Das Ende, der Anfang und die Zeit dazwischen von ivy-company ================================================================================ Kapitel 4: München ------------------ *********************** 2016 *********************** Ruki schloss die Tür hinter sich und stellte erleichtert fest, dass außer ihm niemand im Backstage-Raum war. Die Band war seine Familie, aber manchmal war es doch anstrengend, wenn man Tag und Nacht aufeinandersaß. Am anstrengendsten waren aber seine eigenen Gefühle und der verzweifelte Versuch, sie zu unterdrücken. Das war nichts, von dem man einfach abschalten konnte. Vor allem nicht, wenn die betreffende Person den ganzen Tag über um ihn war. Und auch wenn es Nacht wurde und er alleine in seinem eigenen oder im Hotelzimmer war, konnte er nicht richtig abschalten. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu Uruha. Wahrscheinlich vertrieben sich die anderen Member entweder in der Halle mit der Soundtechnik die Zeit oder waren mit dem Auto und den Staff-Membern in die Stadt gefahren. Ruki erinnerte sich dunkel, wie sie ihn gefragt hatten, ob er mitkommen wollte. Aber er wollte sich lieber noch ein wenig Ruhe gönnen. Schließlich waren sie gerade erst von Paris nach München gefahren. Nein, da stimmte was nicht. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und öffnete den Kalender. Sie waren gerade von Köln nach München gefahren! Seufzend schüttelte er den Kopf. Er sollte wirklich mehr auf seine Umgebung Acht geben, aber das ganze Reisen und noch dazu das Chaos mit Uruha machten ihn echt fertig. Er durfte sich heute Abend keinen Patzer leisten und ausversehen den falschen Stadtnamen rufen. Seufzend ging er zu einem der kleine Sofas und ließ sich darauf fallen. Er hörte Stimmen auf der anderen Seite der Tür, die sich aber glücklicherweise wieder schnell entfernten. Ruki wollte diese zweite Welttour wirklich genießen, aber in ihm herrschte einfach nur Chaos. Und bevor er es auch nur realisierte, strichen seine Finger schon über die Saiten der Gitarre, die neben ihm auf dem Sofa lag. Sie gehörte Uruha. Natürlich kannte er jede seiner Gitarren. Manchmal nahm er sich eine davon und spielte ein paar Takte – einfach nur, weil es sich gut anfühlte. In letzter Zeit fühlte sich wenig wirklich gut an. Es gab die Stunden, in denen er auf der Bühne stand und sich einfach nur der Musik hingeben konnte ohne an irgendwelche komplizierten Gefühle zu denken. Und auch wenn er einfach nur Backstage oder bei sich zu Hause saß, fühlte es sich gut an, Musik zu machen und Gitarre zu spielen. Uruhas Gitarre zu spielen. Etwas zögerlich nahm er das Instrument in die Hand und schlug einen Akkord an. Er hatte das früher mit einer größeren Selbstverständlichkeit getan. Damals hatte er ohne zu zögern oder zu fragen nach Uruhas Gitarre gegriffen und dieser hatte dabei nicht einmal mit der Wimper gezuckt. „Was mein ist, ist auch dein“, meinte der Gitarrist einmal zu ihm. Im Scherz. Natürlich. So etwas Kitschiges würde Uruha niemals ernsthaft sagen und es schon gar nicht so meinen. War das nicht sogar auch auf der letzten Tour gewesen…? Ruki merkte, wie sich seine Gedanken wieder nur um seinen Bandkollegen drehten. Er schloss kurz die Augen, atmete tief durch und konzentrierte sich wieder auf das Instrument in seinen Händen. Tatsächlich schaffte er es, sich schnell in den Klängen zu verlieren. Er spielte einige ihrer eigenen Songs und dann noch ein paar andere Lieder, die ihm so einfielen. Eine Melodie wechselte in die nächste, bis er damit begann, eine eigene zu kreieren. Er war so tief seinen Gedanken und den Klängen versunken, dass er seine Umgebung völlig vergaß. Umso größer war der Schreck, als dann plötzlich eine Person neben ihm stand. Ruki ließ bei dem Anblick einen kurzen Schrei los und hätte fast die Gitarre zu Boden geworfen. Was sehr ungünstig gewesen wäre, weil der Besitzer eben dieser jetzt vor ihm stand. „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“ „Ähm… nein, hast du nicht. Also… schon, aber. Ähm, schon okay“, stotterte der Sänger und wurde rot, während er sich krampfhaft an der Gitarre festklammerte. Uruhas Gitarre, auf der er ohne Erlaubnis gespielt hatte. Er wurde noch röter. „Tut mir leid, dass ich einfach deine Gitarre genommen habe.“ „Ist kein Problem! Da musst du mich nicht fragen“, antwortete Uruha mit sanften Lächeln. „Doch, das sollte ich schon.“ Das Lächeln auf dem Gesicht der Gitarristen verschwand und er nickte als Antwort nur kurz. Er wirkte etwas resigniert, was für Ruki keinen Sinn ergab. „Jetzt hab ich dir jedenfalls die Erlaubnis gegeben, also spiel ruhig weiter“, meinte Uruha dann aber doch noch beiläufig und nahm eine Wasserflasche vom Tisch, der neben dem Sofa stand. Ruki wusste nicht, wie er reagieren sollte. Das hatte er nicht erwartet! Wie zur Hölle sollte er Gitarre spielen, wenn der Meister höchstpersönlich im Raum war!? Er spürte, wie seine Hände schwitzig wurden und glaubte, wenn er jetzt zu spielen anfangen würde, würde ihm das Plektrum wahrscheinlich in nur wenigen Sekunden aus den Fingern rutschen. Also saß er weiter wie dumm auf dem Sofa, bis er endlich ein „Was denn?“ rausbekam. „Was du gerade gespielt hast?“, wurde die Gegenfrage gestellt. „Oder irgendwas anderes. Tu einfach so als hätte ich dich nicht unterbrochen und wär gar nicht da!“ Er schraubte die Wasserflasche auf und trank einen Schluck. Ruki konnte nicht anders als ihn dabei zu beobachten. Wieso konnte ihn dieser Kerl sogar beim Trinken aus einer dummen Plastikflasche aus dem Konzept bringen? Er musste sich endlich wieder unter Kontrolle bekommen! Bevor Uruha die Flasche absetzte, schaffte es der Sänger tatsächlich, die Saiten anzuschlagen. Es war keine Melodie. Es war eigentlich nur ein einziges Chaos. Ruki verfluchte seine plötzliche Nervosität so sehr. Vorhin hatte er Phrasen zustande gebracht, die ihr neues Lied hätten werden können! Und das jetzt klang wie Kindergartengeklimper. Vielleicht sollte er es doch mit einem ihrer eigenen Songs probieren. Ohne groß nachzudenken, fanden seine Finger die richtige Stelle und er schlug die Saiten einzeln an. Ehe er sichs versah, klangen bereits die ersten Töne von „Cassis“ durch den Raum. Uruha hatte sich auf das andere kleine Sofa gesetzt, das im rechten Winkel zu seinem stand, und sah ihm scheinbar zu. Oder spielte er mit seinem Handy? Ruki konnte es nicht genau sagen und aufschauen wollte er auch nicht, weil er sich sonst sicher verspielen würde. Also müsste er aufhören zu spielen, um Uruha anzusehen. Er konnte sich das Gespräch, das dann folgte, schon lebhaft vorstellen. „Wieso spielst du nicht weiter?“ – „Ach, ich wollt nur mal schauen, ob du mir zuguckst.“ – „Warum?“ – „Weil ich immer noch verrückt nach dir bin und es irgendwie schön wäre, wenn ich deine volle Aufmerksamkeit hätte.“ Ja, ganz genau so würde es ablaufen. „Wieso spielst du nicht weiter?“ „Was?“ „Du hast aufgehört zu spielen, falls dir das nicht aufgefallen ist!“ Ruki sah auf die Gitarre runter. Tatsächlich. Die Saiten standen längst still und die Töne waren schon seit Sekunden verklungen – jetzt, wo er so darüber nachdachte. „Vielleicht solltest du spielen und ich höre zu. Schließlich bist du der Meister an der Gitarre“, meinte der Sänger und lachte verlegen. Er fühlte sich dumm und wollte das Instrument zur Seite legen, als Uruha ihn stoppte: „Nein bitte, ich mag es, wenn du auf meiner Gitarre spielst.“ Ruki sah den Anderen überrascht an, der jetzt zu stottern begann: „Also, ich mag es wenn du spielst. Auf einer Gitarre. Oder eben auf meiner. Aber dann vor allem… irgendwie.“ Einen Moment herrschte Stille. „Ok, das war eine komische Aussage. Tut mir Leid“, meinte Uruha mit gesenkten Blick, woraufhin Ruki den Kopf schüttelte. „Nein, alles gut. Ich weiß ja, wie du es gemeint hast.“ Das war eine Lüge. Der Sänger hatte keine Ahnung, wie sein Gegenüber es gemeint hatte. Alles was er wusste war, dass sein Herz viel zu schnell schlug. Sein Gefühl sagte ihm, dass Uruha ein Geständnis gemacht hatte. Dass er etwas, was ihm wichtig war, nicht nur mit Ruki teilen, sondern sogar glücklich komplett in seine Hände geben würde. Aber Ruki wusste auch, dass seine Gefühle für Uruha ihn schon früher katastrophal verblendet hatten. Und das sollte auf keinen Fall wieder passieren. Trotzdem konnte er die Gitarre nicht einfach zu Seite legen und gehen, obwohl das wahrscheinlich die logische Entscheidung gewesen wäre. Stattdessen entschied er sich zur folgenden Aussage: „Wie wäre es, wenn ich dir ein paar meiner neuen Kompositionsideen vorspiele?“ Es war der perfekte Plan. Er konnte sich so sicher sein, dass er Uruhas volle Aufmerksamkeit hatte. Gleichzeitig geschah alles aus rein professionellen Gründen. Sie waren nur zwei Musiker, die zusammen an neuen Stücken arbeiteten. Alles rein produktiv und geschäftlich … „Klar! Ich setz mich am besten zu dir rüber. So hör ich besser!“ Kaum waren die Worte ausgesprochen, saß schon ein enthusiastischer Gitarrist neben ihm auf dem Sofa. Ruki verkniff sich den Kommentar, dass Uruha ihn von seinem vorherigen Sitzplatz genauso gut hätte hören können. Vielleicht sogar besser. Als der Sänger die Saiten wieder anschlug, um ihm eine seiner Kompositionen vorzuspielen, klappte das überraschend gut. Vielleicht gewann ja jetzt seine Professionalität doch endlich noch die Oberhand. Uruha konnte er nicht wirklich beobachten, weil er rechts neben ihm saß, er seinen Blick aber hauptsächlich auf den Gitarrenhals und die linke Hand fixiert hatte. Als er aber einen kurzen Blick auf den anderen warf, konnte er ganz deutlich sehen, wie er ihn anstarrte. Ihn. Nicht die Gitarre. Ihre Blicke kreuzten sich nämlich für eine Sekunde, bevor Ruki seine Aufmerksamkeit wieder auf die Saiten lenken musste. Und ihm wurde warm. Ob das von der Aufregung oder der Körperwärme des anderen kam – der saß nämlich ganz schön nah neben ihm – konnte er nicht sagen. Alles was er sagen konnte war, dass Uruha weiter starren sollte. Er wollte von ihm angesehen werden. Er wollte noch viel länger allein mit ihm sein. Er wollte- „Tiefer.“ „Was?“ Ruki ließ das Plektrum fast fallen. „Da könntest du tiefer ansetzen. Die Melodie ist super, aber wenn du da ein paar Töne tiefer spielst, gibst du der ganzen Phrase einen einmaligeren Klang.“ Ruki wischte das Plektrum unauffällig an seiner Hose ab. Es war mittlerweile ganz verschwitzt. Das war bei den anderen doch nicht ständig so! „Okay.“ Er versuchte den gleichen Part nochmal, ein wenig variiert, wurde dafür aber langsamer. „Perfekt!“ Als Ruki aufsah, strahlte ihn Uruha an und einen Augenblick später strahlte er ebenso breit zurück. Er fühlte sich wie ein Kindergartenkind, das etwas richtig aufgeräumt hatte und dann dafür gelobt wurde. Aber es war ihm egal. Er liebte es, wenn der andere ihn so ansah. Und in diesem Moment war es ihm auch egal, dass er gerade dabei war, sich in eine Sache zu verrennen, in die er sich auf genau die gleiche Weise schon einmal verrannt hatte und die ihn fast alles gekostet hatte. „Wir sollten das wieder öfter machen“, meinte Uruha leise. „Was?“ „Zusammen komponieren.“ „Wir komponieren ständig zusammen“, erwiderte Ruki, auch wenn er wusste, dass der Gitarrist etwas anderes meinte. Natürlich saß die Band ab und zu nach einer Probe zusammen und grübelte gemeinsam, wie man einem neuen Stück noch den letzten Schliff geben könnte. Es waren schöne Momente. Anstrengend, aber freundschaftlich. Unverfänglich. Anders als die Stunden, die Ruki und Uruha früher miteinander verbracht hatten. Meistens eng zusammengepresst und im intensiven Austausch. Die Gitarre wurde hin und her gereicht, der Handgriff des anderen wurde ohne zu zögern geändert, wenn man eine andere Tonlage wollte. Oft hatten sie so die Nächte durchgemacht. Manchmal war nur Schrott entstanden. Aber manchmal hielten sie am nächsten Morgen völlig erschöpft aber stolz eine neue Komposition in den Händen, bei der niemand mehr sagen konnte, wer von ihnen tatsächlich welche Idee gehabt hatte. Es fühlte sich persönlich an. Ein Verschmelzen an Visionen, Wünschen und Gefühlen, die zusammen eine Melodie ergaben. Das alles hatte aufgehört, seitdem sie von ihrer ersten Welttour zurückgekehrt waren. Und das war besser so. Der rational denkende Teil seines Gehirns wusste, dass es besser war. Doch trotzdem konnte Ruki nicht damit aufhören, den Gitarristen vor sich mit einer Mischung aus Hoffnung und Nervosität anzustarren. „Ich meine nicht die Art von Komponieren.“ Uruhas Stimme war noch immer leise, aber entschlossen. „Ich meine, so wie jetzt. So wie wir es früher gemacht haben.“ Der Gitarrist holte vor seinen nächsten Worten Luft. „Nur du und ich.“ Ruki starrte den Gitarristen weiterhin an. Und er konnte einfach nicht anders. Er wusste, es war dumm und falsch und selbstzerstörerisch. Aber er konnte nicht anders als zu antworten: „Ja, das sollten wir wieder öfter machen.“ *********************** 2013 *********************** Uruha grinste, als er vor dem Backstage-Raum stand und die Klänge seiner Gitarre hörte. Das war nicht seine normale Reaktion. Wie jeder Vollblutmusiker reagierte er sehr empfindlich, wenn sich jemand ohne zu Fragen an sein Heiligtum wagte. Allerdings hörte er alleine vom Spiel heraus, dass es sich bei dem Dieb um Ruki handelte und das gab ihm die Gelegenheit, den Sänger deshalb ein wenig aufzuziehen. Auch wenn er es überhaupt nicht ernst meinen würde. Im Gegenteil. Eigentlich sah er Ruki sehr gerne dabei zu, wie dieser auf seinem Instrument musizierte. Auch wenn Ruki kein Gitarrist wie er oder Aoi war, sah es trotzdem so aus, als würde er das Instrument beherrschen. Nein, es sah nicht nur so aus, es war so! Und gerade jetzt konnte er sich sehr gut vorstellen, wie der andere da völlig in die Musik versunken auf einem der Sofas saß. Uruha ging ein paar Schritte zurück, um seinen Auftritt authentischer zu gestalten und stürmte dann zur Tür, drückte die Klinke runter und platzte in den Raum. „Schon wieder!“ Ruki hörte sofort auf zu spielen und reichte Uruha ohne zu zögern die Gitarre. Den Kopf hatte er eingezogen und es sah so unglaublich niedlich aus! Der Gitarrist boxte dem Sitzenden leicht in die Schulter. „Du hast mal wieder die Gunst der Stunde genutzt, während ich weg war.“ Dabei machte er aber keine Anstalten, die Gitarre wieder an sich zu nehmen, sondern ließ sich stattdessen neben Ruki auf das Sofa fallen und seufzte tief. Sie waren alleine im Raum. Er sah aus den Augenwinkeln, wie der Sänger das Instrument auf seinen Schoß legte und ein leises „Sorry“ nuschelte. „Ich weiß, dass ich dein Eigentum nicht einfach so nehmen sollte. Deine Gitarre ist dir doch am wichtigsten…“ Uruha wandte ihm den Blick zu und sah ihn einen Moment an. Die Gitarre lag sicher auf seinen Beinen und der Blick war darauf gesenkt. Rukis Make-up war komplett aufgetragen und in knapp einer halben Stunde würden sie ihr erstes Konzert in München geben. Ruki sah perfekt aus. Und das lag nicht nur am Make-up. „Meine Gitarre ist nicht das, was mir am wichtigsten ist.“ Ruki sah kurz auf. Ehrlich überrascht, wandte den Blick dann aber schnell wieder auf das Instrument. „Nein?“ „Naja“, lachte Uruha dann aber doch und versuchte seine Nervosität damit zu überspielen. Sah er da etwa einen Rotschimmer auf Rukis Wangen? Oder bildete er sich das nur ein, weil ihm selbst plötzlich ganz warm wurde? „Sie ist mir schon sehr sehr wichtig. Aber das heißt nicht, dass du nicht darauf spielen darfst!“ Innerlich verfluchte er sich. Er hätte es sagen können. Jetzt! Dass das für ihn wichtigste auf der Welt viel lebendiger war als eine Gitarre und gerade neben ihm saß. Aber es ging viel zu schnell. Das war viel zu plötzlich! Er musste sich auf einen solchen Moment doch anständig vorbereiten! Und hier konnte außerdem jeden Moment ein Staff-Member oder gar Bandmember reinplatzen. Und dann? Er war also kein Feigling, nur weil er jetzt nicht die Initiative ergriffen hatte. Es war ein ungünstiger Zeitpunkt. Er musste einfach bis zum richtigen Moment warten und dann würde er genau die passenden Worte finden und alles würde perfekt sein. So würde das ablaufen. Bis dahin musste er aber versuchen, sich nicht zum größten Idioten zu machen. „Selbst wenn es in Ordnung ist, sollte ich dich wenigstens fragen, bevor ich deine Gitarre nehme“, meinte der Sänger kleinlaut. „Unsinn! Was mein ist, ist auch dein!“ Kaum hatten die Worte Uruhas Lippen verlassen, wollte er schon im Erdboden versinken. So viel zum Vorsatz, sich nicht zum Idioten zu machen. Gab es denn eine Aussage, die noch mehr so klang, als würden sie heute ihre Silberhochzeit feiern? Das einzige, was ihn jetzt noch retten konnte, war sein bestes falsches Grinsen. Vielleicht würde es Ruki dann nur für einen dummen Spruch halten. Der Sänger sah ihn einen Moment perplex an und kicherte dann nervös. Oh nein, sein schmalziger Kommentar hatte dazu geführt, das sich Ruki in seiner Gegenwart komplett unwohl fühlte. „Klingt ein bisschen so, als hättest du schon unser Eheversprechen geschrieben“, nuschelte der Sänger, der zwar etwas verlegen klang, aber sicher nicht so, als würde er sich in der Situation unwohl fühlen. Uruha fühlte sich allerding immer unsicherer. Das fühlte sich alles doch sehr nach einem Spiel mit dem Feuer an. Trotzdem konnte er sich, die nächsten Worte nicht verkneifen. „Naja, wir hatten bereits ein Sekt-Date in Brasilien und dann noch eins in Paris…“ „Also planst du schon mal unsere Hochzeit?“, hakte Ruki nach. Uruha zuckte nur mit den Schultern und versuchte sich dabei möglichst cool zu geben. Es war schließlich alles nur ein Scherz. Und er überlegte sich gerade auch nur völlig im Scherz, welche Art von Ehering sie wohl haben würden. Ganz sicher würde Ruki darauf bestehen, dass sie die Ringe selbst designen. Aber das war in Ordnung. Er liebte Rukis Designerstücke – auch wenn sie manchmal schon sehr ausgefallen waren. Und auch wenn sie oft eigentlich gar nicht sein Stil waren. Nein, er liebte sie trotzdem. Und nicht nur, weil Ruki sie designte!! „In den Flitterwochen sind wir ja schon – eine Weltreise! Sowas kann auch nicht jeder behaupten“, gab Uruha gespielt cool von sich und deutete um sich. Ruki hob eine Augenbraue und sah sich genauso in dem engen Backstageraum um. „Naja, das stell ich mir dann doch ein bisschen luxuriöser und mit weniger Arbeit verbunden vor.“ „Ich überlass dir das Auswählen unserer Traumreise.“ Der Sänger war perfekt in sowas. So wie er in fast allem perfekt war – auch wenn er seine kleinen Fehler hatte und Uruha auch schon mal auf die Palme treiben konnte. Aber allein wie er da so saß und sich ganz auf diesen Scherz einließ… Oder, war es überhaupt noch ein Scherz? Je mehr der Gitarrist darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm der Gedanke. Mit Ruki irgendwo ganz weit weg. Keine nervenden Bandkollegen, keine im Nacken sitzende Deadline, sondern traute Zweisamkeit mit der Person, die gerade neben ihm auf dem Sofa saß. „Alles klar, abgemacht. Wie besiegeln wir das Ganze? Ich will am Ende nicht in nem kleinen Kabuff in Timbuktu hocken, weil du einfach irgendwas gebucht hast.“ Der Gitarrist sah Ruki an und fragte sich, seit wann sie so unbeschwert miteinander reden konnten. Seit wann sie über solche Dinge scherzen (oder auch nicht scherzen) konnten. Uruha liebte das Funkeln in seinen Augen. Herausfordernd. Er wusste nicht, was in dem Moment mit ihm los war, aber er konnte einfach nicht anders. Wie selbstverständlich überbrückte er den halben Meter zwischen sich und Ruki und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die linke Wange. Als er sich wieder von ihm entfernte, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Er hörte nur noch ein Rauschen in seinen Ohren und starrte seinen Gegenüber an, der ebenfalls perplex zurückstarrte. Was zur Hölle war das!? Welche Pferde waren da gerade mit ihm durchgegangen?! „… Mit nem Handschlag besiegeln kann ja jeder.“ Das war vielleicht nicht die beste Erklärung, aber etwas anderes fiel Uruha nicht ein. Naja, außer der Wahrheit. Aber er konnte Ruki nicht einfach so sagen, dass er es nicht mehr aushalten konnte, den Sänger nicht zu küssen und zu berühren. Das wäre völlig unangebracht. Ungefähr genauso unangebracht, wie der kleine Kuss es auch gewesen war … Ruki hielt sich mit einer Hand die linke Wange und schien in einer Art Starre zu sein. Der Gitarrist hätte gern die Hand in seine genommen und auch diese geküsst. Es wäre eine unschuldige Geste und wäre doch intim genug, um Ruki klarzumachen, was das alles bedeutete. Was Ruki ihm bedeutete. Doch das wäre falsch. Er sollte sich stattdessen entschuldigen. Rukis Reaktion bestärkte ihn nur in der Überzeugung. Der Kleinere räusperte sich, während er nach Worten suchte. Er schien richtig überfordert. „Also, naja“, setzte der Sänger verlegen an. „Ein flüchtiger Kuss auf die Wange zeugt jetzt auch nicht von sehr viel mehr Mut und Initiative als ein Handschlag.“ Uruha traute seinen Ohren nicht. Überfordert und verlegen war da wohl eine ziemliche Fehleinschätzung gewesen. „Hier geht es schließlich um die Planung unserer Flitterwochen. Da könntest du dich schon ein wenig mehr ins Zeug legen“, setzte Ruki mit einem Schulterzucken nach. „Und wie sollte ich mich deiner Meinung nach mehr ins Zeug legen?“ Uruhas Herz begann wieder zu rasen. Passierte das gerade wirklich? „Du bist kreativ. Da fällt dir sicher etwas ein.“ Der Sänger grinste und biss sich dabei leicht auf die Lippe. Vielleicht um seine Nervosität zu überspielen. Vielleicht um Uruhas Blick auf seine Lippen zu lenken. Vielleicht war es ein Hinweis. Eine Aufforderung. Ein Vorgeschmack darauf, wie Rukis Lippen aussehen könnten, wenn sie leicht gebissen und danach sanft mit einer Zunge verwöhnt wurden. Uruha fasste einen Entschluss. Es war unmöglich, dass er diese Zeichen falsch deutete. Und es war absolut unmöglich, dass er diese Situation jetzt nicht nutzen würde. Vorhin hatte er noch auf den richtigen Zeitpunkt warten wollen und genau dieser schien jetzt gekommen zu sein! Wenn er jetzt den Schwanz einzog, dann würde sich so ein Moment wahrscheinlich erst wieder in 100 Jahren ergeben. Wenn überhaupt! Es war nicht einfach den richtigen Zeitpunkt zu finden, wenn man ständig entweder in Begleitung anderer Bandmember oder Staffmitglieder war – oder der Gefahr ausgesetzt war, von Fans beobachtet zu werden, und das war eigentlich ständig der Fall. Eine Situation, auf die keines dieser Dinge zutraf, gab es nur sehr selten. Außer natürlich, wenn sie alleine in ihrem Hotelzimmer- Rukis Lippen auf seinen warfen ihn völlig aus der Bahn. Er hatte ja gerade selbst fest vorgehabt, seine Lippen auf Rukis zu legen, aber dass es wirklich passierte – so schnell und einfach so! Uruha konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, als er die weiche Haut auf seiner spürte. Am Rande bemerkte er, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und dass er ganz automatisch die Augen geschlossen hatte, um das Gefühl noch intensiver wahrzunehmen. Er bewegte seine Lippen langsam gegen Rukis, passte sich seinen Bewegungen an. Mit der Hand suchte er nach Halt, legte sie auf den Oberschenkel des Anderen und drehte sich ihm noch ein wenig mehr zu, um ihm noch näher zu sein. Ruki war so warm. Oder war ihm selbst nur so warm? Er konnte es nicht sagen und es war ihm auch egal. Alles war ihm egal bis auf die Lippen, die sich so sanft gegen seine bewegten, dass er glaubte, bald verrückt zu werden. Er wollte den Kuss intensivieren und gleichzeitig alles so belassen, wie er war, denn er war perfekt. Nein, er war mehr als perfekt. Mehr als er erwartet hatte und sich wünschen konnte. Der Atem des Sängers strich sanft über sein Gesicht, als sie sich ein paar Millimeter voneinander entfernten. Uruha hielt die Augen noch immer geschlossen. Er lauschte Rukis Atmen und dem Rauschen in seinen eigenen Ohren. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und auch wenn seine Augen geschlossen waren, war er sich sicher, dass Ruki auch lächelte. Er spürte es garantiert auch. Das war der Beginn eines neuen Kapitels im Leben. Ihres gemeinsamen Kapitels. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)