Antinoos von tobiiieee (Tod Auf Dem Nil) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Sei gegrüßt, Fremder, komm heran, setz dich zu mir. Lass dich nicht davon irritieren, dass meine Haut kalt ist, oder meine Lippen blau. Mein Haar ist nass? Nun. Genug der Nebensächlichkeiten. Sag, Fremder, kennst du die Geschichte von Osiris? Wie jede gute Geschichte, die sich die Menschen erzählen, beginnt sie mit einem Brudermord. Du musst wissen, Osiris war nicht immer der Gott des Jenseits, der Gott über die Toten. Einst weilte er genau hier, wie du und ich, in der Nähe von Hermopolis, als König über Ägypten, das fruchtbare Reich am Nil. Das Land gedieh, die Felder wurden jährlich vom Fluss überschwemmt und die Menschen waren zufrieden. Die Sonne schien und die Götter waren gnädig. Doch einer neidete den Ägyptern das Glück. Seth war Osiris‘ jüngerer Bruder und akzeptierte das Recht des Älteren nicht, also schmiedete er einen Plan, wie er den König umbringen konnte. Während Osiris‘ Abwesenheit ließ er eine Holzkiste in exakt dessen Maßen anfertigen; als der König zurückkehrte, machte Seth bei einem Gastmahl ein Spiel daraus, wer es wohl schaffen würde, genau in die Holzkiste zu passen. Nichts Böses ahnend, probierte auch Osiris das Spiel und kaum, dass er in der Kiste Platz genommen hatte, verschlossen die Umstehenden den Sarg mit einem Deckel und Blei. Anschließend warf Seth seinen Bruder in den Nil und der König ertrank. Du bist überrascht, Fremder? Ja, ich denke auch, dass es wohl nicht unbedingt des Sarges bedurft hätte ... Der Strom des Nils ist auch so stark genug, um darin zu ertrinken. Warum meine Tunika so durchnässt ist, fragst du? Ach ... Um zu Osiris zurückzukehren, seine Frau, Isis, machte ihn ausfindig, aber Seth bemächtigte sich erneut des Sarges, öffnete ihn und zerstückelte seinen eigenen Bruder, bevor er die Leichenteile erneut in den Nil warf. Isis suchte daraufhin die Unterstützung von Anubis, um den Körper ihres Mannes wieder zusammenzusetzen und zu beleben. Aber Osiris kehrte nicht mehr in die Welt der Lebenden zurück. Er verblieb im Jenseits und wurde ein Gott. Da geht es mir ähnlich. Aber das hier ist meine Geschichte. Ich bin kein König und getötet hat mich auch nicht mein Bruder. Ich wurde nicht in den Nil geworfen. Du könntest sogar sagen, ich wurde nicht einmal gestoßen. Getrieben, vielleicht. Von ihm. Dennoch ist meine Verbindung zum Nil und zu Osiris eine andere, als du jetzt denken magst. Aber lass mich von vorne anfangen. Mein Name ist Antinoos. Kapitel 1: Die Jagd ------------------- Ich möchte meine Geschichte also etwas weiter westlich beginnen, in der libyschen Wüste. Ich kauerte auf dem kochend heißen Sand, der mir mit jedem Schritt zwischen die Zehen rieselte. Die Oase im Rücken, breitete sich vor mir ein Kosmos voller Sand und Geröll aus; ein leichter Wind blies mir den noch immer schwelenden Rauch des Opfers entgegen, das zuvor erbracht worden war. Ich blinzelte und rieb mir die Augen, wobei Bogen und Köcher an meiner rechten Schulter verrutschten. Ich erhob mich und richtete sie, den Speer in der Linken. Im Sand waren keine Spuren zu erkennen. Keine Anhaltspunkte, wo er zu finden war, dieser angeblich menschenfressende Löwe, der die Bewohner des entfernten Dorfes plagte. Nur die Einsamkeit der Wüste flüsterte unverständlich, leise. Ich schüttelte den Kopf. Das Wispern erstarb.             Die unbesiegbare Sonne brannte in meinem Nacken, an dem noch immer Rötungen zu erkennen sein mussten. Unbewusst berührte ich die Stelle mit meinen Fingerspitzen, spürte den perlenden Schweiß, der sich gebildet hatte in diesen erbarmungslosen Strahlen des Helios. Doch plötzlich war gar nicht mehr die Sonne warm, sondern sein Atem. Ich sträubte mich, als die Bilder vor mir auftauchten. Seine Arme um meine Seiten. Sein Unterleib an meinem Rücken. Er ... in mir. Und sein lüsterner Atem in meinem Nacken. Dieser Hauch, der mich Tag und Nacht peinigte ... Wobei, nein ... Mich mit aller Kraft in die Realität zurückziehend stellte ich fest: Das war kein Atem. Es war der Wind, der drehte. Und der Geruch, den er mitbrachte, drohte tödlich zu sein.             Zögernd, in vollem Bewusstsein, meinem Untergang entgegenzublicken, wandte ich mich um, den Speer erhoben, doch was konnte dieses dünne Stück Holz ausrichten gegen – das? Durch den Rauch, den der Wind langsam auseinander schob, sah ich mich einem vollausgewachsenen Löwen gegenüber; ob er Menschen fraß oder nicht, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Jedenfalls hefteten sich die gelben Augen in diesem gewaltigen Kopf, beinahe auf der Höhe meines eigenen, fest auf mich. Ein Knurren kam aus dem geöffneten Mund mit Reißzähnen so lang wie meine gesamte Hand. Ich erstarrte. Pfeil, Bogen, Speer und auch das Schwert an einem Gurt um meine Hüfte vergessen. Flucht zwecklos. Ich starrte meinem Verderben entgegen, hier in dieser surrealen Wüste. Ich wusste es. Die Vögel hatten es vorausgesagt. Die Jagd stand unter schlechten Auspizien. Die steinige Küste Libyens, die wir auf unserer Reise durch die Provinzen passierten, erinnerte mich an meine Heimat am Pontos. In einem der Dörfer, die wir besuchten, hörten wir von einem Löwen, der schon mehrere Bewohner getötet und mitgenommen hatte, um sie zu fressen. In der Wüste weiter im Landesinneren sollte er sich aufhalten, wenn er nicht zum Fressen ins Dorf kam. Nun war es seine Aufgabe, das Problem zu lösen. Da er Tierhatzen ohnehin genoss und die Jagd seit Jahrzehnten leidenschaftlich betrieb, fiel die Wahl nicht schwer: Der Löwe musste getötet werden. Da es sich aber um kein ungefährliches Unterfangen handelte, mussten vorher Auspizien eingeholt werden: Die Vogelschau konnte uns sagen, ob das Unternehmen glücken würde oder nicht. Genau für solche Fälle reiste unsere Gruppe immer mit mindestens einem Auguren.             Zum Zweck der Vogelschau versammelten sich alle vor dem Dorfeingang. Er herrschte über den ganzen Vorgang in seinem Brustpanzer und seinem dunkelroten Militärmantel. Ich hingegen nahm möglichst unauffällig meinen Platz rechts neben ihm ein, so nah, unsere Knie hätten sich berührt, wenn ich meine Beine nicht angezogen hätte. Bei der Vogelschau galt es immer zu warten: Zunächst mussten die Vögel auftauchen. Solange der Augur vor uns stand und den Himmel absuchte, blieb es ruhig unter allen Umstehenden. Die libysche Hitze machte ihnen zu schaffen. Und ich nahm den Geruch seiner Haut neben mir wahr. Gesalbt. Leicht verschwitzt. Wie in der Nacht zuvor ...             Als er fertig war, knabberte er an meinem Nacken. Er tat gerne so, als wäre alles normal. Vielleicht flüsterte ihm die Nacht nicht ins Ohr. Vielleicht hörte er nichts. Sah nichts. Schlief einfach ein. Ruhig. Wie im Tod, dem allmächtigen Zwillingsbruder des Schlafs. Vielleicht ließ ihm seine Seele Ruhe. Ich wüsste zwar nicht, wieso. Aber so schien es zu sein. Ich sah ihn ja. Friedlich schlummern. Jede Nacht. Stundenlang konnte ich ihn so im Dunkel beobachten, bis die frühen Morgenstunden auch mir Schlaf brachten, Hypnos, den süßesten aller Liebhaber. Denn obwohl er mich regelmäßig durchrüttelte und mich nicht minder erschöpft als vorher zurückließ, musste ich ihn mögen. Wer sonst sollte mir jemals Erlösung bringen, wenn nicht die Götter?             Die Antwort folgte prompt. Während mich Erinnerungen und ungebetene Gedanken überrollten, flogen, von mir völlig unbemerkt, die ersten Vögel. Ich bekam es zwar nicht mit, doch es musste so sein. Denn – getragen von der Brise, als ob sie über einen unsichtbaren Faden mit dem Himmel verbunden wäre und sichergehen wollte, dass sie ihr Ziel fand – langsam und allmählich segelte eine schwarze Feder auf meinen Schoß, wo sie auf dem Rock meiner gegürteten weißen Tunika liegen blieb. Mit angehaltenem Atem starrte ich die Feder an. Bei der Größe musste ein Geier sie gelassen haben. Trotz Hitze gefror mein Körper von innen, als ob mir ein Eissamen in den Magen gerutscht wäre: Durch die Blutgefäße breitete sich die Kälte aus, bis sie meine Arme, meinen Nacken, meine Schenkel erreicht hatte.             „Herr.“ Ich schreckte aus meiner Starre. Der Augur hatte sich uns genähert, um das Ergebnis der Vogelschau zu verkünden. „Es steht fest. Die Jagd auf den Löwen ist keine gute Idee. Du wirst verlieren, was dir lieb und teuer ist. Die Götter verkünden es so und werden ihr Wort mit einem Zeichen bestätigen.“             „Und was soll das sein?“, fragte er spöttisch. Der Augur sah an ihm vorbei zu der Feder, die ich zwischen die Finger genommen hatte und hochhielt. Auch er wandte sich um. Stille breitete sich aus. Sein strenger Blick unter den zusammengezogenen Augenbrauen richtete sich fest auf mich, während ich versuchte, ihn stumm um Hilfe zu bitten. Er nahm mir die Feder ab. „Ist die von einem Geier?“             Der Augur legte den Kopf schief. „Nein, eine Geierfeder ist sogar doppelt so groß. Ich würde sagen, diese ist ... von einem Ibis, Herr. Sie leben am See hier im Ort.“             Er versank in nachdenklichem Schweigen. Mein Herz raste. Die schwarze Feder und die Vorhersage des Auguren ließen mich an der Unternehmung zweifeln. Ich wollte diesen Löwen nicht jagen. Die Jagd war auch ohne schlechte Vorzeichen gefährlich, gerade auf Raubtiere. Schließlich richtete er sich auf. „Unsinn. Wir werden diesen Löwen jagen und erlegen.“             „Aber Sebaste!“, rief ich aus. Der Kopf des Kaisers fuhr zu mir herum.             „Erinnerst du dich, wie ich einst einen Eber mit einem einzigen Pfeil getötet habe?“ Ich nickte zögernd. „Nun, für den Löwen werde ich vielleicht drei mitnehmen. Und du wirst dabei sein, wenn er tot zu Boden fällt.“ Im Moment sah es danach allerdings überhaupt nicht aus. Der Löwe kam langsam in einem Bogen auf mich zu, die gelben Augen starr auf mich gerichtet, die hellbraunen Pranken nacheinander vom Sand hebend, und ich spürte bereits Hypnos‘ Bruder Thanatos angenehm über meine Haut streichen: Er versprach mir ewige Treue. Kein Leiden mehr. „Antinoe ...“, flüsterte er mir ins Ohr, körperlos. „Komm zu mir ...“ Und als er mich auf die Lippen küsste, zog er meinen Atem mit sich, umschloss meine Gliedmaßen in diesem angenehmen ... Nichts ...             „Antinoe!“ Deutlich lauter hörte ich meinen Namen in der Wüste widerhallen, als auch schon ein Pfeil die Flanke des Löwen traf. Er brüllte und wandte sich um, woraufhin ein weiterer Pfeil in seiner Stirn landete. Nun kreischte er, versuchte, den Pfeil aus seinem Kopf zu schütteln, rasend und erbost, als er scheiterte. Dennoch preschte der Kaiser auf ihn zu, den Speer erhoben, den er ihm in der Folge in die Brust rammte und wieder hervorzog. Der Löwe strauchelte; Blut quoll aus der Wunde. Ein letzter Pfeil, aus direkter Nähe abgefeuert, traf ihn zwischen die Augen. Der mächtige Kopf sank zu Boden. Der Sand begann sich rot zu verfärben. „Antinoe!“, schalt mich der Kaiser nun. „Warum hast du nicht gerufen, als du den Löwen gefunden hast?“             „Er hat mich gefunden!“, rief ich, höher als beabsichtigt.             „Und warum tust du dann nichts?“ Der Kaiser kam auf mich zu, packte mich an beiden Oberarmen und schüttelte mich leicht. „Bist du in Ordnung?“             Statt eine Antwort zu geben, sah ich in seine Augen, klein, etwas eng zusammenstehend. Alt. Und verängstigt. Er zog mich an sich und küsste mich, mitten vor der ankommenden Jagdgesellschaft. Ich legte meine Hände an seinen Brustpanzer, eigentlich in der Absicht, ihn wegzudrücken, doch ich konnte die Kraft nicht aufbringen. „Ich bin nicht sicher“, sagte ich, als er mich schließlich losließ.             Statt seiner Hände erinnerte ich mich an Thanatos‘ Gefühl auf meiner Haut, seine Umarmung, seine kühle Berührung. Erneut wisperte die Wüste mir zu, doch mein Blut rauschte noch immer zu laut in meinen Ohren, um geflüsterte Worte zu verstehen. Das Blut des leblosen Löwen ergoss sich hingegen weiter über den Sand. Es hätte auch meines sein können, überlegte ich, während ich angewidert beobachtete, wie die Lache immer größer wurde. Die Ibisfeder hatte mir gesagt, dass es meines hätte sein sollen.             Der Ibis ... bedeutete Gefahr. Kapitel 2: Schatten der Nacht ----------------------------- Die Nacht war über die Kyrenaika hereingebrochen, nachdem wir aus der Wüste in Richtung der Küste in unsere Unterkunft zurückgekehrt waren. Das Wispern hatte mich seitdem nicht verlassen, doch ein zunehmendes Rauschen lag darüber. „Du bist überhaupt nicht bei der Sache“, raunte der Kaiser folglich an meinem Ohr, während eine seiner Hände über meinen Schenkel fuhr, die andere über meine Brust. Anschließend küsste er an meinem Hals entlang. „Hat dich der Löwe so erschreckt?“             „Warum hast du ihn aufgehalten?“, fragte ich zurück. Ich setzte mich ihm im Dunkeln auf dem Bett gegenüber zurecht.             „Was, hätte ich zusehen sollen, wie er dir den Kopf abreißt?“, fragte der Kaiser. Es war jetzt kein Raunen mehr, sondern seine normale, tiefe, strenge, ans Befehlen gewöhnte Stimme. Seine Hände lagen nicht mehr auf meinem Körper.             „Die Götter wollten es so“, beharrte ich.             Der Kaiser lächelte und näherte sich mir wieder. Mit einem Blick nach unten konnte ich mich überzeugen, wie bereit er war. „Da hast du ja Glück, dass du deinen ganz eigenen Gott auf deiner Seite hast.“ Seine Stimme war wieder ein Raunen geworden. So als ob nichts zwischen uns stehen würde, begutachtete er meinen ganzen Körper mit Händen und Mund. Ich legte mich aufs Bett und ließ ihn machen. Natürlich war der Kaiser nicht wirklich ein Gott. Aber zugegeben, er lebte wie einer. Fünf Jahre zuvor hatte ich erstmals einen Fuß in seine palastartige Villa bei Tibur gesetzt. Am Rand des Hofs um mich herum erhoben sich goldene Säulen in Richtung der Götter, gigantisch, bestimmt zehnmal so groß wie ich selbst. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um die Figuren im Giebel zu erkennen: links ein Adler, der einen troischen Jüngling in die Lüfte hob und mit sich nahm; rechts derselbe Jüngling, der Zeus Wein einschenkte. Ich wandte den Blick ab. Es war nicht der Zeitpunkt, um über Ganymeds Schicksal nachzudenken. Ich hatte den Auftrag, in der Bibliothek des Kaisers für Ordnung zu sorgen.             Vom Platz der goldenen Säulen aus musste ich den Palast durchqueren, um zur Bibliothek auf der anderen Seite zu gelangen. Stets den Kopf ein wenig in den Nacken gelegt, die Augen umherwandernd, um ja nichts zu verpassen, keine Statue zu übersehen, keine Wandmalerei, kein kostbares Gold, nicht etwa den Marmor unbeachtet zu lassen, trat ich langsam, mich immer weiter umsehend, in den Palast ein, um jäh in der Tür stehen zu bleiben. Ich bemerkte, es war ein Fehler gewesen, nur nach oben zu schauen: Sogar den Boden zierten Mosaike, in sich verschlungene Muster, Knoten, Blumen, Ranken, Blätter, unendlich ineinandergreifend, und als ich versuchte, ihnen mit den Augen zu folgen, begann ich mich im Kreis zu drehen in dieser enormen Halle, in der noch immer das Gelächter Tausender Gäste verweilte, der Geist all dieser Menschen, die hier durchgegangen sein mussten: Sie waren förmlich zu spüren in dieser Luft, die auch sie geatmet hatten.             Doch meine Augen sagten mir unmissverständlich, dass ich in diesem weitläufigen Palast allein war. Mein Kopf ging von links nach rechts. Der zurechtgeschnittene Marmor im Boden, der die verwirrenden Formen bildete, war warm; auch hier standen goldene Säulen, allerdings vor roten Wänden, so rot wie das Blut der imaginären Gäste, durch die ich mich hindurch schlängelte, die aber nicht existierten. Da sie nicht hier waren, klebte das Blut, das sie besessen hätten, an den Wänden. Und es war bereits so lange da, dass es einen dunklen, bräunlichen Ton bekommen hatte.             Ein Windhauch ging durch die Halle und die Statuen in den Zwischenräumen der Säulen fröstelten: Hermes, auf einem Sockel stehend, den Heroldsstab in der Hand, zog seine spärliche Bedeckung enger um sich, wobei der geflügelte Helm auf seinem Kopf verrutschte. Ich bewegte mich wie magisch angezogen auf ihn zu, fuhr mit der Hand über die steinerne Brust. „Welche Botschaft hast du für mich, o Träger des goldenen Stabes?“, fragte ich unwillkürlich. Ein plötzliches Prickeln in meinem Nacken ließ mich herumfahren: Sicherlich war dieses Geräusch gerade eben nicht nur der Wind gewesen? Dieses Geräusch, das von den Wänden widerhallte und geklungen hatte wie ... ein Keuchen?             Ich wich einen Schritt zurück gegen Hermes, suchte die Halle atemlos mit den Augen ab. Wer war da? Wer schlich durch den Kaiserpalast und wollte nicht gesehen, nicht erkannt werden? Wer würde sich gleich mit seinen Schritten verraten? Würde er womöglich auf mich zustürmen? Welche Gestalt würde er annehmen? Würde er mich mit sich reißen, wie Zeus Ganymed der Stadt Troia entrissen hatte? Mein Herz schlug wie eine Trommel, während meine Hand nach hinten griff, um sich an Hermes‘ Beinen festzuklammern: Wer immer mir nachstellte, konnte unmöglich göttliches Asyl überwinden. Zitternd, mit zum Zerreißen gespannten Nerven verharrte ich zu Hermes‘ Füßen; Minuten vergingen; nichts geschah. Hatte ich mir das Keuchen eingebildet? Jedenfalls hörte ich es nicht noch einmal.             Indem ich mich aufrichtete, sah ich nach oben zu Hermes‘ Gesicht. „Sag, o Psychagoge“, sprach ich ihn an, „wo finde ich wohl die Bibliothek?“ Der Stab des Gottes wies zu meiner Rechten. Ich folgte dem Wink mit den Augen: Hinter der Türöffnung am anderen Ende der Halle ließ sich in Ansätzen ein Hof erahnen. Mir war gesagt worden, dass sich dahinter die Bibliothek befand. Ich wandte mich ein letztes Mal an Hermes: „Zum Dank werde ich dir ein Opfer darbringen.“             So schnell wie möglich durchquerte ich die einsame, riesige, leere Halle. In der Tür wandte ich mich ein letztes Mal um: Das Sonnenlicht schwand und mit ihm die Pracht des Saals, schwand vor meinen Augen so wie Eurydike vor Orpheus. Würde auch dieser Ort in den Hades sinken?             Ich schüttelte den Kopf, schüttelte den Gedanken ab, und betrat den Hof der Bibliothek. Auch er war von einem Säulengang umschlossen, glich allerdings mehr einem Garten mit Faunen, Satyrn und Nymphen. Ich atmete durch in der Ruhe, die sich hier bot, schloss die Augen, begann, das Vogelgezwitscher und Zikadenzirpen zu hören, das nur Momente zuvor noch nicht da gewesen sein konnte. Bilder stiegen in mir auf, Bilder aus der Heimat, Pinien am Dorfrand, warme Sonne auf den Straßen, der Pontos in wenigen Stunden erreichbar, und den ganzen Weg war nichts anderes zu hören als das Knirschen der Schritte, die Vögel und die Zikaden ... Ein nicht außergewöhnliches, aber dafür zufriedenes Leben, bis eines Tages dieser Mann im roten Imperatorengewand ... –                 „Antinoe!“ Die Stimme des Kaisers schreckte mich aus meinen Gedanken, während ich spürte, wie sich etwas Warmes auf meinem Bauch ausbreitete. Er küsste mich auf eine Art, die er für liebevoll hielt, und sackte langsam über mir zusammen, als die letzten Wellen der Lust aus ihm herausschwappten. Er keuchte in mein Ohr und ich spürte seinen heißen Atem an der Seite meines Halses. Mit sanftem Druck meiner Hand an seiner Seite bedeutete ich ihm, nicht auf mir liegen zu bleiben; er zog sich von mir herunter, wobei er auf den Rücken rollte, einen Arm an den Kopf gehoben, so liegen blieb und immer noch schwer atmete. Ich war die ganze Zeit nicht einmal ins Schwitzen gekommen.             Doch eines war mir klar geworden: Das Keuchen aus meiner Erinnerung ... war jenes des Kaisers gewesen. Ich richtete mich im Bett auf, wobei das Resultat seiner Lust an mir herablief, und konnte ihn nur ungläubig anstarren. „Du hast mich beobachtet“, hauchte ich.             „Ich seh dich dabei eben gerne an“, sagte der Kaiser, ohne die Augen zu öffnen.             „Nein, ich meine – damals. In deiner Villa.“             Er blinzelte im Dunkel ein paarmal, ehe er sich schließlich auch aufrichtete. Er lächelte. „Statt die Bibliothek aufzuräumen, hast du dir die Bücher angesehen“, sagte er fröhlich. „Das hat mir gefallen.“ Er fuhr mit seinen Fingerspitzen meinen Hals hoch zu meinen Locken, die er mir hinter Ohr strich, bevor er seine Lippen auf meinen Kiefer setzte.             „Aber ...“ Ich erzitterte vor meiner Erkenntnis in diesem Moment. Er musste es wohl mit Erregung verwechseln. Seine Zunge fand ihren Weg zu meinem Ohr.             „Und außerdem ...“, fügte er wispernd hinzu, „nun ja ... schau dich doch nur an, deliciolae. Obwohl. So klein bist du gar nicht mehr.“ Seine Hand wanderte zu meinem Schoß. „Nicht wahr?“             „Sebaste ...“, flüsterte ich.             „Oh, ich bin es leid, immer nur Sebastos, Dominus, Kyrios, Despotes von dir zu hören“, sagte der Kaiser, wobei er den Druck auf meine nur langsam anschwellende Erektion verstärkte. „Ich denke, so langsam kennen wir uns gut genug, dass du einfach Hadrian sagen kannst. Meinst du nicht?“             Ich schlug die Augen nieder. Seine Hand, von uns beiden unbeachtet, arbeitete weiter an mir. „Aber Sebaste ...“             Der Kaiser seufzte. „Na gut. Dann gehorche aber wenigstens deinem Sebastos und kletter brav auf seinen Schoß ...“ Seine Hand ließ unerwartet von mir ab; mir stieg die Röte ins Gesicht, als ich merkte, dass ich weitermachen wollte. Vielleicht nicht unbedingt mit ihm, schoss es mir mit einem Blick auf den Kaiser durch den Kopf. Aber sonst war hier niemand. Widerwillig erklomm ich also seinen Schoß und begann, meine Arme um seine Schultern geschlungen, ihn zu küssen und mich an ihm zu reiben. Ich war ihm nun seit etwa vier Jahren im Bett zu Diensten. Nach dem Auftrag in der Bibliothek wurde ich eines Tages mit Wein, Käse und Feigen zum Kaiser geschickt, der sich in der Nachmittagssonne vor dem Tempel, der zu seiner Villa gehörte, um seine Korrespondenz mit dem gesamten Reich kümmerte. Da also ein Ende der Arbeit nicht in Sicht war und es noch eine lange Zeit bis zum Abendessen war, sollte sich der Kaiser etwas stärken.             Ich fand meinen Weg nicht sofort. Das Gelände war so weitläufig und die Gebäudestrukturen so zahlreich, dass beinahe das Viertel einer Stunde vergangen war, bis ich überhaupt am Kanopos, dem Garten vor dem Tempel, ankam. Den Henkelkrug und die Weinschale in der einen Hand und die Platte auf der anderen balancierend, nahm ich den Ort in Augenschein. Ich war in meiner Zeit in der Villa noch nicht hier gewesen, fand aber auf den ersten Blick, dass das Wort Kanopos, also die Bezeichnung eines Sterns, unpassend war. Vor mir befand sich ein langgestrecktes Wasserbecken umgeben von Säulengängen, ein Sternenhimmel war aber weit und breit nicht zu sehen. Doch am Ende, vor dem Tempeleingang, konnte ich immerhin Menschen ausmachen.             Ich lief an dem Wasserbecken vorbei, was einige Momente dauerte; es war so lang, die Ansammlung vor dem Tempel wollte und wollte einfach nicht näherkommen. Schließlich kam ich an, und ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Dort, auf einem steinernen Halbrund, ausgestattet mit Polstern, saß der Kaiser, zusammen mit seinem für Briefe verantwortlichen Sekretär, in tiefster Konzentration über Wachstafeln gebeugt, die ihm aus Britannien, Spanien, Dakien, Pannonien, Ägypten, Gallien und auch aus Rom zugesandt worden waren, die Geschicke der Welt buchstäblich in seinen Händen.             Der Kaiser wurde auf mich aufmerksam. „Domine“, stotterte ich, „ich wurde geschickt ...“ Der Kaiser hob eine Hand, womit er allerdings nicht mich, sondern seinen Sekretär entließ. Er und ein paar Bedienstete sammelten die Tafeln ein und verschwanden damit aus Sichtweite, doch ich bemerkte gar nicht, wohin. Ob sie uns also noch hören konnten, vermag ich nicht zu sagen. Ich war fasziniert vom Kaiser, dem mächtigsten Mann der ganzen Welt, ein wandelnder Gott, direkt vor mir. Er trug nicht das kaiserliche Prunkgewand, in dem ich ihn das erste Mal gesehen hatte, auch keinen Brustpanzer, sondern nur eine gegürtete, goldverzierte Tunika; nicht die roten Schuhe des Pontifex Maximus, der er war, sondern gewöhnliche Sandalen. Das alles sollte mir den Eindruck vermitteln, dass ich, ebenfalls in eine Tunika gekleidet, ihm ebenbürtig war, und trotzdem ... Er war der Kaiser.               „Domine ...“, begann ich erneut, ohne zu wissen, was ich sagen sollte.             „Bist du Römer?“, unterbrach mich der Kaiser. Ich schüttelte den Kopf, während ich mich endlich daran machte, ihm die Früchte und den Käse hinzustellen. Er nahm meine Antwort zum Anlass, ins Griechische zu wechseln.             „Der Wein ist bereits gemischt“, informierte ich ihn, als ich auch die Schale abstellte und Wein aus dem Krug hineingoss. Schüchtern aufblickend konnte ich mich davon überzeugen, dass der Kaiser seine Augen nicht einen Moment von mir genommen hatte.             „Setz dich“, forderte er mich auf. Ich zögerte. Er wies auf einen Platz neben sich. Sicherlich war es nicht richtig, sich zum Kaiser zu setzen wie ein Gast, nicht wie ein Bediensteter; sicherlich gab es dringlichere Dinge zu tun? Doch wie dem Kaiser etwas ausschlagen? „So ist gut“, sagte er, als ich mich setzte. Er nahm von dem Käse. „Sag, mein Junge, wo stammst du her?“             Er jedenfalls klang nicht wie ein Römer. Sein Griechisch war das Athens. „Aus Bithynien, o Sebaste“, erwiderte ich. Ich schlug die Augen nieder. Angesichts seines sauberen Attisch schämte ich mich beinahe meines provinziellen Akzents.             „Ah“, machte der Kaiser. „Ich erinnere mich.“ Mein Blick schoss sofort zurück in seine Richtung. Als Kaiser musste er Tausende Menschen täglich sehen, musste Hunderte persönlich in seine Dienste berufen haben – und an mich erinnerte er sich? „Das ist jetzt zwei Jahre her – ich hab dich fast nicht erkannt.“             Auch daran erinnerte er sich also. Wie lange es her war. Wusste er auch noch, dass ich damals einen Kopf kleiner gewesen war? Dass meine Locken, einst eng am Kopf anliegend, seitdem gewachsen waren, sodass sie mir nun in den Nacken fielen?              „Wie gefällt es dir hier bisher?“, fragte der Kaiser rundheraus, wobei er nach einem weiteren Stück Käse griff.             „Sebaste?“             Der Kaiser machte eine die Umgebung umfassende Geste. „Hier? Du musst wissen, das Gelände wird nach meinen Entwürfen gestaltet.“             „Dann ist es wunderbar“, sagte ich augenblicklich. Der Kaiser schmunzelte unter seinem Bart. Er griff nach dem Wein. „Vergleichbar sicherlich nur mit den Hallen des Zeus, Herr.“             „Eine sehr kluge Antwort. Es gibt durchaus unweise Männer, doch ich sehe, du gehörst nicht dazu.“ Er stellte die Schale zurück und nahm sich diesmal eine Feige, aß sie aber nicht sofort. „Ich denke, ich möchte, dass du jetzt immer derjenige bist, der mir etwas zu essen bringt. Und wer weiß, wenn du den Kaiser weiterhin erheiterst, befördert er dich vielleicht.“ Die Augen starr auf mich gerichtet, biss er nur sehr langsam von der Feige ab, deren Fleisch sich blutrot zeigte. Ich konnte damals nicht sagen, was es war, das mich an diesem Anblick störte, doch ich schlug schnell die Augen nieder.             „Es gibt viel zu tun ...“, sagte ich sinnloserweise.             „Und ich will dich auch gar nicht weiter aufhalten.“ Der Kaiser entließ mich und ich erhob mich von der Bank. Ein letztes Wort richtete er allerdings noch an mich: „Du scheinst schnell zu wachsen, denn wie ich sehe, ist deine Tunika etwas knapp. Ich werde mich persönlich um das Problem kümmern ...“             Entgegen seinem Wort verschwanden auf magische Weise alle größeren Tuniken aus dem Hause und ich war gezwungen, weiterhin meine langsam tatsächlich knapp werdenden Kleider zu tragen, was deutlich mehr Haut an meinen Schultern und Schenkeln freiließ. Es dauerte nicht lange, bis er diese Stellen „aus Versehen“ zu berühren begann. Nur ein kurzes Streifen mit den Fingerkuppen. Ich schreckte zurück, doch er schien gar nichts gemerkt zu haben, redete ich mir ein, denn er tat so, als wäre nichts passiert, blieb ruhig. Also versuchte auch ich, Ruhe zu bewahren. Auch, als es ein zweites Mal geschah. Ein drittes. Ein viertes. Auch, als er mich in scheinbarer Freude des Wiedersehens um die Taille an sich zog und seine Hand „abrutschte“.             Diesmal konnte er nicht so tun, als wäre nichts passiert. „Verzeihung, ein Versehen“, sagte er und nahm seine Hand von meinem Gesäß. Wäre es wirklich ein Versehen gewesen, hätte er sie sicherlich schneller weggenommen, doch in meinem Schreck dachte ich daran gar nicht. Ich stellte Krug und Tablett ab und machte mich schnellstmöglich auf den Rückweg.             Als ich am nächsten Tag die Küche betrat, standen Wein, Käse und Früchte wie immer bereit. „Heute ist der Kaiser nicht am Kanopos“, informierte mich der Koch. „Er erwartet dich in seinen Gemächern.“             „Wieso das?“             Der Koch grinste fies. „Er wird wohl ... im Bett liegen.“             „Geht es ihm nicht gut?“, fragte ich besorgt.             Der Koch konnte nun kaum sein Lachen unterdrücken. „Ich bin sicher, wenn du bei ihm gewesen bist, wird es ihm besser gehen, also beeil dich.“ Seinem Rat folgend, flog ich förmlich ans andere Ende der Villa, wo sich Kaiser für gewöhnlich bettete. Ich erwartete, den Kaiser wie immer im Beisein seines Sekretärs anzutreffen.             „Hier ist gar niemand“, stellte ich allerdings fest, als ich die Wachen passiert und das Gemach betreten hatte. Die geschlossenen Türen hinter mir, sah ich mich im Raum um.             „Ganz recht“, bestätigte mir der Kaiser. Er sah nicht krank aus. Vielleicht etwas fiebrig, wie er da auf dem Ende seines Bettes saß und mich beobachtete. Ich wollte ihm den Wein bringen, doch er bedeutete mir, ihn auf einem Tisch abzustellen. „Komm her, Antinoe“, wies er mich dann an. Ich ging auf ihn zu, blieb allerdings respektvoll nicht direkt vor dem Bett stehen.             Der Kaiser hingegen hob die Hände, packte mich an der Hüfte und zog mich zu sich; er begann, mit seinen Händen grob an meinen Seiten entlangzufahren. Augenblicklich versuchte ich, mich seinem Griff zu entziehen. Was sollte das?             „Antinoe ...“, sagte der Kaiser, und ich wunderte mich über diesen Ton, den ich noch nie vorher gehört hatte. Damals dachte ich, dass er ernsthaft krank sein musste, erkältet vielleicht, und geschwächt. „Ich halte es nicht mehr aus ... Du bist so schön ... ich muss dich haben.“             „Wa–“, machte ich, denn ich verstand nicht, da machte der Kaiser seinen Wunsch deutlich, indem er den Gurt um meine Tunika löste. Ich erstarrte auf der Stelle. „Nein ...“, murmelte ich, auch wenn irgendetwas in mir wusste, dass es zwecklos war.             „Du wirst deinem Kaiser zu Diensten sein“, sagte er da nämlich. Er lächelte. „Zuerst mit einem Kuss.“ Ich wusste natürlich, was er meinte. Doch ich konnte nicht. Dieser Mann vor mir war älter als mein Vater. Der Gedanke war nichts minderes als ... abstoßend.             Ich fiel auf die Knie und versuchte es mit einem Kuss auf den Saum, doch der Kaiser schüttelte bereits den Kopf.             „Nicht so ein Kuss, deliciolae ...“, sagte er zufrieden grinsend. „Wobei ... bleib noch kurz so.“ Und er beugte sich zu mir, um mir die Tunika über den Kopf zu ziehen, ehe er sie zu Boden gleiten ließ. Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Ich kniete in nichts als einem Lendenschurz vor ihm. „Erhebe dich, Antinoe ...“ Als meine Muskeln nicht gehorchen wollten, zog er mich auf die Beine; anschließend fuhren seine Hände über meinen nun entblößten Bauch, die Hüften, Schenkel, meine Rückseite, während ich mich irgendwie zu verstecken versuchte ... Und er wartete immer noch auf seinen Kuss.             Gezwungenermaßen beugte ich mich vor: Ich spitzte die Lippen, schloss die Augen und versuchte, mir ein süßes Mädchen anstelle eines alten Mannes vorzustellen, dessen schwarze Locken von den erstem weißen Haaren durchzogen wurden. Ein süßes Mädchen. Es grauste mir zwar davor, dass es einen dichten Bart haben würde, doch in meinen Gedanken war es dennoch ein süßes Mädchen. In meinem Alter. Langes, dunkles Haar, wunderschöne große Augen, schmale Schultern, eine weiche Brust, ausladende Hüften ... ein süßes Mädchen, süßes Mädchen, süßes Mädchen ...             Sein Bart kratzte an meinem Gesicht, als ich meine geschlossenen Lippen auf seinen Mund presste. Er küsste mich leidenschaftlich zurück, ganz anders, als ich mir einen Kuss vorgestellt hatte, und zog mich, die übermächtigen Arme erstickend fest um meinen Körper geschlungen, an sich, auf sich, drückte mich aufs Bett, entgürtete schließlich seine eigene Tunika, die er dann achtlos zu Boden warf und unter der er nichts trug. In einem letzten Versuch schüttelte ich den Kopf. „Sebaste ... bitte nicht ...“ Aber den zweiten Teil schien er nicht gehört zu haben. Vielleicht, wenn ich ihn lauter geäußert hätte ... Oder er wollte ihn gar nicht hören ...             Vier Jahre später und hier waren wir, Bauch an Bauch zusammengeklebt, der Kaiser aufs Bett zurückgesunken, mich auf ihm, wir beide schwer atmend, seine Hände an meiner Rückseite langsam erschlaffend. Ich hob den Kopf und sah in dieses Gesicht, das mich nun schon so lange verfolgte. Und ich konnte zu keinem anderen Schluss kommen: Das alles war schon immer sein Plan gewesen. Kapitel 3: Geschäftigkeit ------------------------- In der Folge setzten wir unsere Reise durch Libyen fort. Durch das Gedränge auf den Straßen der Hafenstadt, die wir als nächstes passierten, gab es fast kein Durchkommen: Alle Welt wollte den Kaiser sehen. Um nicht verloren zu gehen, musste ich so nah am Kaiser wie möglich laufen, ohne dabei allerdings auf seine lange purpurne Toga zu treten. In Gedanken war ich noch immer bei meinen Erkenntnissen jener Nacht. Mit gesenkten Augen ging mein Blick weder nach links noch nach rechts. Die Hitze Nordafrikas ließ mich schwitzen; das Johlen der Menge ließ mich erzittern. Ich schaute nur auf die voluminöse wie blutgetränkte Toga vor mir. Ich versank tief darin. Ein Junge von zwölf Jahren, war ich auf dem Weg nach Hause. Die Luft um die Pinien herum flirrte; Zikaden waren zu hören, ein leichter Wind begann einzusetzen. Ich konnte die Schilder vor den Läden knarzen hören, während meine Schritte in den Gassen meiner Heimat widerhallten. Ich lief schneller, mein eigenes Echo in den Ohren. Statt weiter nach Hause zu eilen, schlug ich jetzt die Richtung von Markt und Gymnasion ein. Die Fensterläden in den Straßen waren zugeschlagen. Wo waren alle? Ich bog nach rechts ab in eine sonst belebte Gasse, an deren Ende sich das Gymnasion befand, und in der ich endlich Menschen erkennen konnte. Sie riefen mir hinterher, als ich an ihnen vorbeilief, doch mit all dem Blut, das in meinen Ohren rauschte, hörte ich nicht, was sie sagten; ich wollte das Gymnasion passieren und den Markt ansteuern, um zu erfahren, was los war. Auf dem Platz konnte ich schon von Weitem die Menschenmenge erkennen, die sich versammelt hatte. Ich kürzte über die Stufen ab, die zum Gymnasion führten, und alles, woran ich mich heute noch erinnere, ist ein tiefes Rot, als ob jemand ein großes weißes Stück Stoff in einer ganzen Wanne voll dunklem Rotwein getränkt hätte und es einfach nicht trocken werden wollte. Ich weiß noch, ich hielt an, doch mehr als den Purpurton gibt meine Erinnerung heute nicht mehr her, keine Umgebung, keine Geräusche, keine anderen Gesichter. Langsam ging mein Blick nach oben, über Bahnen von wallendem Stoff, der mehrfach um ausladend breite Schultern gelegt war, vorbei an einem kurz geschorenen, dichten Vollbart und in ein Gesicht, das wie von schwarzen Locken behelmt war, und das mit einem Lächeln auf mich herab blickte, das nicht so recht zu den wachsamen Augen passen wollte. Ich schluckte. „Verzeihung, Herr.“ Natürlich erkannte ich dieses Gesicht damals von den Statuen, die bei uns auf den Plätzen standen. Das ganze Dorf hatte seine Wohnungen und Läden verlassen, um einen Blick auf den Kaiser zu erhaschen, der dem Ort einen Besuch abstattete. Niemals hätte ich geahnt, was dieses Lächeln zu bedeuten hatte – für mich bedeuten würde. Nur Stunden danach redeten kaiserliche Vertreter mit meinen Eltern. Ich wurde nach Rom geschickt. Ich erhielt eine Haussklavenausbildung, um zwei Jahre später meine Arbeit in der Villa in Tibur aufzunehmen. Wiederum nach einem Jahr wurde ich ins Schlafgemach des Kaisers gebeten. Während ich also an einen Zufall geglaubt hatte, der mich bereits seit vier Jahren ans Bett des Kaisers fesselte, das wurde mir nun mit einem Blick auf die tiefrote Toga vor mir klar, war meine Situation in Wahrheit das Resultat jahrelanger Pläne und Machenschaften. Damals, auf den Stufen vor dem Gymnasion, das der Kaiser zu besuchen im Begriff gewesen war, hatte er mein Schicksal beschlossen. Nur langsam hatte er mich in diese Position hineingedrängt. Alle Teile fielen perfekt in eine Reihe. Er gab mir scheinbar zufällig seine Aufmerksamkeit und beförderte mich zu angenehmeren Tätigkeiten, dafür tat ich so, als ob ich nicht merkte, dass er mich berührte, wo seine Hände nichts zu suchen hatten. Und am Ende blieb mir keine Wahl. Er war der Kaiser. Eine Hand strich über meinen Oberarm und ich wich augenblicklich zurück, wobei ich über den Saum der kaiserlichen Toga strauchelte. Der Tross vor und hinter uns hielt an und der Kaiser wandte sich zu mir um. Eine Frau aus der umstehenden Menge hatte die Nähe ausgenutzt, um mich zu berühren. Mit entsetzt aufgerissenen Augen starrte ich sie an, während sich eine noch dichtere Traube aus Frauen bildete. „Liebling des Kaisers!“, riefen sie. Ich fror auf dem Boden fest. Sie skandierten sich in Raserei. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie würden mich in Stücke reißen, wie die Mänaden Pentheus in Stücke gerissen hatten. Ich wich einen Schritt zurück, als ich die Hand des Kaisers im Rücken spürte. Er wandte sich an die Menge. „Ich weiß, ist er nicht schön?“, sagte er über mich, während meine Augen in der Umgebung hin und her rasten, irgendwo auf der Suche nach einem Ausweg; mein Herz schlug wie eine Jagdtrommel in meiner sich schnell bewegenden Brust, in der kaum ein Atemzug Platz finden wollte. Mensch an Mensch stand die Menge wie ein Dornendickicht, durch das es kein Durchkommen gab, kein Entrinnen, sollte Pan erscheinen und seine Flöte erklingen lassen, um den hier Versammelten seinen Geist einzuflößen. Ich sah mehr Hände nach mir greifen, ich fiel, Menschen trampelten über mich hinweg, schleiften mich mit sich wie Achilles den leblosen Hektor, hängten mich auf und rissen mir nach und nach die Gliedmaßen auseinander, bis ich in sieben Stücke geteilt war wie Dionysos von den Titanen, und alles, was mein abgetrennter Kopf noch sehen konnte, waren schwarze Vögel, die in einem Federsturm über den Himmel flogen, aus dem ein Ibis herabfuhr und mich mitnahm ... „Antinoe, sieh nur“, flüsterte der Kaiser neben mir, „wie sehr sie dich lieben.“ Mein Kopf ruckte, als die Bilder vor meinen Augen verschwanden. Ich verstand nicht, was der Kaiser meinte. Vor mir erstreckte sich ein Meer aus Harpyien, grotesk lang verzogen sich die Gesichter der Umstehenden, aus ihren Mündern erschollen die Rufe von Krähen, die mir die Kälte in Knochen und Adern trieben. Aus ihren Schultern begannen dunkle Federn zu sprießen, die zu Flügeln wurden, jeder so groß wie ein Mann. „Liebling des Kaisers!“, krächzten sie, zeigten mit langen, krummen Fingern auf mich. „Stirb!“ Doch als ich blinzelte, stand nur noch eine alte, etwas gebeugte Frau in der Menschentraube vor mir, die Frau, die mich am Arm berührt hatte. „Junge“, sagte sie endlich zu mir. „Du siehst meinem Sohn so ähnlich, den mir die Götter geraubt haben. Bitte lass mich dich nur kurz anschauen. Dein Gesicht –“ Und erneut streckte sie die Hand aus. „Nein!“, sagte ich atemlos. „Antinoe!“, schalt mich der Kaiser. „Tu gefälligst, worum die Frau dich bittet!“ „Sie lügt!“, sagte ich bestimmt. „Sie will mich nur zerreißen ...“ „Domine“, sagte der Präfekt, der vor uns lief. „Wir müssen weiter.“ In der Folge klammerte ich mich förmlich an den Kaiser. Die Böswilligkeit der Menschen begleitete mich bei jedem Schritt: Sie riefen meinen Namen, wieder und wieder, verhöhnten mich, sie zeigten auf mich, lachten, nannten mich „kleiner Liebling“, in einer absurden Verzerrung dessen, wie der Kaiser zu mir zu sprechen pflegte, und jedes Wort, jede Silbe hackte auf mich ein wie der lange Schnabel des Ibis, der meinen Tod vorausgesagt hatte, pickte in meinem Fleisch, riss Haut und Haare mit sich, drehte sich in der Wunde und labte sich an meinem Blut. Sie machten mich mürbe, um mich leichter überwältigen zu können, wenn sie mich mitnehmen wollten. Mitnehmen, zerkleinern und kochen. Braten. Opfern. Ich richtete meinen Blick weiterhin auf das blutgetränkte Gewand des Kaisers, während wir durch die Stadt zogen, damit alle den Kaiser einmal gesehen haben konnten. „Antinoe!“, riefen sie immer noch. „Antinoe! Antinoe! Antinoe!“ Ich schloss die Augen und träumte mich fort, um sie nicht mehr zu hören. Ich beabsichtigte, in meine Heimat zu reisen, doch so weit schaffte ich es nicht. Stattdessen kam ich in Caesarea an, wo der Kaiser im Jahr zuvor Halt gemacht hatte. Als wir auf dem Marktplatz der Stadt ankamen, wurde eine Weihung enthüllt: eine Büste, die mich darstellte. Die Locken, der gesenkte Blick, die prominente Nase, die große breite Brust, die ich erhalten musste, weil sie dem Kaiser gefiel. Der Anblick eines jungen Gottes. So hatte der Kaiser mein Bildnis vorgeschrieben. So sah er mich: schüchtern, passiv, gefügig. Schön. Und so verewigte mich die Stadt Caesarea in ihrer Verehrung. Doch sie liebten nicht mich, sondern ein Bild. Glücklicherweise hatten sie keinen Teil von mir bekommen. Und auch dieses Mal konnte ich noch aufatmen, als wir diese Stadt verließen und die Villengegend in der Nähe aufsuchten. Kapitel 4: Convivium -------------------- Warum hat Wein die Farbe von Blut? Es füllt zahllose Karaffen, verschmiert Tische und Münder. Es klebt an den Zähnen, Fleisch ist noch zu erkennen, tropft von den Lefzen der Wölfe vor mir. Ich war längst in Ganymeds schlimmstem Albtraum gefangen.             „Antinoe!“ Ich schreckte zusammen und der Wein in der Karaffe in meinen Händen schwappte beinahe über. „Sachte, sachte“, sagte der Kaiser, während er mir seinen Weinbecher entgegenstreckte. Es dauerte einen Moment, bis ich wieder Gefühl in meinen Gliedmaßen hatte, doch dann füllte ich seinen Becher auf und ging um die Klinen herum, um auch die Gäste des Kaisers zu bewirten. Die Augen der römischen und lokalen Elite folgten mir unaufhörlich, hingen an meinem Nacken, meinen Waden.              „Kleiner Bithynier!“, flüsterten sie mir zu, Atem in meinem Ohr. Ich wand den Kopf zur Seite, um dem warmen Hauch zu entgehen, das beharrliche Wispern machte mich buchstäblich wahnsinnig, als ich einen Zug an meinem Haarband spürte. Ich fuhr herum, um die Hand wegzuschlagen, die mich peinigte, egal, wessen sie sein sollte, und mein Blick fiel auf den Kaiser – der nachwievor auf seiner Kline ruhte. Nicht Odysseus stand vor mir, sondern in der Tat niemand.             „Was machst du, deliciolae?“, fragte mich der Kaiser vergnügt. „Es ist noch nicht Zeit zu tanzen!“             „Da war ...“, stotterte ich. „Aber – ich hab ... Jemand ...!“             „Antinoe“, sagte der Kaiser augenzwinkernd, „hattest du etwas viel Wein?“             „Domine“ war alles, was ich hervorwürgen konnte. Ich konnte mich nicht erinnern, auch nur einen Schluck Wein gehabt zu haben. Der Kaiser gluckste amüsiert.             „Trink doch ein wenig Wasser und geh kurz frische Luft schnappen, bevor du hier weitermachst“, schlug er vor. Ich nickte gehorsam, stellte das Weingefäß ab und bewegte mich durch die Dutzenden Gäste des kaiserlichen Gastmahls nach draußen. Nah am Meer gelegen, war es windig in der Villengegend. Der Wind hauchte mir ihr Salz direkt ins Gesicht und trug ein seltsames Krächzen an mein Ohr wie von einer unbekannten Gans oder Möwe. Ich schloss die Augen und versuchte zu atmen. Doch sogleich riss ich die Augen wieder auf. Ich durfte keinen Moment nicht wachsam sein. Immerhin hatten sie mich nicht bekommen. Sie wollten mich immer noch. Ich ließ meinen aufmerksamen Blick um mich herum wandern, während ich mich bedächtig rückwärts der Hauswand der kaiserlichen Villa näherte: Sie sollten mich nicht überraschend von hinten packen und mitschleifen können.             Überhaupt, dachte ich, als sich mein Atem vor Aufregung beschleunigte. Was würde mich erwarten, wenn ich wieder hineinging? Der Kaiser und seine Freunde spielten mit mir. Sie wollten mir weismachen, ich würde mir Dinge einbilden, aber so leicht würde ich es ihnen nicht machen. Ich wusste, was ich wusste. In diesen Momenten hatten sie Zeit, sich zusammenzurotten und gegen mich zu verschwören. Sollte ich wieder hineingehen?             Die Stimmen von drinnen wuchsen laut wie das Brummen von Hornissen. Ich schlug die Hände auf meine Ohren und sank an der Wand in meinem Rücken zu Boden. Was sollte ich tun? Die Augen des Kaisers waren überall. Ich stand wieder in der kaiserlichen Bibliothek, sortierte herumliegende Schriftrollen, ordnete sie in ihre Regale ein, entfernte Staub von den Regalbrettern, und während ich mich fragte, ob es die Statuen in den Nischen zwischen den Regalen waren, die mir das Gefühl gaben, beobachtet zu werden, war es in Wahrheit der keuchende Kaiser, der in seinem Versteck stand, sich über die Lippen leckte und seinen Blick nicht von mir nehmen konnte, von meiner langsam zu kurz werdenden Tunika, von meinen nackten Füßen, von meinem Nacken, von dem das Haarband meine Locken fernhielt, von meinen freiliegenden Schultern oder von meinen jugendlichen Händen, die den einen oder andere Papyros aufrollten.              Wenn er mich schon seit fünf Jahren beobachtete, so fragte ich mich nun, warum sollte er es nicht auch diesen Abend auf mich abgesehen haben? Er und alle seine Freunde? Würden sie alle ihre Hände auf mich legen und mir in den Nacken atmen? Unwillkürlich begann ich, mit den Fingernägeln über mein Genick zu kratzen, wobei ich meine Hände von den Ohren nahm und die Augen blinzelnd öffnete. Ich hielt inne und blinzelte erneut. Mir war, als hätte ich vor mir ein Gesicht schweben sehen. Mehr ein Schatten als Fleisch und Blut, aber dennoch ein Gesicht. Hatten die Götter mich gefunden? Suchte Thanatos nach mir? Wollte er mich auf seinen schwarzen Flügeln davontragen?             Derselbe Vogelruf wie gerade eben trug sich an mein Ohr und ich wandte den Kopf zum Eingang der Villa. Aus dem Augenwinkel war ich mir sicher gewesen, eine Figur durch die Tür treten zu sehen. Ich sprang auf die Füße und jagte ihr nach. Selbst Thanatos sollte mich nicht zum Narren halten. Entweder, er nahm mich mit sich oder er ließ mich in Ruhe, ganz einfach. Also lief ich ihm nach, um ihn zur Rede zu stellen.             Das Atrium der Villa war leer. Atemlos lauschte ich. Allerdings gelangten nur mein Herzrasen und mein eigenes rauschendes Blut an meine Ohren. Und das Lachen aus der Halle des Triklinions. Ich betrachtete den von Öllampen erhellten Eingang zum Saal des Gastmahls. Die Lampen strahlten heute besonders hell. Während ich mich auf die Tür zu bewegte, brach sich das Licht, wurde abwechselnd orange, weiß, gelb, grünlich und bewegte sich vor meinen Augen in rechteckigen Formen. Ich schüttelte blinzelnd den Kopf und das Licht wurde wieder normal. Die Lampen schienen kurz vor dem Erlöschen zu sein, denn der Türrand wurde langsam dunkel, verkohlt, schwarz.             Als ich darin erschien, war das Fest jedoch noch immer im vollen Gange. Niemand schien zu merken, wie sich die Mauern verfinsterten. Jemand sollte den Kaiser darauf hinweisen. „Domine“, sprach ich, als ich am Speisesofa des Kaisers angekommen war, doch er unterbrach mich sogleich.             „Deliciolae, du bist zurück“, sagte er, wobei er Schwierigkeiten zu haben schien, seine Augen auf mich zu fokussieren. „Geht es dir besser?“             „Herr“, beharrte ich, „es wird sehr schnell sehr dunkel.“             „Was redest du?“, fragte der Kaiser. „Die Nacht ist schon vor Stunden hereingebrochen.“ Die Tischgesellschaft lachte und ich zuckte zusammen ob des unerwarteten Lärms. Ich wollte erneut ansetzen, doch da streckte der Kaiser eine Hand aus, platzierte sie auf meinem unteren Rücken und zog mich näher zu sich heran. Unwillkürlich versuchte ich mich aus seinem Griff zu winden.             „Nicht hier“, sagte ich, als er versuchte, mich für einen Kuss zu sich herabzuziehen.             Der Kaiser erstarrte und sein plötzlich sehr strenger Blick wusch über mich. „‚Nicht hier‘?“, fragte er beinahe mit einem Knurren. „Ich kann dich haben, wann und wo immer ich will, kleiner Bithynier.“ Er schlang seine große Hand in einem festen Griff um meinen Unterarm. Sein Blick versprach Unheil. Ich schluckte.             Vor meinem Geist erschien das Bild eines Bettes: Aphrodite und Ares in liebevoller Umarmung, gefangen und zur Schau gestellt mitten im Akt. Um sie herum alle Götter, Dutzende Münder, aus denen ein unauslöschliches Lachen drang, in der Welt widerhallte, auf dem Olymp, auf dem Ozean, in der Unterwelt zu hören war, das so intensiv war, dass es ewig schien, während Aphrodite und Ares vom Netz des Hephaistos begraben waren und, unbeweglich, kaum ihre Scham bedecken konnten, die alle Welt zu sehen bekam.             Sicherlich würden die Freunde des Kaisers ebenso unauslöschlich lachen. Während der Kaiser mich packte, mich auf die Kline drückte, mir die Kleider vom Leib riss, all seinen Freunden meinen Körper präsentierte, seine eigene Toga von den Schultern fallen ließ, und sich mir erbarmungslos aufdrängte, lag über allem dieses Lachen, diese Freude an meinem Leid, alle Gesichter johlten, ergötzten sich an der Erniedrigung dieses Sklaven, an seinen Schreien, an seinem Würgen, daran, wie sich seine Finger in die Liege krallten, als der Kaiser ihn aufriss, entzweiriss wie Eurymedon den namenlosen Perser, seine Seele zerriss, und in all dem heiteren Trubel stand nur Thanatos in der Ecke, den Körper von seinen Flügeln bedeckt, und sein Mund allein bildete keine offene Höhle, sondern einen geraden Strich ...             „Wenn ich will“, sagte der Kaiser schließlich. Er ließ meinen Arm los und ich musste mich kurz umsehen, um mich zu orientieren. Wo war Thanatos schon wieder hin? „Mehr Wein“, hörte ich den Kaiser sagen. Aufgeregt atmend starrte ich auf ihn herab. Erneut hielt er mir seinen Weinbecher entgegen. Ich brauchte mehrere Momente, um die Situation zu verstehen: War ich in der Zeit zurückgereist?             „Sicher“, murmelte ich schließlich planlos. „Wein ...“ Der Kaiser warf seinen am nächsten sitzenden Freunden einen Blick zu und als ich fortging, um mehr Wein zu holen, hörte ich sie hinter mir lachen. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Hatte ich nur geträumt, dass der Kaiser mich vor der versammelten Gastmahlgesellschaft entblößte? War ich im Stehen eingeschlafen?             Ich kehrte mit dem Wein aus der Küche in den erneut grell erhellten Bankettsaal zurück. Das nun wieder erglommene Licht nutzte ich, um einen Blick in die Karaffe in meinen Händen zu werfen, denn ich wollte wissen, ob es eigentlich weißer oder roter Wein gewesen war, den ich blind gegriffen hatte.             Mit einem Mal erlosch das Licht im Raum. Laut schreiend schleuderte ich die Karaffe von mir: Sie zersplitterte mit einem gedämpften Scheppern in tausend Scherben und aus ihr heraus kam ein blutgetränkter Ibis zum Vorschein, der ein leises, unheimliches Krächzen von sich gab. Zunächst blieb er wie ein unförmiger Klumpen zwischen den Trümmern liegen, doch dann, ich war unfähig auch nur einen Muskel zu bewegen, hob er seinen hässlichen, länglichen Kopf und seine roten Augen starrten in meine aufgerissenen Augen, bevor er seine Flügel ausbreitete, die den gesamten Raum einnahmen, und sich mir entgegenstürzte.             Ich schrie und hob die Hände vors Gesicht, kniff die Augen zusammen, doch auch das würde gegen den spitzen Schnabel dieses Todesvogels nichts bringen, die Leber würde er mir herausreißen, doch hier würde er nicht aufhören, wieder und wieder würde er seinen Schnabel in mir versenken, mich nach und nach zerpflücken, zerstückeln, zerreißen, verschlucken und in der Welt verteilen – vielleicht würde ich so meine Heimat wiedersehen ...             Kreischen und Schreien waren zu hören, unauslöschlich, göttlich, unterweltlich, himmlisch, ewiges Schreien, das durch die feste Luft schnitt, die keine Luft mehr war, sondern ein greller, solider Block, wie der, aus dem die lebendig gewordene Aphrodite geschaffen war, ein Ozean, der sich in meine Lungen ergoss, durch den es kein Entrinnen gab, egal, wie sehr ich kämpfte, egal, wie sehr ich mich bemühte, zu fliehen, ich musste weg, sonst würde mich die schiere Menge ersticken, ich würde ertrinken, hier in diesen Fluten, in den Wellen Poseidons, würde für immer zum Grund sinken und bei Triton und den Nereiden bleiben, die mir ihre Hände entgegenstreckten, ich musste sie nur greifen, mich an den Armen festhalten, die in hübschen schwarzen Flügeln endeten – Moment, in Flügeln? Ich blinzelte und schaute genauer hin: Es war gar nicht Triton, auch nicht Poseidon, der mir die Hand reichte, es war Thanatos, der mir über die Wangen strich. „Antinoe ...“             „Antinoe!“ Ich schlug die Augen auf. Das Schreien erstarb. Übelkeit überschwemmte mich. Ich zitterte. Mein Körper war übersät mit kaltem Schweiß. Nur langsam kam ich zu mir. Die Öllampen flackerten wieder normal. Im Raum war es so gut wie still. Ich kniete auf dem harten Boden. Menschen musterten mich. Neben mir kniete ebenfalls jemand. Thanatos! Panisch wich ich zurück.             Doch es war der Kaiser. „Antinoe!“, wiederholte er. Ich versuchte zu sprechen, doch meine Kehle war ausgetrocknet. Also nickte ich. Mit mehreren unsicheren Atemzügen kehrte das Gefühl in meinen Körper zurück und Erschöpfung drohte mich zu überwältigen. „Kannst du aufstehen?“, fragte der Kaiser. Beinahe unfähig, überhaupt die Augen offen zu halten, nickte ich erneut; der Kaiser packte mich an den Armen und zog mich hoch.             Ein Gefühl der Ohnmacht stieg in meinem Kopf auf. Meine Atmung wurde flach. Mit einem letzten Zittern meiner Gliedmaßen fiel ich in die Arme des Kaisers. Kapitel 5: Der Ibis ------------------- Rot. Gelb. Blau. Rot. Rote Säulen empfingen uns vor dem Tempel. Jede dritte Säule war rot. Es war das helle Rot von frisch spritzendem Blut, das den Arm herunter rinnt und vom leblosen Finger tropft, um sich in einer Pfütze zu sammeln, die, wenn man nicht so genau hinschaut, auch rote Tinte sein könnte.             Der Kaiser, in sein Imperatorengewand gehüllt, schritt vor mir die Stufen zum Tempel in Hermopolis hinauf. Ich seufzte und zögerte zu folgen. Ich warf Thanatos neben mir einen Blick zu, um ihn stumm zu fragen, was er dachte. Er raschelte mit den Flügeln und wies mit den Händen in Richtung des Tempeleingangs. Langsam setzte ich mich in Bewegung. Als ich einen Blick zurück auf Thanatos warf, war er verschwunden.             „Du bist so still, deliciolae“, sagte der Kaiser vergnügt, als ich zu ihm aufgeschlossen hatte. „Man bemerkt dich fast nicht.“ Ich murmelte, ich hätte schlecht geschlafen, wurde allerdings vom Priester unterbrochen, der dem Kaiser und seiner Entourage den Tempel zeigen durfte. Die erste Tafel erklärte die Entstehung des Kosmos, von Zeit und Raum, der Erde und allem, was vor den Göttern war.             „Die hier präsentierte Achtheit ...“, sagte der Priester, doch er verlor meine Aufmerksamkeit an einen stehenden Sekundenschlaf. An den Rücken des Kaisers gelehnt, hörte ich nur Fetzen: „ ... den Tag und die Frau ... erschaffen die Sterne ... der ursprüngliche Ozean ... Tenem und Tenemu ... schöpfte die Welt ... Der Tod ... holt die Seinen ... ZU SICH!“             Ich schreckte auf und sah mich panisch um. Unmöglich konnte der Priester diese letzten Worte gesagt haben. Auch Thanatos war nirgends zu sehen. Der Kaiser sah mich über seine Schulter an. „Bei dir alles in Ordnung?“, fragte er leise.             „Ich dachte nur ...“, murmelte ich. Als ich den Satz nicht beendete, wandte sich der Kaiser wieder nach vorne. Unsere kleine Gruppe bewegte sich weiter im Tempel vorwärts; ich achtete nicht auf die Worte des Priesters, sondern nahm jede Ecke und jeden Winkel des Tempelraums in Augenschein. Dadurch ging mein Blick überall hin, nur nicht auf die nächste Tafel, vor der alle so plötzlich stehen blieben, dass ich fast in den Kaiser hineingelaufen wäre. Auch ich wandte mich der Hieroglyphentafel zu. Mein Körper gefror trotz der ägyptischen Hitze.                       „Das ist“, stotterte ich ins Ohr des Kaisers, „das ist ein Ibis – oder?“             Der Kaiser nickte unauffällig und beäugte mich von der Seite. „Hercle, denkst du immer noch an diese Vogelschau vom letzten Monat?“             Ich versuchte trotz meines wieder trocken werdenden Mundes zu schlucken, und zuckte die Schultern. Der Kaiser verdrehte die Augen und richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf den Priester. „Thoth nun“, sagte dieser, „ist ein Gott ...“             Aber ich konnte nicht zuhören. Mein Instinkt sagte mir, dass ich den Ort des Ibisgottes sofort verlassen musste. Ich trat einen gleichzeitig panischen und vorsichtigen Schritt zurück und als mich niemand zu beachten schien, entfernte ich mich rückwärts laufend von der Gruppe und rannte schließlich aus dem Tempel und die Stufen herunter, vor denen ich von Rastlosigkeit getrieben nichts tun konnte, als hin und her zu laufen. Meine Brust fühlte sich zu eng an; ich hatte Angst, nicht mehr atmen zu können, wenn ich anhielt. Ich musste weiter laufen, laufen, laufen. Doch gehen konnte ich nicht: Ich war an den Kaiser gebunden, dessen Fähre später ablegen und weiter den Nil herauffahren würde.             „Verzwickt, vertrackt, verdammt!“, murmelte ich vor mich hin. „Verzeihung, Herr“, sagte ich abwesend zu dem Mann, in den ich fast hineingelaufen wäre; ich wandte mich ab und begann gerade in die entgegengesetzte Richtung weiterzugehen, als ich in einer plötzlichen Erkenntnis herumwirbelte. „Du!“             Vor mir stand gar kein Mann. Er hatte zwar Beine, Arme und Rumpf wie ein Mann und trug die ägyptischen Kleider, aber der Kopf war der eines ... Ibis. Ich wich unwillkürlich zurück, unfähig zu noch größerem Horror, als ich ihn ohnehin schon erlebt hatte. „Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, wimmerte ich kraftlos, als ich, mir die Haare raufend, gegen die Tempelstufen stieß. „Ich kann nicht mehr! Du jagst meine Träume! Verfolgst mich am Tage! Du bist überall! Bitte! Bitte! Bitte lass mich einfach sein ...“             Tränenüberströmt sank ich auf die Tempelstufen nieder. Im Grunde konnte ich nicht einmal mehr Angst haben. Ich wusste, dass der Ibis für meinen grausamen, gewaltsamen Tod stand: Die beinahe missglückte Löwenjagd hatte mir das gezeigt. Doch so langsam fürchtete ich das Ereignis nicht mehr; vielmehr wünschte ich einfach, dass es endlich kam. Wie oft noch sollte mich der Wahnsinn des Pans überkommen, wie oft noch sollte ich schweißgebadet aus dem Schlaf fahren, sicher, dass irgendetwas oder irgendjemand im Zimmer war, der dort nicht hingehörte? Wie oft noch sollte mir der Ibis meinen nahenden Tod prophezeien? War er nicht langsam nah genug? Ich wünschte mir nur noch das Ende meines Leids, nicht mehr und nicht weniger, egal, wie.             „Was machst du?“ Ich schreckte aus meiner Verzweiflung hoch. Der Kaiser war an mich herangetreten. Ohne ein Wort zu sagen wies ich in die Richtung, aus der mich der Ibisgott beobachtete. „Tja, wenn du dem Priester zugehört hättest“, sagte der Kaiser, während er sich ächzend wie der alte Mann, der er war, zu mir auf die Steintreppen setzte, „wüsstest du, dass das ein fast 500 Jahre alter Obelisk ist, den der letzte Pharao Nakhthorheb gestiftet hat.“             „Wa–?“, machte ich. Und in der Tat, als ich auf die Stelle schaute, an der zuvor Thoth gestanden hatte, entdeckte ich dort nur einen Obelisken, verziert mit Hieroglyphen, darunter auch Ibisse, aber ganz sicher keinen Ibismann. „Aber –“, sagte ich fassungslos. „Da war –“             „Warum genau misst du dieser Vogelschau so viel Bedeutung bei?“, unterbrach mich der Kaiser. „Das ist nur ein Ritual, wer glaubt schon wirklich daran?“             Als wäre ich von meinem Körper getrennt worden, spürte ich, wie sich mein Kopf auf meinem Hals sehr, sehr langsam in Richtung des Kaisers drehte; ich fühlte förmlich, wie sich mein Gesicht in eine hässliche Fratze verzog mit einem manischen Grinsen, das nichts mit Freude zu tun hatte, sich blähenden Nasenflügeln und zu weit aufgerissenen Augen. „‚Wer glaubt schon daran‘?“, hörte ich meine eigene Stimme kreischen. Ich erhob mich und sah auf den Kaiser herab. „Hast du eine Ahnung, was ich seit einem Monat durchmache? Die ständige Angst bei jedem Schritt? Angst vor Einsamkeit und Angst vor Gruppen, Angst vor Tag und Angst vor Nacht, Angst drinnen, Angst draußen, und das alles wegen diesem Vogel! Warum misst du dem eigentlich keine Bedeutung bei?“             Der bebende Blick des Kaisers ruhte auf mir, als keine Worte mehr folgten und ich schwer atmend auf den Tempelstufen stand. Langsam erhob er sich und sein Schatten fiel auf mein Gesicht. „Vielleicht solltest du noch mal reingehen und mit dem Priester reden“, sagte er knapp. „Hör dir an, was er über Ibisse und Thoth zu sagen hat.“ Wir starrten einander ohne nachzugeben in die Augen. „Jetzt geh.“             Trotzig und ohne mich umzusehen ging ich am Kaiser vorbei in den Tempel zurück. Der Priester studierte noch immer die Tafel mit den Hieroglyphen und dem Ibisgott. „Ah, junger Mann, du kommst zurück“, begrüßte er mich. „Ich dachte mir doch, dass du mehr über Thoth hören möchtest.“             „Teilweise“, sagte ich. Ich hatte einen Entschluss gefasst. „Ich sehe überall, egal, wo ich hingehe, einen Ibis. Was mag das bedeuten? Ich hoffe, wenn ich irgendwo eine Antwort darauf bekommen kann, dann doch wohl hier.“             Der Priester bewegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Der Ibis hat viele Bedeutungen. Er steht für Wiedergeburt, Schrift und Wissen, für Zusammenarbeit, aber auch für Urteil –“             „Er ist – kein Todesomen?“, fragte ich fassungslos.             „Bei allen Göttern, nein!“, sagte der Priester lachend. „Wie kommst du darauf?“             „Was ist Thoth für ein Gott?“             „In erster Linie der Gott des Mondes und der Schrift, wer immer ein Werk verfasst, opfert zuvor Thoth Wasser aus dem Schreibfass. Er deckt sich mit eurem Hermes.“             „Herm...?“ Ich war kaum in der Lage zu sprechen. „Deswegen Hermopolis.“ Der Priester nickte begeistert. „Aber ... was ... sehe ich dann?“             „Das kann dir vielleicht ein Orakel beantworten“, sagte der Priester. „Das des Ammon unter Umständen. Oder das des Apollon, wenn du das bevorzugst.“             Mir wurde schwindelig. „Der Ibis möchte mir nicht meinen Tod verkünden?“             „Thoth ist jedoch anwesend, wenn die Herzen der Toten gewogen werden, das heißt, er ist durchaus Teil der Sphäre des Todes, so wie Hermes die Seelen der Toten in die Unterwelt geleitet“, warnte er mich. „Von den Göttern verfolgt zu werden ist nie ein gutes Zeichen, egal, von welchen.“             Trotz seiner warnenden Worte verließ ich leichten Schrittes den Tempel. „Hast du dich wieder beruhigt?“, fragte mich der Kaiser von oben herab. Mit einem Zucken meiner Schultern gab ich ein unbestimmtes Ja zur Antwort. „Gut.“ Der Kaiser verdrehte erneut die Augen und wir machten uns auf den Weg zu unserem Quartier für die Nacht. Kapitel 6: Tod Auf Dem Nil -------------------------- Eigentlich hätte es mir besser gehen müssen. Die Angst vor meinem nahenden Tod war gebannt! Der Ibis war kein Todesomen! Es gab zwar keinen Anhaltspunkt, was er dann war, aber zumindest verfolgte mich nicht der Tod!             Aber warum hinderte mich zum wiederholten Male ein Gefühl am Schlafen, als ob noch jemand im Zimmer war? Mit den Augen sah ich, dass nur der Kaiser neben mir lag, in tiefen Schlaf versunken, das Gesicht schlaff im hereinfallenden Mondlicht. Doch ich war überzeugt von einer Anwesenheit. In meinen Ohren rauschte es wieder, wie wenn man eine Muschel daran hält, und irgendwo zwischen diesem Rauschen wisperten mir ferne Stimmen etwas zu, was ich allerdings noch nicht verstehen konnte.             Mein Blick suchte erneut den Raum ab, fand aber niemanden; ich beugte mich sogar aus dem Bett und schaute darunter nach, doch wieder nichts. Ich lag in mir selbst versunken da und suchte nach den Göttern, die mir vielleicht einen Hinweis geben konnten, fand aber natürlich nicht den Himmel über mir. Die Schatten auf der Zimmerdecke wogten wie Tang auf dem Grund eines reißenden Flusses. Ich setzte mich auf und beobachtete fasziniert das Spiel, versuchte ein Muster zu erkennen, wo keines war, keines sein konnte, bis – und das Herz wurde mir schwer – ich schließlich wieder ihn sah.             Den Ibis.             „Was willst du von mir?“, formten meine Lippen stumm. Der Ibis beäugte mich von der Seite, den Schnabel gesenkt; sein Blick musterte mich von oben bis unten, dann setzte er sich in Bewegung. „Halt, warte!“, wollte ich ausrufen, einen Arm nach ihm ausgestreckt. Ich sprang auf und folgte ihm, stieg durch die Decke, und fand mich urplötzlich an einem sonnenüberfluteten Ort nahe einem Ufer wieder. Vertraute Pinien verrieten mir, wo ich war.             „Pontos ...“, murmelte ich. Ich blinzelte gegen die Sonne meiner Heimat. Wo immer ich hinschaute, war nirgends jemand zu sehen. Nur der Ibis, bei jedem Schritt mit dem Kopf ruckelnd, schritt vor mir zum Wasser voran. Auch ich ging auf das Ufer zu, wobei ich den Vogel immer im Blick behielt. Sein Gang war elegant und es gab keine Anzeichen, dass er mich angreifen wollte. Ab und an blickte er sich um, doch sobald er sah, dass ich ihm noch immer folgte, richtete er seine Augen wieder nach vorn.             Vor den Wellen ließ er sich im Sand nieder. Ich setzte mich ihm gegenüber. Es ging kaum eine Brise und die Wogen, die auf den Strand schwappten, waren sehr schwach. Der Pontos wirkte fast wie ein glatter See, nicht wie ein aufgewühltes Meer. Er spiegelte den hellen, wolkenfreien Himmel, der sich über uns ewig zu ergießen schien, blau wie an seinen schönsten Tagen, heiter, ohne Unheil. Ich genoss die Ruhe um uns herum und in meinem Kopf und beschaute mir dabei den Ibis. Der Schnabel, fast so lang wie sein ganzer Hals, glänzte schwarz wie glattes Leder. Das ebenfalls schwarze Kleid wurde durch einzelne weiße Federn durchbrochen. Sein neugieriges schwarzes Auge  betrachtete mich genauso wie ich ihn.             Behutsam streckte ich ihm meine Hand entgegen. So recht wusste ich zwar nicht, was ich damit beabsichtigte: Er konnte sie immerhin unmöglich wie zum Vertragsabschluss schütteln. Stattdessen aber legte er zu meiner Überraschung seinen Kopf in meine Handfläche.             „Du möchtest gestreichelt werden?“, fragte ich ihn. Sein schwarzes Auge blinzelte mir entgegen. Ich rückte näher an den Ibis heran und fuhr sanft mit meinen Fingerspitzen über seine weichen Federn. Er schloss die Augen und legte seinen Kopf an mein Bein.             Warum bist du mir immer erschienen?, grübelte ich. Was möchtest du, wenn du mich nicht vernichten willst?             Nach einigen Momenten, in denen ich dem Ibis weiter übers Federkleid strich, hüpfte er unvermittelt auf die Beine und lief langsam und sich weiter an mich schmiegend um mich herum, wobei ich meinen Kopf drehte, um ihm mit meinem Blick zu folgen. Schließlich blieb er hinter mir stehen und fuhr mit der Spitze seines langen Schnabels über meinen Nacken. Ich berührte die Stelle unwillkürlich mit der Hand, doch da war er schon fertig; anschließend kribbelte mein Hals angenehm. „Das ist besser“, sagte ich und wandte mich wieder zu dem Ibis um. „Danke –“ Aber da war er schon verschwunden.             Mit verwundert zusammengezogenen Augenbrauen schaute ich mich um, aber der Ibis tauchte nirgends wieder auf. Ich war also allein an diesem spiegelglatten Ufer, an dem ich grenzenlos frische, unverbrauchte Luft einatmen konnte, umgeben von blauem Wasser, hellem Sand und dunkelgrünen Bäumen. Das Vogelgezwitscher war das einzige klare Geräusch, das ich vernahm, und obwohl die Sonne vom Himmel schien, brannte meine Haut nicht. Alles war genau richtig. Ich sank langsam zu Boden und bettete mich an diesem mir so vertrauten Strand, um vielleicht endlich den großzügigen Schlaf zu bekommen, der mir seit Wochen verwehrt blieb. Meine Augenlider fielen allmählich zu, der Vogelgesang dämpfte sich wie unter Wasser, verblasste, schwand ... Da hörte ich meinen Namen.             „Antinoe“, sagte eine Stimme, und der Sand in meinem Nacken fühlte sich plötzlich wärmer an als zuvor. Ich fuhr auf. „Deliciolae.“ Als ich die Augen aufschlug, hatte sich der Himmel zugezogen und der Wind peitschte die Wellen vor sich hin, dass mir die Gischt von der Farbe von dunklem Blut geradezu ins Gesicht spritzte; der Sand hatte ein bräunliches Rot angenommen. Vor mir stand der Kaiser, der Mantel um seinen Brustpanzer die Farbe von roter Tinte.             „Was machst du hier?“, fragte ich, ohne aufzustehen.             „Du musst mit mir kommen“, sagte der Kaiser. Er streckte seine Hand nach mir aus.             „Nein“, sagte ich, heftig den Kopf schüttelnd. Der Himmel verfärbte sich schwarz. „Nein. Nein, nein, nein!“ Die Schwärze des Himmels breitete sich aus, verschluckte die Umgebung, dann den Kaiser und zum Schluss mich.             Ich fuhr aus meinem Albtraum auf, schweißgebadet und schwer atmend. Ich versuchte, trotz meiner trockenen Kehle zu schlucken, was mir beinahe unmöglich war, ohne zu ersticken. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, stieg ich aus dem Bett und lief ein paar Schritte hin und her. Schließlich blieb ich vor dem Fenster stehen, das Herz in meiner Brust ein Hagel aus Trommelschlägen. Ich versuchte, mir einen Reim auf meinen Traum zu machen. Schon wieder ein Ibis. Warum immer Ibisse? Und was sollte dieser Sturm? Und dann diese ...Schwärze ...             Ein Kribbeln in meinem Nacken ließ mich schaudern. Da war es schon wieder, dieses Gefühl, nicht mit dem Kaiser allein zu sein. Noch während ich erschauderte, kam mir allerdings ein Gedanke. „Du“, murmelte ich, und langsam drehte ich mich um. Ich spürte eindeutig eine Finsternis. „Du bist diese schwarze Präsenz.“ Die Dunkelheit schwebte über dem Bett, in dem der Kaiser schlief. Eine Idee schoss mir blitzartig durch den Kopf. Gehen. Fliehen. Weglaufen, so schnell mich meine Füße trugen, nie mehr zurückschauen und all dem Blut und der Finsternis für immer entrinnen.             „Und wohin willst du dem Kaiser entkommen?“, flüsterte mir plötzlich Thanatos ins Ohr. „In die Wüste hinein?“             „Natürlich nach Hause“, erwiderte ich.             Thanatos musterte mich mit einem spöttischen Lächeln von der Seite. „Bist du sicher?“             Ich überlegte kurz. Thanatos hatte recht. Ich würde nicht durchkommen. „Irgendwann werde ich ihm zu alt werden, dann kann ich in meine Heimat zurückkehren.“             „Du bist das Eigentum des Kaisers.“             Ich wand mich. „Dann werde ich mich freikaufen.“             „Und wenn schon“, sagte Thanatos herablassend, wobei er mir so nah kam, dass unsere Gesichter vielleicht zwei Fingerbreit voneinander entfernt waren. „Dein Nacken wird für immer verbrannt bleiben, du wirst nie heilen. Du wirst ihn nicht loswerden.“             „Antinoe?“ Thanatos verschwand ohne jede Spur. Der Kaiser stützte sich im Bett auf einen Arm und blinzelte gegen das Mondlicht. „Deliciolae, komm wieder ins Bett.“             „Sebaste“, sagte ich gehorsam, ehe ich mich zurück zu ihm legte. Wir brachen noch vor dem Morgengrauen auf, um vor der Mittagshitze in der nächsten Stadt den Nil aufwärts anzukommen. Ich setzte mich an den Rand des Bootes und beobachtete abwechselnd die erlöschenden Sterne und die lärmenden Fluten, die sich um uns herum eröffneten. Unwillkürlich überkam mich der Gedanke, was passieren würde, wenn ich spränge, doch ich schüttelte das Bild in einem erzitternden Schauer ab. Der Nil trat jährlich über die Ufer, um die Felder zu überschwemmen und so den Boden fruchtbar zu halten. Das schwarze Schwemmland war Ägyptens Segen, das es allerdings auch dazu verfluchte, dem immer gierigen Rom als Kornkammer zu dienen. Rom nahm sich aus der Welt, was immer es wollte, ohne zu überlegen, was es für diese Welt bedeutete.             Für mich zum Beispiel.             Der Kaiser lief an meinem Rücken vorbei und ließ kurz seine Fingerkuppen über meinen Nacken streichen. Ich zuckte zusammen und meine Hand fuhr augenblicklich an die Stelle. Er grinste zu mir herab und ging weiter. Ich ließ meine Hand sinken und umklammerte den Bootsrand mit verkrampfenden Fingern. Meine Brust schnürte sich zusammen, als ich ihn nur ansah. Es schüttelte mich, obwohl es zu dieser frühen Stunde warm war in Ägypten. Das Rauschen in meinen Ohren war mittlerweile beinahe so laut angeschwollen wie das des Nils und ich wandte den Blick vom Kaiser ab, um weiter den Fluss und sein Ufer zu betrachten. Beim nahenden Morgengrauen hatten sich dort Ibisse eingefunden, um zu trinken. Ibisse. Schon wieder Ibisse.             Was hatte der Priester noch gesagt? Thoth, der Ibisgott, stand für den Mond, Schrift und Weisheit und war dabei, wenn den Toten das Herz gewogen wurde. Wollte der Ibis, der mich verfolgte, mir also einen weisen Rat geben, damit mein Herz leicht blieb? Er hatte mich davon abhalten wollen, den Löwen zu jagen ... im Gefolge des Kaisers mitzulaufen ... am Gelage des Kaisers teilzunehmen ... offenbar hatte er ... mich vom Kaiser ... weggeführt ...             Ich betrachtete den Kaiser am anderen Ende des Bootes, wo er ins Gespräch vertieft stand. Wie sollte ich den weisen Rat des Ibisses befolgen? Thanatos hatte recht, ich konnte nicht einfach vor dem Kaiser weglaufen, er hatte alle Macht, mich sofort wieder einfangen zu lassen. Meine Nägel bohrten sich in das Holz des Bootes.             Getrieben von Segeln und Rudern, kam es nur langsam gegen die Strömung voran, was mir genug Zeit ließ, die Ibisse am Ufer zu beobachten. Sie tranken von dem Wasser und ich fragte mich, ob auch das ein weiser Rat sein sollte. Irgendetwas mit dem Wasser des Nils. Vielleicht hatte es heilige Kräfte, die mir helfen konnten.             Wieder erschien Thoth zwischen den Ibissen, doch diesmal erschrak ich nicht. Er war kein bösartiger Gott, sondern ein Helfer und Begleiter. Ich musste keine Angst haben, auch nicht, als er mich anvisierte und winkte. Mich. Zu sich winkte. Gestikulierte, dass ich ... zu ihm ... kommen sollte ...             Und mit einem Mal verstand ich.             Das Rauschen in meinen Ohren erstarb und zum ersten Mal konnte ich die wispernden Stimmen vernehmen.             „Du wirst leiden“, sagte eine tiefe, männliche Stimme unter mir.             „Aber nur kurz“, sagte eine krächzende Stimme am Ufer. „Du wirst schnell bewusstlos werden. Trotzdem werden es die längsten, qualvollsten Momente deines ganzen Lebens.“             „Aber er“, sagte eine helle Frauenstimme irgendwo in meiner Nähe, „er wird leiden bis an sein Lebensende.“             „Und darüber hinaus. Sein Herz wird schwer sein“, sagte eine bellende Männerstimme von weit, weit her. „Deines leicht wie eine Feder.“             „Wer seid ihr?“, fragte ich in die Stille hinein.             „Ich dachte, das wüsstest du“, sagte Thanatos, der wieder neben mir erschienen war. Er streckte mir seine Hand entgegen, die Flügel angewinkelt. Und ich verstand, wer gesprochen hatte. Ich verstand, was sie sagten. Thoth hatte mich nie wirklich verfolgt. Er hatte nur gewartet.             Zusammen mit Thanatos.             Der schloss hinter mir stehend sanft seine Arme um meinen Brustkorb. „Du brauchst keine Angst zu haben“, hauchte er mir ins Ohr.             „Es ist viel zu früh für mich“, sagte ich mit trockener Kehle. „Ihr könnt mich zu nichts zwingen.“             „Wir wollen dich zu nichts zwingen“, sagte Thanatos. Er ließ mich los und setzte sich vor mir auf den Bootsrand. „Wir wollen dir nur helfen.“             Instinktiv wollte ich weglaufen – doch wohin? Zum Kaiser? Ich begann, mit den Fingern an meinem Nacken zu kratzen, wobei meine empfindliche, gereizte Haut einen vom Holz gesplitterten Nagel wahrnahm. Ohne darüber nachzudenken führte ich den Finger an den Mund, um den Nagel wieder in Form zu beißen.             Nicht der Ibis war der Anfang gewesen. Er ... er ... war die Finsternis ... der Ursprung ... bei ihm ... liefen alle Fäden zusammen ... Er hatte ... damals ... und auch jetzt ... Er war der Grund ...             „Antinoe, nicht“, sagte der Kaiser, der zu mir zurückgekehrt war. Er nahm meine Hand in seine, über die ein Blutrinnsal lief. „Man darf die Nägel niemals mit den Zähnen abbeißen“, belehrte er mich, ehe er meinen Finger an seine Lippen führte und seine Zunge das Blut von meinem Finger nahm.             Aller Atem war aus mir gewichen. Die blutroten Hallen. Das blutrote Gewand. Der blutrote Wein. Blut, Blut, Blut, überall Blut. Hatte ich die ganze Zeit recht gehabt? An diesen Händen klebte buchstäblich Blut. Und er ließ und ließ mich nicht los, stand dort, meine Hand in seiner, und trank mein Blut. Ich war erstarrt, obwohl mein Kopf schrie, dass ich rennen sollte. Aber wohin?             Er ließ von meinem Finger ab. „Nicht an den Nägeln kauen“, sagte er noch einmal, dann drehte er sich um und ging wieder das Boot entlang. Am Heck nahm er sein Gespräch wieder auf. Angeblich wollte er den Mann, mit dem er sprach, zum Nachfolger ernennen. Wie dem auch gewesen sein mochte. Mein feuchter Finger trocknete schnell im Fahrtwind auf dem Nil.             Und Thanatos nahm zärtlich meine Hand in seine, woraufhin ich einen Schritt auf ihn zuging. Ich schloss die Augen und lauschte den Stimmen, während er mir mit erstaunlich sanften Händen übers Haar fuhr, über die Wangen streichelte, sich seine Fingerkuppen über meinen Hals bewegten ... schließlich legte er seine Hand auf mein Herz.             Und ich fasste einen Entschluss.             Ich öffnete meine Augen und schaute in diejenigen des Thanatos. Er nickte, breitete die Flügel aus und verschwand geräuschlos vom Boot. Ich wandte mich um.             „Hadrian!“, rief ich, die Beine über den Rand geschwungen. Freudestrahlend winkte mir der Kaiser zu, ehe er begriff. Und so verband sich sein Moment des größten Glücks mit dem größten Unglück seines Lebens, als ich mich abstieß.             „Antinoe!“, hörte ich ihn ein letztes Mal rufen, bevor sich die Fluten über mir schlossen. Thoth hatte recht gehabt. Nie in all den Jahren, in denen ich mit dem Kaiser hatte schlafen müssen, hatte ich solch eine Folter erlebt. Die Wogen waren schwerer als gedacht, rissen meinen Kopf in die eine, den Rest meines Körpers in die andere Richtung, drohten, meine Schultern auszukugeln, ich schluckte Unmengen an Wasser, Osiris‘ Fluss war überall und zerriss mich beinahe schlimmer, als jede Harpyie es gekonnt hätte, Thanatos zog mich an meiner Tunika in Richtung des Grundes, meine Brust brannte, als ich trotz allem zu atmen versuchte, und schließlich, nach der längsten Ewigkeit in meinem Leben, erbarmte sich Thoth und schloss meine Augen.             Kein Antinoe mehr, kein deliciolae, nur noch ... Totenstille. Epilog: Epilog -------------- Dort, wo ich angespült wurde, hat er in meinem Namen eine Stadt gegründet, Antinoupolis, um mein Andenken unsterblich zu machen. Außerdem vergöttlichte er mich als Osiris. Interessant, wenn man bedenkt, dass, wie ich dir erzählt habe, Osiris getötet wurde, er aber erzählt hat, mein Tod wäre ein tragischer Unfall gewesen ...             Seitdem erscheine ich nun jedes Jahr hier an meinem Todestag, um wieder und wieder zu erzählen, wie es wirklich zu meinem Ende kam: Kein Unfall, kein Ritual hat dazu geführt, sondern er, und er allein. Er hat mich in die Verzweiflung getrieben und in den Tod. Und ich möchte, dass die Nachwelt das weiß.             Das ist also meine Geschichte, Fremder. Erzählst du mir nun deine? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)