Rot wie das Leben von Coronet (Eine Tragödie in fünf Akten) ================================================================================ Kapitel 5: Mit zerrissenem Herzen --------------------------------- 「Please forgive me • And face the stars • This is goodbye」 「This darkness I become • Here I'm the only one」 「This darkness I become」 Underwater – Altamullan Road   ***   »Was? Nein! Ich will nicht, dass du stirbst ... Ich will nicht alleine überleben!« Clove ringt mit der Wirklichkeit – »Das machen wir nicht!« Sie fleht, jeglichen Stolzes beraubt – »Bitte nicht ... nicht so!« Zu spät begreift sie: Das hier sind nie ihre Hungerspiele gewesen. Oder Catos. Es sind die Spiele des Kapitols. Ihre Spiele, ihre Regeln. Und sie war so dumm, zu hoffen. Zu glauben. Sie starrt Cato an. Nur eine Armlänge trennt sie, aber es könnten genauso gut Welten sein. In seinen Augen spiegelt sich der Kampf, der auch in ihr tobt. Die Sehnsucht, zu gewinnen. Die Realisierung, dass es nur über ihre – oder seine? – Leiche geschehen wird. Und die Unsicherheit, welcher Stimme in seinem Kopf er Gehör schenken wird. »Clove ...« Die Worte versagen ihm. »Ich – Ist das ein Witz?« Sie sehen beide gen Himmel, doch vom Tageslicht oder Feuerwerk keine Spur. Es bleibt tiefste Nacht und jenseits der prasselnden Flammen lauern die Wolfsmutationen. Kein Scherz. Keine Verkündung der Sieger. »Verfickt, ich hab ihr nicht aus Langeweile das Leben gerettet!« Cato sieht unverändert gen Himmel, doch sein Gesicht verfärbt sich dunkelrot vor Wut. »Hättet ihr das nicht eher ankündigen können, als die Zwölfer noch da waren? Die hätten eine tolle Show geliefert! Aber wir haben nur getan, was ihr wolltet! Warum bestraft ihr uns jetzt dafür?« Er muss sterben. Er muss einfach. Das weiß Clove seit Beginn an. Unerbittlich hämmert dieser Gedanke durch ihren Kopf. Naiv, so naiv. Sie will Cato nicht überleben, wollte es nie. Und sie kann nicht an ihm zu Grunde gehen. Nicht jetzt, wo das Ziel zum Greifen nahe ist. Das ist erst recht nicht der Tod, den sie sich vorgestellt hat! Ihn zu töten wird nichts Besonderes sein, spricht sie sich Mut zu. Inzwischen hat sie es oft genug getan. Der Hochverrat, die Namenlosen, Loverboy. Alles ihr Werk, alles bedeutungslos. Das zwischen ihr und Cato bedeutet genauso wenig. Das war Sex; Vergnügen und Ablenkung zugleich. Keine Liebe. Sie sind hier nicht das tragische Liebespaar! Trotzdem ... es sollte nie durch ihre Hand geschehen! Sie wollte die Augen schließen, wenn es so weit wäre, aber außer durch Ignoranz nie den Todesstoß ausführen. Das ist schließlich eine ungeschriebene Regel! Nur nicht für das Kapitol. Cato bekommt keine Antwort von Claudius Templesmith – natürlich nicht – und so senkt er den Blick, bis er wieder auf Clove ruht. Er presst die Lippen genauso fest aufeinander wie die Fünferin. Schiebt den Kiefer vor und letztlich kommt ein einziges »Fuck!« aus seinem Mund. Clove fühlt nichts. Weder den Pfeil in ihrer linken Hand noch die Tränen auf ihren Wangen. In ihrer Brust klafft ein Loch, das alles in sich aufsaugt. Ein letztes Mal überleben, um zu leben. Ihre Fingerspitzen finden den Griff ihres Lieblingsmessers, das als Einziges noch verblieben ist. Glatt und perfekt. Genauso wie sie es sein wird, wenn sie dem Kapitol gezeigt hat, dass sie würdig ist, aus dem Staub ihrer Heimat emporzusteigen. Sie muss Cato am Hals treffen, an dem winzigen, ungeschützten Streifen Haut. Das ist ihre einzige Chance. Alles andere ... bringt sie nicht über sich. Sie kann die Klinge nicht durch sein Auge treiben oder in seinen Rachen bohren. Das hat er nicht verdient. Wenn nicht die Rüstung wäre – dann bräuchte sie gar nicht lange darüber nachdenken. Ihr Messer würde den Weg zu seinem Herzen finden ... Kaum zu glauben, dass sie sich nur Stunden zuvor über dieses Sponsorengeschenk gefreut hat. Ob das alles Absicht ist? Wollen die Spielmacher bloß, dass sie sich mit diesem Hindernis zusätzlich quälen? Dass es länger dauert, spannender wird ... Unweigerlich stellt Clove sich vor, wie die Zuschauer allen Orts aufgeregt die Luft anhalten, zu Statuen gefroren. Genau wie sie gerade. Noch immer hat sie sich keinen Zentimeter bewegt. Bloß die Finger sind um den Messergriff geschlungen, sodass ihre Knöchel weiß hervortreten. Wenn es ein Drehbuch gäbe – hätte sie es nicht so hineingeschrieben? Ist es nicht perfekte Ironie, ein meisterhaftes Finale? Sicher werden die Spiele in Panems Annalen eingehen. Doch Clove hat sich verschätzt. Sie wusste nicht, wie sehr es schmerzen würde, Fußabdrücke in der Historie zu hinterlassen. Jetzt ist es zu spät, Teil einer anderen Geschichte werden zu wollen. Das hier ist die letzte Seite des Dramas, das Ende längst von der Feder des Kapitols bestimmt. Sie hat es nur nicht gemerkt. Hat gedacht, sie schreibt ihre Befreiung, nicht ihren Untergang. Sie hält das Messer mit der gesunden Hand vor ihre Brust, während Cato noch immer keine Anstalten unternimmt, sein Schwert zu heben. »Was ... was tun wir jetzt?« Die Frage ist überflüssig, doch er ergreift den Strohhalm dankbar, um das Unvermeidbare noch länger hinauszuzögern. »Möge der Bessere gewinnen. Wir wollen die Zuschauer ja nicht enttäuschen, nicht wahr? Wir müssen ihnen einen würdigen Kampf bieten, das wollen die sehen. Richtig?« Er lacht freudlos auf. »Das Highlight, das Ende des Bündnisses, der letzte Kampf auf Augenhöhe.« Ein Laut wie eine getretene Katze entweicht Cloves Kehle. In den vergangenen Wochen hat sie von diesem Moment geträumt, immer gehofft, dass es mit solch einem Kampf endet. Mal war es Marvel, dann wieder Glimmer und in den letzten Tagen sogar Zwölf, die ihr gegenüberstanden. Genau das, worauf sie in der Akademie alle hoffen, wenn sie sich für die Spiele melden. Bloß kein Finale, in das irgendein Randdistriktler nur durch Glück – oder schlimmer: Zufall – gestolpert ist. Doch Cato war nur einmal ihr Gegner, als das Jägerwespengift durch ihr Blut rauschte. Und selbst in dieser Halluzination konnte er sie nicht töten. Oder sie ihn. Ein Schlag auf das Dach des Füllhorns reißt sie aus ihren Erinnerungen. Cato starrt wieder hinauf zum falschen Firmament, seine flachen Hände gegen das goldene Metall gepresst. »Noch mehr Blut, das wollt ihr doch von uns! Es reicht euch noch nicht, es reicht euch nie! Nach allem, was wir für euch getan haben!« Clove schluckt Scherben. Anders kann sie sich den Schmerz nicht erklären. Cato ist nicht ihr Feind. Egal wie sehr sie sich anstrengt, sie sieht in dem Jungen mit dem blonden Haar und blauen Augen nur jemanden, dessen Nähe ihr gefällt. Mit dem sie gelacht und es wirklich so gemeint hat. Sie liebt ihn nicht. Noch nicht. Und jetzt wird sie diese Chance nie mehr bekommen. Catos Brust hebt und senkt sich hektisch von seinen Schreien. Die Wut auf das Kapitol raubt ihm den Atem, doch die Stille fürchtet Clove erst recht. In ihr kommt das Ende mit großen Schritten näher. Vom Himmel wandert Catos Blick zu dem erhobenen Messer in Cloves Hand. Und ab da geht es ganz schnell. Er stürzt sich auf sie – ohne Schwert. Mit seinem schieren Gewicht begräbt er sie unter sich, drückt sie gegen das von den Flammen erhitzte Füllhorn. Seine bloßen Hände schließen sich um ihren Hals, drängen sich durch das kalte Metallgewebe. »Du hast nur auf diesen Moment gewartet, gib’s zu!« Sein Knie drückt ihren linken Arm nach unten. Es knackt, als der Pfeil bricht und Clove schreit. Schwarze Punkte tanzen vor ihren Augen, verwischen das Bild Catos. Da ist nur noch ihr Mörder. »Ich will nur leben, wie du!« Sie reißt das Knie hoch, trifft ihn genau dort, wo es wehtut. Vermaledeite Rüstung hin oder her, ein Tritt in die Weichteile funktioniert immer. Cato keucht auf, seine Aufmerksamkeit flackert eine Sekunde. Genug, damit Clove ihre Finger unter seine graben und sich seitwärts aus seinem Griff rollen kann. Der gebrochene Pfeilschaft in ihrer linken Hand stört, also reißt sie ihn heraus. Ihr Blut sprenkelt das Füllhorn. Aber das ist egal, genauso wie der Schmerz. Gleich wird es vorbei sein und dann spielt die Wunde keine Rolle mehr. Das Messer in beiden Händen stürzt sie sich auf Cato. Nur, dass dieser die Taktik bereits kennt. Er tut, was er jedes Mal getan hat. Versucht, ihre Arme abzublocken, nach ihren Haaren zu greifen. Wie immer gelingt es ihm. Wie immer entwindet Clove sich in letzter Sekunde dem Griff und kommt auf seinem Bauch zu sitzen. Doch nie zuvor hat sie mit dem Messer auf seinen Hals gezielt. Hat nie zugedrückt und es gemeint. Ebenso wenig wie er wieder nach ihrem Haar gegriffen hat und so ruckartig daran gezogen hat, dass die Halswirbel knacken. »Du verarschst mich doch, seit wir hier angekommen sind! Hältst du mich für so einfältig?« Seine Worte beschwören all das an ihm herauf, was sie schon immer gehasst hat. Bringen alles zurück, was die letzten Wochen verwischt haben. »Du bist es doch, der nicht einmal in Frage stellt, dass man dir natürlich verfällt! Der bei jeder Bewegung seine beschissenen Muskeln präsentiert und sich für ach so unwiderstehlich hält! Tu nicht so, als wenn du nicht wolltest, dass ich dich begehre! Konntest dir nicht vorstellen, dass ich alleine Spaß habe, was?« Er zerrt immer noch an ihren Haaren, biegt ihren Hals weiter zurück, doch ihr Messer findet den Weg unter den Kragen seiner Rüstung. Der Stahl pocht, so nah ist er Catos Halsschlagader. Ein Knurren wie von den Wolfsmutationen entweicht ihm und er drückt ihre Hand fort, biegt ihren Arm, bis sie das Messer loslassen muss. Es fällt klappernd die Seite des Füllhorns hinab. Sie landet wieder mit dem Rücken auf dem Metall und dieses Mal sind es ihre bloßen Finger, die nach Catos Gesicht langen. Jedes Stück blanker Haut suchen. Ihren Fuß drückt sie auf seinen Oberschenkel, genau dort, wo Elf ihn erwischt hat. Der Schmerz lässt ihn über ihr zusammenbrechen, wie von Stein erschlagen. Zuletzt waren sie einander in der Nacht so nah. Unter anderen Voraussetzungen. Und dennoch erinnert es sie an all das Gute in ihrer gemeinsamen Zeit. Trotz Rauch, Blut und Schweiß riecht Cato ein Stück nach Heimat. Anstatt ihn fortzustoßen, schlingt Clove Arme und Beine um ihn. Vergräbt ihr Gesicht an seinem Hals. Ein letztes Mal. »Ich meinte es ernst«, flüstert sie gegen seine Brust, wo das Kapitol ihre Lippen nicht sehen und ihre Worte nicht hören kann. »Mit dir und allem sonst. Ich will – wollte doch nur überleben. Aber ... nicht ohne dich. Nicht mehr.« Catos Schultern spannen sich unter ihren Händen. Lange Zeit kommt nichts, dann hört sie das erste trockene Schluchzen. »Fuck«, murmelt er, »fuck, fuck, fuck.« Er macht keine Anstalten aufzustehen. Oder sie umzubringen. Durch all den Staub laufen seine Tränen über ihre Wangen. Clove würde sie gerne fortwischen, doch an ihren Händen klebt Blut wie eine zweite Hautschicht. Rot wie das Leben, das einer von ihnen bald nicht mehr hat. »Zwölf hätte mich erschießen sollen«, flucht Cato, jetzt wieder laut genug für das Kapitol. »Das hätte weniger wehgetan. Ich bin doch eh schon tot, oder? Als wenn ich je etwas gegen dich unternehmen könnte! Ich bin tot, seit ich mich für diese Spiele gemeldet habe. Ich wusste es nur nicht.« Darauf weiß Clove keine Antwort. Oder überhaupt eine Erwiderung. Sie hat sich schließlich lebendig gefühlt, seit sie sich für die Hungerspiele entschieden hat. Warum dann jetzt nicht mehr? Warum sticht jetzt jeder Atemzug in ihrer Brust? Warum kann sie Cato nicht loslassen, wenn es doch alles ist, was sie tun sollte, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen? Unter einem Schleier aus Tränen drückt Cato ein letztes Mal seine Finger um ihren Hals. Halbherzig. »Verfickte Scheiße, ich wollte nie sterben!« Er gibt mit einem Zittern auf und alles, was sie sieht, sind seine Augen, so blau wie der See daheim. Clove fallen nur schrecklich kitschige Vergleiche ein – dass Catos Tränen wie diese dämlichen kleinen Edelsteine auf Glimmers Paradenkleid aussehen zum Beispiel. Egal wie sie es dreht, er ist schön und sie ihm verfallen. So muss es nicht sein, flüstert es aus ihrer Erinnerung; aus anderen, ebenso blauen Augen. Zu spät. Der Hochverrat hat verloren, Clove ihre Wahl erdolcht. Sie verteilt doch Rot auf Catos Haut, als er aufgibt und sie küsst. Ein weiteres letztes Mal, Rücken an Rücken mit all ihren ersten Malen. Sie streichelt über seine Wangen, prägt sich genau ein, wie er sich anfühlt. Den Schnitt unter dem rechten Auge, den Haarwirbel hinter seinem Ohr, den Schneidezahn, dem eine winzige Ecke fehlt. Seine Finger ruhen die ganze Zeit über an ihrem Hals – und mit ihrem Zucken endet auch der Moment, in dem sie die Hungerspiele vergessen haben. Ruckartig lösen sich ihre Lippen und nichts außer Kälte verbleibt in Cloves Mitte. Zurück ist ihr Selbsterhaltungstrieb. Cato wegzustoßen ist furchtbar einfach. Clove robbt von ihm fort, richtet sich keuchend auf alle viere auf – und da liegt er vor ihr. Glimmers Bogen. Die letzte Waffe in ihrer Reichweite. Ein Pfeil, der schon einmal für Cato bestimmt war, hängt noch halb am Nockpunkt fest. Wie in Zeitlupe schließt Clove die Hand darum. Langsam richtet sie sich auf, nockt den Pfeil richtig ein. Zieht die Sehne bis zu ihrem Wangenknochen zurück. Ihre Beine zittern nicht mehr, als sie eines ihrer Augen zukneift und anvisiert. Nur ein Schuss. Der Bogen liegt ihr nicht, aber auf diese Distanz kann sie nicht verfehlen. Sein Kopf ist kein kleines Ziel. Dafür hat sie genug trainiert. Eine todsichere Variante. Schnell. »Clove ...« Cato hat sich ebenfalls aufgerichtet. Er steht mit dem Rücken zum Abgrund, den Flammenschein hinter sich. Sie kann es in seinen schrecklich schönen Augen sehen. Er wird ihr die Entscheidung abnehmen. Aber das darf nicht sein. »Ich –« Wie schon Zwölf schüttelt sie den Kopf. Seine Lippen formen trotzdem die nächsten, verhängnisvollen Worte, die im Donnern ihres Herzschlages untergehen. Aber sie sieht die wenigen Silben. Fühlt sie. Etwas in ihr zerreißt auf einen Schlag, wie ein Gummiband, das unter zu viel Druck zurückschnappt. Da erst geben Cloves Finger ihre Starre auf. Die gespannte Sehne entreißt sich ihnen und sie hat das Gefühl, jedes Glied porösem Sandstein gleich bersten zu hören. Der Pfeil fliegt, die Kanone knallt. Dann knallt es ein zweites Mal, als Catos Leiche in den Flammen aufschlägt. Trotzdem hält Clove den Bogen weiter vor sich, die langgestreckten Finger an ihrer Wange. Wie das marmorne Abbild der Jagdgöttin in ihrem Schulbuch. Der Staub hat sie endgültig eingeschlossen, im Moment ihres Triumphes konserviert. Dabei hat sie überlebt. Hätte überleben sollen. Aber da ist kein Leben in ihr. Nicht einmal, als die Sonne aufgeht und den Dreck auf ihrer Haut zum Glitzern bringt. Das Feuerwerk ist stumm in ihren Ohren, wie die Verkündung ihres Siegs und die Ankunft des Hovercrafts.   Sie bricht der Ärztin mit der Spritze die Hand, bevor diese ihr süße Träume injizieren kann. Keine Sekunde will sie die Augen schließen und diese Leute über sie bestimmen lassen. Ihre Wunden können die Mediziner so heilen – was sie schlussendlich auch tun. Bis zur marmornen Perfektion. Jede Spur ihres Lebens verschwindet von Cloves Haut. Die Stiche der Jägerwespen, die Striemen des Kampfes mit Elf, das Loch von Zwölfs Pfeil. Catos Küsse. Doch da hören sie nicht auf. Winzige Leberflecken verschwinden, selbst dort, wo niemand außer Cato sie je in echt gesehen hat. Die Narben auf ihren Knöcheln vom täglichen Training in der Akademie verheilen binnen Sekunden, bis sie wahrlich glatt geschliffen ist. Ein Kunstwerk. Von außen.   »Gratuliere, Clove. Ein würdiger Sieg.« Auf Brutus’ Zügen liegt doch tatsächlich ein Lächeln. Für drei Sekunden. Dann streckt er ihr einen abgepackten Riegel Schokolade entgegen. »Hast du dir verdient.« Aus dem Nichts überkommt Clove Übelkeit, als sie das knisternde Papier aufreißt und ihr der süße Geruch von zu viel Zucker in die Nase steigt. Was hätte sie in der Arena noch für eine solche Delikatesse gegeben! Und jetzt ... erinnert sie sich an Cato, der seine Schokolade vom Schwarzmarkt im Durchgang hinter den Klassenräumen mit ihr geteilt hat. Egal wie viel Süßigkeiten sie haben kann – nichts wird je schmecken wie das.   Man kleidet sie in ein bodenlanges Kleid, dessen blutroter Samt einmal mehr einen langen Schlitz hat, um ihr bleiches Bein zu enthüllen. Anders als bei der Zeremonie in Zwei kommt sie sich diesmal nicht wie eine schlechte Imitation vor. Aber auch nicht echt, nur ein Gast in diesem Körper. Eine Schulter ist frei, die andere von einem schwarzen Lederharnisch verkleidet, der auch ihre linke Brust bedeckt. Eine weitere Hommage an die Jagdgöttin. Der Lippenstift allerdings, ebenso rot wie das Leben, entspricht eher dem Bild einer Rachegöttin. Und nichts von beidem passt wirklich. Aber Clove widerspricht mit keinem Wort, sitzt nur da und lässt ihr Haar zu einem geflochtenen Kranz arrangieren, der später die Krone tragen muss. Mit leerem Kopf ist es besser zu erdulden.   »Clove ... ich weiß, es ist nicht einfach, wir alle hatten bisher sehr viel Spaß an diesem Abend, aber jetzt muss ich dir einfach die Frage stellen, die uns alle wohl am meisten bewegt.« Caesar Flickerman wendet sich mit ernstem Blick an das Studiopublikum. Kollektives Seufzen schlägt ihm entgegen. »Sag, meine Liebe, wie hat es sich angefühlt, diesen Pfeil abzuschießen? Ich kann mir kaum vorstellen, wie schwer es gewesen sein muss. Jemanden zu töten, der einem so viel bedeutet ...« Sie starrt Flickerman an, wie er sich zu ihr lehnt, eine Hand vertrauensvoll auf ihr Knie gelegt, den Blick eines treudoofen Hundes aufgesetzt. Nur dass sein reinweißes Strahlegebiss das einer Viper ist. Bereit zuzuschlagen, wenn sie es am wenigsten erwartet. Immer auf der Suche nach Schwäche, dem einen Moment, den er ausnutzen kann. »... Oder den man geliebt hat – der einen geliebt hat?« Clove tut das Einzige, was ihr einfällt – sie lacht. Legt den Kopf in den Nacken, hält sich damenhaft die Finger vor den Mund und zwingt die Laute hervor. Warum ist es so einfach, Freude – Lebendigkeit – zu fälschen? »Ich habe ihn doch nicht geliebt, Caesar!« Ihre Hand landet auf seiner und sie beugt sich ebenfalls vor und klimpert mit diesen entsetzlich schweren Kunstwimpern. Von ganz alleine tänzeln ihre Fingerspitzen über Flickermans Handrücken. »War es denn nicht offensichtlich, dass es nur ein Spiel war? Ein kleines bisschen Vergnügen. Oder hast du – habt ihr –« Sie wendet sich an das Publikum und kichert erneut, als könne sie es gar nicht fassen. »Habt ihr etwa genauso wie er geglaubt, dass ich seine Gefühle erwidere?« Gemurmel. Caesar allerdings zieht sich nicht zurück, sondern stößt für eine weitere Attacke vor. »Nun, du hast wenig Raum für Zweifel gelassen. Dein Schock angesichts der Regeländerung schien ... echt.« »Wie könnte er auch nicht? Es war immerhin keine Kleinigkeit, weder die erste noch die zweite Regeländerung. Ich habe kurz zuvor noch um Catos Leben gekämpft.« »Sicher hättest du ihn jetzt gerne neben dir sitzen?« Clove hasst Flickerman. Sie stellt sich vor, wie sie ihm auf der Stelle die Augen aus dem Kopf kratzen könnte. Es ist widerlich, aber bei Elf hat es funktioniert. Der Moderator hätte es viel mehr verdient. Stattdessen lehnt sie sich tief in die Polster ihres Sessels zurück und lächelt, dass sie ihre steinerne Haut splittern hört. »Wenn ein Distrikt zwei Sieger verdient hat, dann Zwei. Cato war ein guter Tribut. Aber wenn es nur einen geben kann ... dann halte ich mich für die bessere Wahl, das ist ja wohl klar.« Die Lügen stolpern nur so aus ihrem Mund, je häufiger sie ihn öffnet. Es ist so einfach, seit die perfekte Clove die Zügel an sich gerissen hat und diese steinerne Hülle steuert. Es ist nicht der Steinstaub, der die echte Clove erstickt hat, es sind ihre eigenen Ambitionen. Wie naiv, dass sie geglaubt hat, überleben wäre genug, um zu vergessen. Sie vermisst Cato entsetzlich.   Das Erste, was Clove von Distrikt Zwei erblickt, sind ihre Eltern. Arm in Arm stehen sie am Bahnhof, eine tobende Menge im Rücken. Doch für diese hat Clove keine Augen. Sie hält den Blick der beiden einzigen Menschen, die noch ihr echtes Selbst kennen, fest. Zum ersten Mal seit Jahren sehen sie einander richtig an. Alles, was ihr begegnet, ist Leere. Für Mama und Papa könnte sie genau so gut ein Geist sein. Sie ist nur der Schatten ihrer Tochter, die sie vor langer Zeit begraben haben, ebenso wie sie nur Hüllen des Lebens sind. Nicht einmal für Verachtung reicht es, als Clove auf den Bahnsteig tritt. Trotzdem will sie, dass die beiden ihre Stimme hören, ein letztes Mal. Damit sie wissen, dass sie es weiß. Vielleicht helfen ihnen die Worte. »Es war ein Fehler«, haucht sie und nur der Steinstaub antwortet ihr mit leisem Rieseln. »Ihr hattet recht. Bloßes Überleben ist kein echtes Leben.« Aber das hier ist Panem und einer muss überleben – solange man nach den Regeln des Kapitols spielt.   So muss es nicht sein. Erdrückt von dem Gewicht einer Krone, die sie teilen sollte, hat Clove es satt. Ihr Leichentuch aus Marmor ist längst gewebt, ihr Glanz erloschen. Ein verwirktes Leben kann nicht überlebt werden, gleich wie man sich anstrengt. Die Sonne versinkt am Horizont hinter den Bergen von Distrikt Zwei und hinterlässt nichts als Dunkelheit. Aber das ist gut, so sieht niemand Clove, die fernab vom Dorf der Sieger den Schienen der Zahnradbahn folgt. Bis zum größten Steinbruch, dessen Abbruchkante mehrere Meter in die Tiefe führt. Genauso gut wie ein Hochhaus aus dem Kapitol und zum Glück weniger gesichert. Clove atmet ein. Der Staub riecht nach Heimat. Und darin verborgen – Cato. Ob er ihr vergeben wird? Cloves Leben vergeht im wahrsten Sinne des Wortes in einem Knall. Irgendwo hatte sie ja recht – es war ein wahres Feuerwerk. Kurz, aber heftig. Nicht was sie wollte, doch immerhin eine Tragödie für Panems Geschichtsbücher. Rot breitet sich ihr Blut auf dem weißen Stein aus, ein Bild ihres Lebens. Clove lächelt. • E N D E • Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)