aus und kicke sie weg, während ich »Ach, scheiße« schreie. Ein paar Leute schauen mich irritiert an, doch ich habe nur verächtliche Blicke für sie übrig. Sie haben keine Ahnung, was ich gerade durchgemacht habe. »Komm mit!« Plötzlich packt Matt mich unsanft am Arm und schleift mich auf den Parkplatz des Krankenhauses. »Hey, was soll das?«, beschwere ich mich, doch da bleibt er auch schon vor seinem Motorrad stehen und drückt mir seinen Helm in die Hand. »Setz den auf.« Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Dieser Befehlston kommt gerade gar nicht gut an. »Schlechter Zeitpunkt, Matt«, sage ich, doch er fällt mir ins Wort. »Ich habe gesagt, setz den auf. Und dann komm. Ich bring dich von hier weg.« Okay, das ist definitiv ein gutes Angebot. Keine Sekunde länger will ich hier sein, sonst besteht womöglich noch die Gefahr, dass ich wieder reingehe und meiner Mutter all die fiesen Gedanken entgegen schleudere, die mir gerade durch den Kopf gehen. Wortlos fahren wir durch die Nacht. Der kühle Wind brennt wie tausend Nadelstiche auf meiner immer noch nassen Haut und als wir zu Hause ankommen, bin ich komplett durchgefroren. Meine Glieder schmerzen, als ich absteige und mich verwundert umsehe. »Das … das ist nicht mein zu Hause. Wir sind …« »Bei mir. Richtig«, beendet Matt meinen Satz und stellt das Motorrad ab. Ich zittere am ganzen Körper und reibe mir mit den Händen über beide Arme, was natürlich rein gar nichts bringt. »Matt, ich kann nicht mit zu dir. Auf keinen Fall, das geht nicht«, protestiere ich mit klappernden Zähnen. Gott, ist mir kalt. »Und ich kann dich nicht alleine lassen. Nicht jetzt«, erwidert Matt, kommt einen Schritt auf mich zu und greift nach meinem Arm. »Du musst dir keine Sorgen machen«, flüstert er. »Tai ist nicht da.« Ich atme bebend aus. Dann nicke ich. Wir gehen nach oben und steuern beide direkt das Badezimmer an. Matt fragt gar nicht erst, sondern lässt sofort heißes Wasser in die Badewanne, bevor er mir ein großes Handtuch und was zum Anziehen bringt. Verwirrt stehe ich da und sehe ihm dabei zu, während das heiße Bad immer verlockender aussieht. »Willst du nicht zuerst? Du bist schließlich auch nass«, frage ich ihn höflich und wende den Blick ab, als er mit der Hand die Wassertemperatur prüft. »Ich kann warten.« Er kommt auf mich zu und reibt mir beruhigend über die Arme. »Wärm dich erst mal ein wenig auf.« Ich nicke dankend und er lässt mich alleine. Das warme Wasser tut gut und bringt das Leben in meine gefrorenen Glieder zurück. Allmählich entspanne ich mich, was nicht heißt, dass ich nicht ununterbrochen an Mom und Dad denken muss. Irgendwie fühle ich mich schlecht, trotz allem. Ich hätte das nicht zu ihr sagen dürfen. Wieder einmal habe ich viel zu kindisch und impulsiv reagiert. Ein häufiges Problem von mir, doch im Nachhinein tut es mir immer leid. Ich komme mir wie der dümmste Mensch auf der Welt vor. Ich bin schließlich kein kleines Kind mehr und sollte besser mit all den Problemen umgehen, die meine Familie betreffen. Aber die Wahrheit ist, dass es mich allmählich auffrisst. Es saugt mir die Lebensenergie aus und das seit Jahren. Ich dachte ernsthaft, jetzt, wo Dad die Therapie begonnen hat, würde es endlich bergauf gehen - tut es aber nicht. Es geht nur noch weiter bergab, steil und geradewegs in den Abgrund. Die Frage ist nur, wer von uns als erstes unten aufschlägt. Nach dem Bad ziehe ich mir Matts Sachen an, die er mir gebracht hat. Sein großes Shirt reicht mir zum Glück bis unter den Po und als ich es anziehe, wird mir bewusst, dass wir gar nicht darüber gesprochen haben, ob ich heute hier schlafen soll. Aber anscheinend geht Matt davon aus und ehrlich gesagt, ist es mehr als okay für mich. Ich möchte heute Nacht nicht alleine sein. Als ich das Bad verlasse, geht Matt hinein, um sich ebenfalls die Kälte abzuwaschen und sich aufzuwärmen. Das Wohnzimmer ist dunkel und die Macht der Gewohnheit führt mich direkt zu Tais Zimmer. Fast schrecke ich auf, als ich plötzlich davor stehe und mir wieder einfällt, dass es nur ein paar Stunden her ist, dass wir uns wie Fremde gegenüberstanden. Wo er jetzt wohl gerade ist? Ich will es gar nicht wissen. Der Schmerz durchfährt mich so schnell und unerwartet, dass ich mich am Türrahmen festhalten muss, um nicht zusammen zu brechen. Tais Zimmer ist verlassen, kalt und dunkel. Ein Spiegel meiner Seele. Ich bin traurig, dass er nicht da ist. Nichts würde ich lieber tun, als mich jetzt in seine Arme zu werfen, zu weinen und mich von ihm trösten zu lassen. Mit Tai an meiner Seite hatte ich immer das Gefühl, dass alles irgendwann gut werden wird. Er hat mir immer Trost gespendet, war für mich da, hat mich aufgefangen, wenn ich gefallen bin. Jetzt gehört das alles der Vergangenheit an. Tai hat eine weitere Lücke in meinem Leben hinterlassen und ich weiß nicht, wie ich sie je wieder füllen soll. Während ich da so stehe, wie betäubt, merke ich gar nicht, wie Matt aus dem Bad kommt. »Mimi?« Ich fahre herum. »Oh, tut mir leid. Ich habe dich gar nicht bemerkt«, sage ich und wische mir eilig eine aufkommende Träne aus dem Augenwinkel. »Ich würde gerne auf dem Sofa schlafen … wenn das für dich okay ist.« Erst jetzt bemerke ich, dass er nur eine Jogginghose trägt, oberkörperfrei und mit nassen Haaren vor mir steht. Verdammt, sieh woanders hin, Mimi. Doch da springt mir sein neues Tattoo ins Auge. Auf der linken Brust. Es zieht sich quer über sein Schlüsselbein und endet an seiner Schulter. Eine große, schwarze Feder, aus der sich mehrere schwarze Raben lösen und davonfliegen. Was hat es wohl zu bedeuten? Freiheit? Dunkelheit? Einsamkeit? Ich räuspere mich, weil mir die Situation unangenehm ist, als er auf mich zu kommt und dicht vor mir stehen bleibt. »Nein, ist es nicht.« »Was?« Verdutzt sehe ich zu ihm auf, doch da nimmt er mich auch schon bei der Hand und führt mich in sein Schlafzimmer. Verwirrt bleibe ich mitten im Raum stehen, wie ein kleines Schulkind, das am Bahnhof nicht weiß, in welchen Zug es steigen soll. Man … ich war noch nie in seinem Zimmer. Das sind Matt’s persönliche vier Wände und dass er mich hierher mitgenommen hat, hat irgendwie was Intimes. »Komm her«, fordert Matt mich auf und schlägt die Bettdecke für mich zurück. Völlig überfordert mit der Situation starre ich ihn an. Dann grinst er. »Du musst nicht wie eine Statue da stehen, Mimi. Ich schlafe auf dem Fußboden. Ich möchte nur, dass du dich etwas ausruhst. Und ich dachte, es wäre dir lieber, wenn Tai und du morgen früh nicht aufeinander treffen, wenn er nach Hause kommt und du im Wohnzimmer auf dem Sofa liegst.« Ich schlucke schwer. Gutes Argument. Wortlos komme ich seiner Einladung nach und lege mich in sein Bett, was erstaunlich bequem ist. Ich kuschle mich in eines seiner Kissen und atme den Duft ein. Es riecht nach ihm und ich muss gestehen … es gefällt mir. Gerade, als Matt einige Kissen auf den Fußboden wirft und es sich bequem machen will, greife ich nach seinem Handgelenk. Fragend sieht er zu mir hinab, während ich nicht einmal weiß, was ich hier tue. Ich weiß nur eins: ich will und kann jetzt nicht allein sein. »Kannst du … ich meine, k-kannst du vielleicht …«, stottere ich herum, als er auch schon lächelt. »Klar.« Ich rutsche ein Stück zur Seite und er kriecht unter meine Bettdecke. Dann hebt er den Arm, so dass ich mich an ihn kuscheln kann. Erleichtert atme ich aus. Er ist so warm und es fühlt sich gut an, von ihm gehalten zu werden. »Tut mir leid«, wispere ich nach einer Weile in die Dunkelheit. »Was denn?«, fragt Matt mit müder Stimme. Wahrscheinlich schläft er schon fast. »Dass ich dir zur Last falle, jetzt, wo Tai nicht mehr für mich da sein kann.« Seine Brust bebt vor Lachen, doch dann seufzt er. »Tust du nicht. Bist nicht die schlechteste Gesellschaft.« Schnaubend grinse ich und lege eine Hand auf seine Brust. »Du auch nicht.« Dann, urplötzlich, übermannt es mich und die Tränen beginnen unaufhaltsam zu fließen. Jeder einzelne, schlimme Moment des Tages flutet meine Gedanken und lässt mein Herz bluten. Ich fühle mich ohnmächtig, hilflos dieser Situation ausgeliefert. Tai ist weg und ich kann nichts dagegen machen. Meine Mom sieht nicht, wer oder was ich wirklich bin und ich kann nichts dagegen machen. Meine Eltern haben sich scheiden lassen und ich kann nichts dagegen machen. Mein Dad liegt im Krankenhaus und ich kann nichts dagegen machen. Ich bin machtlos. Ich habe das Gefühl, dass es nichts mehr auf der Welt gibt, was ich überhaupt noch beeinflussen kann und dieses Gefühl zerreißt mich. Matt sagt keinen Ton, während ich an seiner Brust schluchze. Er hält mich einfach nur fest und streicht ab und zu behutsam über mein Haar. Ich wünschte, ich könnte damit aufhören, zu weinen. Aber ich kann es nicht. Ich liege in Matts Armen und die Tränen wollen nicht aufhören, zu fließen. Auch, wenn ich gerade nicht allein bin, worüber ich sehr dankbar bin, habe ich mich noch nie so einsam gefühlt wie jetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)