Magie-Notruf 3825 von Arcturus (Part đŸ„š: Die Eipokalypse) ================================================================================ Omen ---- Disponent: Notfallservice des Amtes fĂŒr magische Sicherheit Sachsen-Anhalt. Wie lautet die Adresse des Notfalls? Anruferin: Hilfe! Die Eier wollen uns fressen! Disponent: Damit ich Ihnen helfen kann, benötige ich Ihre Adresse. Anruferin: Aber–! 
 Wielandstraße 37, erster Stock. Disponent: Vielen Dank. Wie lautet Ihre Telefonnummer? Anruferin: 411089. Disponent: Vielen Dank. Wie heißen Sie? Anruferin: Jana Haupt.  Disponent: Wie viele Personen sind betroffen? Anruferin: Meine beiden Kleinen und ich. Und die Eier. Das waren mal sechs! Aber die Dinger werden immer mehr! Ich habe eins gepellt und seitdem–! Carla! Fass das nicht an! Disponent: Ist jemand verletzt? Anruferin: Noch nicht. Wenn du das nicht gleich loslĂ€sst, mein FrĂ€ulein! Disponent: Verstanden. Wie viele RĂ€ume sind betroffen? Anruferin: Die KĂŒche. Anruferin: Carla! Entschuldigen Sie. Meine Tochter findet das alles toll.  Disponent: Frau Haupt? Ich möchte, dass Sie Ihre Kinder nehmen und mit ihnen die KĂŒche verlassen.  Anruferin: Und was ist mit den Eiern? Disponent: Die lassen Sie da. Schließen Sie die TĂŒr hinter sich. Ich habe ein Einsatzteam beauftragt. Bis meine Kollegen eintreffen, ist es wichtig, dass Sie sich und alle anderen Anwesenden in Sicherheit bringen. Vermeiden Sie unbedingt den Kontakt mit Eiern. Fassen Sie sie nicht an, treten sie nicht nach ihnen und essen Sie sie nicht. Haben Sie mich verstanden? Anruferin: Ja. Ja habe ich– Lass das los, habe ich gesagt! Kind: Aber es ist blau! Anruferin: Ich geb dir gleich blau! Lass es los! 
 Ähm. 
 Ich kĂŒmmere mich darum. Und ich hoffe wirklich, Ihre Kollegen beeilen sich! Carla, raus! Ella, komm mein Schatz! [Die Anruferin hat das GesprĂ€ch beendet.]   Kontakt ------- Belas Ohren klingelten. Unter den Ohrmuscheln seines Headsets fĂŒhlten sie sich heiß und feucht an, fast so als wĂŒrde sie langsam ihr eigenes Mikrobiotop ausbilden. Seine kurzen, schwarzen Locken, die ihm beim Aufsetzen zwischen Headset und Ohren geraten waren, klebten lĂ€ngst zwischen seiner Haut und dem billigen Kunstleder. Hinter seinen SchlĂ€fen kĂŒndigte ein dumpfes Pochen ein Gewitter zwischen dem Ohrendschungel an. Beim ersten Anruf hatte er noch angenommen, es handele sich um irgendwelche Ostertanz-Nachwehen. Gestern zu viel Bowle, heute tanzende Eier. So einen Anruf hatten sie nach Feiertagen eigentlich immer. Einen. Vielleicht zwei, wenn die Nacht besonders heftig gewesen war. Das jetzt war schon der Siebte – und das nur bei ihm. Seine Kollegen telefonierten gerade fast alle. Auf der Karte, die er auf dem linken Monitor offen hatte, leuchteten die Punkte der Einsatzteams in unheilverkĂŒndendem Violett.  Die Reaktionszeit, innerhalb der ein Team beim Einsatzort sein musste, lag bei zwölf Minuten. Die Uhr begann mit dem Eingang des Anrufs zu ticken. Alles, was dann folgte, war fest durchgeplant. Anderthalb Minuten fĂŒr den Call und nochmal die gleiche Zeit, bis das Team ausrĂŒckte. Der Rest war Fahrzeit. Aktuell betrug sie anderthalb Stunden – unter der Voraussetzung, dass sich keines der Einsatzteams von einem Haufen hartgekochter Eier fressen ließ. Und nach allem, was er von den bisherigen Anrufern gehört hatte, standen die Chancen ganz gut. Er fuhr sich mit der Hand ĂŒbers Gesicht. Eier. Gottverdammte Eie– Links von ihm riss sich seine Kollegin das Headset vom Kopf. Wegen der Trennwand zwischen ihnen konnte er nicht sehen, was folgte, doch er hörte das dumpfe Klonk!, das fĂŒr gewöhnlich dann ertönte, wenn Mensch mit genĂŒgend Wucht auf Tisch traf. Mit etwas GlĂŒck waren es nicht ihr Kopf. Bela atmete einmal tief durch, dann nahm er selbst das Headset ab. LĂ€ssig stieß er sich von seinem Tisch ab und rollte auf seinem Drehstuhl weit genug zurĂŒck, um an der Trennwand vorbeischauen zu können. Okay, es war nicht ihr Kopf. Sie hatte ihre Ellbogen auf die Tischplatte gestĂŒtzt und das Gesicht in den HĂ€nden vergraben. Ihr langes, schwarzes Haar stand ihr wirr vom Kopf ab, so als sei das Headset heute nicht zum ersten Mal geflogen. “Zeynep?” Statt aufzusehen schĂŒttelte sie nur den Kopf. Bela hörte sie durchatmen. Vielleicht japste sie auch. Das GerĂ€usch, wie sie zitternd die Luft einsog, reichte, um ihn die Liste der Komponenten durchgehen zu lassen, die er fĂŒr einen Beruhigungszauber brauchte – nur um dann festzustellen, dass er nichts davon dabei hatte. NatĂŒrlich nicht. Die große Komponententasche schleppte Bela schon nicht mehr mit sich herum, seit er in den Innendienst gewechselt war. Shit. “Hey, Zeynep?”, versuchte er es erneut. “Alles okay?” Einen Augenblick lang wirkte es, als wĂŒrde Zeynep ihm wieder nicht antworten wollen, doch schließlich wĂŒrgte sie doch noch etwas hervor: “Rosa.”  Ihre Schultern bebten mit jedem Atemzug, der dem Wort folgte. Jedes Heben ihrer Schultern wirkte, als erlange sie etwas Selbstbeherrschung zurĂŒck. “Sie sind alle rosa.” Bela prustete unterdrĂŒckt. “Bei mir waren Sie blau, wenn’s hilft?” Zeynep stieß einen Laut aus, der halb Schluchzer und halb Lachen war. Sie senkte die HĂ€nde gerade weit genug, um ihm hinter ihren schwarzen Haaren einen dĂŒsteren Blick zuwerfen zu können. “Nein.” “Sicher? Heißt es nicht immer, geteiltes Leid sei halbes Leid?” Sie richtete sich auf und funkelte ihn an. Mit dem Daumen deutete sie in die Richtung ihrer Monitore. “Du hast die Karte offen, oder? Sagt dir die Farbe violett, etwas?” “Die kommt dabei raus, wenn du rosa und blau mischt”, sagte Bela unschuldig. “Passt doch.” Seine Kollegin verdrehte die Augen und schnaubte. Demonstrativ verschrĂ€nkte sie die Arme vor der Brust.  “Du bist ein Vollidiot”, verkĂŒndete sie, doch ihre Mundwinkel zuckten verdĂ€chtig. Herausfordernd reckte Bela das Kinn vor. “Sagt wer?” Bevor Zeynep darauf hĂ€tte antworten können, schlug etwas auf ihrem Schreibtisch ein. Was auch immer es auch war, es ließ ihre Tastatur empört klappern. Irritiert runzelte seine Kollegin die Stirn.  WĂ€hrend sie sich von ihm abwandte, bemerkte Bela eine Bewegung in seinem Augenwinkel. Klein. GlĂ€nzend. Auf Kollisionskurs.  Dass das Flugobjekt nicht in seinem Gesicht einschlug, verdankte er nur den Reflexen, die ihm jahrelanges Handballtraining beigebogen hatte. Verdattert öffnete er seine Hand und musterte das Ding, das er gefangen hatte. Es war ein kleiner Hase, rundherum von bunt bedrucktem Silberfolie umhĂŒllt und schwer genug, um vollstĂ€ndig aus Schokolade zu sein. Über der mit dunkelblauem Stoff bezogenen Wand, die seinen und den gegenĂŒberliegenden Tisch voneinander trennte, tauchte erst KĂ€thes rote Haarschopf und dann ihr unverschĂ€mtes Grinsen auf.  “Das halbe BĂŒro, Bela. Das halbe BĂŒro.” Seine Freundin lĂ€chelte so unschuldig, als hĂ€tte sie nicht eben noch auf seine Nase gezielt. Sie hob beide HĂ€nde und offenbarte weitere Schokoladenfiguren. “Braucht ihr noch mehr Nervennahrung?” “Ja”, sagte Zeynep kauend. Unter Knistern knĂŒllte sie das Silberfolie ihrer Schokofigur zusammen. Bela hörte noch, wie sie das so entstandene KĂŒgelchen in ihren Papierkorb schnippte. Dann streckte sich Zeyneps bronzefarbene Hand fordernd ĂŒber ihre Seite der Trennwand. Die heiße Ware – zwei KĂŒken und ein HĂ€schen – wechselte kommentarlos den Besitzer. Immerhin flogen die Dinger dieses Mal nicht durch die Gegend. Ebenso kommentarlos hielt KĂ€the Bela die andere Hand hin. Ergeben nahm er die Schokolade entgegen – wenn auch in erster Linie, damit sie eine Handvoll Wurfgeschosse weniger hatte. “Ich schwöre, ich ĂŒbernehm nie wieder freiwillig irgendeine Feiertagsschicht”, murrte Zeynep, wĂ€hrend sie unter Knistern die Folie vom nĂ€chsten FigĂŒrchen riss. “Meine Kinder freuen sich schon so auf den Osterhasen! Der Osterhase kann mich mal!” “Weise Entscheidung”, stimmte KĂ€the zu. “Bei der Sache mit dem Nekromanten warst du noch nicht hier, oder?” Dieses Mal war es an Bela, das Gesicht zu verziehen – und die Narben, die sich von seinem rechten Knie bis hinab zu seinem Knöchel erstreckten, verzogen sich vor lauter Selbstmitleid gleich mit. Der Nekromant. Der gottverdammte Nekromant. Er atmete durch. Das LĂ€cheln des OsterlĂ€mmchens in seiner Hand brannte sich in seine Netzhaut. Was auch immer Zeynep antwortete, er bekam es nicht mit. Er hörte erst KĂ€thes Antwort. “Da haste was verpasst”, sagte sie. LĂ€ssig legte sie die Handgelenke ihrer ausgestreckten Arme auf die Trennwand vor sich, um sich weiter vorlehnen zu können. Ihre schwarze Sweatjacke raschelte unter der Bewegung. “Ich war da noch Frischfleisch. Erstes Wochenende im regulĂ€ren Schichtdienst. Mein Teamleiter mit irgendwas krank, die Vertretung nicht erreichbar und dann ruft da so ein altes MĂŒtterchen an und meint, ihr Ehemann sei auferstanden und brĂ€uchte erste Hilfe.” “Auferstanden–?” Zeynep stockte. “Meinst du 
 halt, nein. Dem war nicht mehr zu helfen, oder?” “NatĂŒrlich nicht.” KĂ€the schnaubte. “Wussten wir da aber noch nicht. Danach kamen stĂ€ndig Calls. ‘Onkel Dieter schimmelt!’ und ‘Lassie ist wieder da!’ und ‘Ich war froh, dass der alte Nazi von nebenan endlich unter der Erde war!’ Und ich schwöre, teilweise war an den Leichen nix mehr dran. Und damit mein ich nicht nur die Klamotten. Hat ewig gedauert, bis die EinsatzkrĂ€fte herausgefunden haben, was da lĂ€uft.” “Zwei Wochen und drei Tage”, warf Bela ein, vornehmlich, um den bitteren Geschmack zu vertreiben, der ihm den Rachen hinaufstieg. Es half nicht. “Wir sind nĂ€chtelang ĂŒber alle Friedhöfe der Stadt gekrochen. Und als wir den Wixer endlich hatten, hat er versucht, uns in die Luft zu jagen.” Und in Belas Fall hatte er es beinahe geschafft. Er blickte gerade weit genug auf, um das stumme “Oh” zu sehen, das KĂ€the auf den Lippen lag. Sie tauschten einen langen Blick. Die Handgelenke immer noch auf der Trennwand vor sich, lehnte sie den Kopf auf ihren Oberarm. Die Bewegung brach den Blickkontakt. Einen Moment lang schwiegen sie alle. Nur Julianes Stimme, die ihren aktuellen Anrufer zum dritten Mal nach der Adresse des Notfalls fragte, drang ĂŒber die TrennwĂ€nde zu ihm. Mit jedem Blinzeln wurde das aufgedruckte LĂ€cheln des SchokolĂ€mmchens beunruhigender. Schließlich seufzte KĂ€the theatralisch. “Dieses Mal sind es Eier.” Bela schnaubte. In der Tat.  Eier. In rosa und blau und genauer wollte er es gar nicht wissen. Es gab GrĂŒnde, warum er sich in den Innendienst hatte versetzen lassen. Und sein Knie war nur einer davon. Auf dem Platz neben sich konnte er Zeynep mit dem Silberfolie knistern hören. “Ich glaube, wir sollten die nĂ€chsten Calls abnehmen”, sagte sie leise. Bela spĂŒrte sich nicken, doch er machte keine Anstalten, nach seinem Headset zu greifen. Die Narben, die sich ĂŒber sein Schienbein zogen, schmerzten nach wie vor. Der Blick, den KĂ€the ihm zuwarf, war schwermĂŒtig. Vermutlich wusste sie, was in seinem Kopf vorging. Sie konnte keine Gedanken lesen, aber manchmal war sie nahe dran. Sie seufzte leise. Es war ihr Pause?-Seufzen. Er zuckte nur mit den Achseln. Just in dem Moment, in dem er eine Entscheidung treffen wollte, öffnete sich die TĂŒr zu ihrem BĂŒro. “Hey, Bela?” Bela warf KĂ€the einen letzten, leidenden Blick zu, dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurĂŒck. Torben, einer der Kollegen aus Team Lange, stand in der TĂŒr. Heute sah er besonders schlaksig und zerknautscht aus. Wer auch immer ihn auf die Idee gebracht hatte, dass ein möglichst hĂ€sslicher Strickpulli mit Eiermotiv die passende Aufmachung fĂŒr den heutigen Tag – oder jeden anderen, wirklich – war, gehörte in die stille Ecke. Immerhin: Der Art und Weise nach zu urteilen, wie er sich mit der Hand durch sein braunes Haar fuhr, wusste Torben das selbst. Bela presste dennoch die Lippen aufeinander. “Wenn du diese TĂŒr jetzt nur geöffnet hast, um mir zu sagen, dass du zurĂŒck nach Westerland willst, werde ich einen Call annehmen.” Zur Antwort öffnete Torben den Mund und schloss ihn dann doch wieder. Bela konnte ihn schlucken sehen. Er zog die Augenbrauen zusammen. “Ähm, okay. Ich sag’s nicht”, versprach Torben und klang angemessen eingeschĂŒchtert. “Aber, sag mal? Du bist doch ganz gut mit Magie, oder?” In seinem Augenwinkel warf Bela einen knappen Blick zu KĂ€the. Er zog eine Augenbraue hoch. Fast unmerklich schĂŒttelte sie den Kopf. “Du bist dir bewusst, dass ich mich in den Innendienst habe versetzen lassen?” Torben, der die Stimmung, die in einem Raum herrschte, auch dann nicht hĂ€tte lesen können, wenn sein Leben davon abhing, nickte. “Ja! Immerhin, deswegen bist du deswegen hier.” Zur Antwort starrte Bela noch ein wenig eindringlicher. Leider ĂŒberzeugte auch das seinen Kollegen nicht davon, von seinem Anliegen abzulassen. “Ich hab da ein Problem”, fuhr er unbeirrt fort. “Und ich kann die vom Facility-Management nicht erreichen und–” “Okay, das reicht.”  “Bela, warte–!” Bela griff nach seinem Headset und warf seinem Kollegen einen finsteren Blick zu. “Sehe ich aus wie der Hausmeister?” “Nein!” Torben schluckte. “Ich brauche auch keinen Hausmeister. Ich brauche-” Ein kleiner Ball rollte an Torbens FĂŒĂŸen vorbei und in den Raum.  Halt. Nein, kein Ball. DafĂŒr war die Form zu oval, die Bahn zu taumelnd. Das war definitiv kein Ball. Das war ein Ei. Bela blinzelte, aber das half nichts.  Das Ding war ein Ei und es blieb ein Ei. Und es war rosa.  Unbeirrt kullerte es an Bela vorbei. Es ignorierte seinen finsteren Blick genauso, wie den spitzen Schrei aus Zeyneps BĂŒrozelle. Auf der Suche nach etwas Guano griff Bela an seine HĂŒfte, nur um ins Leere zu fassen. Richtig. Kein Außendienst, ergo keine große Komponententasche. Und seine Alltagstasche hatte weder Komponenten fĂŒr irgendwelche Sprengzauber, noch schleppte er es mit an den Schreibtisch. Normalerweise musste er nur Calls annehmen und keine Eier in die Luft jagen. Irgendwo klapperte eine Tastatur und dann– “Zeynep!”, ertönte KĂ€thes Stimme. “Ducken!” GlĂŒcklicherweise kannte Zeynep KĂ€the mittlerweile lange genug, um zu wissen, dass sie Anweisungen wie diese ernst meinte. Gerade noch rechtzeitig zog sie den Kopf ein, dann flog eine pinke, halb durchsichtige PlastikschĂŒssel ĂŒber ihre BĂŒrozelle hinweg. Die SchĂŒssel schlingerte in der Luft, doch KĂ€the hatte ihrem Wurf genug Schwung mitgegeben - und sie hatte GlĂŒck. Unsanft landete die SchĂŒssel auf dem Boden, die Öffnung nach unten. Der Teppich schluckte das Klappern. Das Ei schlug klackernd gegen das Plastik, dann war es still. “Ha!”, stieß KĂ€the aus. Bela, der nach wie vor das Ei beĂ€ugte, hörte nur, wie sie sich erhob und um die Reihe aus Schreibtischen herum schritt. Bei ihrer Beute angekommen, ging sie in die Hocke. Mit einem zufriedenen Grinsen legte sie die rechte Hand auf die SchĂŒssel und spĂ€hte ins Innere. Unter dem Plastik wirkte das rosafarbene Ei beinahe giftig. “Hab ich dich.” Wenn Torbens dumme Fragen nicht schon dafĂŒr gesorgt hatten, dass Belas ĂŒbrige Teamkollegen auf sie aufmerksam wurden, dann erledigte das spĂ€testens die FlugschĂŒssel. Von seinem Platz aus konnte Bela sehen, wie sich die ĂŒbrigen sechs Kollegen wie die ErdmĂ€nnchen erhoben, um die Vorstellung ĂŒber ihre TrennwĂ€nde hinweg beobachten zu können. Zumindest Aileen telefonierte dabei sogar noch. Einen Moment lang beobachtete KĂ€the noch das Ei, dann sah sie auf. Ihr Blick richtete sich auf Torben und sprach eine eindeutige Sprache: Sie hatte schon ganz andere Dinge geworfen – und sie wĂŒrde es wieder tun. “Okay, Torben”, sagte sie in einem Tonfall, der so betont ruhig war, dass er Ärger versprach. “Rede.” Der Angesprochene schluckte. “Ich”, sagte er und stockte, “hab’s gepellt? Und ich war noch nicht fertig, da wurde es plötzlich 
 mehr.” Ächzend erhob Bela sich von seinem Drehstuhl und trat zu KĂ€the und ihrer Beute. Um sich das Ei nĂ€her anschauen zu können, stĂŒtzte er seine HĂ€nde auf seine Knie und beugte sich vor. Auf den ersten Blick war nichts ungewöhnliches zu erkennen. Es war ein 
 Ei. Unter der SchĂŒssel wirkte es besonders rosa, aber das war alles. “Und?”, sagte er. “Das Eiweiß 
 ich weiß, das klingt bescheuert, Leute. Aber-” “Aber?” “Es 
 Es hat angefangen zu wackeln. Und dann wurde es plötzlich mehr! Und noch mehr! Und nicht nur Eiweiß. Eigelb auch! Und Schale! Und 
 ich hab echt keine Ahnung, wo das da herkommt!” Bela und KĂ€the tauschten einen Blick. Die Geschichte hatten sie heute so oder so Ă€hnlich schon gehört. In Belas Fall sieben Mal. “Hilfe?” KĂ€the hob eine Augenbraue. Bela nickte. Sie seufzten beide. “Okay, Leute. Hergehört. Wer telefoniert nicht? Zeynep? Du filzt Twitter. Jule? Facebook. Svea, du hast doch einen TikTok-Account?” KĂ€the wartete nicht auf die Antwort. “Du suchst dort. Ich will alles ĂŒber diese Eier wissen, was wir nicht schon aus den Calls kennen. Lars, du rufst den Bereitschafts-TL an und wenn du den nicht erreichst, dann versuchst du es bei der Dispo. Der Rest deckt die Leitung ab.” Bela blinzelte. Einmal, zweimal. Dann kam Leben in seine Kollegen. Zu seiner Überraschung zĂŒckte Zeynep tatsĂ€chlich das Handy, um entgegen alle Arbeitsvorschriften Twitter aufzurufen. Juliane und Svea taten es ihr gleich. Lars klemmte sich ans Team-Telefon. Einen Augenblick spĂ€ter nahm die erste Kollegin den nĂ€chsten Call an. Nur er und Torben standen noch sinnlos in der Gegend herum – und KĂ€thes Blick nach wĂŒrde sich das gleich Ă€ndern. TatsĂ€chlich hob sie noch im gleichen Augenblick die freie Hand. “Und du–”, sie deutete auf Torben, “sagst mir jetzt ganz genau, woher du diese Eier hast.” Torben öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Bela sah ihn blinzeln. “Real.” Seine Antwort klang wie eine Frage. “Glaub ich? Vielleicht auch im Aldi? Ich hatte zuletzt viele Eier 
 Hey, guckt mich nicht so an! Es ist Ostern!” KĂ€the schnaubte, aber sie kommentierte es nicht. Vermutlich wusste sie genauso gut wie Bela, dass da Hopfen und Malz verloren waren. Stattdessen warf KĂ€the ihm einen entschuldigenden Blick zu.  “Okay”, sagte sie schließlich. “Zeig Bela deine 
 die Eier.” Bela nickte, der die Anweisung schon befĂŒrchtet hatte, stockte aber mitten in der Bewegung. “Und was machst du?” “Ich?”, fragte sie und zuckte mit den Schultern. “Ich pass aufs Ei auf.” Er legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen zusammen. Einen Moment lang starrten sie einander an. Mit jeder Sekunde, die verging, verzog sich KĂ€thes Mund mehr zu einem LĂ€cheln - wenn ein Hai lĂ€cheln konnte. Bela brach den Blickkontakt zuerst. Nope. Da waren Hopfen und Malz ebenfalls verloren. Missmutig griff er nach seinem Gehstock, dann wandte er sich seinem Kollegen zu. “Du hast sie gehört.”   Vom BĂŒro aus fĂŒhrte Torben ihn zur TeekĂŒche. Sie machten nur einen kurzen Abstecher in den Kopierraum, um den Notfall-Komponenten-Koffer, der auf jedem Flur direkt neben dem Erste-Hilfe-Kasten hing, von der Wand zu nehmen.  Der Weg war kurz, aber die Narben ĂŒber seinem Schienbein zogen sich bei jedem Schritt zusammen. Fast so, als ahnten sie, genauso wie Bela selbst, was ihnen noch bevorstehen wĂŒrde. Und Torben enttĂ€uschte sie leider nicht. Vor der TĂŒr, deren beigefarbener Anstrich schon bessere Zeiten gesehen hatte, blieben sie stehen. Sie stand offen. Der Spalt war groß genug, dass sich Eiweiß wie das ScheinfĂŒĂŸchen einer Amöbe hindurchzwĂ€ngen und das Holz des TĂŒrrahmens entlang tasten konnte. Auf allem, was die Masse berĂŒhrte, hinterließ sie eine dĂŒnne, klare Absonderung, die kurz danach weiß wurde, so als wĂŒrde sie ohne Hitze kochen. Auf ihrer OberflĂ€che schwammen gelbe, hartgekochte Dotterkugeln und SchalenstĂŒckchen, die in allen Farben des Regenbogens leuchteten. Er konnte den farbenfrohen Teilchen förmlich dabei zusehen, wie sie grĂ¶ĂŸer wurden und sich langsam, ganz langsam, um eine der Dotterkugeln schlossen. “Scheiße.” In seinem Augenwinkel nickte Torben zustimmend. Einen Moment lang schwiegen sie beide. “Frage”, sagte Bela schließlich, den Blick auf ein besonders blaues SchalenstĂŒckchen gerichtet, das sich nicht nur ein, sondern zwei Dotterkugeln einzuleiben versuchte. “Wie lange tun sie das schon?” “Halb sieben?” “Halb sieben.” Bela spĂ€hte auf seine Armbanduhr. Mittlerweile war es kurz vor Acht. “Ja?” Der Blick, den Torben ihm zuwarf, glich dem eines Rehs im Scheinwerferlicht. “Ich hab erst versucht, es zurĂŒck in die Packung zu tun. Und als das nicht funktioniert hat, bin ich zu meinem Team. Aber Jens ist im Urlaub und unser TL noch nicht da und- Ich schwöre, ich habe die TĂŒr zugemacht!” Vorsichtig trat Bela nĂ€her auf die TĂŒr zu und warf einen Blick ins Innere der TeekĂŒche. Das Schlimme war: Er glaubte Torben. Das Problem war nicht, dass er die TĂŒr nicht zugemacht hatte. Das Problem war, dass die Eiermasse im Inneren mittlerweile eine Höhe erreicht hatte, mit der sie nicht nur die TĂŒrklinke mĂŒhelos erreichen konnte. Bela schluckte. Er hoffte, Frau Haupt hatte die KĂŒche hinter sich abgeschlossen. Etwas schlug gegen seinen Gehstock. Langsam senkte er den Blick. Ein Ei starrte zurĂŒck. Abgesehen von einem kleinen, grĂŒnen Flecken, den die Schale in ihrem Wachstumsprozess eingeschlossen haben musste, war es leuchtend Orange. Es zitterte – und die Bewegung kam sicher nicht mehr vom Kontakt mit seinem Gehstock. Er zog die Augenbrauen zusammen, doch das Ei wackelte nur noch mehr. Bela, der eine DrohgebĂ€rde erkannte, wenn er sie sah, holte mit dem Gehstock aus. Mit einem beherzten Schlag beförderte er das Ei zurĂŒck in die glibbernde, weiße Masse. “Volltreffer”, sagte eine Stimme hinter ihm, die sich verdĂ€chtig nach KĂ€the anhörte. Und tatsĂ€chlich – als Bela sich umdrehte, stand sie tatsĂ€chlich mit Zeynep im Flur. Zusammen trugen sie etwas, das verdĂ€chtig nach Zeyneps Schreibtischunterlage aussah. Das hieß – Zeynep trug. KĂ€the presste derweil die rosafarbene PlastikschĂŒssel gegen die Unterlage. Mit einem unguten GefĂŒhl blickte er von der einen Kollegin zur anderen.  “Ich hoffe, das ist nicht das Ergebnis der Twitter-Recherche”, sagte er, obwohl er die Antwort schon wusste. Zeynep lachte freudlos auf. “Wir haben schlechte und ganz schlechte Nachrichten. Welche wollt ihr zuerst?” Bela musste sich nicht entscheiden. Kaum hatte seine Kollegin ihre Frage ausgesprochen, rollte das Ei ĂŒber die Unterlage - und das nicht, weil Zeynep mit ihr wackelte. Entgegen allem, was Bela im Physikunterricht gelernt hatte, kullerte es die Unterlage, die sich zwischen den HĂ€nden seiner Kollegen leicht wölbte, die Wölbung hinauf, bis die PlastikschĂŒssel ihm den Weg versperrte. Einen Augenblick verharrte es, wo es war - dann rollte es entschieden in die andere Richtung. Mit Wucht schlug es auf der anderen Seite der SchĂŒssel gegen das Plastik. Die Schale knackte. An der Bruchstelle drĂŒckte sich Eiweiß aus dem Inneren. Bela schluckte. “Sagt mir, dass das die ganz schlechten Nachrichten sind.” Seine Beiden Kolleginnen wechselten einen Blick. Er konnte das stumme GesprĂ€ch, das sie dabei fĂŒhrten, förmlich hören. Schließlich knickte Zeynep ein. “Sie sind ĂŒberall”, sagte sie. “Im Ganzen Stadtgebiet, meine ich. Es gibt Videos.” “Die Wartezeit auf der Hotline liegt mittlerweile bei zwanzig Minuten”, fĂŒgte KĂ€the hinzu. “Oh und Torben? Dein Teamleiter hĂ€ngt auch in der Warteschleife.” In Belas Augenwinkel beförderte Torben gerad ein rotes Ei mit einem Tritt zurĂŒck in die TeekĂŒche. “Ich glaube, das ist grad unser geringstes Problem. Was machen wir hiermit?” Bela öffnete den Mund, doch Zeynep und KĂ€the kamen ihm beide zuvor. “Sprengen?”, schlug die eine vor. “AnzĂŒnden?”, die andere. Das ‘Evakuieren’, das er eigentlich hatte vorschlagen wollen, blieb Bela im Halse stecken.  “Das hier ist weder ein Videospiel noch der G20-Gipfel”, sagte er stattdessen. Nur Zeynep sah daraufhin angemessen betreten drein. KopfschĂŒttelnd wandte er sich wieder der Eimasse zu. Mittlerweile hatte sich ein weiteres, eierhaltiges ScheinfĂŒĂŸchen durch den TĂŒrspalt der TeekĂŒche gestreckt und tastete gefĂ€hrlich nah am Lichtschalter ĂŒber die Wand. Nein, eigentlich hatten seine Kolleginnen recht. Evakuieren war keine Option. Noch nicht, zumindest. Nicht, wenn sie die Erreichbarkeit der Leitung sicherzustellen hatten und gerade die FrĂŒhstĂŒckszeit anbrach. Und die Eiersuchzeit. Das war doch nichts, was man einem Kind guten Gewissens ins Nest legen konnte. Nicht einmal einem Kind wie Carla. In ausreichender Entfernung zu den Eiertentakeln stellte Bela den abteilungseigenen Komponentenkoffer ab und öffnete die VerschlĂŒsse. “Werft Harald”, ohne aufzusehen deutete Bela auf das Ei, das mittlerweile mit einem bestĂ€ndigen Klonk-Klonk-Klonk gegen die PlastikschĂŒssel schlug, “zu den anderen. Und dann bringt mir den Defibrilator.” Ausnahmsweise stellte Torben keine unnötigen RĂŒckfragen. WĂ€hrend KĂ€the und Zeynep die Schreibunterlage kurzerhand ĂŒber Belas Kopf hinweg hoben, quetschte er sich an ihnen vorbei und hastete zurĂŒck zu dem Kopierraum, in dem auch der Erste-Hilfe-Kasten hing. Bela indes wĂŒhlte sich durch TĂŒtchen voller Asche, zerriebenen Edelsteinen und getrocknetem Blut und hĂ€tte am liebsten ĂŒber den Vollidioten geflucht, der den Komponentenkoffer zuletzt aufgefĂŒllt hatte. Das Eisen fand er irgendwo bei G und die Glasscherben klebten am TĂŒtchen mit dem Schwefel. Das Salz fand er erst, als Torben Ă€chzend und schnaufend mit dem Defibrillator zurĂŒckkehrte – vornehmlich, weil es sich nicht in klarem, versiegelten Plastik befand, sondern in einem dieser PapiertĂŒtchen, die es in der Kantine zum NachwĂŒrzen gab. “Und jetzt?”, japste Torben und stellte den Defibrillator zwischen ihnen ab. “Klebst du die Elektroden auf deine Eier”, sagte Bela und zog sich die Einweghandschuhe an, die dem Koffer beilagen. Viel zu groß, natĂŒrlich. “Auf meine-” “Er meint dein FrĂŒhstĂŒck und seine Freunde”, warf KĂ€the dazwischen. Die VerschlĂŒsse knackten unter ihren Fingern, als sie den Defibrillator öffnete. “Hier. Die Elektroden. Da drauf.” Torben stand noch einen Moment im Gang, dann fasste er seinen Mut zusammen und folgte KĂ€thes Anweisungen. In der Zwischenzeit riss Bela das SalztĂŒtchen auf. Immerhin klebte das Zeug nicht zusammen - die Chance, dass es irgendwer schon mal in sein Mittagessen hatte fallen lassen, war also gering. Gut. Das Letzte, was er brauchte, war, dass ihm die Suppe von vor drei Wochen den Zauber verkackte. Ächzend stand er auf und wandte sich wieder der TeekĂŒche zu. Torben, der die TĂŒr mittlerweile weiter nach innen gedrĂŒckt hatte, damit er die Elektroden anbringen konnte, blickte hilfesuchend auf. “Ist das so richtig?” Bela warf einen knappen Blick zu den Elektroden. Die Pads schwammen mehr schlecht als recht auf der wabbelnden Masse. Kleine Ei-ScheinfĂŒĂŸchen tasteten sich bereits an den Kanten entlang. Hinter ihm piepste der Defibrillator und verkĂŒndete damit, dass er betriebsbereit war. “Nicht schön, aber selten”, sagte er und streute das Salz in einem schiefen Kreis um die Elektroden. “Mach ‘n paar Schritte zurĂŒck. Bist du soweit, KĂ€the?” “Ähm”, sagte sie. “Kommt drauf an? Ist es normal, dass das Ding Kammerflimmern feststellt? Bei dem Zeug?” Bela öffnete den Mund, aber er fand keinen spitzen Kommentar, der in dieser Situation angemessen war. Um ehrlich zu sein, war das eine Frage, die er lieber nicht beantworten wollte. “Sieh es so”, sagte er schließlich. BedĂ€chtig rollte er das Eisen zwischen den Fingern der einen und einen Glassplitter zwischen denen der anderen Hand. “So musst du ihn zumindest nicht kurzschließen.” “Dabei hat er sogar so eine fancy Magie-Funktion”, verkĂŒndete sie und klang fast ein wenig enttĂ€uscht. “Aber ja, ich bin bereit.” “Gut. Wenn die Dinger hier”, er hob beide HĂ€nde, um ihr die Zauberkomponenten zu zeigen, “das Zeig berĂŒhren, aktivierst du ihn.”  Umsichtig trat er so weit zurĂŒck, wie es ihm möglich war. Einen Moment lang konzentrierte er sich nur auf die Komponenten in seiner Hand. Er nahm einen tiefen Atemzug. Magie kribbelte unter seiner Haut wie ElektrizitĂ€t. Er wartete. Einen Atemzug lang, zwei, drei. Die magische Konzentration in seinen Fingerspitzen erreichte seinen Höhepunkt. Simultan schnippte er Eisen und Glas in die Eiermasse, das eine nach Norden, das andere nach SĂŒden. Noch in der gleichen Bewegung streckte er die Arme mit nach vorn gerichteten HandflĂ€chen von sich. Mit einem Knopfdruck aktivierte KĂ€the den Defibrillator. Der Stromstoß jagte durch die Eiermasse. Die Energie traf auf Belas Zauber, verband sich mit der Magie, entlud sich. Ein Knall ging durch die Etage. Dann ging das Licht aus.   Inkubation ---------- “Was war das?”, fragte Torben in die Dunkelheit. “Deine Lieblings-Kaffeemaschine”, murrte KĂ€the. “Und der KĂŒhlschrank. Und 
 ach, egal. Hat es funktioniert?” Der Flur war finster. Die TeekĂŒche war nicht mehr als eine umgebaute, dunkle Abstellkammer und das einzige Licht kam von dem kleinen Fenster am langen Ende des Flures. Es reichte, um ihren Schemen Kontur zu geben, aber das war’s. “Keine Ahnung”, sagte Bela wahrheitsgetreu. Sterne tanzten vor seinen Augen. Die Haut seiner Fingerspitzen kribbelte, als wolle sie sich abpellen. UnglĂŒcklich schĂŒttelte er seine HĂ€nde, um wieder GefĂŒhl in seine Finger zu bringen. Es half nicht. Noch etwas, das er nicht aus seiner Zeit im Außendienst vermisste. Kollegen, die sich weder dafĂŒr interessierten, wie man einen Komponentenkoffer ordentlich packte, noch wie man zumindest grundlegende Richtlinien einhĂ€lt. Wer auch immer diese verdammte Salzpackung in den Koffer getan hatte, gehörte gefeuert. Was auch immer in dem TĂŒtchen genau gewesen war – damit zaubern sollte man definitiv nicht. Vermutlich sollte man es nicht einmal essen. Irgendwo hinter ihm raschelte es, dann tauchte ein Handy den Flur in gespenstisches Licht. Die Eiermasse vor ihm leuchtete im Schein des Smartphones, aber sie bewegte sich nicht. Er atmete durch. “Das waren nur die Sicherungen fĂŒr diesen Flur, oder?” Zeynep trat an ihm vorbei und leuchtete vorsichtig in die TeekĂŒche. Wie ein See lag die Eiermasse da, vollkommen reglos. Keine Bewegung, kein Wabbeln, keine neugierig herumtastenden ScheinfĂŒĂŸchen. Nur jede Menge hartgekochtes Ei. “Da nicht einmal das Notfalllicht geht 
 ech.” Bela zog sich die Handschuhe von den Fingern. Seine Haut beschwerte sich mit einem Brennen. “Ich hab mich vielleicht ein bisschen verschĂ€tzt.” Jetzt, wo sie zumindest ein wenig Licht hatten, traten auch die anderen Beiden zu ihnen. Torben kam Bela dabei nah genug, um ihm ĂŒber die Schulter spĂ€hen zu können. “Haben wir 
 gerade 
 einen 
 Berg Eier 
 defibrilliert?”, fragte er.  Bela konnte jedes Wort auf seinem Ohr spĂŒren. Seine Nackenhaare stellten sich unter den AtemzĂŒgen seines Kollegen auf. Er machte einen Schritt zur Seite, darum bemĂŒht, weder seine Kolleginnen anzurempeln noch in die Eiermasse zu treten. Geflissentlich tĂ€tschelte er Torben die Schulter. Seine Fingerspitzen prickelten bei jeder BerĂŒhrung. “Herzlichen GlĂŒckwunsch”, sagte er. “Operation gelungen, Patient tot.” Mit einem Schnaufen wand Torben sich aus der BerĂŒhrung. “Das ist nicht witzig.” “Nein”, gab Bela zu. Einen Moment lang musterte seine Hand. Vorsichtig bewegte er jeden einzelnen Finger und wurde mit mehr Prickeln belohnt. “Aber was willst du machen, wenn’s nicht zum Heulen reicht?”   Plötzlich gesellte sich ein weiteres Licht zu dem von Zeyneps Handy. Erst war es nur ein sachter Lichtschein aus Richtung Aufgang, dann kam eine Gestalt dazu. Klein und stĂ€mmig und mit einer Handtasche ausgerĂŒstet, mit der man jemanden erschlagen konnte. Als sie das GrĂŒppchen bei der TeekĂŒche bemerkte, richtete die Gestalt ihre Taschenlampe auf sie. “Was ist hier los?”, drang die Stimme ihrer Teamleiterin zu ihnen. “Hi Kerstin”, begrĂŒĂŸte Bela sie, vornehmlich um Zeit zu schinden. In seinem Augenwinkel warf er KĂ€the einen hilfesuchenden Blick zu. Wie erklĂ€rte man seiner Vorgesetzten bitteschön, dass man einen Berg Eier in die Luft gejagt hatte – und möglicherweise die Stromversorgung des ganzen GebĂ€udes gleich mit? KĂ€the guckte unglĂŒcklich zurĂŒck. Sie seufzte schwer. “Mach Facebook auf.” “Face–”, Kerstin senkte ihre Taschenlampe kurz, aber nur, um ihnen dann mitten in die Gesichter zu leuchten. “Warum das?” Bela kniff die Augen zusammen. “Weil du kein Twitter hast.” Er konnte weder die EntrĂŒstung in ihrer Miene sehen, noch die in dem Blick, mit dem Kerstin ihn gerade ganz sicher anstarrte. In gewisser Weise machte ihm das die Sache leichter. In allen anderen Situationen hĂ€tte ihn das nur dazu gebracht, sie möglichst unpassend zu kommentieren. Doch im aktuellen Fall galt: Was er nicht sah, war auch nicht da. War vermutlich im Sinne aller Beteiligten. Vor allem, weil Kerstin die KĂŒche noch nicht gesehen hatte. Schließlich senkte sie die Taschenlampe und erlaubte es Bela, wieder mehr zu sehen als grelles Licht. Einen Augenblick lang sah er seine Vorgesetzte in ihrer Handtasche des Grauens kramen, dann bekam sie – dem unterdrĂŒckten Fluchen nach zu urteilen ganz unten – ihr Smartphone zu fassen. Schließlich tauchte der Bildschirm sie in kaltes Licht. Die harten Schatten, die so entstanden, zogen zunehmend tiefere Furchen durch ihr kĂ€siges Gesicht. Einen Moment lang war der Flur erfĂŒllt von grimmigem Scrollen und nur halb unterdrĂŒckten “Uh?”s und “Eh?”s. Diese gipfelten schließlich in einem entsetzten Blick und einem “Was zum Geier?” “Eier, Kerstin. Nicht Geier. Eier”, sagte Bela mit Grabesstimme. “Und jetzt guck da rein.” Kerstin schaute ihn an, als habe er ihr vorgeschlagen, ihre Hand in den Rachen eines Tigers zu stecken. Er konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Sie war clever genug, um zu wissen, dass sie das, was in der TeekĂŒche auf sie wartete, nicht sehen wollte. Gleichzeitig war sie Vorgesetzte genug, um zu wissen, dass sie keine andere Wahl hatte. UnglĂŒcklich strich sie sich die braunen Locken aus dem Gesicht und trat zu ihnen. Ihre Augenbrauen wanderten erst hoch und zogen sich dann zusammen. Sie öffnete den Mund. Schließlich fasste sie sich mit der Hand vor den Kopf. “Ihr wollt mich doch verarschen.” Bela konnte – und wollte – nicht widersprechen. UnglĂŒcklich musterte er wieder seine Hand. Langsam kehrte das GefĂŒhl in seine Finger zurĂŒck. Leider war es ein sehr unangenehmes GefĂŒhl - eines, das von erforderlichen DehnĂŒbungen kĂŒndete. Und von fiesem Muskelkater. Torben derweil war nicht so clever, den Mund zu halten. “Ich wollte nur FrĂŒhstĂŒck”, nuschelte er kleinlaut. Kerstin warf ihm einen finsteren Blick zu. “FrĂŒhstĂŒck?” Einen Moment lang ĂŒberlegte er, ob er sich wirklich in die Diskussion werfen wollte. Torbens Anblick – sein Kollege war Mitte zwanzig und gut einen Kopf grĂ¶ĂŸer als alle anderen im Raum, aber vor Kerstin schrumpfte er in sich zusammen wie ein SchĂŒler ohne Hausaufgaben – gab schließlich den Ausschlag. Der und die Erkenntnis, dass seine Finger sich auch dann nicht schneller einbekamen, wenn er sie finster anstarrte. “Ich tippe auf exponentielles Wachstum”, warf er ein. “Sobald die Schale des Ursprungs-Eis beschĂ€digt wird, dehnt sich das Eiweiß aus. Und 
 produziert Babies.” “Babies”, echote Kerstin, doch sie fragte nicht nach. Ihr Blick klebte an einem halb fertigen Ei, das unter seinem Zauber erstarrt war, bevor es sich komplett von der Eiermasse abspalten konnte. Stöhnend rieb sie sich die SchlĂ€fen. Gut so. Geteiltes Leid war bekanntlich halbes Leid.  KopfschĂŒttelnd wandte sie sich von den Eiern ab und warf erst seinen Kolleginnen, dann dem Defibrillator und schließlich Bela skeptische Blicke zu. “Du hast es gestoppt?” Bela nickte. “Und dabei die Stromversorgung frittiert, fĂŒrchte ich. Als Torben uns dazugeholt hat, hatte das Zeug seine Griffel schon in den Steckdosen.” Einen Augenblick lang nickte seine Vorgesetzte bedĂ€chtig – nur um mitten in der Bewegung innezuhalten. Skeptisch blickte sie von ihm zu Torben und wieder zurĂŒck. “Warum eigentlich dich?” Torben knickte, wenn möglich, noch ein wenig mehr ein. “Ich hab’ sonst niemanden erreicht.” Wieder zogen sich Kerstins Augenbrauen wie buschige Gewitterwolken zusammen. Diesmal war es Zeynep, die dazwischen grĂ€tschte. “Das ist die andere Hiobsbotschaft”, sagte sie nĂŒchtern. “Die Facility-Futzis sind noch nicht im Dienst und die Dispo-Futzis sitzen in Halle und können nichts machen. Die Außendienst-Teams haben so viele AuftrĂ€ge, dass die Wartezeit zuletzt bei fast zwei Stunden lag.” “Gibt es auch irgendwelche guten Nachrichten?” Kerstin klang, als donnere es hinter ihren SchlĂ€fen ordentlich. “Kommt drauf an. Wie definierst du: Der Lange spielt sich heute mal an ganz anderen Eiern?”  Zur Antwort starrte Kerstin sie an, als ĂŒberlege sie, einfach wieder umzudrehen. War vermutlich keine weise Idee – die SicherheitstĂŒr öffnete normalerweise elektronisch – aber sie entschied sich ohnehin anders und seufzte nur schwer. Sehr schwer. Gefolgt von einem: “Ich bin noch nicht mal im Dienst.” Bela, den die Eier schon seit seinem Dienstbeginn um sechs verfolgten, zuckte mit den Achseln. “Sieh es so: Immerhin wollen dich keine Eier fressen.” “Nur den Rest der Stadt”, warf KĂ€the hilfsbereit ein und erntete dafĂŒr ein Stöhnen von den ĂŒbrigen Anwesenden. “Es gibt auch gute Nachrichten. Also ernsthafte, abgesehen von der Sache mit Herrn Lange”, sagte Zeynep in die Stille. “Die Dispo wollte ein paar Kollegen aus Halle mit auf unsere Leitung schalten. Wir sind nĂ€mlich die Einzigen, die Eier melden. Scheint, als wĂ€ren die Dinger wirklich aus dem Real. Also unserem. Jule und Aileen haben ihre Anrufer gefragt und die Posts, die wir gesehen haben, berichten Ă€hnliches.” “Ist es zu spĂ€t fĂŒr ‘ne RĂŒckrufaktion?”, fragte Torben in die Gruppe. Bela zuckte mit den Achseln. Eigentlich war es tatsĂ€chlich ein gutes Zeichen, wenn es nur den Rest der Stadt betraf und der Rest von Deutschland nicht von rachsĂŒchtigen Eiern heimgesucht wurde. Uneigentlich waren sie nicht der Rest von Deutschland– Er stockte.  WĂ€hrend seine Kollegen diskutierten, wen man fĂŒr eine RĂŒckrufaktion aus dem Bett holen musste – Real? Die Pressestelle? Den Amtsleiter? – marschierte Bela kurzentschlossen zurĂŒck zum Komponentenkoffer. Dort angekommen fischte er seinen Gehstock vom Boden, den er daneben liegen gelassen hatte, um die HĂ€nde fĂŒr den Zauber freizuhaben. Mit dem Stock bewaffnet kehrte er zur TeekĂŒche zurĂŒck. Misstrauisch beĂ€ugte er die Eiermasse, die den Raum nach wie vor bis hoch zu seinen Oberschenkeln ausfĂŒllte. Hartgekocht und ungenießbar, aber zumindest bewegungslos. Er gab dem Zeug einen Stoß mit dem Stock. Die Masse wabbelte unter der BerĂŒhrung, gehorchte dabei aber zumindest den Gesetzen der Physik. Sein Zauber hatte gewirkt. Das Ergebnis fiel zwar nicht ganz aus wie geplant, war aber eindeutig. Außerdem beschrĂ€nkten die Eier sich auf das Stadtgebiet. Und sie kamen alle aus dem gleichen Laden. Aber das hieß– “Ich glaube, es ist ein Ritual”, sagte er und unterbrach damit KĂ€thes ErklĂ€rung, dass es sehr wohl Kerstins Aufgabe als ranghöchste Vorgesetzte am Standort war, den Amtsleiter aus seinem Osterurlaub zu holen. “Ein Ritual?”, echote Kerstin. Ihre Miene hellte sich auf, als sie realisierte, dass das die Chance war, das Thema zu wechseln. Nach kurzem Überlegen fĂŒgte sie hinzu: “Da mag was dran sein. Die Betroffenen hĂ€tten sicher einen Magier bemerkt, wĂŒrde er in ihrer KĂŒche stehen und ihre Eier verhexen. Ihr hĂ€ttet einen Magier sicher bemerkt.” Bela nickte zustimmend. “Bingo. Und die Eier sind zwar gekocht, aber trotzdem organische Materie. Ich bezweifle, dass sich ein Komponentenzauber bis heute gehalten hĂ€tte, selbst wenn man ihn direkt vor dem Verkauf gewirkt hat.” “Aber wenn es ein Ritual ist, wo sitzt der Magier?” “Irgendwo in der Lieferkette.” Bela gab der Eiermasse einen weiteren Hieb mit seinem Gehstock. Dieses Mal brach das Eiweiß unter seinem Schlag auf, ganz so, wie er es von einem normalen Ei erwartet hĂ€tte. “WĂ€re es der Bauernhof, das Epizentrum der NotfĂ€lle lĂ€ge außerhalb der Stadt.” “Also ist es der Real.” Kerstin rieb sich mit Daumen und Zeigefinger ĂŒber die geschlossenen Augenlider. Bela hĂ€tte ihr einen Anti-Kopfschmerz-Zauber angeboten, aber auch der benötigte Salz. “ Entweder der Laden selbst oder sein Lager. Wenn wir das Ritual unterbrechen, wĂ€re der Spuk vorbei. Wir brauchen nur jemanden, den wir dorthin schicken können.” Bela nickte dumpf. Alles, was dann noch bliebe, wĂ€ren AufrĂ€umarbeiten. Aber die Wartezeit auf ein Einsatzteam betrug beinahe zwei Stunden. Und es war die Feiertagsschicht, nicht das Sondereinsatzkommando. Er seufzte. “Hat die Dispo irgendwas darĂŒber gesagt, ob sie mehr Teams aktivieren können?” Zur Antwort verschrĂ€nkte Zeynep die Arme vor der Brust. Ihr Handy beleuchtete damit nur noch ihren Arm.  “Es ist Ostern”, sie schnaubte. “Deren Antwort, nicht meine.” “Heißt, sie versuchen es, aber die eine HĂ€lfte ist mit den Kindern Eiertrudeln und die andere liegt noch vom Osterfeuer flach?” Zeynep zuckte mit den Achseln. “Geh ich von aus. So genau hat mich das bislang nie interessiert.” “Fair.” Zwischen ihnen rieb sich Kerstin die SchlĂ€fen. “Wir wissen also, was wir machen mĂŒssen, haben aber niemanden, der es machen kann. Schöne Scheiße.” Zeynep nickte. Es war eine knappe Geste, bei der sie die Mundwinkel verzog. Sie musste nichts weiter sagen. Bela stimmte ihr ebenso schweigend zu. “Also eigentlich
” Alle Blicke richteten sich auf KĂ€the. KĂ€thes Blick richtete sich auf Bela. Einen Moment lang starrten sie einander an. Entschlossenheit funkelte in ihren Augen. Bela zog die Augenbrauen zusammen. Sie neigte den Kopf, nur ganz leicht, aber eindringlich. Er sog die Luft ein. KĂ€the reckte ihr Kinn vor. “Nein”, sagte er schlicht. Doch, sagten ihre Augen. Er wandte den Blick ab. “Du bist ein ausgebildeter Magier.” “Ich bin im Innendienst.” “Seit neun Monaten.” In seinem Augenwinkel sah er, wie KĂ€the mit dem Daumen in Richtung TeekĂŒche deutete. “Verlernt hast du’s seitdem nicht.” “Ich bin trotzdem im Innendienst.” “Und im Fall einer Apokalypse kannst du im Außendienst eingesetzt werden. Steht so in deinem Arbeitsvertrag. Anlage E.” Bela knirschte mit den ZĂ€hnen. Die Klausel kannte er. Er mochte sie nicht sonderlich. “Ich weiß nicht, ob er dafĂŒr mobil genug ist”, warf Kerstin dazwischen. Bela wandte den Blick von Allem, was nicht KĂ€the war, ab und seiner Vorgesetzten zu. Ihren Augen hatte sie auf seinen Gehstock gerichtet. Und auf sein Knie. Er folgte dem Blick. Einen Moment lang starrte er selbst auf den graublauen Stoff seiner Jeans. Sie meinte es gut. Bela wusste das. Trotzdem biss er die ZĂ€hne aufeinander. Das war sein Argument, verdammt. Nicht das von irgendwem sonst. Und nicht mit dem Blick. “Ich war schon unter ganz anderen Bedingungen im Einsatz.” Die Worte glitten ihm ĂŒber die Lippen, bevor er ĂŒberhaupt wusste, dass er dazu irgendetwas sagen wollte. Sie waren auch wahr – im Nachhinein war eine Achtstundenschicht mit Binder ‘ne verdammt dumme Idee gewesen – aber etwas anderes waren sie nicht: Hilfreich. Neben ihm verlagerte KĂ€the ihr Gewicht auf das andere Bein, sodass er sie im Augenwinkel besser sehen konnte. Sie stemmte die HĂ€nde in die HĂŒfte. Er kannte die Pose. “Warst du”, stimmte sie zu, ein flĂŒchtiges Zucken im Mundwinkel. NatĂŒrlich. War ja klar, dass sie sich auch noch an die Abende erinnerte, an denen er sich bei ihr ausgejammert hatte. Sie war eine ausgezeichnete Zuhörerin und normalerweise schĂ€tzte er sie dafĂŒr.  “Und ich bin mobil fĂŒr drei. Mindestens” “KĂ€the, nein.” Ihr Grinsen wurde breiter und sprach eine eindeutige Sprache: KĂ€the, doch. “KĂ€the Wegner” – das war Kerstin, die nur langsam begriff, dass ihr das GesprĂ€ch entglitt – “Dein Kollege mag dafĂŒr ausgebildet sein. Du nicht.” KĂ€the zuckte nur mit den Schultern und knackte mit den Fingerknöcheln. “Ich habe schon ganz andere Eierköpfe verprĂŒgelt.”   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)