See you at the bitter end von rokugatsu-go ================================================================================ Prolog: I'll describe the way I feel - weeping wounds that never heal --------------------------------------------------------------------- „I'll describe the way I feel Weeping wounds that never heal“   Placebo, „Special K“   Ohne ein allzu lautes Geräusch zu machen, hatte der Junge die Schiebetür auf und wieder zu gemacht. Praktisch waren sie ja, diese japanischen Schiebetüren. Vor allem, wenn man sich mitten in der Nacht herausschleichen wollte, um sich mit dem hübschen Nachbarsmädchen zu treffen. Die schweren Holztüren zu Hause wären definitiv ein größeres Problem gewesen. Die konnte man kaum leise ins Schloss fallen lassen, ohne nicht das gesamte Haus dabei aufzuwecken. So gewöhnungsbedürftig dem Jungen manche Sachen in diesem Land auch nach der ganzen Weile, die sie schon hier waren, noch vorkamen und auch wenn er sich anfangs gegen die alte ehemalige Samurai-Residenz, in die seine Familie gezogen war, gewehrt hatte – so langsam fing er an, sich hier einzuleben. Auch war das Wetter besser als zu Hause. Seine Eltern nahmen diese neue Entwicklung mit viel Wohlwollen auf, aber noch würde er ihnen den Umzug und den ganzen Terz drumherum nicht gänzlich verzeihen. Ja, er konnte sehr stur sein, doch wie konnten seine Eltern nicht verstehen, dass sie ihn aus seinem gewohnten Leben in seiner nun so weit entfernten Heimat gerissen hatten? Weg von seinen Freunden, die ohne ihn doch sicher verloren waren? Schließlich hatten sie ihm vor seiner Abreise noch selbst gesagt, dass er doch ihr Anführer wäre und sie ihn bräuchten. Seine Eltern hatten kein Verständnis gezeigt. Nur weil sein Vater von Berufswegen nach Japan musste, waren sie hierhergezogen. Was genau sein Vater eigentlich beruflich machte, konnte der Junge nicht genau sagen. Es schien irgendetwas Langweiliges zu sein. Etwas, bei dem Männer in dunklen Anzügen lange und ernst miteinander diskutierten und bei dem bei irgendwelchen „Deals“ viel Geld hin und her geschoben wurde. Mehr hatte er davon nie mitbekommen. Was auch immer es war, es interessierte den Jungen auch gar nicht. Die Welt der Erwachsenen war ihm ein Buch mit sieben Siegeln – und er hatte nicht vor, es allzu bald zu öffnen. Sehr zum Missfallen seiner Eltern. „Du bist doch kein kleines Kind mehr“, lamentierte seine Mutter regelmäßig. „Sei deinen jüngeren Geschwistern ein Vorbild und werde endlich erwachsen.“ Der Junge fand sich selbst sehr vorbildlich und grinste dabei verschmitzt, während er von der Veranda in den Garten trat und sich langsam zum anderen Ende vorarbeitete, um dort durch eine Tür das Grundstück zu verlassen. Zu seinem Glück waren die Steinlaternen nicht angezündet und das blasse Mondlicht erhellte den Garten nur soweit, dass man grob sehen konnte, was genau vor einem lag, während alles dahinter in tiefes Schwarz getaucht war. Er versuchte, im Dunkeln nicht in die üppigen immergrünen Hecken zu fallen, die seine Mutter dort gepflanzt hatte und die nicht so wirklich mit dem Rest des japanischen Gartens harmonieren wollten. Sowieso war der Versuch seiner Mutter, sich hier als Landschaftsgärtnerin zu probieren, gründlich schief gegangen. Um sich „heimischer“ zu fühlen, hatte sie die alten maroden Mauern, die das Grundstück umgeben hatte, abgerissen und an ihre Stelle diese Hecken gepflanzt und dann einen riesigen Zaun außen herum gezogen, durch den ihr Haus unangenehm in der Straße voller alter Samurai-Residenzen auffiel. Und ihm selbst sagte sie ständig, wie wichtig es wäre, sich an ihre neue Heimat anzupassen. Keck grinsend gab der Junge ihr innerlich Recht. Nahm er es oder nahm er es gerade nicht auf sich, mitten in der Nacht das Mädchen zu treffen, das ihm beim Erlernen der Sprache half? Nun, gut, sie wollten heute Nacht sicher nicht lernen, aber sollten sie doch erwischt werden, würde er genau das behaupten. Was für ein fleißiger Junge er doch war! Und er legte großen Wert darauf, dass man von ihm nicht als „jungen Mann“ dachte und sprach, so wie seine Eltern es immer taten. Immer diese Betonung auf das „Mann.“ Er rollte mit den Augen und machte einen übermütigen großen Schritt, wodurch er mit einem Fuß gegen einen der Steine stieß, die im Garten herumlagen, stolperte und vollends in die besagten Hecken fiel, die auch in dieser kalten Jahreszeit ein dichtes Blattwerk trugen. Er kam gar nicht mehr dazu, sich Sorgen zu machen, ob jemand seinen Sturz gehört hatte, denn ein entsetzlicher, ohrenbetäubender Schrei drang aus dem Haus heraus. Panisch riss der Junge seine Augen auf und horchte in die Dunkelheit, ohne einen Mucks zu machen. War das … seine Mutter gewesen? Warum schrie sie so furchtbar? Etwas Schlimmes musste passiert sein. Doch … was? Ein weiterer Schrei erklang und der Junge spürte das Blut in seinen Adern gefrieren. Seine Schwester! Das war doch seine Schwester gewesen, die da so schrecklich geschrien hatte! Ein erneuter Schrei! Sein Bruder! Und noch ein weiterer! Diesmal von seinem anderen Bruder! Der Junge wollte zu ihnen laufen, nachsehen, was los war, doch sein Körper wollte sich nicht rühren. Er war vor Angst gelähmt. Ein letzter qualvoller Schrei hallte durch die Stille der Nacht. Sein Vater. „W-was ...“, hauchte der Junge mit brennenden Tränen in den Augen, als die Präsenz einer Person ihn eiligst verstummen ließ. Jemand war in den Garten gekommen. Vor Todesangst klopfte sein Herz beinahe zu seiner Brust heraus. Er hörte Schritte auf den Felsplatten, die im Garten ausgelegt waren, um das umliegende Gras und Moos vor dem Betreten zu schützen. Durch die dichten Hecken und die Dunkelheit konnte er jedoch kaum etwas erkennen. Die Person war stehen geblieben. „Hmm … hatten das nicht vier Kinder sein sollen?“, hörte er die Person sagen. Die Stimme klang männlich, aber nicht nach einem erwachsenen Mann. Ein Junge? Er klang nicht älter als er selbst. „So ein Ärger.“ Anscheinend sprach der fremde Junge zu sich selbst, während der Junge in den Büschen vor Panik die Luft angehalten hatte. „Ah, ich weiß! Dann brenn ich eben das Haus nieder!“ Der fremde Junge klang beinahe euphorisch, als er dies ausrief. „Ach nein, soll ich ja nicht“, fügte er bitter enttäuscht hinzu. Nach einer qualvollen Ewigkeit ging er weiter und verließ das Grundstück über die Tür, die in den Zaun eingebaut war und hörbar ins Schloss fiel. Mit einem Mal legte sich eine unheimliche Stille über das gesamte Anwesen. Am ganzen Körper zitternd, kroch der angsterfüllte Junge aus den Hecken und brauchte seine volle Kraft, um aufzustehen und auf seinen wackligen Beinen stehen zu bleiben. Als würde er von einem Magneten angezogen, setzten sich seine Füße in Bewegung und gingen erst langsam, dann immer schneller werdend, bis er lief, zum Haus zurück. Eine bebende Hand schob die Schiebetür, durch die er sich zuvor heraus geschlichen hatte, auf und er trat ins Innere. Seine Mutter war die erste, die er fand. Ihr Blut hatte die Tatami-Matten tiefrot gefärbt. „Mama?“, fragte der Junge mit schwacher Stimme und wider besseren Wissens. Er hatte noch nie zuvor eine Leiche gesehen, doch so wie seine Mutter zugerichtet war, aufgeschlitzt und in einer gewaltigen Lache aus Blut, bestand kein Zweifel, dass seine Mutter nicht mehr am Leben war. Wenige Meter daneben, nahe der Haustür, lagen seine Geschwister. In ihren erstarrten Gesichtern konnte man immer noch das Grauen ablesen, das sie in ihren letzten Momenten verspürt hatten. Seine Schwester hatte wohl noch nach den Händen der beiden anderen Brüder gegriffen, um sie von hier fortzubringen, denn sie hielt sie immer noch fest. Doch ihre Bemühungen waren auf die grausamste Art vergeblich gewesen. Die Verletzungen, die die drei Kinder trugen, waren die gleichen wie bei seiner Mutter. Als hätte jemand wahllos mit einer Schwertklinge nach ihnen geschlagen. Wie in Trance schritt der Junge durch das Haus und bemerkte nicht einmal den nicht enden wollenden Strom an Tränen, der sich über sein Gesicht ergoss. Sein Vater lag in dem Raum, in dem er sich sein Arbeitszimmer eingerichtet hatte. Am anderen Ende des Zimmers lag ein Kurzschwert auf dem Boden, von dessen Klinge noch Blut tropfte. Der Junge kannte dieses Schwert; sein Vater hatte es von einem Geschäftspartner geschenkt bekommen. Seine Eltern hatten es in einem verschlossenen Schrank aufbewahrt, damit keines der Kinder auf die Idee kommen konnte, damit zu spielen. Nun lag es da, als sei es nach getaner Arbeit einfach weggeworfen worden. Mit sehenden, doch nicht begreifenden Augen blickte der Junge zu dem Schrank, der offensichtlich gewaltsam aufgebrochen worden war. Der Angreifer musste das Kurzschwert an sich genommen haben, um damit …. Sein Blick ging wie von selbst zurück zu dem leblosen, blutüberströmten Körper seines Vaters. Ermordet. Jemand hat sie alle ermordet. Sie sind alle …. Wieso? Wieso sind sie alle … tot? Ohne bewusst wahrzunehmen, was er da tat, ging der Junge an seinem Vater vorbei zum anderen Ende des Zimmers und hob dort das Schwert auf. Wer …? Wer tut so etwas Schreckliches? Die Antwort traf ihn wie ein Pfeil mitten durchs Herz. Der Junge, der im Garten gewesen war. Er … er hatte dies getan. Er hatte … seine Familie …. In diesem Augenblick sah der einzige Überlebende dieser schauerlichen Nacht an sich herunter und bemerkte das Blut seiner Familie, durch das er gelaufen war und das nun an seinen Füßen klebte. Die Augen vor Entsetzen aufgerissen, umklammerten seine zitternden Hände das Schwert und er stieß einen durch Mark und Bein gehenden, beinahe unmenschlichen Schrei aus.   Schweißgebadet und schreiend schreckte der Junge, aus dem nach all den Jahren mittlerweile ein Mann geworden war, aus dem Schlaf auf. Schweigend starrte er auf seine bebenden Hände, während bittere Tränen sich ihren Weg aus seinen Augen bahnten. „Hast du wieder von jener Nacht geträumt?“ Ein Mann, der etwa mittleren Alters war und somit ein gutes Stück älter war als die noch immer zitternde Gestalt, gesellte sich zu ihm und legte behutsam eine seiner Hände auf die des Anderen. „Es wird schlimmer in letzter Zeit, nicht wahr?“ „Das wird daran liegen, dass es bald endlich soweit ist“, antwortete der Jüngere und begann schlagartig, sich zu beruhigen. „Seit wir in Yokohama sind, hast du fast jede Nacht diesen Albtraum gehabt.“ Der hinzugekommene Mann klang besorgt. „Es wird bald vorbei sein“, erwiderte der Andere wieder vollkommen ruhig, „bald wird es endlich vorbei sein. Und dann können wir uns wieder deiner Mission widmen. Versprochen.“ Der Ältere tätschelte noch einmal die Hand des Jüngeren, ehe er seine Hand wegzog. „Das will ich hoffen. Nun schlaf noch etwas. Für den Rest der Nacht sollten dich keine Albträume mehr heimsuchen.“ „Bald ...“, murmelte der junge Mann, bevor er wieder einschlief, „bald wird es endlich vorbei sein.“ Kapitel 1: So how do we begin? ------------------------------ „So how do we begin?“ Placebo, „I do“     16:58 Uhr. Mit zufriedenem Blick sah Atsushi auf die Uhr. Er mochte Tage wie heute. Keine großen Zwischenfälle, keine Katastrophen, keine Menschenleben in Gefahr. Selbst Dazai hatte heute keinen Unfug angestellt. Der Tag war so unaufgeregt verlaufen, dass die Detektei Atsushi beinahe tatsächlich wie eine ganz normale Firma vorkam. Und da er für heute alles erledigt hatte, konnte er sogar zeitig Feierabend machen. Ja, er mochte Tage wie heute. „Atsushi, gibst du mir mal die grüne Mappe, die dort liegt?“, richtete Kunikida von seinem Platz aus eine Frage an den Jungen, der sofort aufstand und ihm das gewünschte Objekt an seinen Schreibtisch brachte. „Diese hier?“ „Ja, genau die. Vielen Dank.“ Kunikida öffnete die Mappe, nahm die darin liegenden Dokumente heraus und sortierte die Seiten ordentlich, ehe er aufstand und sich räusperte, um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu erhalten. Wie ein Lehrer, der Klassenarbeiten zurückgibt, dachte Atsushi amüsiert und nicht ahnend, dass er mit seinem Vergleich gar nicht so daneben lag. Alle blickten aufmerksam zu dem blonden Kollegen; selbst Ranpo, der den Großteil des Nachmittags damit verbracht hatte, mit dem Kopf auf seinem Schreibtisch liegend zu dösen, guckte auf und blinzelte ihn schläfrig an. „Ich habe mir eure ausgefüllten Ausgabensaufstellungen für dieses Quartal angesehen“, begann Kunikida, „und … ICH BIN SCHOCKIERT ÜBER EURE NACHLÄSSIGKEIT!!“ Angesichts dieses Wutausbruchs zuckte Atsushi zusammen. Oh nein, die Kostenaufstellungen für das Quartal! Der Junge hatte dies erst einmal zuvor gemacht und war dabei sang-und klanglos untergegangen. Kunikida hatte ihn daraufhin zu einer Art Nachhilfe verdonnert, die die ganze Nacht in Anspruch genommen hatte. War sein Feierabend jetzt doch in Gefahr? Musste er wieder stundenlange Belehrungen zu Ist-Ausgaben, Saldo und Amortisation über sich ergehen lassen? „Ich habe extra diese vereinfachten Formulare erstellt, damit jeder seine Ausgaben geordnet auflisten kann und manche von euch kriegen es immer noch nicht hin!“, wütete der Blondschopf weiter. Und was in aller Welt verstand Kunikida unter „vereinfacht?“ Dieses Formular hatte mehr Fußnoten als der Strand Sandkörner. „Ich bin sehr enttäuscht von euch.“ Jetzt klang er wirklich wie ein Lehrer, der seiner Klasse ein schlechtes Gewissen einreden wollte, damit sie sich bei der nächsten Arbeit mehr anstrengten. Anscheinend konnte man den Lehrer aus der Schule kriegen, aber nicht die Schule aus dem Lehrer. „Einige von euch haben sich aber tatsächlich Mühe gegeben und von diesen Schü- ich meine, Kollegen sollten die anderen sich eine Scheibe abschneiden.“ Da! Jetzt hatte Kunikida selbst schon die Detektei mit einem Klassenzimmer verwechselt. Ihm fiel also selbst auf, wie er sich aufführte. „Yosano, Tanizaki, Naomi und Haruno, bei euch gibt es nichts zu beanstanden. Sehr gut gemacht.“ Während Tanizaki erleichtert ausatmete und seine Schwester und Haruno lächelten, warf Yosano ein: „Gibt es denn dafür nicht wenigstens eine richtige Belohnung?“ „Ihr dürft Feierabend machen“, entgegnete Kunikida trocken. „Dürften wir das nicht sowieso?“ Yosano stöhnte. Der Brillenträger ignorierte ihren Einwand und fuhr fort. „Kenji, du hast dich stark verbessert. Das Formular ist richtig ausgefüllt, aber … was soll das hier sein?“ Kunikida hielt dem Jungen sein Formular hin und drehte es um. Auf die Rückseite hatte Kenji eine Zeichnung von einer Kuh gemalt, die eine Brille und einen Pferdeschwanz trug. „Gefällt dir das Bild nicht, Kunikida?“, fragte Kenji arglos. „Ich habe es extra für dich gezeichnet!“ Als er die großen, unschuldigen und erwartungsvollen Augen des Jungen sah, konnte Kunikida ihn nicht so sehr dafür schelten wie er es eigentlich vorgehabt hatte. „Sei nicht so streng mit ihm, Kunikida“, wandte Yosano glucksend ein, „oder sollte ich besser sagen … Kuhnikida?“ „Wie dem auch sei“, fuhr er nur scheinbar ungerührt fort und Atsushi wollte sich schon wundern, ob der Ältere dies wirklich so leicht wegsteckte, als er die gefährlich hervortretenden Venen auf der Stirn des Blonden entdeckte. Yosano sollte ihn wirklich nicht noch reizen. „Du musst die Zahlen in ein neues Formular übertragen, Kenji. Und dies mal ohne Kuh, bitte.“ „Okay!“, rief der blonde Junge fröhlich aus. „Und ohne andere Farmtiere.“ „Oooooh“, kam es enttäuscht von Kenji hinterher. „Wir können die Zeichnung ja im Büro aufhängen“, schlug Tanizaki zur Begeisterung des Jungen vor. „NEIN! DAS TUN WIR NICHT!“ Kunikida schnaubte. Er musste sich vorkommen wie ein Oberstufenlehrer, der in den Kindergarten versetzt worden war. Der Brillenträger nahm ein paar Mal Luft und machte weiter im Text. „Gut, der Nächste ist … Atsushi.“ Oh Gott! Jetzt war er dran! Im wahrsten Sinne des Wortes. Gleich folgte bestimmt ein Donnerwetter. Innerhalb von Sekunden hatte er seine Kleidung durchgeschwitzt. „I-ich“, stammelte er ängstlich,“i-ich h-hab m-mein B-bestes-“ „Bei dir ist alles in Ordnung.“ „Was?“ Atsushi blinzelte ihn ungläubig an. „Wirklich?“ Erst als der Andere nickte, atmete der Junge aus. Das musste ein Wunder sein. „Kyoka, bei dir aber leider nicht.“ Aufgeschreckt schaute das Mädchen zu Kunikida. „Es tut mir leid. Ich habe die Hälfte der Dinge, die auf dem Formular stehen, nicht verstanden. Ich werde es natürlich noch einmal neu machen.“ Sofort tat sie Atsushi leid. Er wusste, dass sie es so sehr vermeiden wollte, bei der Arbeit in der Detektei Fehler zu machen und anstatt jemanden damit zu belästigen, ihr zu helfen, hatte sie ganz allein versucht, das komplizierte Dokument auszufüllen. Er musste ihr bei Gelegenheit noch einmal eindringlich erklären, dass es ganz und gar keine Belästigung war, wenn sie ihn oder einen der anderen um Hilfe bat. „Es ist wichtig, dass du weißt, wann du einen der älteren Kollegen um Rat fragen solltest“, erklärte Kunikida überraschend verständnisvoll. „So hast du ein Formular verschwendet.“ „Es wird nicht wieder vorkommen“, versicherte Kyoka so fest entschlossen, dass Atsushi lächeln musste … bis ihm etwas klar wurde. Musste Kyoka also …? „Dann bleiben wir heute länger und ich werde dir zeigen, wie man das Formular korrekt ausfüllt“, sagte Kunikida. „Ich bleibe auch hier“, bot Atsushi ohne Umschweife an, doch Kyoka schüttelte den Kopf. „Du hast dich doch auf einen freien Abend gefreut. Daher geh ruhig nach Hause. Ich schaffe das allein“, widersprach das Mädchen bestimmt. „Awwww“, ertönte es von Naomi und Haruno an dieser Stelle unisono. „Ihr beide seid sooo niedlich.“ Der angesprochene Junge lief vor Verlegenheit tiefrot an. „O-okay, dann warte ich Zuhause auf dich.“ „Sooo niedlich!“ Gab es hier kein Loch, in das man sich verkriechen konnte? „Also, weiter ...“ Kunikida widmete sich wieder den Formularen. „Ranpo … ja, das ist in Ordnung.“ Verwundert sah Atsushi zu dem erwähnten Meisterdetektiv, der längst wieder auf seinem Tisch eingeschlafen war und nichts mitbekam. Wie in aller Welt konnte denn Ranpos Aufstellung korrekt sein? Sein Blick wanderte zu dem ausgefüllten Dokument, das Kunikida zu den bereits Abgehandelten auf den Tisch legte. Moment. War das nicht Harunos Handschrift darauf? Atsushis Schultern sanken ein Stück weit in sich zusammen, als er begriff, was da los war. Wahrscheinlich hatten sie es aufgegeben, Ranpo zum Ausfüllen des Formulars zu bewegen und ließen dies nun Haruno machen. Was hatte der Kerl für ein Glück. Was man ihm alles durchgehen ließ. Dann fehlte ja nur noch einer, stellte Atsushi heilfroh fest. Seltsam, dieser eine war die gesamte Zeit auffällig ruhig gewesen. Zu ruhig. Viel zu ruhig. „Atsushi“, zischte es auf einmal leise und der Angesprochene blickte zu Dazais Platz, von wo er dessen Stimme vermutet hatte, doch dort saß niemand. „Atsushi“, zischte es erneut und es bestand kein Zweifel daran, dass das Dazais Stimme war, „hilf mir, zu fliehen.“ Der Junge machte einen Schritt zum Schreibtisch des Älteren und seine Augen fingen an, aufs Heftigste zu zucken, als er unter besagtes Möbelstück schaute. Dazai versteckte sich in kauernder Haltung unter seinem Schreibtisch und hielt sich einen Zeigefinger vor den Mund. „KOMM SOFORT DA RAUS!!“ Natürlich hatte Kunikida direkt bemerkt, wo sein Kamerad hin verschwunden war. Wütend stapfte er zu dem Tisch, griff darunter und zog einen wild zappelnden und jammernden Dazai an dessen Haaren unter dem Möbelstück hervor. „Oh, guten Tag, Kunikida“, sagte Dazai schließlich, als würde er dem Anderen heute zum ersten Mal begegnen. „ich würde ja gerne mit dir plaudern, aber es ist schon spät und ich habe noch einen wichtigen Termin.“ „DU … GEHST … NIRGENDWO HIN!!“ Der Blonde ließ ihn los und wedelte stattdessen zornig mit dem übrig gebliebenen Formular vor der Nase des Anderen herum. „Kannst du mir verraten, was das ist?!“ „Glaube mir, das kann niemand.“ „Oje.“ Yosano seufzte erneut, nahm sich ihre Tasche und stand auf. „Das ist jedes Mal das gleiche. Ich geh lieber, bevor das wieder ausartet.“ Sie schritt zu Ranpos Tisch und stupste den Schlafenden ein paar Mal an. „Huh?“ Ranpo rieb sich müde die Augen und gähnte ausgiebig. „Schon Feierabend?“ „Komm, ich bring dich nach Hause.“ Der Meisterdetektiv setzte sich seine Mütze auf und war mit einem Mal quietschfidel. „Hach, nach so einem Tag harter Arbeit fühlt man sich doch richtig ausgeruht, findet ihr nicht?“ Atsushi fehlten die Worte. Selbst an so einem ereignislosen Tag wie heute wirkte die Detektei nicht wie eine normale Firma. Dafür waren hier viel zu viele Exzentriker versammelt. Apropos. „In die obere Hälfte hast du 'Wir alle lieben unseren Kunikida!' gekrakelt“, regte sich der Brillenträger weiter auf, „und in der unteren hast du anscheinend ein dutzend Mal mit dir selbst 'Galgenmännchen' gespielt und jedes Mal verloren! Dabei ist es offensichtlich, dass die Lösung jedes Mal 'Doppelsuizid' ist!!“ „Mir war eben langweilig.“ „Wenn dir langweilig war, hättest du doch das Formular ausfüllen können!!“ „Aber genau deswegen war mir doch langweilig.“ „DU WIRST MEIN UNTERGANG SEIN!!“ Atsushi beschloss, es den anderen gleich zu tun und schleunigst nach Hause zu gehen.   Die Straßen von Yokohama waren an diesem Abend äußerst belebt. Wenn er jetzt die Bahn nahm, überlegte Atsushi, wäre sie mit Sicherheit voller Pendler, also machte er sich auf, zu Fuß los zu trotten. Auf dem Weg hatte er auch genügend Zeit, sich zu überlegen, wie er Kyoka eine Freude machen könnte, wenn sie nach Kunikidas Verwaltungsnachhilfe nach Hause kam. Hoffentlich hatte Dazai den armen Kunikida nicht noch weiter auf die Palme gebracht, denn sonst wäre Letzterer bestimmt nicht in bester Stimmung und das hieße dann wiederum … arme Kyoka. Es erschien Atsushi immer noch wie ein Wunder, dass Kunikida Dazai noch nicht tatsächlich an die Gurgel gegangen war. Die beiden musste ein wirklich starkes Band verbinden, dass sie trotz ihrer Gegensätzlichkeit ein so perfektes Team bildeten. „Entschuldigung.“ Die Stimme eines Mannes richtete sich an Atsushi, der sich sogleich in die Richtung drehte, aus der sie gekommen war. „Entschuldigung“, wiederholte der Mann, der kurzes, sandig blondes Haar hatte, eine runde Brille trug und mit einem schick aussehenden, dunklen Kurzmantel über einem ebenso schick aussehenden Anzug bekleidet war. Neben ihm stand ein weiterer Mann, den Atsushi wie den ersten auf irgendetwas in den 30ern schätzte. Der andere Mann hatte langes, gewelltes braunes Haar und trug einen mit Pelz besetzten Wollmantel, unter dem ein leuchtend grünes Jackett mit pinkfarbenen Manschetten hervorblitzte. Im Gegensatz zu seinem kurzhaarigen Begleiter, der eher streng drein blickte, lächelte er verschmitzt. Irgendwie erinnerten die beiden Atsushi an ein anderes Duo. „Könntest du uns eventuell weiterhelfen?“, fragte der Mann, der ihn angesprochen hatte. In einer Hand hielt er einen aufgefalteten Stadtplan. „Selbstverständlich … wenn ich kann“, antwortete der junge Detektiv und war sichtlich verlegen über seine Aussage. Er wollte höflich sein, aber wenn er ehrlich war, kannte er sich in Yokohama so gut nicht aus. „Also“, sprach der Kurzhaarige, „wo sind wir hier?“ Er hielt Atsushi den Stadtplan hin. Spürbar erleichtert, dass er die Frage beantworten konnte, zeigte der Junge auf die richtige Stelle auf der Karte. „Sie befinden sich gerade hier.“ „Ah, ja ja, verstehe“, entgegnete der Mann. „Und wenn wir hierhin wollen?“ Er zeigte auf eine weiter entfernte Stelle. „Da nehmen Sie am besten die Bahn. Zum Laufen ist das zu weit.“ „Oh, vielen Dank, junger Mann. Wie können wir uns für deine Hilfe erkenntlich zeigen?“ „Nicht doch.“ Atsushi lächelte die beiden an und schüttelte den Kopf. „Oh doch!“, rief auf einmal der Dunkelhaarige der beiden emotional aus. „Ohne deine Hilfe würden wir noch übermorgen hier ziellos herumirren! Du hast uns gerettet!“ „Ge ...rettet?“ Der Detektiv blinzelte den Mann verdattert an. War das nicht ein bisschen übertrieben? „Ich bitte dich!“ Der Brünette legte in einer überzogenen Geste seine Hände um die des überrumpelten Atsushi. „Es würde uns in unserer Ehre verletzen, wenn wir uns nicht erkenntlich zeigen dürften!“ „Ääh, also, ich weiß ja nicht ...“ „Können wir dich vielleicht zum Essen einladen?“, fragte der erste Mann. „Eine fabelhafte Idee!“, stimmte sein Begleiter frohlockend zu. „Du bist doch sicher hungrig? Du siehst hungrig aus. Sieht er nicht hungrig aus?“ „Er sieht hungrig aus“, gab sein Gefährte ihm Recht. Ohne dass er wirklich wusste, wie ihm geschah, wurde Atsushi von den beiden Männern in ein kleines Café an der nächsten Straßenecke geschoben. „Das ist wirklich nicht nötig“, wiederholte er verlegen, als er nun seinen neuen Bekanntschaften im Café gegenübersaß und ein Stück Kuchen vor die Nase gesetzt bekam. „Doch, doch“, erwiderte der brünette Mann, der ein Parfait verputzte, „wir hatten uns wirklich unsäglich verlaufen.“ „Die reinste Irrfahrt“, warf der Andere ein, der lediglich einen Kaffee trank. „Es ist bei uns so üblich, dass man sich bei einem Retter ausgiebig bedankt.“ Ah, diese Kleinigkeit war Atsushi eben bereits aufgefallen. „Sie kommen aus dem Ausland, oder?“ „Aus dem wunderschönen Irland“, antwortete der Dunkelhaarige. „Oh?“, staunte Atsushi. „Weshalb haben Sie denn die weite Reise nach Japan auf sich genommen? Machen Sie hier Urlaub?“ „Nein, das nicht“, entgegnete der bebrillte Mann. „Dann sind Sie auf einer Geschäftsreise?“ „Nun, ja, wir sind …ja, geschäftlich hier.“ Den Detektiv beschäftigte augenblicklich, was diese beiden wohl beruflich machten, doch der Brünette rief auf einmal aus: „Jimmy, was sind wir unhöflich! Wir haben uns unserem Retter nicht einmal vorgestellt!“ „Das ist ein Versäumnis, wohl wahr.“ Eine Augenbraue des Angesprochenen zuckte plötzlich. „Aber ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst mich nicht 'Jimmy' nennen.“ „Ooh, sei nicht so, der Name ist süß.“ Der dunkelhaarige Mann grinste und schleckte den Löffel ab, mit dem er sein Parfait aß. Das Zähneknirschen des Blonden war laut und deutlich zu hören. „Wie würdest du es denn finden, wenn ich dir irgendeinen Spitznamen geben würde??“, fuhr er seinen Begleiter an. „Eigentlich würde ich das sehr schön finden.“ Er grinste noch ein Stück breiter, was den Anderen noch ein Stück weiter auf die Palme brachte. Perplex blinzelte Atsushi sie an. Die Ähnlichkeit zu einem gewissen anderen Duo war ja beinahe beängstigend. „Na ja, jedenfalls“, der Brillenträger räusperte sich und sprach wieder etwas ruhiger, „ist mein Name James Joyce. Und der da …“, er stöhnte kurz, „heißt Oscar Wilde.“ „Oooh, ich dachte, du versuchst es wenigstens mal mit einem Spitznamen, Jimmy.“ „NENN MICH NICHT JIMMY!!“ „Äh“, warf Atsushi mit wachsendem Unglauben ein (diese Ähnlichkeit war wirklich, wirklich beängstigend!), „mein Name ist Atsushi Nakajima.“ „Freut mich, dich kennen zu lernen!“ Wilde winkte fröhlich mit seinem Löffel. „Pass doch auf“, meckerte Joyce, „du verteilst deinen Süßkram überall.“ „Mein Süßkram ist lecker. Wie ist dein langweiliger Kaffee?“ „Er ist … kaffig.“ „Ist das ein Wort?“ „Es sollte eins sein.“ Wirklich, wirklich, wirklich beängstigend, diese Ähnlichkeit. „Verzeih bitte“, Joyce räusperte sich erneut. „Wir halten dich vermutlich auf, nicht wahr? So ein junger Mann wie du muss doch sicher noch Hausaufgaben machen und für die Schule lernen, oder?“ Erneut schüttelte Atsushi freundlich den Kopf. „Ich gehe nicht mehr zur Schule.“ Joyce richtete seine Brille. „Du arbeitest bereits? Tüchtigkeit weiß ich in einem jungen Menschen stets zu schätzen. Was arbeitet ein Bursche wie du?“ „Ich … uhm, ich arbeite in einem Detektivbüro.“ Wilde und Joyce tauschten erstaunte Blicke aus. „Du bist ein Detektiv?“, hakte Ersterer nach. „Das … uhm, ja, das kann man so sagen.“ Atsushi überlegte, ob er lieber noch nachschieben sollte, dass er sich wohl eher noch in der Ausbildung befand, aber Wilde führte bereits die Konversation fort. „Da haben wir doch letztens etwas Interessantes gehört. In Yokohama soll es doch dieses berühmte 'Büro der bewaffneten Detektive' geben.“ Die Augen des Jungen leuchteten stolz auf. „Sie kennen die Detektei?“ „Sag nicht, du arbeitest da?“ Erfreut nickte Atsushi und die beiden Iren tauschten von neuem erstaunte Blicke aus. „Das weltberühmte Büro der bewaffneten Detektive, also?“ Joyce rüttelte schon wieder an seiner Brille. „Und du Jungspund bist einer von ihnen?“ „Weltberühmt? Wirklich?“ Atsushi wusste nicht so genau, was er darauf antworten sollte. „Erzähl, erzähl“, sagte Wilde aufgeregt, „wie ist es, dort zu arbeiten?“ Die plötzliche Aufmerksamkeit machte den Jungen wieder verlegen – und gleichzeitig wuchs auch sein Stolz. Er war ja schließlich tatsächlich Teil des Büros. „Es ist … immer sehr interessant. Und es ist immer viel los. Ich bin sehr froh, dort arbeiten zu dürfen.“ Wilde applaudierte leise, als freute er sich über diese Antwort. „Und wie sind deine Kollegen so?“ „Meine Kollegen?“ „Ja. Verstehst du dich gut mit ihnen?“ Atsushis Augen leuchteten beim Gedanken an die anderen noch ein Stück mehr auf. „Ja!“, antwortete er enthusiastisch, „Sie sind alle sehr nett zu mir.“ „Niemand Seltsames dabei? Oder irgendjemand, der Probleme macht? Jemand, der … unmenschlich handelt?“ Der Junge stutzte. Was für merkwürdige Fragen dies waren. „Was mein Partner wohl sagen will-“ „Ich liebe es, wenn du mich deinen Partner nennst“, warf Wilde spitzbübisch ein. „Was mein Partner wohl sagen will“, fuhr Joyce unbeirrt fort, „ist, ob es bei einer so hohen Dichte an außerordentlichen Befähigten keinen gibt, der … nun, wie soll ich sagen, Extreme vertritt oder vielleicht sogar rücksichtslos in seinem Handeln ist? Oder sich gar nicht darum schert, Menschenleben in Gefahr zu bringen?“ „Nein“, antwortete Atsushi mit fester Stimme und trotz des mulmigen Gefühls, das er plötzlich hatte. „Sie sind alle gute Menschen.“ Sicher, sie waren alle Exzentriker (und besonders Dazai), aber keiner von ihnen würde je absichtlich einem Unschuldigen schaden. Die beiden Iren sahen ihn einen Moment lang schweigend an, bevor Wilde ihn strahlend anlächelte. „Dann hast du ja wirklich immenses Glück mit deinem Job!“ Joyce nickte. „Ich hoffe, wir haben dich nicht in Verlegenheit gebracht. Wenn die Neugier uns packt, vergessen wir unsere Manieren.“ Das mulmige Gefühl löste sich so schnell wieder auf, wie es gekommen war. War wohl ein Fehlalarm gewesen, dachte Atsushi beruhigt und erwiderte das Lächeln. „Ja. Ich habe wirklich immenses Glück.“   „Schon so spät?“ Yosano blickte auf die Digitaluhr, die auf der Frontseite eines Einkaufszentrums angebracht war. Sie hatte Ranpo nach Hause gebracht, doch dort war diesem aufgefallen, dass er Hunger hatte, weswegen sie noch einmal hatten losziehen müssen, um etwas zu essen (und es musste in einem bestimmten Restaurant sein, weil der Meisterdetektiv nur darauf Lust hatte). Manchmal, seufzte Yosano und lächelte dabei, konnte er wirklich ein bisschen anstrengend sein. Nun hatte sie ihn endlich zu Hause abgeliefert und wollte eigentlich noch ein paar eigene Besorgungen erledigen, doch die Geschäfte waren bereits dabei zu schließen. Die Ärztin wartete, dass die Ampel grün wurde, damit sie die Straße überqueren konnte. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch ein paar Sachen einkaufen. „Akiko Yosano?“, fragte plötzlich ein Mann, der neben ihr aufgetaucht war. Er hatte schwarzes Haar und trug einen beigefarbenen Tweedanzug. Er war definitiv ein gutes Stück älter als sie, aber vielleicht noch ein wenig jünger als Fukuzawa. „Wer will das wissen?“ Geschwind griff der Mann nach ihrem linken Unterarm und berührte ihre Haut mit seiner Hand. „Es tut mir sehr leid.“ „Oh nein, Ihnen wird es gleich leid tun, wenn Sie mich nicht auf der Stelle loslassen.“ Yosano wollte bereits zuschlagen, als mit einem Mal sich alles in ihrem Kopf zu drehen begann. Die Sicht vor ihren Augen verschwamm und die Haut, die der Mann berührte, brannte wie Feuer. War das … eine Fähigkeit? Ihr ganzer Körper begann zu zittern und sie bekam kaum noch Luft. „Wer …?“ „Es tut mir leid.“ Es war das Letzte, das sie hörte, ehe alles um sie herum schwarz wurde. Kapitel 2: Slow and sad, getting sadder --------------------------------------- „Slow and sad, getting sadder“   Placebo, „The bitter end“     Mit Kummer im Herzen, den er nach außen zu verbergen verstand, hielt Fukuzawa vor Ranpos Wohnungstüre inne. Ranpo würde diese Nachricht mit absoluter Sicherheit nicht gut aufnehmen, egal, wie er sie ihm überbrachte. Er wirkte zwar oft unbekümmert und teilnahmslos, doch Fukuzawa wusste, dass, wenn es um Yosano ging, Ranpo alles andere als teilnahmslos reagieren würde. Die Ärztin bedeutete ihm viel und jeder in der Detektei – Yosano eingeschlossen – wusste dies, auch wenn der mitunter sehr kindische Meisterdetektiv es im Prinzip so selten zeigte, dass Außenstehende vermutlich wirklich eine Fähigkeit wie die „Ultra Deduktion“ benötigten, um es zu bemerken. Nein. Ranpo würde diese Nachricht nicht gut aufnehmen und genau deswegen war Fukuzawa persönlich hergekommen. Niemand außer ihm sollte und konnte Ranpo eine Nachricht wie diese überbringen. Äußerst behutsam klopfte er gegen die Tür. Es war noch mitten in der Nacht und der Überfall auf Yosano erst wenige Stunden her. Die Polizei hatte sich bei ihm gemeldet, da sie die Ärztin schnell als eine der bewaffneten Detektive identifiziert hatten. Da sich in der Wohnung nichts tat, klopfte Fukuzawa erneut und dieses Mal dauerte es nicht lange, bis Geräusche aus dem Inneren nach außen drangen. „Wer stört?“, fragte Ranpo in seiner typisch genervten Tonlage. „Ranpo“, sagte Fukuzawa ruhig und bestimmt, bevor mit einem Mal die Tür aufgerissen wurde und der Jüngere ihn geradezu erschrocken anstarrte. „Was ist passiert?!“ Natürlich kam er direkt darauf, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste, wenn der Chef mitten in der Nacht bei ihm auftauchte. „Yosano ist angegriffen worden.“ Sofort weiteten Ranpos Augen sich noch ein Stück mehr und seine Lippen begannen zu zittern. „Sie lebt, aber momentan befindet sie sich im Koma“, fügte Fukuzawa eilig hinzu, um dem Detektiv die wachsende Panik wieder etwas zu nehmen. „Sie müssen mir sofort alles sagen, was Sie darüber wissen!“ Für Außenstehende hätte dieser Ausruf wahrscheinlich unhöflich und deplatziert gewirkt, doch der Chef hörte das Flehen des Jüngeren heraus. Informationen zu verarbeiten war Ranpos Art, alles zu verarbeiten. „Ich werde dir alles auf dem Weg ins Krankenhaus erzählen.“   Fukuzawa spürte das Leid, das sich in Ranpo ausbreitete, als er Yosano – bewusstlos, leichenblass und an ein Beatmungsgerät angeschlossen – in ihrem Krankenbett erblickte. Bedächtig trat Ranpo an sie heran und griff behutsam nach ihrer Hand. „Mit was für einem Gift hat man sie vergiftet?“, fragte er, seinen Blick nicht von seiner Kollegin nehmend. „Das konnten die Ärzte bisher nicht feststellen. Genauso wenig, wie es in ihren Körper gelangt ist.“ „Der Täter muss über Yosanos Fähigkeit Bescheid gewusst haben, daher hat er sie mit Gift angegriffen.“ „Dann denkst du, es war ein gezieltes Attentat auf Yosano?“, hakte Fukuzawa nach und Ranpo nickte, ehe er ihre Hand wieder losließ und sich zum Chef umdrehte. „Ein Anschlag auf offener Straße, wo viel Publikumsverkehr herrscht“, fasste der Meisterdetektiv zusammen, „und trotzdem niemand etwas bemerkt, außer dass Yosano plötzlich zusammenklappt. Die Polizei findet somit nicht einmal einen brauchbaren Zeugen. Wer auch immer ...“, Ranpos Stimme bebte leicht und klang ungewohnt bitter, „ … dies getan hat, hat genau gewusst, wann, wie und wo er sie abpassen musste. Das heißt, er hat sie beobachtet. Aber obwohl ich an diesem Abend zuvor noch bei ihr war, ist mir nichts und niemand aufgefallen.“ Die Bitterkeit verstärkte sich, was Fukuzawa sogleich mit fester Stimme unterband. „Es ist nicht deine Schuld.“ Ein kurzes Schweigen legte sich über sie. „Ich muss mir den Tatort ansehen.“ Die Bitterkeit wich Entschlossenheit. „Ich werde herausfinden, wer ihr dies angetan hat.“ Beruhigt, dass Ranpo unbeirrt bliebt und nicht an der Nachricht zerbrochen war, nickte Fukuzawa. „Ich werde Kenji herschicken, um auf Yosano aufzupassen, falls der Täter bemerkt, dass sie den Angriff überlebt hat. Du und die anderen werdet den Tatort untersuchen. Haruno, Naomi und ich werden Yosanos alte Fälle überprüfen.“   „Nicht zu fassen, dass Yosano hier einfach angegriffen wurde.“ Atsushi blickte bekümmert von dem Bürgersteig, an dem Yosano gefunden worden war, in die Menschenmengen, die sich in diesen Morgenstunden um sie herum bewegten. „Ist es denn möglich, jemandem unauffällig Gift zu verabreichen?“ Er zuckte zusammen, als Kyoka ihn plötzlich mit einem Finger in den Arm stach. „Theoretisch kann man jemandem schnell Gift injizieren, aber bei Yosano wurde keine Einstichstelle am Körper gefunden“, erklärte sie dazu, ohne eine Miene zu verziehen. Manchmal war es schon noch seltsam, das junge Mädchen so ungerührt von Attentaten sprechen zu hören, aber weitestgehend hatte Atsushi sich bereits daran gewöhnt. So seltsam das auch wiederum klang. „Wir sollten anfangen, Passanten zu fragen, ob sie gestern Abend hier waren“, fügte Kyoka pragmatisch hinzu und beide jungen Detektive begaben sich umgehend an die Arbeit, Zeugen zu suchen. Tanizaki und Kunikida waren in dem näheren Umfeld bereits dabei, während Ranpo und Dazai getrennt voneinander die Umgebung begutachteten. Ersterer blieb während der langen Grünphase der Ampel auf der Straße stehen und blickte von dort zum Tatort zurück. Ein Angriff auf Yosano. Aus dem scheinbaren Nichts. Bisher hatte sich niemand aus dem Büro gemeldet, ob es einen möglichen Zusammenhang zu einem abgeschlossenen Fall gab; ob es hier um persönliche Rache ging. War es wirklich ein Angriff auf Yosano gewesen? Ja, natürlich und zugleich – nein, natürlich nicht. Die Menschenmassen lichteten sich auf der Straßenkreuzung, als die Grünphase der Ampel sich dem Ende zuneigte und Ranpo verstand, was hinter dem Anschlag auf Yosano steckte. Ein plötzlicher, stechender, brennender und höllischer Schmerz in seinem Oberkörper lenkte mit einem Mal die volle Aufmerksamkeit des Meisterdetektivs auf sich. Ranpo sah an sich hinunter und bemerkte das Blut, das rasch aus der Wunde an seiner Brust austrat. Ein Schuss. Jemand hatte hinterrücks auf ihn geschossen. Und getroffen. Ein Scharfschütze mit einem Schalldämpfer wahrscheinlich. Von dem Hochhaus, das sich hinter ihm befand? Dann hatte er wirklich Recht mit seiner Theorie, doch …. Sämtliche Luft entwich aus seinen Lungen, als er vornüber fiel. Er hörte, wie Atsushi verzweifelt seinen Namen schrie. Jemand fing ihn auf, bevor er auf dem Boden aufprallte. Kunikida. Kunikida hatte ihn aufgefangen. Ranpo versuchte, etwas zu sagen, ihnen mitzuteilen, was er herausgefunden hatte, doch kein Wort kam über seine Lippen. Blut sammelte sich in seinem Mund, als alles vor seinen Augen verschwamm und die Schmerzen beinahe unerträglich wurden. Angeschossen zu werden war definitiv nichts für ihn. Auf diese Erfahrung hätte er sehr gerne verzichten können. Er hörte, wie Kunikida Tanizaki zubrüllte, einen Rettungswagen zu verständigen. Aber seine Kollegen klangen immer weiter und weiter entfernt. Schwach und in großer Ferne konnte er wahrnehmen, wie Dazai Atsushi und Kyoka zurief, ihm zu folgen. Kunikida tätschelte mit mehr und mehr Nachdruck Ranpos Wangen und sagte immer und immer wieder etwas zu ihm. Wahrscheinlich, dass er bei Bewusstsein bleiben sollte. Ja, was glaubte der denn, was er hier versuchte? Wollte Kunikida seine Intelligenz beleidigen? Darauf, dass er jetzt auf keinen Fall ohnmächtig werden durfte, war er jawohl längst selbst gekommen. So etwas Nerviges, dachte Ranpo, während seine Augen gegen seinen Willen langsam zufielen. Er hatte ihnen nicht einmal seine Schlussfolgerung mitgeteilt. Und nun? Musste er diesen Fall jetzt tatsächlich abgeben? Würden sie das ohne ihn überhaupt schaffen? Ohne ihn lief der Laden doch nicht und ihre Gegner schienen stark und gut vorbereitet zu sein. Wie es aussah, überlegte er, bevor er das Bewusstsein verlor, mussten sie nun einmal ohne ihn auskommen. Hoffentlich ging das gut.   Zum zweiten Mal an diesem Tag fand sich Fukuzawa im Krankenhaus wieder. Sobald Ranpo aus dem OP kam, hatte eine der Krankenschwestern ihm versprochen, würde ihn jemand über den Zustand des Angeschossenen in Kenntnis setzen. Solange warteten er, Kunikida, Tanizaki, Kenji und eine bleischwere, betretende Stille an Seite der nach wie vor bewusstlosen Yosano. Die Tür ging auf und alle Blicke schnellten zum Eingang. „Gibt es schon etwas Neues von Ranpo?“ Atsushi trat, gefolgt von Kyoka und Dazai, ein. „Nein.“ Fukuzawa atmete lang und schwer aus. „Bisher nicht. Habt ihr etwas herausfinden können?“ Atsushi senkte betrübt seinen Kopf. „Wir sind zwar direkt in die Richtung gelaufen, aus der Dazai den Schuss vermutete, doch … wir konnten niemand Verdächtigen mehr finden.“ „Der Täter hat sich die Panik, die nach dem Schuss entstanden war, zu Nutzen gemacht und ist so wahrscheinlich unauffällig in der Menschenmenge untergetaucht“, fügte Kyoka hinzu. „Verstehe.“ Fukuzawa hoffte instinktiv, dass sie die Enttäuschung in seiner Stimme nicht falsch verstanden. Außerdem war er der Letzte, der die Hoffnung verlieren durfte. Er war schließlich für sie alle verantwortlich. „Chef“, warf Dazai ernst ein, „wir können jetzt wohl gesichert davon ausgehen, dass es sich hier um ein taktisches Vorgehen gegen die Detektei handelt.“ Die anderen Detektive blickten perplex zu ihrem Kollegen auf. „Ein taktisches Vorgehen?“, hakte Tanizaki nach. „Was soll das heißen?“ „Wer auch immer uns ans Leder will, hat sich gut darauf vorbereitet und versucht, uns gezielt auszulöschen“, antwortete Dazai. „Wie kommst du darauf?“, fragte Atsushi. „Einfach. Was wäre, wenn nicht Yosano zuerst angegriffen worden wäre, sondern Ranpo?“ „Yosano hätte ihn mit ihrer Fähigkeit geheil- ah!“ Bei Atsushi fiel der Groschen. „Genau. Und Ranpo war als Nächstes an der Reihe, weil er sonst den Fall rasch gelöst hätte.“ „Du meinst“, schlussfolgerte Kunikida nach diesen Worten seines Kollegen und sah dabei mehr als unzufrieden aus, „dass es sich um einen Anschlag auf die ganze Detektei handelt?“ „So ist es.“ Dazai legte nachdenklich eine Hand an sein Kinn. „Die Frage ist somit nicht, ob es noch weitere Angriffe geben wird, sondern auf wen von uns sie es als nächstes abgesehen haben.“ „Aber wer hat es denn überhaupt auf uns abgesehen?“ Kenji blickte fragend in die Runde. „Und wieso?“ „Die Hafen-Mafia vielleicht?“, mutmaßte Atsushi. „Das halte ich für unwahrscheinlich“, entgegnete Fukuzawa. „Es gibt momentan keinen Grund für sie, unser Abkommen zu brechen.“ „Außerdem wäre das nicht Moris Art“, führte Dazai aus. „Die Hafen-Mafia schickt doch mit größter Vorliebe die Schwarze Echse vor.“ Kunikida ächzte missmutig. „Die Detektei hat mehr als genug weitere Feinde. Da tappen wir also im Dunkeln.“ „Ranpo sagte bereits, dass der Täter uns beobachtet haben muss“, erklärte Fukuzawa. „Ist irgendeinem von euch in letzter Zeit etwas aufgefallen? Irgendeine Kleinigkeit, die darauf hinweisen könnte, dass jemand Informationen über uns zu sammeln versucht hat? Etwas, das so unauffällig geschehen ist, dass keiner von uns es bemerken konnte?“ Alle Anwesenden gingen für einen Moment in sich, um über die Worte des Chefs nachzudenken, doch alle kamen zu dem gleichen Ergebnis: Es war niemandem etwas aufgefallen. Nur Atsushi wurde mit einem Mal sehr blass und wirkte stark in Gedanken versunken. Hatten sie etwa mit den Angriffen zu tun? Nein, das konnte nicht sein…. Oder doch? „Atsushi“, wandte sich Dazai an ihn, als er das nachdenkliche Gesicht des Jüngeren bemerkte, „ist dir etwas eingefallen?“ Die versammelten Detektive sahen angespannt zu dem silberhaarigen Jungen. „Ich … ich weiß nicht“, antwortete er verunsichert. „Jede Kleinigkeit kann uns im Moment helfen“, bestärkte Fukuzawa ihn. „Am Abend … an dem Yosano angegriffen wurde“, begann Atsushi daraufhin zu erzählen, „haben mich zwei Iren in der Nähe des Büros abgefangen und mich nach der Detektei gefragt.“ Ein aufgeschrecktes Raunen ging durch den Raum. „Und das sagst du uns erst jetzt?!“, wetterte Kunikida los, doch Dazai unterband das Grollen seines Partners sofort. „Was haben sie dich gefragt?“ „Ei-eigentlich nicht viel. Sie wollten wissen, wie es ist für die Detektei zu arbeiten, ob ich mich gut mit meinen Kollegen verstehen würde und ob keiner von ihnen rücksichtslos vorgehen würde.“ „Und das war alles, was sie wissen wollten?“ Wie die anderen war Kunikida von dieser Antwort äußerst irritiert. „Das sind keine Informationen, die man für ein Attentat verwenden kann“, warf Kyoka ein. „Trotzdem“, sagte Dazai an Atsushi gerichtet, „hattest du das Gefühl, dass du uns das jetzt sagen solltest, nicht wahr?“ Der Junge nickte zögerlich. „Ja. Ich weiß auch nicht warum, aber … als ich mit den beiden Männern sprach, hatte ich das Gefühl, dass sie eigentlich etwas Anderes hatten fragen wollen, es aber nicht getan haben.“ „Hatte die Detektei denn je schon mal mit Leuten aus Irland zu tun?“, fragte Kenji nach und Fukuzawa verneinte seine Frage sogleich mit einem angedeuteten Kopfschütteln. „Ist einer von euch schon mal in Irland gewesen?“, wollte Tanizaki wissen und erneut gab es eine einheitliche Absage. „Vielleicht sollten wir die alten Akten nach allgemeinen Verbindungen zu Europa durchgehen“, schlug Kunikida vor. „Atsushi und Kyoka“, sagte der Chef nach kurzer Überlegung und mit entschlossenem Tonfall, „ihr geht sofort ins Büro und helft Haruno und Naomi beim Durchsehen der Akten. Kunikida und Dazai, Tanizaki und Kenji, ihr kehrt zu der Straßenkreuzung zurück, an der Yosano und Ranpo angegriffen worden sind. Es muss irgendwo ein Hinweis zu finden sein. Ich bleibe bei den beiden anderen im Krankenhaus. Ab sofort unternimmt keiner von euch mehr etwas alleine. Ihr bleibt unter allen Umständen zu zweit zusammen. Habt ihr das verstanden?“ Unisono schallte ein „Verstanden“ durch den Raum, ehe alle Detektive sich hastig aufmachten und ihren Chef mit der wieder eingekehrten bleischweren Stille im Zimmer zurückließen. Sie mussten diesen Fall schnell lösen, dachte Fukuzawa und versuchte, die Verbitterung über sein bisheriges Versagen in seinem Inneren zurückzudrängen. Es durften nicht noch mehr seiner Leute zu Schaden kommen. Unter keinen Umständen durfte dies geschehen. Denn nichts war wertvoller als das Leben seiner Leute und sie und diese Stadt zu beschützen, war etwas dem Fukuzawa sein Leben verschrieben hatte. Kapitel 3: I wonder: is this all there is? ------------------------------------------ „I wonder: is this all there is?“   Placebo, „The never-ending why“     Genervt zog der Junge den immer noch zu großen schwarzen Mantel aus und legte ihn am Fuße des Hügels zusammen. Es waren bestimmt 38 Grad im Schatten und wenn er den Mantel anbehielt, so war sich Dazai sicher, würde er an einem Hitzschlag sterben. Und das war definitiv nicht die Methode seiner Wahl. Außerdem wollte er nicht, dass Herr Moris Mantel dreckig wurde. Missmutig blickte er den steilen Hügel hinauf. Wieso musste seine Zielperson ausgerechnet an einem so heißen Tag auf eine so steile Anhöhe fliehen? Jetzt hatte er ihn den ganzen Weg aus der Stadt bis hierher verfolgt und musste auch noch eine Wanderung einlegen? Dazai stöhnte. Manchmal hatte dieser Job seine Tücken. Aber Herr Mori wollte, dass er die Zielperson erledigte. Der Typ hatte den Boss bei Schmuggelgeschäften übers Ohr gehauen und Geld von der Organisation abgezweigt und weil Herr Mori immer noch nicht über den größten Rückhalt in der Hafen-Mafia verfügte, wollte er den Vorfall möglichst klein halten. Überhaupt auf den Franzosen hineinzufallen war schon peinlich genug gewesen, aber sich dann auch noch so lange von ihm vorführen zu lassen …. Und deswegen musste Dazai jetzt an einem verdammt heißen Tag einen verdammt steilen Hügel hinaufkraxeln. Es half ja nichts. Der Junge hoffte nur, dass er es bis zum Abend in die Stadt zurück schaffte, denn er war für heute mit Odasaku verabredet und wollte ihn nicht warten lassen. Von Temperatur und Hügel abgesehen (immer noch zu heiß, immer noch zu steil), war der Auftrag ansonsten nichts Besonderes. Hatte er gedacht. Denn Dazai konnte nicht anders als sich zu wundern, warum der Franzose, der unter dem Decknamen „Der Fremde“ agiert hatte, auf diese Anhöhe geflüchtet war, von der es kein Entkommen mehr gab. Zur rückwärtigen Seite konnte man nicht hinabsteigen, denn dort befand sich das Meer und von dieser Stelle die Klippen hinabzuspringen, würde man dank der Felsen im Wasser nicht überleben. Aus dieser Höhe auf Gestein krachen? Nein, auch nicht die Methode seiner Wahl. Entnervt keuchend erreichte er die Spitze des Hügels. „Hätte der Boss nicht den Wicht herschicken können? Chuuya hätte den blöden Berg einfach dem Erdboden gleichgemacht“, lamentierte Dazai und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Was ist das denn?“, begrüßte seine Zielperson ihn skeptisch. Dazai blickte zu dem dunkelhaarigen Mann, der am Rand der Klippen stand und ihn kritisch beäugend angesprochen hatte. „Ich hatte erwartet, die Mafia würde mir so eine schwer bewaffnete Einheit auf den Hals hetzen und ich würde dramatisch in einem Kugelhagel sterben. So wie im Film.“ Er klang tatsächlich ein wenig enttäuscht. „Aber stattdessen schicken sie nur einen einzigen Jungen, um mich zu erledigen? Das lässt mich ja geradezu denken, dass ich mich nicht genug angestrengt habe, um wichtiger genommen zu werden.“ Was war denn das für einer? Für den Hauch eines Moments war Dazai tatsächlich sprachlos. Keiner seiner bisherigen Ziele hatte so reagiert. Normalerweise flehten sie um ihr Leben oder stürzten sich in einen aussichtslosen Kampf, aber … das hier? Das war neu. „Wenn es Ihnen irgendein Trost ist, ich bin Herr Moris fähigster Untergebener“, bot er schließlich an. „Der Fremde“ legte nachdenklich den Kopf schief. „Na ja, ich will dir das mal glauben. Dann wäre es in der Tat ein kleiner Trost.“ „Wollen Sie nicht um Ihr Leben betteln? Oder so etwas in der Art? Das machen die meisten an dieser Stelle.“ Dazais Gegenüber blinzelte ihn mit großen Augen an. „Um mein Leben betteln? Würde das denn was bringen?“ „Nein.“ „Wäre auch nicht meine Art.“ Der Franzose zuckte mit den Schultern. „Es ist zwar schade, dass mein Leben hier ein Ende findet, aber ich allein bin schließlich für mein Handeln verantwortlich, nicht wahr? Dann sollte ich auch bis zum Schluss zu meinen Entscheidungen stehen.“ Neugier regte sich in Dazais Innern. „Hängen Sie denn nicht an Ihrem Leben, Herr ...“, der richtige Name des Mannes fiel ihm wieder ein, „Herr Camus?“ „Oh? Doch. Auf jeden Fall!“, rief der Angesprochene aus. „Warum sind Sie dann hergekommen? Ich hatte angenommen, Sie wollten sich hier in den Tod stürzen.“ „In den Tod stürzen?“ Camus winkte ab. „Nicht doch. Ich wollte den Sonnenuntergang noch einmal sehen. Und von hier ist die Aussicht grandios.“ Er zeigte auf das Meer hinaus, dem die Sonne sich mehr und mehr annäherte, während sie den Himmel und das Wasser langsam hellrot färbte. „Sag, Junge“, fuhr er fort, nachdem sie sich einen Moment lang angeschwiegen hatten, „war das Einbildung oder hast du 'in den Tod stürzen' gerade mit sehr viel mehr Begeisterung gesagt, als es bei den meisten Menschen üblich ist?“ Ein Lächeln legte sich auf Dazais Lippen. „Ich hatte gehofft, Sie wären vielleicht auch ein Selbstmordfanatiker.“ „Auch?“ Der Franzose stutzte. „Oje, Junge, denk da lieber nicht weiter drüber nach. Damit wirst du nicht glücklich werden. Selbstmord ist unsinnig.“ „Glücklich?“ Dazai sah „den Fremden“ an, als hätte dieser den Verstand verloren. „Wieso soll Selbstmord unsinnig sein?“, konterte er, merklich beleidigt, dass jemand sich schlecht über Suizid geäußert hatte. Camus schaute ihn an, als hätte er gerade etwas äußerst Dummes gesagt. Normalerweise war es Dazai, der genau diesen Blick sonst Chuuya zuwarf. „Oh ja, Selbstmord ist unsinnig. Genau wie das Leben“, antwortete der Franzose ihm. Der Mann hatte es im Handumdrehen geschafft, den jungen Mafioso aus der sonst beinahe apathischen Ruhe zu bringen. „Was soll das denn nun wieder heißen? Wie können sowohl der Selbstmord als auch das Leben keinen Sinn haben? Sie widersprechen sich doch total!“ „Nein, tue ich nicht.“ Camus überlegte kurz. „Oh, warte, ich erkläre dir genauer, was ich meine. Einen tieferen Sinn im Leben zu suchen, das ist … nun ja, unsinnig. Den gibt es nämlich nicht und wenn man danach sucht, wird man nur daran verzweifeln.“ Er lächelte. „Aber aus einem Mangel an Sinn das Leben zu beenden, ist genauso unsinnig. Man muss so lange leben wie es einem möglich ist und jeden Augenblick so intensiv leben wie es einem möglich ist. Das ist das einzige, was man tun kann. Und dann kann man auch Glück erfahren. Jetzt verstanden?“ Der Kerl hatte sie eindeutig nicht alle. Hatte er es hier mit einem Wahnsinnigen zu tun? Das musste es sein! Nur ein Wahnsinniger würde solche Dummheiten von sich geben und um das, was ein Wahnsinniger behauptete, musste er sich nicht scheren! Dieser Typ wusste doch nicht, was er da sagte. Was er da Ungeheuerliches sagte. Dazai tat sein Bestes, das Kribbeln unter seiner Haut zu ignorieren, das plötzlich in ihm aufkam, während er versuchte, Camus als Lügner zu strafen. „Wenn Sie ein langes Leben haben wollten, war es ziemlich dumm, der Hafen-Mafia das Geld zu klauen.“ Erneut zuckte Camus mit den Schultern. „Ja, aber um intensiv leben zu können, habe ich das Geld gebraucht. Ich habe jeden Moment bis zum Äußersten ausgekostet und ein Leben gelebt, das mich erfüllt hat. Ich bereue also nichts.“ „Ein Leben, das Sie erfüllt hat? Woher wollen Sie wissen, dass es Sie erfüllt hat? Wenn Sie behaupten, das Leben hätte keinen tieferen Sinn, können Sie auch nichts gefunden haben, was Ihnen Erfüllung bietet. Ich wusste es, Sie haben keine Ahnung, was Sie da sagen!“ Überrascht sah der Franzose Dazai an. Dann legte sich ein Ausdruck von Mitgefühl über sein Gesicht. „Oh, Junge.“ Camus seufzte mitleidsvoll. „Wenn man etwas gefunden hat, in dem man aufgeht, in dem man Erfüllung findet, dann weiß man das und dann versteht man auch, dass die Suche nach einem tieferen Sinn absurd ist. Das heißt ... du hast nichts, in dem du aufgehen kannst? Nichts, dass dich das Leben spüren lässt und dich Glück empfinden lässt?“ „Ich brauche nichts, in dem ich aufgehe.“ Dazai bemerkte selbst nicht, wie gereizt er klang. „Ich brauche kein Glücksempfinden. Ich suche nach etwas Anderem. Etwas Größerem.“ „Hatte ich dir nicht gerade erklärt, dass die Suche nach einem Sinn des Lebens sinnlos ist?“ Der Ältere seufzte. „Du brauchst etwas, das dich erfüllt. Das braucht jeder Mensch.“ „Ich bin nicht wie andere Menschen“, widersprach der Junge trotzig. Camus blinzelte verwundert, ehe er lachte. „Was du nicht sagst!“ „Was wissen Sie schon über mich?!“ „Es ist so offensichtlich, dass du deines Lebens überdrüssig bist“, antwortete der Mann ruhig. „Ich vermute mal, du empfindest dich auch von anderen Menschen entfremdet, nicht wahr? So verzweifelt suchst du nach einem Sinn. Und jetzt komme ich und sage dir, dass deine Suche sinnlos ist und du dich lieber anderen Dingen zuwenden solltest. Ich kann deine Frustration verstehen, aber sie wird dich auch nicht weiterbringen.“ „Ihre Erklärungen sind das, was unsinnig ist! Sie helfen mir kein Stück weiter!“ Es war unstrittig, dass Dazais Stimme zitterte. Das Kribbeln unter seiner Haut wurde schlimmer und er wünschte sich, er könnte die Worte des Anderen ungehört machen. Das Kribbeln wurde zu einem Druckgefühl, das sich in seinem gesamten Körper breitmachte, sein Herz begann zu rasen und es war, als würde er sein eigenes Schreien in seinem Kopf hören. Er hat nicht Recht. Er hat nicht Recht. Und weil er die Unwahrheit sagt, sollte er besser schweigen. Der Franzose ließ seinen Blick erneut zum Sonnenuntergang wandern. „Das tut mir leid. Trotzdem wünsche ich dir, dass du etwas findest, das dich erfüllt. Mir ist wahrlich noch nie zuvor ein derart unglücklicher Mensch, wie du es einer bist, begegnet.“   Die tiefrote Sonne war fast im Meer versunken, als Dazai zu ihr hinaussah und die Pistole wieder wegsteckte. Der Junge ging zum Rand der Klippen, wo eben noch Camus gestanden hatte, und blickte auf die Felsen, die dort unten aus dem Meer ragten und vom tosenden Wasser umspült wurden. Irgendwo da unten trieb nun der Franzose und Dazais Wut über dessen Worte vermischte sich nun mit dem Neid darüber, dass für Camus die Frage nach Sinn und Unsinn ein für allemal beendet war. Wie gebannt starrte der Junge die Felsen und das Wasser an und etwas in seinem Inneren sagte ihm lauter und lauter werdend, noch einen Schritt nach vorne zu machen. Der Augenblick, den er dort hinuntersah, zog und zog sich, bis es tatsächlich dunkel war. Auf einen Schlag bemerkte Dazai, wie sehr es abgekühlt hatte und er blickte zum finsteren Horizont. Ah, ja!, fiel es ihm plötzlich ein. Odasaku wartete ja auf ihn. Dazai machte kehrt und stieg den Hügel wieder hinab. Kapitel 4: I'm well aware of how it aches ----------------------------------------- „I'm well aware of how it aches“   Placebo, „Song to say goodbye“     Dazai sah von dem Dach des Hochhauses, von dem aus auf Ranpo geschossen worden war, auf die Straßenkreuzung. Er war sich sicher, dass ein Teil des Rätsels Lösung hier zu finden war, doch noch hatte er den entscheidenden Anhaltspunkt nicht ausmachen können. Irgendetwas an der Sache störte ihn. Es machte nicht so recht Sinn. Wieso hatte der Schütze aus dieser guten Position und mit diesem hervorragenden Sichtfeld nur einmal geschossen? „Eine Patronenhülse.“ Kunikida kam zu ihm hinzu und hielt ihm den winzigen Gegenstand hin. „Sie war in den Abfluss dort gefallen und hatte sich am unteren Ende des Abflussgitters verfangen.“ Er zeigte auf das kleine Loch im Boden. Offensichtlich hatte er das Gitter abgeschraubt und so die Hülse gefunden. „Solche Gewehre benutzen Scharfschützen“, stellte Dazai nach nur einem kurzen Blick auf die Hülse fest. „Ich frage mich die ganze Zeit schon, ob wir es mit einem giftmischenden Schützen zu tun haben oder ob es mehrere Täter gibt.“ Kunikida besah sich nachdenklich und sichtlich besorgt die Patronenhülse. „Es sind mehrere.“ Der Blick des Blonden schnellte wieder hinauf zu seinem Kameraden. „Wieso bist du dir da so sicher?“ „Jemand, der über ein so starkes Gift verfügt, das er auch noch so schnell und unauffällig verabreichen kann, würde sich nicht ohne Grund die Mühe machen, hier hochzukommen, um auf Ranpo zu schießen.“ Dazais Augen wanderten wieder zur Straßenkreuzung hinunter. „Sie arbeiten also im Team, sehen aber aus irgendeinem Grund davon ab, mehrere von uns gleichzeitig anzugreifen. Daher knöpfen sie sich uns einzeln vor.“ Bei Dazais Worten wurde Kunikidas Blick noch ernster. „Das nächste Attentat bei einem gezielten Vorgehen gegen die Detektei …. Auf wen von uns haben sie es als nächstes abgesehen?“ „Wenn es um die Vernichtung der Detektei ginge, wäre der Chef die logische Wahl.“ Kunikida erschrak. „Der Chef ist doch momentan der einzige, der allein ist!“ „Wenn es um die Vernichtung der Detektei ginge“, antwortete Dazai ruhig. „Weder Yosano noch Ranpo sind getötet worden. Wollte man das Büro auslöschen, würde man doch sicherstellen, dass die Ziele zweifellos beseitigt wurden. Das Ziel der Täter ist etwas Anderes als die Vernichtung der Detektei. Daher ist es auch unwahrscheinlich, dass sie als nächstes den Chef angreifen.“ Aus dem Augenwinkel konnte er ausmachen, wie Kunikidas Anspannung sich ein kleines Stück legte. Allerdings war sie immer noch beinahe mit den Händen greifbar. Hier fehlte eindeutig ein Puzzleteil, um der Lösung näherzukommen. Was übersah er? Wenn er die Detektei vernichten wollte, würde er sich auch die Mitglieder einzeln vorknöpfen, aber so, dass sie ganz sicher dabei sterben würden und nicht nur verletzt würden. Und er würde sich selbst entweder vor oder zeitgleich mit Ranpo auslöschen. Aber was für ein Ziel verfolgten sie dann? Was übersah er bloß? Kunikida warf einen sorgenvollen Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist jetzt 12:31 Uhr. Tanizaki und Kenji sollten sich doch eigentlich alle 30 Minuten bei uns melden.“ Entsetzt wirbelte Dazai zu ihm herum. „Kunikida! Ruf sofort Tanizaki an!“   „12:15 Uhr.“ Tanizaki sah von seiner Uhr auf. „In 15 Minuten sollen wir uns wieder bei Kunikida melden.“ Er und Kenji hatten die Straßenkreuzung verlassen und ihren Suchradius nach möglichen Zeugen auf die weitere Umgebung ausgeweitet. Aus dem Blickfeld des Hochhauses, das ihre beiden Kollegen untersuchten, waren sie inzwischen verschwunden. „Entschuldigung.“ Die schwach klingende Stimme eines Kindes ertönte hinter ihnen und sie drehten sich zu ihr um. Ein kleines Mädchen stand dort. Im Großen und Ganzen sah sie wie ein gewöhnliches Mädchen aus, doch ihre Mimik war merkwürdig ausdruckslos und ihre Augen schienen in eine unbekannte Ferne zu blicken. „Ja?“, erwiderte Tanizaki freundlich. „Sie suchen doch den Mann, der die Frau an der Straßenkreuzung angegriffen hat“, antwortete sie und ihr Tonfall klang eigenartig traurig. „Ja!“, rief Kenji aus. „Den suchen wir! Weißt du vielleicht etwas dazu?“ „Ich habe ihn gesehen.“ Die zwei Detektive tauschten einen erstaunten Blick aus. „Kannst du ihn beschreiben?“, hakte Tanizaki nach. „Ich habe gesehen, wohin er gelaufen ist.“ Langsam hob sie einen Arm und zeigte mit einem Finger in eine leicht versteckt liegende Straße, die von dort, wo sie standen, schwer einzusehen war. Die Blicke der jungen Detektive folgten ihrem Fingerzeig. „Da entlang?“, hakte Tanizaki mit einem mulmigen Gefühl im Bauch nach. „Würde als Fluchtweg doch Sinn machen“, wandte Kenji ein. „Ja, das schon, aber … ich sollte lieber erst Kunikida Bescheid geben, bevor wir uns dort umsehen.“ Gerade als Kenji zustimmend nickte, lief das Mädchen plötzlich los und rannte in die Richtung, in die sie gezeigt hatte. „Hey!“, rief Tanizaki ihr erschrocken hinterher. „Warte!“ „Was ist, wenn der Gifttyp da immer noch ist?“, fragte der Jüngere der beiden alarmiert, ehe er ihr hinterher stürmte. „Verdammt!“ Das mulmige Gefühl so gut es ging ignorierend, lief auch Tanizaki los. Die beiden durchquerten die Straße bis zu ihrem Ende, an dem eine alte, verlassene Fabrik stand. „Ich kann sie nirgends sehen. Wo kann sie nur hin sein?“ Kenji blickte sich um und entdecke etwas Anderes. „Tanizaki, sieh mal!“ Er zeigte auf den Boden vor dem Fabrikeingang, der gesäumt war mit Patronenhülsen. „Das sieht ja aus, als hätte hier jemand Schießübungen veranstaltet“, schlussfolgerte der Rothaarige nachdenklich. „Da in der Halle liegen Waffen.“ Kenji lief in das Gebäude und Tanizaki folgte ihm auf dem Fuße. Sie sollten doch schließlich zusammenbleiben, so wie der Chef es ihnen aufgetragen hatte. „Ich werde jetzt besser Kunikida Bescheid sagen.“ Als sie im Inneren der Fabrik angekommen waren, nahm Tanizaki sein Handy heraus, klappte es auf und wollte die Kurzwahltaste berühren, als mit einem Mal alles vor seinen Augen verschwamm. Was war das denn jetzt? „Tanizaki ...“ Kenji, der vor ihm ging, drehte sich zu ihm um. „Mir ist so ein bisschen schwummrig im Kopf ...“ „Mir … auch ...“ Ihm war als hätte der Raum begonnen, sich zu drehen. „Ist … das … eine … Falle?“ Er hatte Probleme, die Worte auszusprechen. Oder sie auch nur zu denken. Sein Kopf fühlte sich so leicht an. So vollkommen leer. Und doch gleichzeitig auch so schwer. „Tanizaki??“, rief Kenji besorgt aus, als sein Kollege zu schwanken begann. Scheinbar war der Jüngere der beiden nicht so schlimm betroffen. Mehrere Geräusche ließen den blonden Jungen sich erneut in die Richtung drehen, in die er ursprünglich unterwegs gewesen war. Mehrere Kinder, alle mit dem gleichen emotionslosen Gesichtsausdruck und alle mit verschiedensten Waffen, von Pfeil und Bogen, Speeren, Schwertern, bis hin zu Maschinengewehren und Pistolen, ausgerüstet, standen dort plötzlich vor ihm. Auch das Mädchen, das sie hierher gelotst hatte. In ihren Händen hielt sie eine geladene Armbrust, die sie ohne zu zögern auf Kenji abfeuerte. Der Pfeil zersplitterte allerdings, als er den Jungen traf. „Hey! Au! Was soll denn das?“ Im nächsten Moment stürzten sich die anderen Kinder ebenso auf ihn und feuerten alles ab, was sie hatten. Die Kugeln prallten an ihm ab und auch die Schwerter konnten ihm keinen Schaden zufügen. Kenji jedoch war ratlos, was er tun sollte. Er konnte doch nicht diese Kinder schlagen? Während er die mit den Schwertern auf ihn eindreschenden Kinder abhielt, wandte er sich hilfesuchend wieder seinem scheinbar erstarrten Kameraden zu. „Tanizaki! Vorsicht! Hinter dir!“, warnte Kenji ihn aus vollem Halse, doch der Ältere reagierte nicht und schien auch den hinter ihm aufgetauchten jungen Mann nicht zu bemerken, der ihm blitzschnell ein Kurzschwert in den Rücken rammte. „Tanizaki!!“, schrie Kenji und wollte zu ihm laufen, als unversehens ein dunkelhaariger Mann aus einem Versteck hinter einigen Kisten hervor geschossen kam und den blonden Jungen fest am Handgelenk packte. „Lassen Sie mich los!!“ Mit einem Mal spürte Kenji, wie seine ganze Kraft seinen Körper verließ. Sein Körper wurde schwer wie Blei und das schwummrige Gefühl, das er vorhin nur in seinem Kopf gefühlt hatte, war plötzlich wie eine Betondecke, die ihn zu zerquetschen drohte. Er konnte kaum noch atmen und sein Handgelenk brannte wie Feuer. „Tanizaki!! TANIZAKI!!“, brüllte er, ehe er zu Boden ging. „Ken … ji?“ Hatte da nicht gerade Kenji geschrien? War etwas mit ihm? Was war hier überhaupt …? Eine Falle … sie waren in eine Falle gelaufen! In dem Augenblick, in dem der Schrei des Jungen schwach zu Tanizakis vollkommen benebelten Bewusstsein durchdrang, holte es ihn in die Realität zurück. Auf einmal spürte er die tiefe Wunde in seinem Körper, doch auch wenn der Schmerz erstaunlicherweise auszuhalten war, war sich Tanizaki sofort bewusst, dass er gerade viel zu große Mengen Blut verlor. Besonders, weil sein Angreifer das Schwert wieder hinauszog und dabei nicht nur die Verletzung verschlimmerte, sondern auch seinen Blutverlust dramatisch verstärkte. Der Rothaarige blinzelte, um seine Sicht wieder klarer zu bekommen und erblickte den vor ihm auf dem Boden liegenden Kenji. Ein fremder Mann in einem beigefarbenen Anzug hielt sein Handgelenk mit einer Hand fest. „Ken … ji …“, war das Letzte, das Tanizaki zu Tode verängstigt äußern konnte, ehe es ihm schwarz vor Augen wurde und er, das aufgeklappte Handy noch immer in einer Hand haltend, bewusstlos zu Boden sank. „Sind die hartnäckig“, sagte sein Angreifer, steckte sein Schwert weg und fuhr sich mit einer Hand angestrengt durch seine kurzen, rotbraunen Haare. „Vielleicht haben wir diese beiden ein wenig unterschätzt.“ Tanizakis Blut klebte an seiner braunen Weste und an den Ärmeln des weißen Hemdes, das er darunter trug. „Ein wenig?“, entgegnete der ältere, schwarzhaarige Mann und ließ sichtlich erschöpft Kenjis Handgelenk los. „Mit der Dosis, die ich diesem Jungen verabreichen musste, hätte man locker einen Elefanten lahm legen können. Oder zwei.“ Plötzlich verkrampfte sich sein Körper, er ging in die Knie und fing an, erbärmlich zu husten. „Aldous!“, rief der Jüngere erschrocken aus, als er hilflos dem Anfall seines Gefährten zusah. Der Angesprochene winkte mit einer Hand beruhigend ab, während er mit der anderen das Blut aus seinem Gesicht wischte, das er ausgehustet hatte. „Geht schon wieder. War nur etwas zu viel Soma auf einmal.“ Der Jüngere stieg besorgt über Tanizakis verblutende Gestalt hinweg und half dem Dunkelhaarigen wieder auf. „Wir haben es bald geschafft“, sagte er mit bebender Stimme, während er sich zu einem Lächeln zwang. „Den nächsten schaffen die Lost Boys alleine. Und wenn wir uns um den großen Fisch gekümmert haben, kannst du dich bis zum letzten Akt ein wenig ausruhen.“ „Die Lost Boys sind wirklich erschreckend viele geworden, seit wir in dieser Stadt sind“, äußerte der Andere erschöpft. Gestützt auf seinen jüngeren Kameraden begab er sich zum Ausgang und sie ließen die beiden Detektive allein in der verlassenen Fabrikhalle zurück. Mitten in die plötzlich eingetretene, unheimliche und unheilvolle Stille platzte ein Geräusch. Tanizakis Handy klingelte. Eine zitternde, sich tonnenschwer anfühlende Hand streckte sich nach dem aufgeklappten Handy aus. Kenji schaffte es mit letzter Kraft, seinen Finger das grüne Telefonsymbol antippen zu lassen. „Tanizaki!“, ertönte Kunikidas Stimme aufgebracht aus dem Mobiltelefon. „Seid ihr in Ordnung??“ „Ku ... ni … kida ...“ „Kenji?? Was ist los?! Hey!“ „Fabrik … südlich von … Straße …“ „Kenji!! Bleib wach!! Sag mir, was passiert ist!“ „Al … dous ...“ „Was heißt das?! Kenji?? Kenji!!“ Kunikida bekam keine Antwort mehr.   Fukuzawa ließ seinen entgeisterten Blick über die drei schwach und verletzlich aussehenden, leichenblassen Gestalten in den Krankenbetten schweifen. Das waren seine Schutzbefohlenen. Und nun lagen sie hier und kämpften um ihr Leben. Das Leben, das sie ihm anvertraut hatten. Wie hatte er sie so im Stich lassen können? Neben den Herzmonitoren war das einzige Geräusch, das den Raum lautstark erfüllte, Naomis bitterliches, herzzerreißendes Weinen. Das Mädchen klammerte sich an Haruno fest und konnte vor lauter Tränen kaum noch atmen. Ranpo war gerade erst aus dem OP gekommen (und nach wie vor bewusstlos), als der Anruf von Dazai gekommen war, dass er und Kunikida Tanizaki schwer verletzt und Kenji wie Yosano vergiftet vorgefunden hatten. Die Ärzte kämpften nun um Tanizakis Leben, während der Rest der Detektei im Zimmer der anderen wartete. Voller Bitterkeit schloss Fukuzawa seine Augen. Seine Leute hatten nun bereits ein Dreibettzimmer ausgefüllt und benötigten bereits ein weiteres. Wie konnte er diesen Wahnsinn nur stoppen? „Aldous“, sagte Kunikida in diese furchtbare Kulisse hinein, „der Name, den Kenji am Telefon genannt hat, ist ein englischer Name.“ „Ein englischer Name?“ Atsushi, der bis gerade mit traurigen Augen zwischen Kenji und Naomi hin und her geblickt hatte, wandte sich seinem älteren Kollegen zu. „Erst Iren, jetzt ein Engländer. Das klingt nicht nach einem Zufall“, warf Kyoka ein. Fukuzawa öffnete seine Augen wieder. „Habt ihr in den Akten irgendeine Verbindung zwischen uns und Großbritannien gefunden?“ „Bisher nichts, was uns weiterhelfen würde.“ Haruno schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Abrupt verstummte Naomis Schluchzen an dieser Stelle und sie löste sich von ihrer Freundin. „Naomi?“, fragte Haruno besorgt nach, doch die Schülerin reagierte nicht auf sie, sondern ging schnurstracks zu Dazai, der schweigend mit dem Rücken zum Fenster stand. Wohlwissend, was jetzt kam, sah er sie an. „Tu endlich was!!“, schrie Naomi ihn an. „Du weißt doch sonst immer alles!! Also tu endlich was!! Finde die Leute, die das meinem Bruder und den anderen angetan haben und beende es endlich!!“ „Naomi ...“, warf Atsushi bedrückt und mitleidsvoll ein, „wenn Dazai eine Idee hätte, hätte er sie uns längst mitgeteilt, nicht wahr, Dazai?“ Dazai schwieg – und irgendetwas an dieser Reaktion beunruhigte Atsushi zutiefst. Naomi hingegen verzweifelte durch sein Schweigen noch mehr. „Mein Bruder ist mir das Wichtigste, was ich habe!! Er ist meine Familie, er ist mein Leben!!“ Erneute Tränen mischten sich in ihr verzagendes Schreien. „Und ich konnte ihn nicht beschützen! Ich kann auch jetzt nichts für ihn tun! Aber ich weiß ...“, sie schluchzte elendig, „ich weiß, dass er wollen würde, dass niemand sonst mehr zu Schaden kommt! Weil auch die Detektei unsere Familie ist. Ich bitte dich … wenn du irgendetwas für unsere Familie tun kannst, dann ...“ „Es tut mir leid, Naomi“, unterbrach Dazai sie schließlich, „ich bin derjenige, der deine Familie auseinanderreißt.“ Die restlichen Detektive blickten mit vor Entsetzen aufgerissen Augen zu ihrem Kollegen. Kapitel 5: I'm forever black-eyed - A product of a broken home -------------------------------------------------------------- „I'm forever black-eyed A product of a broken home“   Placebo, „Black-eyed“     Eine der frühsten Kindheitserinnerungen, an die Dazai sich zurückerinnern konnte, war die, wie seine Mutter ihn aus dem Gartenteich gefischt hatte. Er wusste nicht mehr, ob er sich damals tatsächlich bereits hatte umbringen wollen, aber er konnte sich ganz deutlich an das starke, überwältigende Bedürfnis erinnern, in das Wasser zu gehen und darin zu versinken. Seine Mutter hatte ihn furchtbar ausgeschimpft und ihn dann, bittere Tränen weinend, im Arm gehalten und ihn angefleht, so etwas nie wieder zu tun. An die Tränen seiner Mutter konnte er sich genauso glasklar erinnern, wie an das Wasser im Teich, das ihn hatte zu sich rufen wollen. Ihr Kummer zu machen, war das Letzte, das er tun wollte und doch schien er exakt dies zu tun. Immer und immer wieder. Es war ein nagendes Gefühl, das sich unablässig in seinem Körper ausbreitete und keine Ruhe gab. Er konnte sie nicht glücklich machen. Manchmal lächelte sie, doch es schien stets eine Traurigkeit in ihrem Lächeln mitzuschwingen, für die Dazai so gerne eine Erklärung finden wollte. Wenn er den Grund für ihre Niedergeschlagenheit finden könnte, so war er der festen Überzeugung, dann könnte er etwas dagegen tun. Und dann würde auch das nagende Gefühl in seinem Innern verschwinden. Gleichzeitig fürchtete er jedoch auch, dass das nagende Gefühl in seinem Inneren und die Traurigkeit seiner Mutter in einem unheilvollen Zusammenhang standen. Niemand traute einem so kleinen Kind vermutlich ein solches Denken zu, aber den so jungen Dazai beschäftigte diese Frage tagein, tagaus. War er der Grund für das Unglück seiner Mutter? Aber wenn dem so wäre, wunderte er sich, warum wäre sie dann traurig, wenn er aus dieser Welt verschwände? Menschen vergossen Tränen, wenn sie traurig waren, nicht wahr? Allerdings ergaben Menschen mitunter auch schrecklich wenig Sinn. Einige Zeit nach dem Gartenteich-Zwischenfall fand Dazai es angemessen, seine Mutter direkt zu fragen. „Willst du nicht, dass ich gehe?“ Sie erschrak bei seinen Worten. „Natürlich nicht … du bist das Wichtigste, was ich habe.“ Sie umarmte ihn erneut und dieses Mal noch stärker als all die Male zuvor. Es war wie ein verzweifeltes Festhalten an etwas, das ihr sonst zu entgleiten drohte. „Woher weißt du, dass ich das Wichtigste sein soll, das du hast? Vielleicht findest du irgendwo etwas Besseres.“ Ihre Tränen, die gerade erst versiegt waren, flossen von neuem. „Nein, nirgends in der ganzen Welt werde ich etwas Besseres als dich finden.“ „Du kannst unmöglich schon in der ganzen Welt gesucht haben. Die Welt ist sehr groß.“ Andere Leute, so war es Dazai bewusst, fanden seine stets ruhige Art zu sprechen unheimlich. Beinahe als fürchteten sie sich vor ihm. Nur seiner Mutter machte dies nichts aus. „Die Welt ist nicht so groß wie meine Liebe für dich.“ Er verstand nicht wirklich, was sie damit meinte, aber mitten durch ihre Tränen legte sich bei diesen Worten ein Lächeln auf ihr Gesicht, das Dazai sehen konnte, als sie ihre Umarmung etwas löste, um ihn anzublicken. Er mochte es sehr, wenn sie so lächelte, dass dadurch ihren Tränen Einhalt geboten wurde. Es beruhigte das nagende Gefühl in seinem Innern.   Sie hatte selbst dann noch versucht, ihm dieses Lächeln zu schenken, als sie starb. Sie hatte mit ihm fliehen wollen. Weg von diesem Ort, an dem es kein Glück für sie gab, für keinen von ihnen. Seine Mutter hatte es geschafft, heimlich ihre auf dem Land lebende Schwester zu kontaktieren und zu überreden, ihnen zu helfen, doch sie waren zu schnell aufgeflogen. Und wie seine Mutter von den Kugeln der Pistolen getroffen worden war, hatte er nur daran denken können, wie er sie davor gewarnt hatte. „Es wird nicht funktionieren“, hatte er ihr gesagt. „Es gibt kein Entkommen.“ Sie hatte nicht auf ihn hören wollen, aber vermutlich war ihre Starrköpfigkeit genau das, was sie all die Jahre hatte durchhalten lassen, was sie alles hatte ertragen lassen, das der, der für ihn kein Vater und für sie kein Ehemann war, ihnen angetan hatte. Doch wofür hatte sie all die Jahre durchgehalten? Um jetzt in einer dunklen Gasse auf der Flucht vor finsteren Gestalten zu verbluten? Dazai konnte keinen Sinn dahinter erkennen. „Du bist … ein so kluges Kind“, brachte sie mit letzter Kraft hervor und strich ihm ein letztes Mal mit ihren Händen durch seine Haare, vermutlich nicht einmal bemerkend, dass sie so ihr Blut in seinen dunklen Locken verteilte. „Geh allein ... weiter. Du kannst … ihnen … entkommen. Sie werden nicht … auf dich schießen.“ Sie weinte. Sie weinte schon wieder. „Es tut mir … so leid, dass ich … nicht … mehr für … dich tun ko-...“ Als der Junge auf die am Boden liegende, leblose Gestalt seiner Mutter blickte, wiederholte sein Kopf immer und immer wieder nur den gleichen Satz. Er hatte sie nicht glücklich machen können.   Er war den Schergen seines Vaters entkommen. Seine Mutter hatte in einer Sache Recht: Er war klug. Unheimlich klug. Viel klüger als andere und dies war ein weiterer Grund, warum sich andere vor ihm fürchteten. Andere – so wie seine Tante und deren Mann, zu denen er geflohen war und bei denen es mehr als offensichtlich war, dass sie sich vor ihm ängstigten. Auf dem halben Weg zum damals zwischen seiner Mutter und deren Schwester ausgemachten Treffpunkt war ihm bereits der Gedanke gekommen, ob es nicht besser wäre, an irgendeinen anderen Ort zu gehen. Irgendwohin, wo es mehr gab, als diese vielen Fragen, die ihm pausenlos durch den Kopf schossen und das immer penetrantere Nagen in seinem Innern. Doch, gab es so einen Ort überhaupt? Außerdem – so hatte er geschlussfolgert - schien es angemessen, seiner Tante Bescheid zu sagen, was mit ihrer Schwester geschehen war. In dem Augenblick jedoch, in dem er ihr dies mitteilte, wusste Dazai, dass er sich falsch entschieden hatte. Er hätte weggehen sollen. Seine Tante war vollkommen fassungslos darüber, wie sachlich er ihr vom Tod ihrer Schwester erzählt hatte. Trotzdem hatte sie ihn mit zu sich nach Hause genommen, dahin, wo der Schatten seines Vaters nicht hinreichte, ihn nicht finden konnte. Dazai hasste es, wenn er seine Tante zu ihrem Mann sagen hörte, dass etwas mit dem Jungen „nicht stimmte“ und dass nicht einmal der Tod seiner eigenen Mutter ihn zu berühren schien. Dazai hasste besonders den letzten Punkt, weil er tatsächlich nicht stimmte. Er dachte viel über ihren Tod nach, vor allem darüber, ob dieser nicht sinnlos gewesen war. Aber: Gab es überhaupt so etwas wie einen sinnvollen Tod? Bisher hatte er ja nicht einmal eine Antwort darauf finden können, ob es so etwas wie ein sinnvolles Leben gab. Seine Tante und sein Onkel waren bei der Beantwortung dieser Fragen definitiv keine Hilfe. Sie verboten ihm, über so etwas zu sprechen; sie hatten ihm sogar verbieten wollen, darüber auch nur nachzudenken, aber darauf hatte Dazai nur mit den Augen rollen können … wie wollten sie ihm denn seine Gedanken verbieten? Er hatte so viele Fragen. Warum war er auf der Welt? Warum war überhaupt irgendjemand auf der Welt und warum störte sich kaum jemand daran, die Antwort auf eine so essentielle Frage nicht zu kennen? Warum war seine Mutter für ihn gestorben? War der Tod etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Was war das für ein Gefühl in seinem Inneren, das ihn aufzufressen drohte? Er konnte nicht aufhören zu fragen und er hatte niemanden außer diesen beiden, die er fragen konnte. Und egal, wie oft sie ihn für seinen „Ungehorsam“ schlugen, doch diese Fragen zu stellen, seine Gedanken hörten nicht auf, sich immer und immer um diese Probleme zu drehen. Und egal, wie oft sie ihn anschrien, warum er denn nicht in der Lage wäre, einfachste menschliche Empfindungen zu verstehen, es änderte nichts. Nichts an dem nagenden Gefühl, nichts an seinen Gedanken, nichts an der Leere, die nicht nur in ihm, sondern in der ganzen Welt herrschte und welche die Menschen in ihrer Dummheit nicht zu bemerken schienen, und nichts an dem flüchtigen, tröstlichen Gefühl, das er spürte, wenn er sich eine Klinge ins eigene Fleisch stieß und das Blut betrachtete, das aus den Wunden floss. Wenn es jemanden, irgendjemanden geben würde, der ihn auch nur ansatzweise verstehen würde, der ihm urteilsfrei zuhören würde, so war sich Dazai sicher, dann könnte er die Antworten finden und das nagende Gefühl besänftigen, vielleicht sogar loswerden. Aber hier gab es so jemanden nicht. Alles, was es hier gab, war der Hass, der ihm entgegen schlug, weil seine Tante ihm die Schuld am Tod ihrer Schwester gab. Die Schuld an ihrem Tod und an ihrem unglücklichen Leben. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht war er der Grund für das alles gewesen. Aber es war nie seine Absicht gewesen. Hatte er sie ohne Absicht unglücklich gemacht und getötet? Machte es überhaupt noch einen Unterschied, ob es eine Absicht gegeben hatte? Brauchte es eine Absicht? Fühlte es sich anders an, wenn man jemanden absichtlich tötete? All die Jahre des Grübelns brachten ihn nicht weiter. Im Gegenteil. Je öfter er in den nahe gelegenen Fluss „gefallen“ war oder einen Dachbalken zu Bruch gebracht hatte, und je mehr seine Tante und sein Onkel der festen Überzeugung waren, dass er von der Außenwelt isoliert gehörte, desto deutlicher wurde es, dass er hier weg musste. Besonders nachdem diverse herbeigerufene Priester von umliegenden Tempeln und Schreinen damit beauftragt worden waren, zu prüfen, ob er denn von einem bösen Geist oder Dämon besessen war – Dazai hatte dies recht belustigt für einen wirklich interessanten Ansatz erachtet, allerdings auch gefürchtet, was passieren würde, falls sie zu dem Schluss kamen, etwas gefunden zu haben. Den genauen Zeitpunkt seiner Abreise hatte das entsetzte und zu Tode verängstigte Gesicht seines Onkels bestimmt, als die Polizei ihm erklärte, dass seine Frau so unglücklich die Treppe hinabgestürzt war, dass sie leider sofort ihren Verletzungen erlegen war. „Der Junge hat es wohl mitangesehen“, erinnerte sich Dazai an die Worte des Polizisten. „Jedes Mal, wenn wir ihn befragt haben, hat er nur stoisch geantwortet: 'Sie ist die Treppe hinunter gefallen.' Vielleicht ist er traumatisiert.“ Oh ja. Dazai konnte sich an den Blick seines Onkels entsinnen, wie seine entgeisterten Augen langsam die Treppe empor wanderten, bis zur obersten Stufe, auf welcher der Junge saß – und lächelte. Sein Onkel, so hatte er es später vom Boss gehört, hatte sich kurz nach diesem Ereignis wohl das Leben genommen. Dazai hasste ihn dafür noch mehr als vorher.   Dazai selbst hatte das Weite gesucht, bevor sein Onkel ihn auch nur auf die Todesumstände seiner Tante hatte ansprechen können. Wie einen Magneten hatte die Stadt ihn in ihr Innerstes zurückgezogen. Vielleicht hatte er in Yokohama endlich mehr Glück mit seinem Vorhaben. Ironischerweise fiel ihm das Überleben und Durchschlagen erstaunlich leicht. Dieser Gedanke ließ den Jungen unzufrieden stöhnen, ehe er von der meterhohen Mauer, auf die er gerade mühevoll hinaufgekraxelt war, auf den harten Steinboden in der Tiefe blickte. „Also dann“, sagte er, atmete noch einmal tief durch und schloss die Augen, bevor er sich nach vorne fallen ließ. Nur um wenige Sekunden später hart und äußerst unangenehm auf jemanden drauf zu krachen. „Au. Au. Au. Mein Rücken, mein armer Rücken.“ Mit einem tiefen Seufzer öffnete Dazai die Augen und sah auf den unter ihm liegenden Mann, der entsetzlich jammerte. Der Junge stieg von ihm herab. „Entschuldigung. Ich hatte Sie nicht gesehen.“ Der Mann rieb sich mit einer Hand seinen Rücken, ehe er sich langsam aufrichtete und zu Dazai drehte. „Bist du etwa von da oben heruntergefallen?“ Er strich sich mit seiner anderen Hand seine langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. „Das geht Sie nichts an.“ Dazai zuckte zusammen, als er bemerkte, dass er sich sein linkes Handgelenk wohl gebrochen hatte. „Mist. So kann ich nicht noch einmal da hochklettern“, murmelte er enttäuscht. „Du bist gesprungen, ja?“, fragte der Mann mit einer Ruhe, die für eine solche Frage unnatürlich erschien. „Das geht Sie immer noch nichts an.“ „Oh ho“, machte der Mann amüsiert, als der Junge ihm einen bösen Blick zuwarf. „Ich bin Arzt. Ich kann mir dein Handgelenk mal ansehen.“ „Nein, danke.“ Dazai war bereits im Begriff zu gehen. Erwachsene, die Fragen stellten, konnten schnell zum Problem werden. Und darauf hatte er gerade so gar keine Lust. „Na schön. Ich formuliere es anders“, sagte der Mann und irgendetwas an der Art, wie er es sagte - als hätte sich ein düsterer Schatten über ihn gelegt, der erkenntlich machte, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen dahergelaufenen Arzt handelte – ließ Dazai sich noch einmal zu ihm herum drehen. „Ich kann mir dein Handgelenk ansehen, ohne weitere Fragen dazu zu stellen, wieso du von da oben heruntergesprungen bist oder wieso eine Verletzung, die jedem Erwachsenen die Tränen in die Augen treiben würde, dich nicht einmal mit der Wimper zucken lässt.“ Vorsichtig und doch neugierig machte Dazai wieder einen Schritt auf ihn zu. Diese Begegnung schien interessant zu werden. Und schon sehr lange war ihm nichts Interessantes mehr begegnet. „Wer sind Sie?“ Der Arzt lächelte. Es war ein Lächeln, das jedem anderen vermutlich einen Schauer über den Rücken gejagt hätte und Dazai war sich bewusst, dass es dem Mann sofort aufgefallen war, dass dies bei ihm nicht der Fall war. „Ah, verzeih bitte, wie unhöflich von mir. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Ogai Mori.“ Kapitel 6: And our one heroic pledge ------------------------------------ „And our one heroic pledge“   Placebo & Alison Mosshart, „Meds“     „W-was … was meinst du damit?“ Atsushi war der Erste im Raum, der seine Stimme nach der Bombe, die Dazai hatte platzen lassen, wiedergefunden hatte. „Das ist kein Angriff auf die Detektei“, antwortete Dazai gefasst, „sondern ein Akt persönlicher Rache.“ „An dir?“, fragte Kunikida sichtlich und hörbar irritiert nach. „Sieht so aus.“ „Wie kommst du darauf, dass es dabei um dich geht?“, wandte der Chef ein. „Der Täter hätte beim Attentat auf Ranpo genauso gut, nein, sogar noch besser auf mich schießen können, aber er hat es unsinnigerweise bei diesem einen Schuss auf Ranpo belassen. Würde man systematisch die bewaffneten Detektive ausschalten wollen, würde man nicht den Fehler begehen, mich nicht möglichst schnell aus dem Weg zu räumen.“ „Aber-“, wollte Kunikida einwenden, doch Dazai signalisierte ihm, dass seine Schlussfolgerung noch nicht beendet war. „Stattdessen Tanizaki und Kenji anzugreifen, spricht dafür, dass es den Tätern eher darum geht, eine Art Botschaft zu hinterlassen. 'Wir werden jeden aus dem Büro angreifen, bis wir haben, was wir wollen', etwas in der Art.“ „Und ...“, Atsushi schwirrte der Kopf von diesen Erklärungen. „Und was genau wollen sie?“ „Das ist einfach“, antwortete Kyoka als wäre es das Offensichtlichste in der Welt. „Entweder wollen sie ihrer Zielperson mit den Angriffen auf andere schaden oder die Zielperson soll sich ihnen ausliefern.“ „Das heißt“, Dazai machte einen Schritt vom Fenster weg und blieb neben Naomi stehen. „Tanizaki und die anderen wurden von ihnen als Bauernopfer benutzt.“ „Wer?!“, rief Naomi wutentbrannt aus. „Wer sind die?!“ Dazai zuckte resigniert mit den Schultern. „Das ist der Haken. Ich habe keine Ahnung.“ „Du müsstest doch wissen-“ begann Naomi, doch sie wurde jäh von dem älteren Kollegen unterbrochen. „Wenn es um irgendeine Angelegenheit aus meiner Zeit bei der Hafen-Mafia geht, und bei dem Ausmaß dieser Racheaktion gehe ich stark davon aus, dann … kommen zu viele in Frage.“ Dazais Worte ließen Atsushi schwer schlucken. Manchmal vergaß er um die düstere Vergangenheit seines Mentors. Er hatte sich nie getraut, Dazai nach seiner Zeit bei der Hafen-Mafia zu fragen und was jemand mit solchen unfassbaren, überlegenen Fähigkeiten für eine derartige Organisation womöglich für Verbrechen begangen haben könnte, überstieg seine Vorstellungskraft. Für Atsushi war Dazai jemand, der zwar definitiv nicht alle Latten am Zaun hatte, doch er war auch jemand, der sich voll und ganz für diese Stadt und für seine Kollegen einsetzte. Jemand, der immer das tat, was richtig und gut war. Jemand, zu dem er aufblickte. Jemand, dem er nacheifern und den er stolz machen wollte. Doch - Zweifel schlichen sich plötzlich in die Gedanken des Jungen. Konnte oder wollte er es sich nicht vorstellen, dass Dazai jemals ein anderer Mensch gewesen sein könnte? „Das ist alles nicht sicher“, wandte Fukuzawa unbeirrt ein. „Selbst wenn du mit der Theorie zu einer persönlichen Rache Recht hast, bedeutet dies nicht automatisch, dass es dabei um dich geht. Ich habe mir in meinem Leben auch sehr viele Feinde gemacht und auch auf Kunikida hatten es schon einige abgesehen.“ Die Blicke des Chefs und Dazais trafen sich. Hätte jemand anderes diesen Zweifel geäußert, hätte Dazai wahrscheinlich direkt widersprochen. Aber dem Chef widersprach man nicht so einfach. Nicht einmal er. Ein Klopfen von außen lenkte ihre Aufmerksamkeit mit einem Schlag auf sich. Eine Krankenschwester betrat das Zimmer mit einem Umschlag in der Hand. „Entschuldigung, dieser Brief wurde am Empfang für einen Herrn Kunikida abgegeben.“ „Das bin ich.“ Der Angesprochene trat nervös hervor und nahm den Umschlag entgegen. „Wer hat diesen Brief abgegeben?“, fragte Dazai alarmiert nach. „Ein kleiner Junge“, antwortete die Krankenschwester. „Er sagte nur, es sei sehr wichtig und dann war er auch schon wieder weg.“ „Ein kleiner Junge?“, hakte Atsushi erstaunt nach. Wie passte das denn nun ins Bild? Die Schwester legte nachdenklich den Kopf etwas schief. „Der Junge wirkte ein bisschen seltsam. Er klang so traurig und sein Gesichtsausdruck war … irgendwie merkwürdig.“ Fukuzawa bedankte sich bei ihr und sie verstand sogleich den Wink, dass sie das Zimmer wieder verlassen sollte. „Ist nicht schwer zu erraten, dass der von unseren großen Unbekannten ist“, sagte Dazai, nachdem die Schwester weg war und Kunikida unschlüssig auf das Kuvert starrte. „Ja, aber er ist an Kunikida adressiert“, wandte Atsushi verwirrt ein. „Wenn sie doch hinter dir her sind ….“ „Abwarten, was drin steht.“ Mit einem Nicken signalisierte der Brünette seinem Partner, den Brief zu öffnen. „Was steht darin geschrieben?“, fragte Fukuzawa, der wie die anderen Kunikida beim Lesen beobachtete. „Dazai und ich“, erklärte der Blonde irritiert, „sollen um 15 Uhr auf dem Platz bei den alten Backstein-Lagerhäusern sein. Nur wir beide und pünktlich, sonst würden wir es bereuen.“ „15 Uhr??“ Haruno blickte angespannt auf ihre Armbanduhr. „Das ist in weniger als 30 Minuten!“ „Eine Falle?“, mutmaßte der Chef. „Ohne jeden Zweifel“, antwortete Dazai unumwunden. „Das klingt als würde etwas passieren, wenn wir dort nicht erscheinen“, merkte Kunikida nervös an. „Dass sie uns den Brief so kurzfristig zukommen lassen, soll uns wohl die Möglichkeit nehmen, uns eine passende Strategie zurecht legen zu können.“ „So haben wir nur die Wahl, hinzugehen … oder nicht“, stellte Dazai fest. „Nein“, widersprach Kunikida, „wir haben keine Wahl. Wir werden auf jeden Fall gehen. Ich will mir nicht einmal vorstellen, was diese Mistkerle sonst tun werden.“ „Auf diese Weise bleiben wir ihre Spielfiguren. Wir reagieren nur, ohne selbst aktiv werden zu können.“ „Ich werde keine Menschenleben riskieren, um meine Haut zu retten.“ „Ich auch nicht.“ Ein „Aber“ hing in der Luft, das Dazai nicht aussprechen wollte, um die Diskussion nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Er wusste, dass Kunikida um dieses „Aber“ wusste. „Chef“, warf Haruno nach einem erneuten Blick auf ihre Uhr ein, „nur noch 25 Minuten.“ Fukuzawa hatte dem Gespräch zugehört, während er sich seine eigenen Gedanken gemacht hatte. Natürlich würde er seine zwei Leute zu dem besagten Treffpunkt schicken. Es war die Aufgabe der Detektei, Menschenleben zu schützen. Doch gleichzeitig war es auch seine Aufgabe, seine Angestellten zu beschützen. Bis jetzt hatte er kläglich versagt. Musste er jetzt taten- und hilflos mitansehen, wie die nächsten beiden seiner Leute in ihr Unglück rannten? „Beeilt euch“, sagte er ihnen, „aber geht mit höchster Vorsicht vor.“ Keine weitere Sekunde verstrich, ehe Kunikida und Dazai das Zimmer eiligst verließen. Atsushi konnte nichts anderes tun als ihnen besorgt hinterher zu blicken. Sie rannten in eine offensichtliche Falle. Bitte, flehte er innerlich, bitte kehrt in einem Stück zurück. „Chef“, meldete sich plötzlich Kyoka zu Wort. „Ich würde gerne etwas recherchieren. Vielleicht kenne ich eine Informationsquelle, die hierzu etwas weiß.“ „Was für eine Quelle?“, fragte Fukuzawa. „Würden Sie mich bitte zu meinem Informanten gehen lassen? Ich werde auch vorsichtig sein. Bitte vertrauen Sie mir.“ Verwundert blickte Atsushi zu dem determinierten Mädchen. Was hatte sie vor? Und wieso sagte sie dem Chef nicht einfach, wer ihr Informant war? Überhaupt … Kyoka hatte Informanten in der Stadt?? Es war deutlich, dass Fukuzawa mit ihrer Bitte haderte. „Bist du dir sicher, dass dein … Informant dir überhaupt helfen will?“ Hatte er etwa eine Ahnung, um wen es sich handelte?, wunderte Atsushi sich mit zunehmender Verblüffung. Es klang zumindest so. „Es ist einen Versuch wert.“ Fukuzawa atmete merklich angespannt aus. Kyokas Bitte war ihm nicht recht, doch vielleicht war sie tatsächlich einen Versuch wert. „Nimm Atsushi mit.“   „Das ist gar kein gutes Zeichen, wenn du so ruhig bist“, bemerkte Kunikida während er das Auto mit einer mörderischen Geschwindigkeit durch die Straßen lenkte. Vom Krankenhaus brauchten sie in diesem Tempo etwa 20 Minuten mit dem Auto, was immer noch kürzer war als mit der Bahn und trotz seiner minutiösen Berechnungen fragte Kunikida sich immerzu, was wohl geschehen würde, wenn sie nicht rechtzeitig dort eintrafen. Aus dem Augenwinkel konnte er beobachten, wie Dazai auf dem Beifahrersitz in Gedanken versunken vor sich hin blickte. Ein flüchtiges Lachen entwich dem Brünetten daraufhin und irritierte seinen Fahrer. „Was ist jetzt?“ „Du beschwerst dich, weil ich zu ruhig bin? Das ist ein denkwürdiger Moment, Kunikida.“ „Du weißt, was ich meine“, gab der Blonde gereizt zurück. „Ja, natürlich.“ Für einen Augenblick verfiel Dazai wieder in Schweigen und die schwermütige Aura, die ihn schon im Krankenhaus umgeben hatte, kehrte zurück. „Und ja, die Lage ist so ernst, dass nicht einmal ich weiß, was wir tun sollen.“ Es war die Antwort, die Kunikida erwartet, aber nicht erhofft hatte. Seine Hände griffen das Lenkrad noch ein wenig fester. „Selbst wenn ...“, er räusperte sich, um die Beunruhigung aus seiner Stimme zu verbannen, „selbst wenn diese Mistkerle unsere Kollegen verletzt haben, weil sie eigentlich hinter dir her sind, heißt das nicht, dass es deine Schuld ist.“ Mit mildem Erstaunen sah Dazai zu seinem Partner. „Kunikida, willst du mich etwa aufheitern?“ „Es ist unerträglich eine Knalltüte wie dich Trübsal blasen zu sehen“, erwiderte der Andere so ernst, dass es beinahe komisch wirkte. Die Worte reichten, um Dazai ein fast sanftes Lächeln auf die Lippen zu legen. „Ich weiß, dass es nicht meine Schuld ist. Ich habe weder Yosano und Kenji vergiftet, noch Ranpo angeschossen, noch Tanizaki niedergestochen. Aber wenn irgendjemand dies tut wegen etwas, das ich getan habe, dann hätte ich ich genauso gut selbst das Gift verabreichen, abdrücken und zustechen können.“ „Was auch immer gleich passiert“, sagte Kunikida, seine Hände so fest um das Lenkrad verkrampft, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, „das Wichtigste ist, dass wir keine Unbeteiligten in Gefahr bringen.“ Ah, da war es endlich. Das „Aber“ von eben. Dazai hatte sich schon gewundert, wann Kunikida es ansprechen würde. „Wenn wir vor die Wahl gestellt werden“, fuhr er fort, „ob wir uns opfern sollen oder ob unschuldige Menschen geopfert werden sollen, dann lautet die Antwort immer 'wir', verstanden? Und ich will darüber keine Diskussion führen.“ „Oh, ich mag es, wenn du so bestimmend bist“, entgegnete Dazai affektiert, ehe er wieder ernster wurde, „aber ich weiß auch, dass du mit 'wir' nur dich meinst und das geht nun auch wieder nicht. Ich will die Menschen dieser Stadt beschützen, aber ….“ Ohne die Straße zu sehr aus dem Blick zu lassen, wanderten Kunikidas Augen so gut es ging zu seinem Partner, der wieder mit wehmütigen Ausdruck vor sich hinstarrte. „ … aber es geht nicht, dass ich dafür einen Freund sterben lasse.“ Die Worte waren nicht mehr als ein Hauch gewesen und Kunikida war sich nicht zweifelsfrei sicher, sie richtig verstanden zu haben. Er hätte Dazai zu gerne angeschrien, dass man ihn kaum vernünftig verstehen konnte, wenn er so murmelte, doch in diesem einen Moment schien es einmaligerweise unangebracht zu sein, Dazai anzuschreien. „Im idealsten Fall“, sagte er stattdessen, „muss niemand sterben.“ „Stirb einfach nicht.“ „Das Gleiche gilt für dich.“ Kunikida konnte ein schwaches Kopfschütteln erkennen. „Du bist doch ein Mann, der zu seinen Worten steht, nicht wahr, Kunikida?“ Was sollte das denn jetzt? Der Brillenträger stutzte. „Ja. Immer.“ „Gut.“ Dazai sah wieder zu ihm und hatte dieses ominöse, unlesbare Lächeln im Gesicht, bei dem Kunikida sich immer fragte, was eigentlich im Kopf des Brünetten vorging. „Dann schwöre mir, dass du nicht meinetwegen sterben wirst.“ Nie hätte Kunikida den Tag kommen sehen, an dem er es erleben würde, Osamu Dazai, die Nervensäge aller Nervensägen, den Souverän des Schlendrians, das Oberhaupt der Oberflächlichkeit, so mitgenommen (und beinahe … emotional?) zu erleben. Es war mehr als beunruhigend. „Nur wenn du mir das Gleiche schwörst.“ „Ach, Kunikida“, seufzte Dazai, „du könntest doch wenigstens einmal einfach tun, was ich dir sage.“ Zu gerne hatte der Blonde entgegnen wollen, dass dies doch STÄNDIG der Fall war, doch …. „Wir sind da.“ Die beiden Detektive stiegen flugs aus dem Auto und rannten so schnell sie konnten zu dem angegebenen Platz. Ohne Umschweife begannen sie damit, sich umzusehen, ob irgendetwas auffällig war. Der Platz war wie so oft stark frequentiert: Touristen, Ausflügler, Büroangestellte, Mitarbeiter und Kunden der Geschäfte in den Lagerhäusern, sie alle liefen wie an jedem anderen gewöhnlichen Tag über den Platz. Es schien alles ganz normal. Um Punkt 15 Uhr klingelte Kunikidas Handy. „Eine unterdrückte Nummer“, murrte er, ehe er den Anruf entgegen nahm. „Doppo Kunikida, ja? Schön, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten“, meldete sich die Stimme eines jungen Mannes. „Wer spricht da?“, fragte der Detektiv, während Dazai näher an ihn heranrückte, um mitzuhören. Je nachdem, was sie nun erfahren würden, wäre es höchstwahrscheinlich höchst unratsam auf Lautsprecher umzuschalten. „So gerne ich auch mit Ihnen plaudern würde“, entgegnete die Stimme, „dafür haben Sie leider nicht die Zeit.“ „Was soll das heißen??“ „Es gibt zwei Bomben ...“ Bei den Worten des Unbekannten zog Kunikida scharf die Luft ein. „... eine befindet sich in Nähe des Conference Centers“, fuhr der Fremde fort, „eine weitere in der Nähe des Bezirksgerichts. Beide werden zur gleichen Zeit explodieren.“ „Warum tun Sie das?!“ „Tick tack, Herr Kunikida. Zu plaudern, während so viele Menschen in Gefahr sind, spricht von schlechtem Stil.“ „Sie elender-“ „Ich will mal nicht so sein. Sie sind ja zu zweit, nicht wahr? Dann laufen Sie mal schnell los. Wenn jeder von Ihnen eine Bombe entschärft, wird nichts passieren. Und keine Sorge, ich mache Ihnen das Entschärfen auch leicht, versprochen. Sie haben noch acht Minuten.“ Er legte auf und Kunikida ließ atemlos die Hand, die sein Mobiltelefon umklammerte, sinken. „Conference Center und Bezirksgericht“, fasste Dazai eiligst zusammen, „zwei verschiedene Richtungen, um uns getrennt voneinander in eine Falle laufen zu lassen.“ „Wir haben keine Wahl!“, rief Kunikida fahrig aus. „Das ist sicher kein Bluff!“ „Das denke ich auch nicht.“ Dazai versuchte, aus dem gerade Gehörten weitere Informationen zu ziehen. Was war der Trick hierbei? Es musste einen geben. Welche der Richtungen sollte er wählen und in welche Kunikida schicken? Wenn seine Theorie stimmte, dann war eine der Auswahlmöglichkeiten die Schlechtere. Beide genannten Orte hatten viel Publikumsverkehr; das Conference Center umfasste ein größeres Gebiet; das Bezirksgericht war zentraler gelegen- „Du übernimmst das Center, ich das Gericht“, entschied Kunikida kurzerhand. „Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“ Er machte sich bereits in die von ihm gewählte Richtung auf. „Kunikida“, rief Dazai ihm zu, ehe auch er sich in Bewegung setzte, „wage es nicht, zu sterben.“ „Das Gleiche gilt immer noch für dich!!“, brüllte Kunikida, ohne noch einmal zurückzublicken.   Am Conference Center angekommen, lief Dazai instinktiv zum Vorplatz des Gebäudekomplexes. Wenn er die Bombe platzieren würde, dann in der Nähe des Eingangs, dort wo viele Menschen auf einem Haufen zusammenkamen. Und die Platzierung musste unauffällig sein, damit sie nicht entdeckt werden konnte. Die Uhr tickte erbarmungslos herunter. Eine Reihe von Fahrrädern, die auf dem Vorplatz abgestellt worden waren, erregte seine Aufmerksamkeit. Mit geschultem Blick suchten Dazais Augen die Fahrräder ab. Etwas auffällig Unauffälliges … etwas auffällig Unauffälliges … da! Ein Fahrradkorb, der mit einem Tuch abgedeckt war, das nicht zu allen Seiten befestigt war und leicht im Wind flatterte. Dazai löste eine weitere Kordel von dem Tuch und hob es vorsichtig an. Die Ziffern „00:28“ strahlten ihm direkt von dem Display der Bombe entgegen. Neben der Anzeige war ein grüner Knopf angebracht und daneben wiederum war ein Pfeil geklebt worden. Sollte es wirklich so einfach sein? Warum wollten die Attentäter, dass es so einfach war? 00:17. In der verbliebenen Zeit würde er es nicht schaffen, die Bombe zu analysieren und einen anderen Entschärfungsmechanismus zu finden. Auch sie irgendwo anders hinzubringen kam nicht mehr in Frage. „Also dann“, sagte Dazai schulterzuckend und drückte den grünen Knopf. Die Ziffern blieben sofort bei „00:11“ stehen. Als ihn die Gewissheit überkam, was dies bedeutete, spurtete Dazai los. Während er rannte, holte er sein Handy hervor und wählte Kunikidas Nummer. Niemand ging ran. Die Attentäter wussten um Kunikidas Schwachpunkt: Dass eine solche Bombengeschichte ihn ohne Zweifel ködern würde, dass er in eine offensichtliche Falle laufen würde, weil er auf gar keinen Fall andere Menschen sterben lassen würde. Aber wie, wie hatten sie nur wissen können, welche Bombe sie hochgehen lassen sollten? Sie hatten doch vorher nicht erahnen können, wer welches Ziel übernehmen würde. Bis eben hatte Dazai noch angenommen, die Angreifer wären nur auf dem Platz vor dem Lagerhaus gewesen und hätten sie dort beobachtet, aber sie mussten ebenso beim Center und beim Gericht gewesen sein, um zu wissen, welche Bombe explodieren sollte. Wenn seine Theorie stimmte, dann ließen sich die Sprengsätze per Fernzündung aktivieren. Und dass seiner nicht explodiert war, konnte nur eines heißen. Es musste dem Chef und auch Kunikida unmittelbar klar gewesen sein, dass Dazai mit seiner im Krankenhaus getätigten Vermutung Recht gehabt hatte, doch sie hatten ihn vor diesem Gedanken beschützen wollen. Idioten, sagte eine Stimme in seinem Innern, verdammte Idioten. Schon auf dem Platz vor den Lagerhäusern herrschte Unruhe. Dazai rannte durch die wuselnden Menschenmengen, deren aufgeregtes Zischen und Rufen („Eine Explosion!“, „Da ist etwas explodiert!“ „Beim Gericht!“) seine Ohren nur gedämpft, wie durch Watte, erreichte. Es war in seinem Leben bisher eher selten vorgekommen, dass er so hatte rennen müssen und als es mal vorgekommen war, hatte das Gerenne einen schrecklichen Grund gehabt - oder vielmehr hatte er an seinem Ziel etwas Schreckliches vorgefunden. Natürlich war es kindisch gewesen, Kunikida diesen Schwur abzuverlangen, aber es war Dazai wichtig gewesen. Etwas in seinem Innern wollte sich daran klammern, dass der Idealist nie sein Wort brach. Dazai wollte sich daran klammern, dass es nicht noch einmal geschah. Dass die Welt, so unsinnig sie auch erschien und so grausam sie auch manchmal war, nicht so grausam sein konnte. Es war schon schlimm genug, dass Yosano, Ranpo, Kenji und Tanizaki wegen etwas, das er in der Vergangenheit getan hatte, verletzt worden waren; es wäre unerträglich, wenn seine Tat von damals nun Kunikida das Leben kosten würde. Aus der Ferne hörte er bereits die Sirenen von Polizei und Rettungswagen, als er die umstehenden Leute beiseite drückte und endlich an der Stelle der Detonation ankam. Die Explosion hatte ein Loch in eine Wand des Gebäudes gerissen, kein großes, aber wenn man bei einer solchen Detonation direkt an der Bombe stand, dann …. Dazai erblickte plötzlich die bewegungslose Gestalt, die in einigen Metern Entfernung am Boden lag. Ein panisches Gefühl von Angst, das er erst einmal in seinem Leben gespürt hatte und das er nie wieder hatte spüren wollen, breitete sich wie ein alles vernichtendes Feuer unter seiner Haut aus und nahm ihm fast die Luft zum Atmen. Sein gesamter Körper fühlte sich mit einem Mal an, als würde er vor Fieber glühen. Nichtsdestotrotz lief er zu der Gestalt am Boden. Die Leute, die um Kunikida herumstanden und knieten und versuchten, erste Hilfe zu leisten, sagten irgendetwas zu ihm, während er sich neben seinem Kameraden auf die Knie fallen ließ, doch Dazai bekam nur die Hälfte mit. Sein Kopf war anderweitig beschäftigt. Kunikida hatte neben diversen anderen kleineren Verletzungen vor allem eine ziemlich eklige Kopfwunde, die wie blöd blutete und vermutlich auch der Grund für seine Bewusstlosigkeit war. Die Gläser seiner Brille waren wahrscheinlich durch die Druckwelle der Detonation gesprungen, allerdings sah es ganz und gar nicht danach aus, als hätte ihn die Druckwelle hier herüber geschleudert. Auch die Kopfwunde machte eher den Eindruck durch ein herumfliegendes Trümmerteil entstanden zu sein. Vor allem aber hatte Kunikida einen schwachen, doch vorhandenen Puls und war noch am Leben und Hilfe war schon so gut wie da. Er konnte es schaffen. Er konnte es schaffen. Dazai glaubte nicht an Wunder. Eine Explosion aus dieser Nähe hätte er nicht überleben können. Es musste also einen Grund dafür geben. Der Blick des Brünetten fiel auf einen abgebrochenen Gegenstand in der Hand seines verletzten Kollegen. Vorsichtig öffnete Dazai seine Hand und erkannte, was der Rest dieses Objektes, das Kunikida noch umklammert hielt, einmal gewesen war. Eine Teleskopstange. Dieser Irre hatte den grünen Knopf mit einer Teleskopstange, die er mit seiner Fähigkeit erschaffen hatte, aus mehreren Metern Entfernung gedrückt. Mit enormer Fassungslosigkeit blickten die umstehenden Leute zu Dazai, der wie ein Wahnsinniger zu lachen begann, als die Anspannung ruckartig von ihm abfiel. Kunikida konnte es schaffen. Es war keine Wiederholung von damals. Es war nicht wie bei Odasaku. Kapitel 7: Without you I'm nothing at all ----------------------------------------- „Without you I'm nothing at all“   Placebo & David Bowie, „Without you I'm nothing“     „Hey.“ Dazai hielt an, als er registrierte, angesprochen worden zu sein. „Du bist tropfnass.“ Das war ihm bewusst. Wie konnte jemand annehmen, dass ihm das nicht bewusst war? Sein Anzug und vor allem der viel zu große, schwarze Mantel trieften regelrecht vor Nässe, was insbesondere den Mantel so schwer machte, dass der Junge beinahe nur gebückt gehen konnte. Die Verbände, die er zu unterst trug, froren wahrscheinlich gerade an seiner Haut fest. „Es ist saukalt.“ Natürlich war es kalt. Es war Winter. Im Winter war es kalt. Vor allen Dingen draußen, wo sie ja gerade waren. Was war das denn für ein Kerl, der scheinbar ständig Offensichtlichkeiten von sich geben musste? Und doch war Dazai stehen geblieben, um ihm weiter zuzuhören. Sein Tonfall klang interessant. Nicht belehrend. Nicht von oben herab. Nicht ihn für sein offensichtlich dummes Verhalten tadelnd. Nicht wie jemand, der - obwohl er beobachtet hatte, wie Dazai aus dem Fluss geklettert war – ihm deswegen lästige Fragen stellen würde. Er hatte noch nie jemanden so monoton und gleichzeitig so eindringlich und abgeklärt sprechen gehört. Es klang geradezu … beruhigend. Dazai drehte sich zu dem jungen Mann um, an dem er sich eigentlich gerade vorbeigeschleppt hatte. Vermutlich war er nur wenige Jahre älter als er selbst, aber er wirkte wie jemand, dem man auf den ersten Blick ansah, dass er die Last der Welt auf seinen Schultern trug. Entsetzen blitzte in den Augen des Mannes auf, als er Dazai betrachtete. „Du hast schon ganz blaue Lippen.“ Er zog seine Jacke aus und schloss die Distanz zwischen ihm und dem Jungen. „Gib mir den nassen Mantel und zieh die hier an.“ Er hielt ihm seine Jacke hin. „N-n-nein ...“, gab Dazai bibbernd von sich. Seine gesamte Gestalt zitterte erbärmlich. „D-d-das i-ist H-herr M-m-moris-“ „Mori?“ Der Ältere stutzte kurz. „Ah. Verstehe. Du trägst den Mantel vom Boss. Dann musst du seine neue rechte Hand sein. Ich habe zwar schon gehört, dass es sich dabei um jemand Junges halten soll, aber … so jung hätte ich jetzt auch nicht gedacht.“ Dazais sichtbares Auge wurde bei diesen Worten merklich größer. „D-d-du g-g-gehörst au-auch z-z-zur-“ „Ja“, unterbrach er ihn unaufgeregt, um die Diskussion abzukürzen, damit der Junge ihm hier nicht wirklich noch erfror. „Du musst schnell ins Warme.“ Da der Junge vor Kälte und Erschöpfung Probleme damit hatte, weiter zu protestieren, war es zum Glück nicht mehr allzu schwer, ihn zur nächstbesten Wärmequelle zu bringen. Dass es sich dabei um eine Bar handelte, war Zufall gewesen. Der Barbesitzer hatte ihnen alles, was er an Handtüchern da hatte, gegeben und trotz der offensichtlichen Minderjährigkeit des Brünetten ihm einen Drink zum innerlichen Aufwärmen hingestellt. Als Dazai diesen runterkippte wie nichts, war es den beiden Älteren sehr schnell klar, dass es sich wohl nicht um seinen ersten Kontakt mit Alkohol handelte. „Gut. Du zitterst nicht mehr so.“ Sein unaufdringlicher Helfer rubbelte mit einem Handtuch seine braunen Locken trocken, während sie am Tresen auf den Barhockern saßen. „DAS kann ICH … selbER.“ Statt des Bibberns hatte sich nun der etwas zu hastige Alkoholkonsum in Dazais Stimme geschlichen. „Bitte. Dann mach.“ Er zog seine Hände zurück und ließ das Handtuch auf Dazais Kopf liegen, der aber mit seiner neuen Mischung aus Erschöpfung und Betrunkenheit nicht reagierte und das Handtuch zu Boden rutschen ließ. „Selber, huh?“ Der Ältere bückte sich, um das Handtuch wieder aufzuheben, als plötzlich die Hände des Jüngeren durch seine Haare wuschelten. „Du hast rote Haare ...“ Seine Stimme klang, als wäre er geistig nur halb anwesend, als würden seine Gedanken eigentlich in andere Dimensionen abdriften, „sie kommen der Farbe von Blut sehr nahe.“ Der Mann hielt inne, während er den Jungen seine Finger durch seine Haare fahren ließ. „Und? Ist das was Gutes?“ „Ja“, antwortete Dazai bestimmt, „es ist ein schönes Rot.“ Der Mann hob seinen Kopf wieder, ohne dass Dazai seine Haare losließ. Stattdessen verkrallte er seine Finger geradezu in ihnen. „Okay. Du kannst durch meine Haare wuscheln so viel du willst, aber lass sie bitte dran.“ „Wie ist dein Name?“ Er ließ die von ihm gefangen genommenen Haarsträhnen ein Stück weit los, ohne seine Hände vom Kopf des Anderen zu nehmen. „Sakunosuke Oda.“ „Zu lang“, maulte Dazai. „Dann nenn mich nur Oda.“ „Zu kurz!“, maulte Dazai noch unzufriedener. „Einen anderen Namen hab ich aber nicht.“ „Odasaku!“, rief der Junge aus und lächelte plötzlich, als hätte sein Einfall seine Stimmung mit einem Mal ums Hundertfache verbessert. „Ich werde dich Odasaku nennen!“   „Ahhh!!“ Ango zeterte grässlich. „Dazai! Meine Schuhe! Auf meine Schuhe! Passen Sie doch besser auf!“ Er schüttelte seine Füße, während sie vor der Tür des Lupin standen, wo Dazai seinen Mageninhalt über Angos Treter ergossen hatte. „Ich glaube, du hattest heute etwas zu viel.“ Odasaku blickte auf den Rücken seines Freundes, der immer noch gebückt da stand. „War keine … Absucht.“ „Absucht?“, hakte Ango nach. „Sie meinen Absicht?“ „Nein! Die war's ja nicht-buaaarghs!!“ Als Dazai sich von neuem übergeben musste, sprang Ango jaulend zur Seite, während Odasaku geistesgegenwärtig den Brünetten, der nun fast vornüber fiel, mit einer Hand festhielt. „Ja. Du hattest heute definitiv zu viel.“ Als Dazai aufgehört hatte, legte Odasaku einen Arm des Jüngeren um seine Schulter und seinen eigenen Arm um Dazais Taille, um ihn so abzustützen. „Bringen Sie ihn nach Hause?“, fragte Ango, dessen Sorge nicht nur mehr seinen Schuhen, sondern auch der etwas mitleiderregenden Gestalt galt, die nun schlaff an der Seite des Rothaarigen hing. „So sollte man ihn nicht alleine lassen.“ „Ich kümmer mich um ihn.“ Ango und Odasaku verabschiedeten sich voneinander und gingen ihrer Wege, während Dazai halb stolperte und sich halb von Odasaku ziehen ließ, ohne ein Wort zu sagen, was den Älteren zunehmend beunruhigte. „Bist du in Ordnung?“ Er rüttelte ein wenig an seinem Freund. „Meinst du ...“, kam die etwas undeutliche Antwort, „meinst du, Ango hat sehr an den Schuhen gehangen?“ Erstaunt stutzte Odasaku. „Keine Ahnung. Machst du dir jetzt darüber Gedanken?“ „Wäre doch echt schade ... wenn er deswegen nicht mehr mit uns trinken will.“ Der Hauch eines flüchtigen Lächelns legte sich auf die Lippen des Rothaarigen. „Du bist doch jetzt noch betrunken. Bis zum nächsten Mal ist Ango über seine Schuhe hinweg.“ „Gut! Das ist … gut.“ Erneut legte sich Schweigen über das Duo, das durch die erstaunlich stille Nacht Yokohamas streifte – beziehungsweise zur Hälfte stolperte. „Odasaku“, hauchte Dazai plötzlich und der Angesprochene horchte auf. „Trag mich.“ „Du kannst doch noch selber gehen.“ „Bitte trag mich.“ Odasaku hielt an und sah auf seinen Freund, der seinen Kopf hängen ließ und dessen normalerweise sichtbares Auge so durch seine braunen Haare verdeckt war. „Ist irgendwas mit dir?“ Dazai antwortete erst einmal nicht. Aber Odasaku hatte das Gefühl, dass die Last, die seine Arme hielten, sich mit einem Mal viel schwerer anfühlte. „Bitte trag mich“, flüsterte Dazai noch leiser und doch konnte der Ältere die Stimmung heraushören, die dort mitschwang. Er fühlte sich immer recht hilflos, wenn Dazai aus dem Nichts so traurig klang. „In Ordnung.“ Odasaku ließ den Arm los, den er um seine Schulter gelegt hatte und zog ebenso die Hand weg, die Dazais Mitte umschlungen hatte. In Windeseile trat er vor den Jüngeren und hockte sich, ihm den Rücken zugewandt, vor ihn. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Sobald er Dazai losgelassen hatte, hatte dieser sich einfach fallen gelassen. So fiel er auf Odasakus Rücken und der Rothaarige griff mit seinen Armen nach hinten, um ihn dort festzuhalten. Mit einem leichten Ächzen stand er wieder auf und verstärkte seinen Griff um den Brünetten, damit Dazai, der bislang keine Anstalten machte, sich selber festzuhalten, ihm nicht auf den Boden plumpste. „Geht es so?“, fragte Odasaku, als er damit begann, einen Schritt vor den anderen zu setzen. „Ja. So geht es.“ Dazai legte sein Kinn auf der Schulter des Anderen ab und fing endlich an, sich an dem Älteren festzuhalten. „So geht es.“ „So werden wir aber vermutlich länger für den Weg brauchen.“ „Ist das schlimm?“ Odasaku deutete ein Kopfschütteln an. „Nein. Eigentlich nicht. Auch wenn du nicht gerade leicht bist.“ „Tut mir leid.“ „Dafür musst du dich wirklich nicht entschuldigen.“ Sie setzten ihren Weg in aller Stille fort. Und wie still Yokohama in dieser Nacht war. Als wären sie die letzten beiden Menschen auf der Welt. Als wäre der Rest der Welt verschwunden und nur sie schleppten sich noch durch die einsame Stille, die übrig geblieben war, nachdem alles Leben diese Welt verlassen hatte. Odasaku mochte die Ruhe eigentlich, doch hier und jetzt hatte sie etwas Unheimliches an sich. Etwas Unheilvolles. Nicht wie eine Decke, die einen sorgsam einhüllte, sondern wie ein Vorhang aus Blei, der sich schwerfällig über einen legte und einem langsam die Luft zum Atmen nahm. War diese Stille ein Sinnbild? Der Gedanke ließ Odasaku innerlich stutzen. War diese unheimliche Stille nicht genau wie die Hilflosigkeit, die er verspürte? Schwer wie Blei. Als würde sie ihn erdrücken. Er wusste um Dazais Verfassung. Um seine Verzweiflung. Um seine Sinnsuche. Und er wusste nicht, was er ihm dazu sagen sollte. Gab es denn wirklich nichts, das jemand wie er tun konnte? „Ich hatte plötzlich Angst zu fallen“, sagte Dazai unvermittelt in die Stille hinein, sodass Odasaku beinahe erschrak. „Aber so geht es. So geht es. Ich weiß, dass ich so nicht fallen werde.“ Odasaku verstärkte noch einmal den Griff, der seinen Freund festhielt.   Moris schwarzer und immer noch zu großer Mantel flog in hohem Bogen von ihm und blieb unbeachtet in den Blutlachen der Mimik-Soldaten liegen, als Dazai schreiend und verzweifelnd zu Odasaku rannte. Odasaku, der da am Boden lag und blutete, viel zu viel blutete und noch nie hatte Dazai der Anblick von Blut so verstört, so in Panik versetzt. Blut war das, was er gesucht hatte, aber nicht dieses. Nicht dieses. Nicht dieses, das nun an seiner Hand klebte. Denn dieses Blut gehörte zu Odasaku und Odasaku brauchte es und er brauchte Odasaku. Odasaku konnte nicht sterben, er durfte nicht sterben, denn Odasaku war das einzige, was er in dieser Welt hatte, war das einzige, das ihn an diesem grausamen und unsinnigen Leben festhalten ließ. Die Panik breitete sich unter seiner Haut aus, wie ein Feuer, das jede Faser seines Körpers entflammte und ihn innerlich verbrennen ließ. Dazai konnte nicht atmen, konnte nicht denken, konnte keine Lösung finden für all die Probleme, die plötzlich vor ihm lagen und ihn erdrückten. Er war nicht klug. Er war allen anderen nicht so überlegen, wie es alle annahmen. Denn wenn es so wäre, hätte er jetzt eine Lösung in seinem Kopf finden können und damit Odasaku retten können, doch dort war nichts; nichts außer einer schreienden Stille und einem höllischen Flammenmeer, das ihn innerlich auffraß. Und mitten in diesen höllischen Schmerz hinein sagte Odasaku ihm, dass es nichts auf der Welt gab, was die Einsamkeit in ihm jemals ausfüllen würde. Seine Verzweiflung flutete mit einem mal aus ihm heraus. Dies schien wie das Ende aller Dinge zu sein. „Odasaku. Sag mir bitte, was ich machen soll.“ Odasaku war klug. Er war schon immer klüger als er selbst gewesen und Odasaku würde ihn nicht ohne eine Lösung im Stich lassen. Odasaku würde ihn sowieso niemals im Stich lassen. Er hatte Odasaku im Stich gelassen. Und trotzdem, trotzdem flehte Dazai ihn um Hilfe an, weil er doch alles war, was er hatte. Alles. Und ohne Odasaku wäre alles nur noch nichts. „Begib dich auf die Seite der Retter. Wenn es sowieso nicht darauf ankommt ... wähle ein guter Mensch zu sein. Einer, der die Schwachen rettet … und die Waisen beschützt.“ Und er versprach es ihm. Er, der nur das Töten und das Blutvergießen kannte, dem Menschenleben bisher nichts bedeutet hatten, versprach ihm, Menschen zu retten. Er versprach es ihm, weil er auf seine Worte vertraute. Er versprach es ihm, weil es die Worte seines besten Freundes waren. Er versprach seinem besten Freund, den schöneren Weg zu wählen. Kapitel 8: There's never been so much at stake ---------------------------------------------- „There's never been so much at stake“   Placebo, „Every you every me“   Atsushi hatte schon die ganze Zeit, die er hinter Kyoka herrannte, ein ungutes Gefühl gehabt. Dass sie in einer dunklen Seitengasse in ein noch dunkleres Loch im Boden stiegen, machte aus dem unguten Gefühl ein wirklich, wirklich Mieses. „Kyoka?“, fragte er vorsichtig, „wohin gehen wir?“ „Zu meinem Informanten“, antwortete sie ihm, während sie vorauslief und nach einer Weile, in der die beiden durch den finsteren unterirdischen Gang rannten, auf eine Leiter traf, die sie prompt begann, emporzuklettern. „U-und, wer ist dein Informant?“ Atsushi kletterte hinterher. „Er ist nur über diesen Weg hier zu erreichen. Wir können nicht den Vordereingang nehmen.“ Die Leiter führte zu einem Schacht, durch den sie nun hindurch krabbelten. Sie waren ziemlich hoch gestiegen. Befand der Informant sich in einem Hochhaus? Wieso konnten sie nicht den Vordereingang nehmen? Wieso wurde dieses miese, miese Gefühl immer schlimmer? Sie krochen und krochen immer weiter, bis Kyoka an einem Lüftungsgitter anhielt. „Hier ist es.“ Durch die gerasterte Abdeckung konnte man kaum etwas sehen. Darunter schien ein Zimmer zu liegen, aber mehr ließ sich nicht erkennen. „Kannst du das Gitter abnehmen, ohne zu viel Aufmerksamkeit zu erregen?“, fragte sie ihren Begleiter. Atsushi nickte, verwandelte seine rechte Hand in eine Tigerpranke, schlug das Gitter weg und griff hastig nach der fallenden Abdeckung. Unglücklicherweise verlor er dabei das Gleichgewicht und fiel aus dem Schacht hinaus. Sein Sturz was immerhin nur aus geringer Höhe und zu einem Glück, das er kaum fassen konnte, war er auf einem Bett gelandet. Erleichtert atmete er aus. Kyoka sprang derweil gekonnt aus dem Lüftungsschacht und landete elegant neben dem Bett. „Dein Informant wohnt hier?“ Atsushi sah sich in dem Raum um. Obwohl es Tag war, waren die dunkelroten Vorhänge fast vollständig zugezogen und ließen nur wenig Licht in das Zimmer. Im Allgemeinen wirkte der Raum eher dunkel und kühl und unpersönlich. Selbst die Bettdecke, auf der der Junge nun saß, war schwarz. Wer hatte denn schwarze Bettwäsche? So etwas war doch eher ungewöhnlich …. Abrupt überkam das miese Gefühl Atsushi mit voller Wucht. „Kyoka, sag mir bitte, dass dein Informant nicht-“ Eine Tür an der gegenüberliegenden Wand ging auf. Offensichtlich ein angrenzendes Badezimmer. Und derjenige, der dort hinauskam, war der Letzte, den Atsushi hatte sehen wollen. Aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. „MENSCHENTIGER??? WAS MACHST DU AUF MEINEM BETT??!!“ Eine Sekunde später war das Bett Geschichte, denn Rashomon hatte es zu Kleinholz zerlegt. Geistesgegenwärtig war Atsushi in Sicherheit gesprungen und stand nun bei Kyoka. „Was zur Hölle macht ihr in meiner Wohnung??!! Habt ihr Todessehnsucht??!!“ Akutagawa setzte zum nächsten Angriff an, als der junge Detektiv panisch mit den Händen wedelte. „Nein! Ich wollte sicher nicht hierher. Kyoka“, er drehte sich fahrig zu dem Mädchen um. „Warum sind wir hier?? Warum sind wir ausgerechnet hier??“ „Ich muss dich etwas fragen.“ Kyoka machte einen Schritt nach vorn. Sie schien überhaupt keine Angst zu haben. „Wenn wir unsere Antwort haben, sind wir sofort wieder weg.“ „Wieso glaubst du, ich würde euch irgendwelche Fragen-“ „Es geht um Dazai“, unterbrach sie ihn forsch. „Dazai?“ Akutagawa löste das bis gerade um ihn herumwabernde Rashomon auf. „Ist in letzter Zeit noch jemand anderes bei dir gewesen, um nach ihm zu fragen?“, fuhr das Mädchen fort und Atsushi blinzelte erstaunt. „Wenn die Angreifer Informationen über ihn und uns sammeln wollten, dann ist es wahrscheinlich, dass sie auch bei Akutagawa waren“, erklärte sie ihm umgehend. „Angreifer?“, hakte der Mafioso interessiert nach. „Dann stimmt es also, was man so hört …. Ihr lästigen Detektive seid tatsächlich angegriffen worden.“ Atsushi schluckte. Das war nicht gut. Wenn die Hafen-Mafia erfuhr, wie es momentan um die Detektei bestellt war, würden sie ihre Vereinbarung womöglich über den Haufen werfen und versuchen, sie endgültig auszulöschen. „Mach dir nicht gleich ins Hemd, Menschentiger. Ist ja peinlich, wie ängstlich du gleich dreinblickst“, sagte Akutagawa verächtlich. „So gerne ich dem Büro der bewaffneten Detektive auch den Gnadenstoß versetzen würde, im Moment bin ich leider mit anderen Dingen beschäftigt.“ Er stutzte. „Ihr denkt die Angriffe auf eure Kollegen haben mit Dazai zu tun?“ „Das denkt er“, antwortete Atsushi. „Er glaubt, die Attentate seien ein Akt persönlicher Rache an ihm.“ „Würde mich nicht wundern“, erwiderte Akutagawa ungerührt. „Ein Mann, der so viele Gräueltaten begangen hat, macht sich nun mal halt Feinde.“ Der silberhaarige Junge unterdrückte das Bedürfnis nachzufragen, was der Ältere mit Gräueltaten meinte. Das war jetzt nicht wichtig … oder? „Sagst du uns jetzt, was du weißt?“, stocherte Kyoka nach. Akutagawa gab ein mürrisches „Hmpf“ von sich, während er nachdachte. „Der Grund, dass ich momentan mit lästigen Arbeiten beschäftigt bin, hat tatsächlich mit den Leuten zu tun, die mich nach Dazai gefragt haben.“ Die beiden Detektive horchten auf. „Zuerst tauchten zwei Briten auf, als Chuuya und ich eine Waffenlieferung in der Speicherstadt überwachten“, erklärte Akutagawa weiter. „Sie waren auf der Suche nach Dazai und Chuuya sagte ihnen, dass er nicht mehr zur Hafen-Mafia, sondern zu dem lächerlichen Büro der bewaffneten Detektive gehörte. Irgendwie kam es zu einem Kampf-“ Atsushi und Kyoka tauschten verstohlen an dieser Stelle wissende Blicke aus. Es kam zu einem Kampf, wenn man Akutagawa und Chuuya über den Weg lief? Wie überraschend. „- und über die Hälfte unserer Waffenlieferung wurde zerstört“, fuhr Akutagawa fort. „Die Briten hatten sich aus dem Staub gemacht. Kurze Zeit später, als eine neue Lieferung kommen sollte, tauchten zwei Iren auf und es gab den gleichen Ärger!!“ Der Mafioso schnaubte zornig bei dieser Erinnerung. „Zwei … Iren?“ Das Entsetzen in Atsushis Gesicht war deutlich und ihm selbst wurde grässlich heiß. „Diese Iren haben auch nach Dazai gefragt??“ „Einer der Iren hat mich in den Wahnsinn getrieben!!“, grollte Akutagawa. „Sagte andauernd etwas von 'Gothic-Style' und wie gut mir das stehen würde!!“ Atsushi wusste sogleich, welchen der beiden er meinte. Es gab keinen Zweifel. Das mussten die beiden gewesen sein, die ihn nach der Detektei gefragt hatten. „Dann habt ihr auch gegen die Iren gekämpft?“, hakte Atsushi nach. „Ja“, Akutagawas Antwort war schon mehr ein Knurren. „Sie tauchen immer mal wieder in der Speicherstadt auf und gehen allen Mitgliedern der Hafen-Mafia auf die Nerven mit ihren Fragen nach Dazai! Mori hat sie längst zum Abschuss freigegeben, aber einer von ihnen hat eine nervige Fähigkeit, mit der sie ständig entkommen. Verdammte Feiglinge!!“ „Kyoka“, entschlossen wandte sich Atsushi an seine Kameradin, „wir müssen die beiden Iren finden!“   Atsushi hatte immer noch Akutagawas erzürntes Grollen im Ohr, das er ihnen wütend hinterhergeschickt hatte, als sie wieder in den Schacht verschwunden waren. „Wenn du noch einmal hier auftauchst, töte ich dich, Menschentiger!!!“ Was glaubte der denn? Dass er ihm noch einen Hausbesuch machen wollte? Der erste war ja schon unfreiwillig gewesen. Nachdem sie wieder aus dem Loch im Boden der Seitengasse geklettert waren, hatten die beiden jungen Detektive sich sofort auf den Weg in die Speicherstadt gemacht. „15:34 Uhr“, murmelte Atsushi sorgenvoll nach einem Blick auf sein Handy. Was wohl mit Kunikida und Dazai war? „Konzentrier dich“, raunte Kyoka ihm zu, als sie zwischen den Lagerhäusern herumschlichen. „Im Moment scheint es hier zwar ruhig zu sein, aber wir sollten es auf jeden Fall vermeiden, zuerst gesehen zu werden.“ „Ja, du hast Recht.“ „Du denkst, du hättest einen Fehler gemacht, als du mit den beiden Iren geredet hast“, stellte Kyoka unumwunden fest. „Aber das hast du nicht. Das, was sie dich gefragt haben, lässt sich immer noch nicht für die Vorbereitung eines Attentats nutzen.“ „Ja, aber das ist es gerade, was keinen Sinn ergibt“, stimmte er ihr nachdenklich zu. „Es ist … als hätten sich mich nach einem Grund gefragt, jemanden nicht zu töten.“ Die Erkenntnis traf Atsushi plötzlich wie ein Blitz. „Wenn die Briten und die Iren zusammengehörten, wären sie nicht getrennt voneinander bei Akutagawa und Chuuya aufgetaucht! Das heißt, die zwei Gruppen verfolgen nicht das gleiche Ziel!“ Kyoka hatte gerade einmal genug Zeit das Gehörte zu verarbeiten, als ihre Instinkte Alarm schlugen. „Hier ist je-mmmppfh!“ Mit Schrecken registrierte der Junge, dass jemand pfeilschnell aus den Schatten der Gebäude getreten war, seine Kameradin von hinten gepackt hatte und ihr den Mund zuhielt. „Sei nicht so grob, Jimmy. Das arme Mädchen“, hörte Atsushi eine Stimme hinter sich leise nörgeln und wirbelte aufgeschreckt zu dieser herum. Wilde stand dort und gab ihnen eine Zeichen, dass sie leise sein sollten. Derweil hatte Kyoka sich so weit frei strampeln können, dass sie Joyce, der sie festgehalten hatte, einen kräftigen Stoß mit ihrem Ellbogen hatte versetzen können. „Autsch!“ Er ließ sie los. „Shht“, ermahnte Wilde ihn. „Leise. Die Hafen-Mafia lungert die Straße weiter unten herum und aus unerklärlichen Gründen sind die gar nicht gut auf uns zu sprechen.“ „Ich spüre gar keine Tötungsabsicht bei den beiden.“ Kyoka hatte eigentlich nach ihrem Schwert greifen wollen, aber stattdessen blinzelte sie irritiert die Männer an. „Das … sind sie.“ Atsushi brauchte einen Moment, um sich zu fassen. „Die Iren.“ „Tötungsabsicht?“ Joyce humpelte nach Kyokas Schlag in seine Körpermitte zähneknirschend zu seinem Gefährten. „Wie kommt ihr denn auf so etwas?“ „Bitte!“, rief Atsushi aus, ehe Wilde ein erneutes „Shht!“ dazwischen zischte und der Junge seine Stimme senkte. „Sie müssen uns alles sagen, was Sie über die Angriffe auf das Büro der bewaffneten Detektive wissen.“ Die beiden Iren tauschten einen betretenen Blick aus. „Nun gut“, sagte Wilde nach einer Weile des Schweigens, „das ist wohl das Mindeste, was wir tun können.“ Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Es ist wahrscheinlich das einzige, was wir tun können und nach allem, was ihr bereits durchmachen musstet, ist es lächerlich wenig.“ Ein Hauch von Erleichterung machte sich in Atsushi breit. Endlich würden sie ein paar Informationen erhalten. Vielleicht ließ sich das Ganze so endlich stoppen und keiner ihrer Freunde würde mehr in Gefahr gebracht werden. Ein Klingeln riss ihn aus seinem Hoffen. „Shht!“, machten Wilde und Joyce gleichzeitig und Atsushi beeilte sich, an sein Handy zu gehen. „Ja?“ „A … tsu … shi ...“ Panikartig zog sich alles in dem Jungen zusammen. „Haruno? Was ist los? Ist etwas passiert??“ Schier endlose Sekunden verstrichen, in denen die Sekretärin nicht antwortete und als sie es endlich tat, klang ihre Stimme merkwürdig, nicht nur weil sie zitterte, sondern auch weil sie klang, als hätte sie Schwierigkeiten, die Worte herauszubringen. „Der … der Ch-chef … du musst … ihr müsst … kommt … schnell ...“ Oh nein! Oh nein! Bitte nicht!, war alles, was Atsushi angsterfüllt durch den Kopf ging. „Wir sind gleich da!“   15:00 Uhr. Angespannt sah Fukuzawa zu der Uhr, die im Flur des Krankenhauses an einer Wand hing. Es war die Zeit, zu der Dazai und Kunikida sich auf dem Platz vor den alten Backstein-Lagerhäusern einfinden sollten. Er musste ihnen vertrauen. Er musste darauf vertrauen, dass sie die Lage unter Kontrolle bekämen und dabei nicht selbst verletzt würden. Niedergeschlagen blickte er in das Zimmer zu seiner Rechten. Yosano, Ranpo und Kenji lagen darin, nach wie vor alle bewusstlos. Haruno saß an ihrer Seite. Seine Augen wanderten zu seiner Linken. Er hatte das Krankenhaus darum gebeten, Tanizaki, der eben erst aus dem OP gekommen war, in das gegenüberliegende Zimmer zu betten, sodass Fukuzawa vom Flur aus beide Räume im Blick behalten konnte. Alles, was er jetzt für sie tun konnte, war, darüber zu wachen, dass ihnen nicht noch mehr Schaden zugefügt werden konnte. Und trotzdem – schon lange hatte er sich nicht mehr so hilflos gefühlt. Die Detektei hatte für sie alle ein sicherer Ort sein sollen, aber jetzt sahen sie sich einem Feind ausgesetzt, der so geschickt und hinterlistig vorging, dass nicht einmal Dazai ihm beikommen konnte. Dazai. Fukuzawa atmete gedankenschwer aus. Wenn er Recht hatte, und das hatte Dazai meistens, dann waren diese Attentäter hinter ihm her. Doch auch daraus ließ sich kein Entschluss zum Handeln ableiten. Es kam nicht in Frage, Dazai auszuliefern. Er war ein wertvolles Mitglied der Detektei, ein Kamerad und ihnen allen wichtig. Im Besonderen Atsushi. Die Gedankengänge des Chefs wurden jäh unterbrochen, als er bemerkte, wie am anderen Ende des Flurs sich plötzlich Krankenhauspersonal und Patienten, die sich dort aufhielten, krümmten und ohnmächtig zusammenbrachen. Sie waren hier. „Chef.“ Haruno kam aus dem Zimmer und klammerte sich an den Türrahmen. Offensichtlich hatte sie Schwierigkeiten aufrecht zu stehen. „Irgend … etwas … ist … selt … sam ...“ Instinktiv schritt Fukuzawa zu ihr und hielt sie fest, ehe sie tatsächlich umkippen konnte. „Haruno?! Was ist mir dir?“ Sie war kaum noch ansprechbar. Da kam Naomi zur anderen Tür heraus und tastete sich ebenfalls an der Wand entlang. „Mein … Kopf ...“, sagte das dunkelhaarige Mädchen und schwankte dabei immer schlimmer. „Mein Kopf … fühlt sich … so seltsam an … so leicht … und doch so … schwer ...“ Als Fukuzawa sah, dass Naomi ebenso zu stürzen drohte, legte er Haruno geschwind und doch behutsam auf dem Boden ab und fing gerade noch rechtzeitig Naomi auf. Er stutzte, als ihm plötzlich schwindelig wurde. Sicher, seine Bewegungen waren hastig gewesen, aber unter normalen Umständen würde ihm so etwas niemals etwas ausmachen. Irgendetwas musste in der Luft sein. Mit der gleichen Sorgfalt wie bei Haruno legte er Naomi auf dem Boden ab und stand wieder auf. Mit einem Mal dröhnte sein Kopf, die Sicht vor seinen Augen verschwamm und Fukuzawa musste sich mit einer Hand gegen die Wand abstützen, um auf den Beinen zu bleiben. Sollte das das Gift sein, mit dem Yosano und Kenji angegriffen worden waren? Sein Blick ging zu der Lüftungsanlage, die sich über ihm in der Decke des Flurs befand. Konnten sie das Gift etwa über die Luft verteilen? „Ich hatte schon befürchtet, dass Sie es mir nicht einfach machen werden.“ Die Stimme eines jungen Mannes ließ Fukuzawas Blick in den Gang zurückschnellen. Er musste ein paar Mal blinzeln, damit seine Sicht wieder etwas klarer wurde. Wenige Meter vor ihm stand ein junger Mann mit kurzen, rotbraunen Haaren und einem Kurzschwert, das an seiner Hüfte baumelte. „Sie bekommen so viel Soma ab und stehen immer noch?“, fuhr er fort. „Das ist wirklich eine beachtliche Leistung.“ „So … ma?“, hakte Fukuzawa atemlos nach. Er hatte das Gefühl, dass seine Lunge brannte. „Seien Sie aber nicht zu stolz auf Ihre Leistung“, sagte der Jüngere und lächelte ein eiskaltes Lächeln. „Denn für die anderen Patienten und das Personal und auch die beiden jungen Damen hier“, er zeigte auf die bewusstlosen Bürokräfte, während er näher kam, „wäre eine noch höhere Dosis eher schädlich. Daher zwingen Sie uns bitte nicht, noch mehr Soma einsetzen zu müssen.“ Hatte dieser Junge eine Fähigkeit, mit der er dieses Gift freisetzen konnte? Wieso sonst war er scheinbar immun dagegen? Aber er war hier und nicht in der Nähe der Lüftungsanlage …. Fukuzawa kämpfte gegen den Nebelschleier an, der sich über sein Denken legen wollte. Nein, er musste einen Komplizen haben, der dieses Gift verteilte und ihn dagegen immun gemacht hatte. „Was … wollen Sie?“ Es kostete ihn unheimlich viel Anstrengung, einen zusammenhängenden Satz zu bilden. Der junge Mann zog sein Kurzschwert. „Nur eine Botschaft hinterlassen. Für einen Ihrer Angestellten.“ Nur einen Augenaufschlag, nachdem er dies gesagt hatte, ging er in Windeseile zum Angriff über. Noch während der Angreifer auf ihn losstürmte, ging Fukuzawa seine Möglichkeiten durch. Sein Körper fühlte sich viel zu schwer und erschöpft an, um seine übliche Kampftechniken auszuführen und auch sein Denken war beeinträchtigt. Lange würde er so nicht durchhalten, doch jetzt in diesem Moment blieb ihm gar keine andere Wahl. Die Klingen beider Schwerter trafen mit einem lauten metallischen Klirren aufeinander. Schnell wuchs Fukuzawas Frustration darüber, wie sehr dieses Gift oder was es war, nicht nur seine Stärke negativ beeinflusste, sondern auch seine Reaktionsfähigkeit. Er konnte gerade so die Angriffe seines Widersachers parieren, obwohl es ihm als erfahrenem Schwertkämpfer rasch aufgefallen war, dass die Technik des Jüngeren bei weitem nicht so ausgefeilt war wie die seine. Trotzdem. Er musste, alles, was er aufbringen konnte, in diesen Versuch legen. Es ging darum seine Mitarbeiter zu beschützen und obwohl sein Körper seinen Befehlen nicht so gehorchte, wie er es gewohnt war, setzte Fukuzawa mit aller Kraft einen Fuß vor den anderen, um den Kampfplatz an einen anderen Ort zu verlagern. Er wehrte einen Hieb seines Gegners ab und schaffte es, im gleichen Atemzug einen Gegenschlag auszuführen, der den Anderen am Arm verletzte. Wenn er es vollbrachte, ihn kampfunfähig zu machen, dann könnten sie durch ihn in Erfahrung bringen, wie viele weitere Attentäter es noch gab. Der jüngere Mann brachte geschwind Distanz zwischen sich und den Chef, nachdem er getroffen worden war und begann, höhnisch zu lachen. „Das ist wirklich herzerwärmend und sehr edelmütig von Ihnen“, sagte er, als er trotz der blutenden Wunde an seinem Arm lachte. „Glauben Sie, ich hätte noch nicht bemerkt, dass Sie versuchen, mich von den Zimmern ihrer Untergebenen wegzudrängen?“ Fukuzawa antwortete mit einem harschen Blick und umklammerte den Griff seines Schwertes noch etwas fester. Seine Hände hatten angefangen zu zittern. Was auch immer er hier eingeatmet hatte, es ließ seinen Körper immer träger und unkontrollierbarer werden. „Das Tragische ist“, fuhr sein Kontrahent fort, „dass Sie wahrscheinlich wirklich kein schlechter Mensch sind. Und auch Ihre Untergebenen vermutlich nicht.“ „Warum … trachten Sie uns dann … nach dem Leben?“ „Weil Sie alle einen Fehler gemacht haben.“ „Und welchen?“ Der letzte Rest des Lachens verstummte und die Miene des jungen Mannes verfinsterte sich drastisch. „So gesehen ist es doch Ihre Schuld, dass Ihre Angestellten verletzt wurden. Wie konnten Sie ein Monster wie Osamu Dazai bei sich aufnehmen?“ Wie zuvor hatte Fukuzawa dafür als Reaktion nur einen unerbittlichen Blick übrig, ehe er seine letzte Kraft bündelte und zu einem weiteren Angriff übergehen wollte. „Stopp!“ Noch bevor er seinen Gegner hatte erreichen können, hallte die Stimme eines weiteren Mannes durch den Gang, der sich nun hinter ihnen befand. Fukuzawa hielt abrupt inne und warf einen Blick zurück. Auch wenn seine Sicht inzwischen so verschwommen war, dass er alles nur noch schemenhaft wahrnehmen konnte, erkannte er, dass bei den Mädchen ein dunkelhaariger Mann in einem beigefarbenen Anzug kniete. Jede seiner Hände berührte ein Handgelenk der Bürokräfte. „Werfen Sie das Schwert weg, sonst haben Sie diese jungen Damen auf dem Gewissen.“ Umgehend tat Fukuzawa wie ihm befohlen worden war. „Drehen Sie sich zu mir um“, ordnete der Dunkelhaarige an und auch dies tat der Chef, wohlwissend, dass man einem bewaffneten Gegner nicht den Rücken zuwandte. Die kleine Bewegung des Umdrehens ließ Fukuzawa beinahe das Gleichgewicht verlieren. „Sie haben inzwischen herausgefunden, wie Sie Ihre Leute vor weiterem Schaden bewahren können, nicht wahr?“, fragte der Mann im Anzug, während er schwerfällig aufstand. „Wenn wir ihn haben, wird es aufhören.“ „Ich werde … keinen meiner Leute … ausliefern ...“ „Richten Sie ihm dies trotzdem bitte aus.“ Im nächsten Moment spürte Fukuzawa einen stechenden Schmerz in seiner rechten Schulter und kurz darauf die Wärme seines eigenes Blutes, das aus der ihm gerade zugefügten Verletzung quoll und sich über seine Brust und seinen Rücken verteilte. Der junge Mann hatte ihm hinterrücks das Kurzschwert durch die Schulter gerammt. Geschwächt durch Gift und Verletzung fiel Fukuzawa sofort auf die Knie und ging schließlich völlig zu Boden. „Ich hatte das hier unter Kontrolle, Aldous“, beschwerte sich der Jüngere der Attentäter, als sie an ihm vorbei schritten und weggingen. „Du blutest“, entgegnete der Angesprochene fürsorglich. „Und du sollst nicht unnötig Soma freisetzen. Du siehst ganz blass aus.“ Ihre Stimmen verstummten in der Ferne und vollkommen kraftlos am Boden liegend ging Fukuzawa immer und immer wieder nur ein einziger Satz durch den Kopf: „Wie konnten Sie ein Monster wie Osamu Dazai bei sich aufnehmen?“ „Dazai ...“, raunte er, ehe sein Körper der Erschöpfung nachgab und er das Bewusstsein verlor. Kapitel 9: Protect me from what I want -------------------------------------- „Protect me from what I want“   Placebo, „Protége moi“   „Guten Abend … Frau Barrie? Entschuldigen Sie bitte die späte Störung.“ Dazai richtete seinen schwarzen Mantel, der wegen seiner Übergröße und seines Gewichts ständig von seinem viel zu kleinen Körper rutschte, als er zu der Frau hochblickte, die ihm die Tür geöffnet hatte. „Wer … wer bist du denn?“ Die Frau blinzelte ihn verdutzt (und doch mit diesem spürbaren, so sehr spürbaren Hauch von Beunruhigung in den Augen) an, während sie den nächtlichen Besucher musterte. „Herr Mori schickt mich. Es geht um eine dringende Angelegenheit, die ich mit Ihrem Mann besprechen muss.“ Im Hintergrund erblickte Dazai drei Kinder, die sich neugierig hinter ihrer Mutter drängten, um zu sehen, wer da zu so später Stunde bei ihnen erschienen war. „Herr Mori?“ Ein Mann kam hinzu. An der Verängstigung in seiner Stimme konnte der Junge erkennen, dass der Mann ahnte, wieso einer von Moris Leuten hier mitten in der Nacht auftauchte. „Es geht um eine wirklich dringende Angelegenheit“, wiederholte Dazai bestimmt, doch höflich. Der Mann zögerte, nickte aber schlussendlich. „Hat Herr Mori dir gesagt, welche Regel es bezüglich Geschäftsbesuchen bei mir zu Hause gibt?“ „Oh, aber ja.“ Dazai hob seinen Mantel an und drehte sich einmal langsam, damit der Andere alles deutlich sehen konnte. „Keine Waffen.“ „Gut. Dann komm mit. Wir gehen in mein Arbeitszimmer.“ Der Mann drehte sich zu seiner Familie und signalisierte ihnen, wieder zu Bett zu gehen, während Dazai seine Schuhe am Eingang auszog und anschließend dem Älteren den Gang hinunter folgte. „Der soll ein Geschäftspartner von Vater sein?“, hörte er einen der kleinen Jungen sagen. „Er kann doch nicht viel älter sein als-“ „Geht wieder schlafen“, unterbrach die Mutter ihn, als Dazai einen Blick zu ihnen zurückwarf. „Um was für eine Angelegenheit geht es?“, fragte der Mann, nachdem sie das Arbeitszimmer betreten hatten. Er hatte Dazai angeboten, sich zu setzen, doch dieser hatte abgelehnt, sodass sie sich nun in dem Raum gegenüberstanden. „Sie wissen ja, dass Herr Mori die Führung vor noch nicht allzu langer Zeit übernommen hat, nicht wahr?“ Sein Gegenüber nickte noch zaghafter als zuvor. „Nun“, fuhr Dazai fort, „trotzdem ist es ihm nicht entgangen, dass die Waffenlieferungen aus Großbritannien, für die Sie zuständig sind, in letzter Zeit nicht ganz vollzählig waren. Das ist ein ärgerliches Problem, wie Sie sich sicher denken können, denn die Hafen-Mafia bezahlt für die gesamte Ware und erhält nur einen Teil. Das ist kein gutes Geschäftsmodell für uns.“ „Verständlich. Ich werde das umgehend prüfen-“ „Hm? Nein, nicht nötig.“ Der Junge winkte ab. „Wir haben den Schuldigen längst gefunden.“ Entsetzen legte sich über die Miene des älteren Mannes, dem der Schweiß auf der Stirn stand. „So?“ „Ja, er hat tatsächlich geglaubt, wir würden es nicht merken, wenn er einen Teil unserer Lieferung an andere Organisationen in der Stadt verhökert. Können Sie sich das vorstellen?“ „Wer … wer hat dies denn getan?“ Selbst bei dem faden Licht, das den Raum geradeso erhellte, konnte man erkennen, wie aschfahl die Haut des Mannes geworden war. „Sagen Sie mal, Herr Barrie, haben Sie eigentlich noch das Geschenk, das Herr Mori Ihnen gegeben hat?“ Für den Bruchteil einer Sekunde gingen die Augen des Angesprochenen zu dem Schrank neben dem Dazai stand. „J-ja, wieso?“ Der junge Mafioso schritt sogleich zu dem Schrank und rüttelte daran. Er war abgeschlossen. „W-was tust du-“ Bevor er zu Ende sprechen konnte, nahm Dazai den kleinen Beistelltisch, der sich neben dem Schrank befand und schlug diesen mit voller Wucht gegen die Schranktüren. Der Tisch zerbarst und die Türen des Schrankes fielen halb aus den Angeln. „Ah! Das ist es ja.“ Der Junge nahm das darin liegende Kurzschwert hinaus, zog es aus seiner Scheide und betrachtete es. „Man muss Herrn Mori lassen, dass er Geschmack hat. Auch wenn er bei seinen Geschäften auf einen Betrüger reingefallen ist.“ Er wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu, der ihn mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen anstarrte. In Erwartung des üblichen Ablaufs seufzte Dazai. „B-bitte“, flehte der Mann, „ich kann Herrn Mori alle Verluste zurückzahlen! Ich werde die Hafen-Mafia nie wieder bestehlen!“ Der junge Mafioso seufzte von neuem. „Der Punkt ist, dass Herr Mori sich keine Blöße geben darf. Das verstehen Sie doch sicher, oder? Deswegen hat er mich geschickt, um hier ein Exempel zu statuieren.“ „Bitte!“, flehte der Mann immer verzweifelter. „Ich habe eine Familie, um die ich mich kümmern muss!“ „Ach … jetzt verstehe ich.“ Dazai blinzelte ihn erstaunt an. „Sie haben es noch nicht verstanden. Ich soll hier ein Exempel statuieren.“ Als Dazai die Worte so betont wiederholte, begriff der Mann, was der Junge vorhatte und der blanke Horror legte sich über seine Züge. Im nächsten Moment stürzte er sich in seiner puren Verzweiflung auf den Kleineren, der ihm spielend leicht auswich und ihn dabei mit dem Schwert traf. Blut spritzte aus der Wunde an seiner Schulter und regnete wie ein tiefroter Wolkenbruch auf den Jungen nieder. Dazai kickte den Mann, der noch am Leben war, weg, sodass er auf die Tatami-Matten fiel. Dann machte der Junge sich auf zur Tür, schob diese auf und erblickte im Flur sogleich Frau Barrie, deren ungutes Gefühl sie vermutlich im Gang hatte warten lassen. Ein entsetzlicher, ohrenbetäubender Schrei entwich ihrer Kehle, als sie ihren Mann im Hintergrund blutend auf dem Boden liegen sah. Sie hatte nicht die Zeit, irgendwie darauf zu reagieren, denn Dazai preschte nach vorne und schlitzte ihr mit zwei schnell versetzten Hieben den Hals und den Bauch auf. Noch während er ein weiteres Mal auf ihren bereits leblosen Körper einstach, hallte der Schrei eines Mädchens durch das Haus. Dazai erblickte sie beim Eingang. Ihre ganze Gestalt zitterte erbärmlich, wie sie ihn mit vor Panik weit aufgerissenen Augen anstarrte und doch aus ihrem Innern die Kraft holen konnte, ihre beiden Brüder, die bei ihr standen, hastig an die Hand zu nehmen, um mit ihnen zur Tür hinaus zu fliehen. Dazai hatte sie in Sekundenschnelle eingeholt und getötet. Ein leidvolles Wimmern kam aus dem Raum am anderen Ende, von wo aus der Vater der Familie die Ermordung seiner Frau und seiner Kinder mitangesehen hatte. Der junge Mafioso hob seine Schuhe, die er am Eingang abgestellt hatte, mit der linken Hand auf und schritt, in der rechten Hand immer noch das blutüberströmte Schwert haltend, zu dem Arbeitszimmer zurück. „Was … was bist du … für ein Monster?“, hauchte der Mann stimmlos, als Dazai wieder bei ihm war. „Sie denken, ich bin ein Monster?“ „Du ... bist ... kein Mensch ….“ Wortlos senkte Dazai bei diesem Satz seinen Kopf, sodass seine Haare sein sichtbares Auge verdeckten. „Ich bin nur auf der Suche nach etwas.“ Dann stach er zu. Und wieder. Und wieder. Der Mann schrie zwischendrin noch einmal und vermutlich war er bereits längst tot, als Dazai ein letztes Mal zustach. Er schmiss das Schwert von sich, verließ den Raum durch eine Schiebetüre, die in den Garten führte, zog sich auf der Veranda seine Schuhe an und betrat den Garten, wo er sich umsah. „Hmm … hatten das nicht vier Kinder sein sollen?“, murmelte er zu sich selbst. Laut Herrn Moris Informationen hatten es vier Kinder sein sollen, doch vielleicht waren die Informationen fehlerhaft gewesen? Ein plötzliches Kribbeln unter seiner Haut verlangte mit einem Mal seine Aufmerksamkeit, aber Dazai versuchte sein Bestes, um es zu ignorieren. Ob er noch einmal ins Haus zurück musste, um es zu durchsuchen? „So ein Ärger.“ Das Kribbeln wurde schlimmer. Es fühlte sich an, als ob sich ein Druck in seinem Innern aufbaute. Konzentrier dich auf die Aufgabe, die vor dir liegt, sagte er sich in Gedanken immer und immer wieder. „Ah, ich weiß! Dann brenn ich eben das Haus nieder!“, rief er enthusiastisch aus, um das Kribbeln und Brennen und Nagen in seinem Innern beiseite zu schieben. „Ach nein, soll ich ja nicht.“ Herr Mori hatte ihn höflich, aber bestimmt darauf hingewiesen, dass er das lieber lassen sollte, nachdem er beim letzten Mal beinahe eine gesamte Häuserreihe in Brand gesetzt hatte und wenn er nicht aufpasste, würde er irgendwann auch etwas in Brand stecken, das zur Hafen-Mafia gehörte - „Und das wollen wir doch nicht, nicht wahr, Dazai?“ Ein eisiger Wind fegte durch den Garten und doch wurde es Dazai plötzlich furchtbar heiß. „Du ... bist ... kein Mensch …“ Die Worte hallten in seinen Ohren nach und übertönten nach und nach sein Mantra, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren. Der ganze Auftrag war nur ein Ärgernis gewesen und er hatte von Anfang an keine Lust darauf gehabt. Ja, sagte Dazai sich innerlich, ja, der Auftrag konnte als abgeschlossen betrachtet werden und er konnte einen Haken hinter dieses Ärgernis machen. Mehr war es nicht gewesen. Er sollte nach Hause gehen. Noch etwas lesen. Vielleicht entdeckte er ja noch eine Methode, die für ihn Frage kam? Mit schnelleren Schritten als zuvor verließ er das Grundstück über die Tür im rund um das Gelände stehenden Zaun. Heute hatte er noch nichts gefunden, versuchte er seine wild durcheinander schießenden Gedanken zu beruhigen, aber das hieß nicht, dass er überhaupt nichts finden würde. Nein, hier bei der Hafen-Mafia würde er eine Antwort, einen Sinn, ein Etwas, was auch immer es war, finden. Ganz sicher. Es gab keinen Grund, sich Sorgen darüber zu machen, dass er nichts finden würde. Dazai achtete gar nicht mehr darauf, wohin ihn seine Füße so eilig trugen. Trotz der kalten Jahreszeit war ihm warm, viel zu warm und der Mantel fühlte sich so schwer an. Ein Glitzern in nicht allzu weiter Ferne lenkte nun seine Schritte. Vielleicht, dachte er, als seine Füße noch etwas schneller gingen, vielleicht brauchte er das Buch gar nicht weiter zu lesen. Der Druck in seinem Innern war inzwischen trotz seiner Versuche, sich zu beruhigen, so unerträglich geworden, dass es sich anfühlte, als würde er ersticken. Ohne zu zögern sprang Dazai in das im Sonnenaufgang glitzernde Wasser des eiskalten Flusses. Kapitel 10: And as the two of us rebel -------------------------------------- „And as the two of us rebel“   Placebo, „The never-ending why“   Hastig eilte Atsushi mit Kyoka und den beiden Iren im Schlepptau in die Etage des Krankenhauses, auf der ihre verwundeten Kollegen lagen. Bereits am Eingang war ihnen aufgefallen, dass etwas hier vorgefallen sein musste. Die Militärpolizei war vor Ort, Rettungskräfte von anderen Kliniken waren gekommen und behandelten Ärzte und Pflegepersonal des Krankenhauses. Überall waren die Fenster und Türen aufgerissen. Aus dem Augenwinkel bemerkte Atsushi, wie Joyce und Wilde immer zerknirschter wurden. „Haruno!!“, rief der silberhaarige Junge der im Flur stehenden Sekretärin entgegen, als sie am Zimmer, in dem Yosano, Ranpo und Kenji lagen, angekommen waren. Haruno hielt sich am Türrahmen fest; ihre Beine wackelten auffallend und ihr gesamter Teint sah ungesund blass aus. „Was ist passiert??“, fragte er atemlos. „Sie waren hier. Die Attentäter.“ Ihre Stimme klang wieder gefestigter und doch konnte man den Schrecken über das Geschehene noch mehr als deutlich heraushören. „Was ist mit-?“, begann Atsushi, als Haruno bereits zu dem gegenüberliegenden Zimmer zeigte. „Der Chef ist hier.“ Naomi erschien in der offenen Tür des anderen Raums und sah genauso bleich und mitgenommen aus wie Haruno. Kyoka und Atsushi stürmten an dem dunkelhaarigen Mädchen vorbei ins Zimmer, wo sie erschrocken vor dem Bett zum Stehen kamen, in dem der Chef – leichenblass, nicht bei Bewusstsein, an mehrere Infusionen (eine davon augenscheinlich eine Bluttransfusion) angeschlossen und die rechte Schulter dick einbandagiert – lag. „Habt ihr die Angreifer gesehen? Wie lange ist das her?“, fragte Kyoka sogleich mit bebender Stimme. Naomi wackelte zu dem Stuhl neben dem Bette ihres nach wie vor ohnmächtigen Bruders zurück und ließ sich an seiner Seite nieder. „Ich wünschte, wir könnten euch irgendwas dazu sagen, aber Haruno und ich wurden direkt von diesem Gift ausgeknockt. Sie haben es durch die Lüftungsanlage im Krankenhaus verteilt.“ Ein schmerzerfülltes Ächzen ließ die Blicke der zwei jungen Detektive von Naomi zu der Gestalt ihres Chefs zurückschnellen. Mit sichtlicher Mühe öffnete Fukuzawa seine Augen und kniff sie einige Male angestrengt zusammen. „Chef!“ Atsushi eilte an seine Seite. „Sind Sie schwer verletzt?“ „Atsushi ...“, raunte er erleichtert. Er blinzelte erneut, ehe er panisch die Augen aufriss. „Kyoka! Wo ist Kyo-“ „Ich bin hier.“ Das Mädchen stellte sich rasch zu ihrem Kameraden und als Fukuzawa sie sah, atmete er auf. „Euch ist nichts passiert?“ „Uns geht es gut“, erklärte Atsushi gerührt über die Fürsorge des Älteren und zugleich besorgt um ihn. „Aber was ist mit Ihnen?“ „Einer von ihnen besitzt eine Giftfähigkeit … ich habe nichts dagegen ausrichten können. Ein Anderer hat mir diese Verletzung zugefügt … aber es ist nichts Schlimmes. Das Gift scheint das größere Problem zu sein. Ich sehe nach wie vor alles verschwommen.“ Fukuzawa stockte, als er die zwei Fremden im Türrahmen erblickte. „Wer ist das?“ Atsushis Augen folgten dem Blick des Chefs, bevor er schwermütig erklärte: „Das … das sind die beiden Iren, von denen ich erzählt habe.“ Die Erwähnten hatten zuvor einen Blick an Haruno vorbei auf die dort in dem anderen Zimmer liegenden Verletzten geworfen und sich dann mit betretener Miene in den Raum zu Atsushi und den anderen begeben. „Herr Fukuzawa, ja?“, ergriff Joyce bedrückt das Wort, als er und sein Partner näher kamen. „Sie um Verzeihung zu bitten, erscheint mir heuchlerisch und doch … tut es mir– uns schrecklich leid, was Ihnen und Ihren Leuten zugestoßen ist.“ „Dann kennen Sie unsere Verfolger?“, entgegnete der Chef. „Nun …“, begann Wilde und nestelte dabei nervös mit den Fingern herum, „ … ja.“ Er seufzte lang und tief. „Wir … wir gehörten einst zusammen. Sie sind … waren unsere Kameraden.“ Die beiden Iren hatten nun die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. „Mein Partner und ich sind Ihnen aber keineswegs feindlich gesinnt“, fügte Joyce hastig hinzu. „Wir wollten nicht, dass es hierzu kommt.“ „Und trotzdem konnten wir es auch nicht verhindern“, ergänzte Wilde betrübt. Kyoka hatte absolut Recht, dachte Atsushi. Von diesen beiden ging keinerlei Gefahr aus. Als er die Iren betrachtete, fiel dem Jungen plötzlich etwas äußerst Wichtiges ein. „Was ist mit Dazai und Kunikida?!“ „Haruno hat Dazai wegen des Angriffs Bescheid gegeben“, antwortete Naomi. „Anscheinend … wurde Kunikida wohl verletzt und Dazai bleibt bei ihm, bis seine Versorgung abgeschlossen ist.“ Mit einer verstörenden Gleichzeitigkeit machten sich Erleichterung und Sorge in dem jungen Detektiv breit. Dazai war unverletzt, aber es hatte Kunikida erwischt. Hoffentlich, flehte er innerlich, war es nichts Gravierendes. Kunikida war hart im Nehmen, richtig? Er konnte so einiges aushalten. Außerdem war Dazai bei ihm, also musste er sich keine größeren Sorgen machen …. Atsushi schluckte schwer, als er über seine eigenen Gedanken stolperte. Hieß das, Dazais Theorie stimmte? Hatten sie es eigentlich auf ihn abgesehen? Bei Erwähnung von dessen Namen hatten die Iren zudem gerade einen gequälten Blick gewechselt. „Was wollen sie von Dazai?“, fragte Fukuzawa frei heraus und als hätte er seine Gedanken lesen können. „Rache“, erwiderte Joyce knapp. „Einer von ihnen will Rache an ihm nehmen.“ „Ja, so etwas hatte ich schon befürchtet.“ Beim Klang dieser ihnen so vertrauten Stimme gingen die Blicke der Detektive ruckartig zur Tür, von wo sie sie gehört hatten. Dazai trat ein, die Hände in den Manteltaschen und die Mimik unlesbar. Er wirkte gefasst, aber Atsushi beschlich das ungute Gefühl, dass es sich dabei mehr um Schein als um Sein handelte. Hinter Dazai folgten ein paar Schwestern und Pfleger, die ein Bett mit einem ohnmächtigen Kunikida darin hereinrollten und es rechts von Fukuzawas Krankenbett abstellten. Das Pflegepersonal verließ den Raum schnell wieder, als sie alles eingestellt und überprüft hatten. Obwohl die Militärpolizei jetzt hier war, hatten sie alle offensichtlich Angst, sich länger als nötig bei den Detektiven aufzuhalten. Bei ihnen war es nicht sicher. „Es ist gut, dass Kunikida so einen Dickschädel hat“, äußerte Dazai und trotz seines überzeugenden Versuchs, nonchalant zu klingen, hörte Atsushi etwas Düsteres, Bedrückendes aus der Stimme seines Mentors hinaus. „Er hat eine schlimme Gehirnerschütterung, aber er wird wieder.“ Fukuzawa hatte, soweit ihm das von seiner Position möglich war, seinen Kopf zu Kunikida gedreht und mit sichtbar schwerem Herzen zu ihm geschaut, ehe er sich an Dazai wandte. „Du bist unverletzt?“ Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Noch.“ Aus dem Augenwinkel beobachtete Atsushi wie Joyce es vermied, Dazai anzusehen, während Wilde verstohlen und auf seiner Unterlippe kauend zu ihm blickte. „Ich denke“, sprach Dazai weiter, „ich habe jetzt eine Ahnung, um was es hier geht. Aber ich würde trotzdem gerne noch die weiteren Hintergründe erfahren.“ Joyce nahm dies als sein Stichwort und holte tief Luft. „Wir gehörten zu einer Gruppe“, erläuterte er voller offenkundiger Wehmut in der Stimme, „die sich eigentlich um ehrsame Ziele hatte bemühen wollen. Vielleicht waren wir gar mit Ihrer Detektei zu vergleichen. Wir übernahmen schwierige Fälle, beschützten die Schwachen und wollten uns um Frieden bemühen. Der Gründer der Gruppe, Aldous Huxley, er reiste viel um die Welt, um uns ein Netzwerk aufzubauen und dann, eines Tages vor über sieben Jahren … lief ihm in Japan ein verstörtes Kind namens James Matthew Barrie in die Arme, den er bei uns aufnahm und von da an … änderte sich alles.“ „Ein Junge, der ursprünglich mit seiner Familie aus Schottland nach Yokohama gekommen war, oder?“, warf Dazai ein und in der Art, wie er es sagte, konnte man ahnen, dass es keine Frage gewesen war. „Ja“, übernahm Wilde die weitere Erklärung, „sein Vater hatte wohl Geschäfte mit Banden aus der Unterwelt getätigt und die … die Familie des Jungen ist in Yokohama von jemandem aus der Hafen-Mafia ermordet worden.“ Atsushi und Kyoka schreckten bei dieser Äußerung auf. Wenn es bei dieser ganzen schrecklichen Geschichte um Rache an Dazai ging, überlegte der Junge, während sich ein massiver Kloß in seinem Hals bildete, dann bedeutete dies etwa …? „Die Familie ist von jemandem aus der Hafen-Mafia ermordet worden.“ Kyoka sprach seine Gedanken aus. „Nach dem, was wir jetzt wissen, muss der Mörder also ….“ Sie stockte. Anscheinend fiel es auch ihr nicht leicht, dies auszusprechen. Stattdessen wanderten ihre Augen zu dem brünetten Kollegen. Dazai reagierte nicht. Er sah vor sich, doch sein Blick verriet, dass er nichts im Konkreten ansah, sondern einfach durch alles hindurch starrte. „Die grausame Geschichte, die Barrie ihm damals erzählte“, fuhr Joyce wieder fort, „erschütterte Huxley so sehr, dass er nicht nur beschloss den Jungen bei uns aufzunehmen, sondern ihm auch versprach, eine so bösartige Kreatur wie den Mörder seiner Eltern und Geschwister auszulöschen. Denn in einer Welt, in der etwas so Bösartiges wandelt, ist kein Frieden möglich. Seine Worte, nicht meine.“ Bei diesen Sätzen hatte Atsushi das Gefühl, dass sich eine Tonne Gewicht auf seinen Brustkorb legte. Sein Kopf konnte kaum verarbeiten, was er gehört hatte. „Geschwister?“, flüsterte er fast tonlos und sah dabei mit weit aufgerissenen Augen zu Dazai, der immer noch Löcher vor sich hinstarrte. „Moment“, wandte Naomi energisch ein, „wissen Sie ganz genau, dass Dazai das gewesen sein soll? Und wenn es sieben Jahre her ist, warum rächen sie sich dann erst jetzt?“ „Die Zeitspanne lässt sich einfach erklären“, fuhr Joyce fort, „denn Barrie kannte weder den Namen des Mörders, noch sein Aussehen. Er hatte ihn damals lediglich gehört und so sein Alter geschlussfolgert.“ Dazai zuckte zusammen. „Er hat mich gehört?“ „Ja, er war im Garten, als es passierte“, antwortete der blonde Ire. Ein flüchtiges „Hah“, das kaum als Lachen durchging, entfuhr Dazai und Atsushi fühlte sich, als würde ihm die Luft zum Atmen genommen. „Dazai ...“, sagte der Junge mit zittriger Stimme, „soll das heißen, du hast wirklich …?“ Endlich wandte sich der Brünette seinem Schützling zu. Seine Mimik war besonnen wie immer. „Atsushi, du weißt doch, dass ich früher bei der Hafen-Mafia war. Das sollte dich nicht so sehr überraschen.“ „A-aber ...“ Atsushi wusste nicht, was er eigentlich einwenden wollte. Ich konnte mir nie vorstellen, dass du ein kaltblütiger Mörder warst? Er hatte es sich ja auch nie vorstellen wollen. Er hatte diesen Gedanken immer und immer wieder verdrängt, weil er seinen Mentor für nichts Anderes als ein großartiges, selbstloses Genie hatte halten wollen. Übelkeit stieg in ihm hoch und er wandte seine Augen von Dazai ab. „Wir haben einen guten Teil der letzten sieben Jahre damit verbracht Informationen zu sammeln und herauszufinden, wer Mattys Familie getötet hat“, erzählte Wilde. „Schließlich fielen uns Informationen über einen 'Osamu Dazai' von der Hafen-Mafia in die Hände und ...“, er seufzte schwermütig, „ab da wurden die Rachepläne so konkret, dass Jimmy und ich ausgestiegen sind. Wir hatten vorher schon unsere Zweifel. Eine Gruppe, die Frieden schaffen will und dann die Ermordung von jemandem plant? Das wollten wir nicht mehr mittragen. Aber Aldy und Matty ließen sich nicht mehr davon abbringen. So sehr hatten sie sich da hinein gesteigert.“ „Vor ein paar Wochen“, übernahm Joyce wieder das Wort, „erfuhren wir dann, dass die beiden nach Japan abgereist waren und wir sind ihnen hinterher. Aber hier wiederum erfuhren wir alle vier, dass dieser Osamu Dazai gar nicht mehr bei der Hafen-Mafia war, sondern bei den bewaffneten Detektiven.“ Fukuzawas Blick verfinsterte sich bei diesen Worten. „Das heißt, die Angriffe auf die Detektei sind erst hier vor Ort geplant worden?“ „Nun ...“ Wilde nestelte wieder mit seinen Fingern, „ja. Aldy ist ein wahnsinnig guter Stratege. Er kann mit wenigen Informationen in Nullkommanichts detaillierte Pläne erstellen. Aber damit hatten wir nichts zu tun! Wirklich!“ „Sie haben aber auch nichts getan, um die Angriffe zu verhindern“, sagte Kyoka vorwurfsvoll. „Wir befinden uns in einem moralischen Dilemma“, erläuterte Joyce sachlich. „Die einzige Möglichkeit, Huxley und Barrie noch aufzuhalten, besteht darin, sie auszuschalten. Doch, Sie müssen verstehen“, er wandte sich an Fukuzawa, „diese beiden waren unsere Kameraden.“ „Aldy und Matty sind keine schlechten Menschen!“, ergänzte Wilde lauthals. „Auch wenn Sie das jetzt vielleicht denken, aber eigentlich haben die beiden ein gutes Herz! Diese verdammte Vergeltungsgeschichte hat sie nur völlig vereinnahmt. Wir waren hin und her gerissen, was wir tun sollten. Wir wollten uns selbst ein Bild von dem Mörder von Mattys Familie machen. Allerdings kamen wir zu keinem klaren Ergebnis und beschlossen, uns nicht einzumischen. Doch inzwischen ist uns klar geworden, dass wir alles falsch gemacht haben. Unsere Tatenlosigkeit hat diese unschuldigen Leute in Lebensgefahr gebracht.“ Joyce seufzte schwer. „Sie werden erst damit aufhören, wenn sie haben, was sie wollen.“ „Das wissen Sie schon, nicht wahr, Chef?", warf Dazai abgeklärt ein. Fukuzawa schloss kurz seine Augen und als er sie wieder öffnete, blickte er zu den Iren und ignorierte Dazais Frage. „Können Sie uns etwas über diese Giftfähigkeit erzählen? Und besitzt Barrie auch eine Fähigkeit?“ „Das Gift ist tatsächlich mehr eine Art Droge namens 'Soma'“, legte Joyce dar. „Huxley bildet diese Droge in seinem Körper und er kann die Zusammensetzung des Soma ändern, je nach dem für was er es einsetzen will. Es kann berauschen und gleichzeitig auch betäuben und eingeatmet ist es um einiges harmloser als über die Zuführung per Hautkontakt. Da kann es schnell und hochdosiert verabreicht werden, was es so gefährlich macht.“ Bei dieser Erklärung grummelte Fukuzawa innerlich. Eine Droge hatte ihn umgeworfen? Großartig. „Lässt sich die Wirkung des Soma irgendwie aufheben?“, fragte er den blonden Iren, doch dieser schüttelte gleich entschuldigend den Kopf. „Tut mir leid. Das Soma muss vom Körper wieder abgebaut werden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“ Der Blick des Chefs ging zu Dazai, aber auch dieser antwortete mit einem Kopfschütteln. „Ich habe bei Yosano und Kenji sofort probiert, ob ich etwas neutralisieren kann, aber ohne Erfolg.“ „Wenn das Soma erst einmal freigesetzt ist“, ergänzte Joyce, „hilft auch keine Fähigkeit mehr, die andere Fähigkeiten aufhebt. Nur die Freisetzung ließe sich so verhindern.“ „Ich hatte den Eindruck, Barrie schien immun gegen die Droge zu sein“, hakte Fukuzawa nach und ließ Wilde stutzen. „Immun? Oh, nein, nein.“ Er seufzte erneut. „Matty ist über die Jahre … nun ja … an das Soma gewöhnt worden. Es … hilft ihm gegen seine Angstzustände und Albträume.“ „Soll heißen, er ist abhängig.“ Für diesen Kommentar zog Dazai sich erboste Blicke seitens der Iren zu, die ihm damit wohl vorwerfen wollten, wessen Schuld das Ganze denn überhaupt erst war, aber es brachte ihn nicht aus der Fassung. „Und Barries Fähigkeit?“ Wilde verzog ein wenig das Gesicht, als wäre es ihm selbst nicht ganz geheuer, darüber zu sprechen. „Mattys Fähigkeit, die 'Lost Boys', besteht darin die Seelen gewaltsam zu Tode gekommener Kinder zu sammeln und zu materialisieren und sie sozusagen wie Marionetten einsetzen zu können.“ Bei dieser Erklärung zog Naomi scharf die Luft ein und sogar Kyoka wirkte erschüttert. Atsushi hatte derweil seinen Blick längst stoisch dem Boden zugewandt, doch er hörte weiterhin zu und diese Fähigkeit jagte ihm augenblicklich einen gewaltigen Schauer durch Mark und Bein. Die Seelen verstorbener Kinder? Was für eine schauderhafte Fähigkeit war denn das? Aber Befähigte konnten sich dies eben nicht aussuchen. Er und Kyoka konnten ein Lied davon singen. „Wie Marionetten?“, überlegte Dazai laut. „Er kann diese Kinder alleine losschicken, ja?“ „Ja“, bestätigte Wilde ihm, „sie scheinen keinen eigenen Willen mehr zu haben und nur noch seinem Befehl zu folgen. Er kann sie zu quasi allem ausbilden, wofür er sie brauchen könnte und dann gibt er ihnen Aufträge. Außerdem ist er in der Lage, sie aus dem Nichts erscheinen zu lassen und er kann durch ihre Augen alles sehen, was sie sehen, egal, wo er selbst sich befindet.“ Dazai atmete hörbar aus. „Jetzt ist mir alles klar.“ Er wandte sich wieder an den Chef. „Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, wie es möglich war, Kunikida und mich sowohl bei den Lagerhäusern als auch bei den zwei Bomben zu beobachten, während gleichzeitig der Angriff im Krankenhaus stattfand. Barrie hat seine Fähigkeit benutzt, um uns im Blick zu behalten und um Kunikidas Sprengsatz zu zünden. Wahrscheinlich hat auch eines dieser Kinder auf Ranpo geschossen. Ein Kind kann viel einfacher in der Menge untertauchen als ein Erwachsener. Es ist ebenso wahrscheinlich, dass sie so jeden einzelnen von uns ausspionieren konnten.“ „Das sind wirklich problematische Fähigkeiten“, resümierte Fukuzawa ernüchtert. „Und wir konnten ihnen bislang nicht viel entgegen setzen.“ „Wie viele von diesen Lost Boys gibt es denn?“, fragte Kyoka. Beide Iren zuckten mit den Schultern. „Es waren schon nicht wenige als wir noch in Europa waren. Wer weiß, wie viele hier noch hinzugekommen sind“, antwortete Joyce bestürzt. „Eine unbekannte Anzahl an Feinden“, fasste Kyoka analytisch zusammen. „Das ist schlecht. Wir sind eindeutig in der Unterzahl.“ Fukuzawa nickte. „Dazai, hast du eine Idee?“ „Oh ja, die habe ich“, antwortete der Brünette unangemessen überschwänglich. „Zuallererst einmal hören wir auf, so zu tun, als hätten die Briten Ihnen nicht gesagt, was Sie machen sollen, um das hier zu beenden.“ Die Mimik des Chefs wurde abrupt angespannter. „Es ist ganz ausgeschlossen, dass sie Sie nicht aufgefordert haben, mich auszuliefern“, fuhr Dazai in gleicher Tonlage fort. „Alle Attentate bis hierhin sollten uns wahrscheinlich nur warnen. Wenn sie mich nicht bekommen, dann wird es so weiter gehen und immer schlimmer werden, bis tatsächlich jemand aus der Detektei sein Leben verliert. Vielleicht haben sie für diesen Zweck auch Atsushi und Kyoka aufgespart.“ Der erwähnte Junge schreckte, die Augen weiterhin gen Boden gerichtet, zusammen. Natürlich würde er um jeden Preis zu verhindern versuchen, dass Kyoka etwas zustieß, doch ihre Feinde gingen so heimtückisch vor, dass er Zweifel daran hatte, sie wirklich auf jeden Fall vor jedem Unheil bewahren zu können. Seine zu Fäusten geballten Hände begannen zu zittern. In was für eine schreckliche, verfahrene Situation waren sie hier nur geraten? „Du wirst dich ihnen nicht ausliefern“, sagte der Chef in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete. „Wir überlegen uns etwas anderes.“ „Etwas anderes?“ Dazai klang beinahe spöttisch. „Wollen Sie wirklich Atsushi und Kyoka in die Höhle des Löwen schicken, wohl wissend, dass dort ausgehungerte Raubkatzen warten?“ „Nnngh“, machte Wilde leise in Joyces Richtung. „Vielleicht sollten wir die bewaffneten Detektive das unter sich klären lassen.“ Joyce nickte und sie zogen sich lautlos aus dem Zimmer zurück. „Ich will natürlich keines eurer Leben in Gefahr bringen“, entgegnete Fukuzawa eisern. „Nüchtern betrachtet gibt es nicht mehr viel, was die Detektei noch ausrichten kann“, sagte Dazai ungewöhnlich harsch klingend. „Sie können in Ihrem Zustand nicht kämpfen; es wäre unverantwortlich Kyoka alleine mitzuschicken und Atsushi … schafft es nicht einmal mehr, mich anzusehen, nachdem er dies alles gehört hat. Sowieso sollten nicht auch noch die beiden meinetwegen ihr Leben aufs Spiel setzen. Also nein, es gibt keine andere Möglichkeit mehr.“ Erneut zuckte Atsushi zusammen – und doch schaffte er es in der Tat nicht, seinen eigentlichen Mentor anzuschauen, obwohl er dessen Augen auf sich spürte. Er war wütend, enttäuscht, frustriert und – auch wenn er sich bewusst war, wie komplett unlogisch dies war – er fühlte sich von Dazai verraten und getäuscht. Das Bild, das er von ihm hatte, von ihm hatte haben wollen, war gewaltsam zerrissen worden. Aber … wessen Schuld war das? Dazais? Seine eigene? Atsushi fand aus dem Stand heraus keine Antwort auf diese Frage. „Du gehörst genauso zur Detektei wie wir alle und daher werde ich dich nicht in den Tod schicken. Du gehst nicht. Das ist ein Befehl“, ordnete Fukuzawa gestreng an. „Ein Befehl?“ Dazai blinzelte ihn an, ehe er lachend den Kopf schüttelte. „Hey!“, mischte sich Naomi, erbost über seine Reaktion, ein. „Werd nicht respektlos, Dazai! Der Chef will doch nur nicht, dass du-“ „Ich will nicht respektlos sein“, unterbrach der Brünette sie ernst, „und ich bin Ihnen dankbar, Chef. Für alles. Aber jetzt gerade sind Sie einfach unvernünftig.“ Stillschweigend verharrte er einen Moment lang an Ort und Stelle, seinen Blick auf Fukuzawa gerichtet. Dann wandte er sich ab und machte sich auf zur Tür. „Dazai!“, ertönte Fukuzawas Stimme todernst und warnend, wie das Grollen eines Donners, das einen Gewittersturm ankündigte. Der Angesprochene blieb kurz stehen, aber er drehte sich nicht mehr zu ihnen um. Die untergehende Sonne tauchte das Zimmer und besonders den Mann im Trenchcoat in ein auffallend dunkles Rot. „Ich kündige.“ Mit diesen Worten verschwand er durch die Tür und ließ die anderen fassungslos zurück. „Atsushi, was sollen wir jetzt tun?“, fragte Kyoka und sah ihren Kameraden aufgewühlt an, doch sie bekam keine Antwort von ihm. „Atsushi!“ Sie rüttelte aufgebracht an seinem Arm, um eine Reaktion von dem stoisch vor sich hin blickenden Jungen zu bekommen. „Dazai wird sterben!“ Ein Ächzen ließ ihn doch wieder seinen Kopf heben. Fukuzawa versuchte, sich aufzurichten, wurde aber sogleich von einer – so schnell es ihr momentan möglich war - heraneilenden Naomi daran gehindert. „Chef, Sie sind zu schwer verletzt und doch immer noch benebelt.“ Der Älteste im Raum knirschte missmutig mit seinen Zähnen. „Ich kann nicht einmal meine eigenen Leute-“ „Ich folge ihm.“ Atsushis halblaut geäußerter Satz ließ alle Augen zu ihm wandern. Weder sah er entschlossen aus, noch klang er sonderlich kämpferisch. Doch trotzdem konnte man in seinem Gesicht ablesen, dass er längst eine Entscheidung getroffen hatte, von der er nicht mehr abzubringen war. „Dann komme ich mit“, sprach Kyoka ohne zu zögern und der junge Detektiv senkte seinen Kopf etwas. „Das wird sehr gefährlich werden. Ich will nicht, dass dir etwas-“ „Ich komme mit“, wiederholte das Mädchen noch eine Stufe bestimmter. „Wenn du gehst, gehe ich auch.“ Ein flüchtiges Lächeln legte sich auf Atsushis angespanntes Gesicht. Er wusste, dass er sie nicht davon abhalten konnte. „Einen Moment“, wandte der Chef ein. „Ich kann euch nicht einfach gehen lassen. Dazai hat Recht. So sehr ich auch an eure Stärke glaube, es ist zu gefährlich.“ Diese Worte ignorierend, setzte Atsushi sich in Bewegung und noch während er dies tat, griff Kyoka nach seiner Hand und ging mit ihm mit. „Dazai will nicht, dass ihr ihm folgt.“ Fukuzawa wurde lauter. Viel größer als sein Missfallen darüber, dass niemand mehr seinen Befehlen Folge leistete, war sein Unmut, dass er nicht an ihrer statt gehen konnte; er konnte sie nicht einmal aufhalten. Atsushi drehte sich ihm zu, bevor er die Tür erreichte. In seinem betrübten Blick regte sich langsam die Entschlossenheit. „Wir wollen auch nicht respektlos sein, aber …. Das Büro der bewaffneten Detektive hilft und beschützt Menschen, die in Gefahr sind. Wir sind bewaffnete Detektive, also tun wir jetzt genau das. Das verstehen Sie doch, oder, Chef?“ Fukuzawa hatte gerade einmal die Gelegenheit Atsushis Blick zu erwidern, ehe der Junge und das Mädchen den Raum verließen. Durch die geschlossene Tür konnten sie hören, wie er ihnen hinterher brüllte, zurückzukommen. Als eine letzte Bestärkung, dass sie das Richtige taten, schaute Kyoka zu Atsushi hoch und nickte entschlossen. Sie gingen los. Die beiden hatten gerade den Flur verlassen, als eine Frage des Mädchens sie jäh wieder innehalten ließ. „Wie kriegen wir heraus, wo Dazai hin ist?“ Verdammt!, fluchte Atsushi innerlich. Im Gegensatz zu Dazai hatten sie ja keine Ahnung, wo die Briten auf ihn warteten. Was sollten sie denn jetzt machen? „Ihr müsst hierhin.“ Ein Zettel, auf dem eine Adresse geschrieben stand, schob sich in Atsushis Blickfeld. Der Junge sah auf, um zu sehen, wer ihm das Stück Papier hinhielt. Es war Joyce - und er war offensichtlich nicht glücklich über die Entscheidung der Kinder, Dazai zu folgen. „Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Ihre Kameraden nicht zu Schaden kommen werden.“ Atsushi sprach mit gedämpfter Stimme und sah den Zettel an, ohne ihn zu nehmen. Joyce entfuhr ein schwermütiger Seufzer. „Darum geht es jetzt nicht mehr, Junge. Vielleicht kann eine verdorbene Seele nicht mehr gerettet werden. Aber vielleicht kann sie davon abgebracht werden, noch mehr Verderben zu bringen.“ Ohne weiteres Zögern nahm Atsushi nun das Papier entgegen und die Entschlossenheit, die Joyce in seinen Augen sah, als ihre Blicke sich trafen, ließ den Iren staunen. Schweren Herzens blickte er den zwei jungen Detektiven hinterher, als sie das Krankenhaus verließen. „Wir können das nicht den Kindern allein überlassen.“ Mit einem schwachen, fast traurigen Lächeln gesellte sich Wilde zu ihm. Niedergeschlagen schüttelte Joyce den Kopf. „Ich habe kaum noch Lehm übrig. Und selbst wenn … in einem Kampf wären wir Huxley und Barrie unterlegen.“ „Ja, schon“, wandte Wilde ein, „aber wenn wir den Kindern Hilfe schicken würden …?“ „Hilfe?“ Joyce hob gespannt eine Augenbraue. Das Lächeln des Dunkelhaarigen wurde wieder verschmitzt. „Du erinnerst dich an das Gerät, das Aldy entwickelt hat, um Telefonnummern von Handys in der eigenen Umgebung abzugreifen?“ Aus der Spannung wurde Argwohn. „Ja ... wieso?“ „Nun, als wir die zwei damals verlassen haben, hast du einige von Aldys Fernzündern samt Sprengsätzen mitgenommen, aber du warst nicht der einzige, der was hat mitgehen lassen.“ Mit einem spitzbübischen Grinsen hielt Wilde ein flaches, nur wenige Zentimeter großes, schwarzes Kästchen hoch. „Meinst du nicht auch, diese beiden würden sich eventuell einmischen?“ Baff stutzte Joyce. „Du hast …?“ „Ah huh.“ „Hmm“, machte der blonde Ire nachdenklich. „Diese beiden würden sich vielleicht tatsächlich einmischen.“ Kapitel 11: You lying, trying waste of space -------------------------------------------- „You lying, trying waste of space“   Placebo, „Song to say goodbye“   Mit Argusaugen beobachtete Chuuya das Öffnen des Containers in der Lagerhalle. Die ganzen Schwierigkeiten und Vorkommnisse in der letzten Zeit hatten diese Waffenlieferung zu einer lang ersehnten und dringend benötigten Aktion werden lassen, weswegen Mori nicht nur ihn, sondern zusätzlich noch Akutagawa zum Bewachen der Lieferung geschickt hatte. Es galt um jeden Preis zu verhindern, dass die Hafen-Mafia wieder in die dunkle Zeit zurückfiel, als ihnen sogar die Waffen auszugehen drohten. Chuuya war ein Meister darin, zu verdrängen, wieso dies damals der Fall gewesen war. Wenn er zu sehr darüber nachdachte, würde er auch über diesen nervtötenden, durchgeknallten, komplett bescheuerten Vollidioten Dazai nachdenken – und an den wollte er nun wirklich keinen Gedanken verschwenden. Nicht an diesen wahnsinnigen, unzurechnungsfähigen, gestörten Spinner, der zudem noch ein mieser, hinterhältiger, arglistiger Verräter war. Nein. An Dazai wollte er nun wirklich keinen einzigen Gedanken verschwenden. „Hey!“, meckerte Chuuya grantig, als er bemerkte, wie einige seiner Leute, die mit dem Ausladen beschäftigt waren, anfingen zu schwanken und sogar Kisten fallen ließen. „Was macht ihr da?! Was soll der Scheiß?! Passt gefälligst-“. Er hatte sich den Männern genähert und stoppte abrupt. Je näher er ihnen kam, desto merkwürdiger fühlte sich plötzlich sein Kopf an. Rasch ging er wieder auf Abstand. Hier war etwas in der Luft, aber was? Einige Meter von ihm entfernt stand Akutagawa und hustete. „Hier ist jemand“, grummelte er zwischen seinem Röcheln und ließ geschwind Rashomon angriffsbereit hinter ihm erscheinen. „Ist einer der Herren Chuuya Nakahara?“ Der Angesprochene und Akutagawa wirbelten zu der Stimme herum, die hinter ihnen erklungen war. Ein junger Mann stand dort, etwa in ihrem Alter. Er hatte rotbraunes Haar und ein Kurzschwert baumelte an seiner Hüfte. „Wer will das wissen?“, fauchte Chuuya bärbeißig. „Ah, dann sind Sie das?“, antwortete der Unbekannte und Chuuyas Stirn legte sich in Falten. Hörte er da einen Akzent raus? „In der Unterwelt Yokohamas erzählt man sich, es würde sich um einen schlecht gelaunten Wicht mit kurzer Zündschnur handeln.“ „WEN NENNST DU HIER WICHT, DU WICHT?!!!“ Der Hutträger aktivierte seine Fähigkeit und wollte auf den Mann losgehen, als dieser eiligst eine Art kleiner Fernbedienung hochhielt, die sich in seiner rechten Hand befand. „Sie wissen, was das ist?“, fragte er. Chuuya knirschte mit den Zähnen. „Eine Fernzündung? Wofür ist die?“ Der Unbekannte zeigte mit seiner anderen Hand hinter die beiden Mafiosi. „Was soll das heißen?!“, knurrte Akutagawa, der vor Zurückhaltung fast platzte. „Wer auch immer du bist“, sagte Chuuya überheblich, „du bist verdammt blöd. Du hast eine Sprengladung an unserem Container angebracht? Wie bist du überhaupt an den Wachen draußen vorbeigekommen?“ „Diese Wachen?“ Ein weiterer Mann, älter, aber ebenso mit Akzent, kam hinzu. Er hatte zwei bewusstlose Wachen im Schlepptau, die er unsanft auf den Boden fallen ließ. „Wir wollen lediglich ein paar Informationen, dann sind wir schon wieder weg.“ „Ich könnte ihnen die Hände abschlagen“, grummelte Akutagawa mehr zu sich selbst als zu den anderen. „Daran würden sie nicht unbedingt sterben.“ „Was für Informationen?“, hakte Chuuya genervt nach. „Wo finden wir Osamu Dazai?“, fragte der ältere Mann und erwischte den Rothaarigen damit kalt und auf dem völlig falschen Fuß. „Dazai?? Was wollt ihr denn von dem Spinner?!“ „Das ist unsere Sache. Sagen Sie uns einfach, wo wir ihn finden können.“ „Woher soll ich denn wissen, wo dieser Trottel steckt?!“, schimpfte Chuuya. „Hoffentlich irgendwo auf dem Grund eines Sees!!“ Der Jüngere der Ausländer stutzte. „Aber Sie gehören doch auch zur Hafen-Mafia, dann müssen Sie doch wissen-“ „Was heißt hier auch?? Der Mistkerl Dazai gehört zum lächerlichen Büro der bewaffneten Detektive! Belästigt die und nicht uns!!“ In dem Moment, in dem die beiden Unbekannten einen irritierten Blick austauschten, preschte Akutagawa mit Rashomon vor und brachte den zurückweichenden jungen Mann dazu, die Fernzündung fallen zu lassen, die durch Rashomon sogleich zerstört wurde. Im gleichen Augenblick ertönten hinter ihnen jedoch plötzlich Maschinengewehrsalven und Chuuya wirbelte erneut herum, um zu sehen, was nun schon wieder vor sich ging. Zwei Dutzend schwer bewaffneter Kinder mit unheimlichem Blick standen dort und schossen auf sie. Moment mal! Waren das die Waffen aus ihrer Lieferung?? Zudem bemerkte er, dass seine eigenen Leute kaum noch auf den Beinen waren und die, die es noch waren, waren in ihrer Reaktion so langsam, dass sie wie nichts über den Haufen geschossen wurden. Pfeilschnell hastete Chuuya zu seinen Leuten hin und fing die Kugeln mit einer Gravitationsveränderung ab. Gerade als Rashomon auf die beiden fremden Männer losgehen wollte, zückte der Ältere der Eindringlinge einen zweiten Fernzünder und drückte schnell auf den Knopf.   Mit Argusaugen beobachtete Chuuya das Öffnen des Containers in der Lagerhalle. Der anderen Lagerhalle. Die gewaltige Explosion hatte den Großteil der ersten Halle zerstört und sie war unbrauchbar geworden. Genauso wie die meisten der Waffen, die eigentlich in dieser Lieferung gewesen waren. Ein britischer Akzent. Chuuya war sich sehr sicher, dass die Typen britisch geklungen hatten. Der eine hatte etwas anders als der andere geklungen, aber insgesamt würde er sie als britisch einstufen. Mori war verständlicherweise nicht glücklich über das Geschehene, hatte zu dem Zwischenfall jedoch nur ein mysteriöses „Ist ja interessant“ abgegeben und sich laut gefragt, was diese Herren wohl von Dazai wollten. Gute Frage. Aber eigentlich, ermahnte Chuuya sich selbst, interessierte ihn das kein Stück. Weil dann würde er sich ja für Dazai interessieren und das tat er nicht. Was dieser unzurechnungsfähige, verlogene, hochmütige Dreckskerl trieb und mit wem er es sich aus was für Gründen auch immer verdorben hatte, war für ihn nicht von Interesse. Wenn man es genau betrachtete, war Dazai schuld an dem Verlust der Lieferung. Ja! Sie waren ja auf der Suche nach diesem Blödmann gewesen, also war es seine Schuld! Chuuya drängte den Wunsch beiseite, Dazai eine reinhauen zu wollen und konzentrierte sich wieder auf die Überwachung des Ausladens der Waffenlieferung. Ein lautes 'Klonk' von draußen ließen ihn und den einige Meter neben ihm stehenden Akutagawa wieder einmal aufgeschreckt herumwirbeln. „Ich sehe draußen nach. Du wartest hier.“ Mit diesem Befehl lief Chuuya aus der Lagerhalle hinaus. Waren diese Typen etwa noch einmal aufgetaucht? Vor den Toren der Halle angekommen, staunte der Rotschopf nicht schlecht. Seine Leute, die draußen als Wachen positioniert waren, waren unter einer riesigen tönernen Kuppel gefangen, welche an eine überdimensionierte Keramikschüssel erinnerte, die man auf den Kopf gestellt hatte. Seine Untergebenen konnte er darunter nur ausmachen, weil die mysteriöse Riesenschüssel sogar über solche gitterartigen Auslassungen an den Seiten verfügte wie man sie als Verzierungen auf Tonwaren kannte. „Was zur Hölle ist denn das?!“, schnaubte Chuuya. „Zur Seite!“ Er wartete, bis die Männer sich an eine Seite gedrängt hatte und begann, mithilfe der verstärkten Schwerkraft gegen die Kuppel zu treten. Das Ding war verdammt widerstandsfähig. Selbst nach mehreren Tritten hatte es gerade mal ein paar kleine Risse bekommen. „Verzeihung, Herr Nakahara?“ Eine Stimme ließ ihn innehalten. Wutentbrannt drehte er sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Ein blonder Mann in einem Kurzmantel stand dort. „WAAAS?!“ Noch so'n Typ?? Was war denn hier in letzter Zeit los? „Guten Abend, mein Name ist Joyce. Ich sehe, Sie sind beschäftigt, deswegen will ich Sie auch gar nicht lange aufhalten. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich einen Herrn Osamu Dazai finde?“ Eine Vene trat bei der Erwähnung dieses Namens an Chuuyas Stirn hervor und bevor der blonde Mann sich versah, ging Chuuya auf ihn los. Joyce reagierte schnell, griff in seine Manteltasche und zog von dort etwas heraus, was er in die Luft warf, während er dabei rief: „Fähigkeit: Clay!“ 'Klonk!' Eine zweite Vene bildete sich auf der Stirn des Rothaarigen, als eine scheinbar aus dem Nichts erschienene, weitere Tonkuppel auf ihn fiel und ihn in Nullkommanichts darunter einschloss. „WHAAAAA! WAS SOLL DER SCHEISS??!!“ „Wenn Sie mir einfach nur meine Frage beantworten würden, würde ich diese Unannehmlichkeit sich wieder in Luft auflösen lassen.“ Der Mann kam näher. „Was will in letzter Zeit jeder was von diesem Spinner?? Lasst mich doch mit Dazai in Ruhe!!“ „Ah“, machte Joyce perplex und wurde sehr ernst, „dann war vor uns schon einmal jemand hier, um nach Osamu Dazai zu fragen?“ Chuuya stutzte. Uns? Mit einem Mal hörte er den Krach aus dem Inneren der Lagerhalle.   „Aber, aber, Gothic-Boy!“ Wilde stürzte beinahe von seinem Platz oben auf dem Container, als er Rashomon haarscharf auswich. „Das würde ich lassen, nachher kommt noch jemand zu Schaden.“ Zu Akutagawas Unglauben zog der plötzlich aufgetauchte Brünette eine Fernzündung aus seiner Tasche und fuchtelte mit dieser für ihn gut sichtbar herum. Dieser nervige Kerl war über das Dach hineingekommen und war geschwind auf den Container geklettert. Akutagawa kniff zornig die Augen zusammen. Das war doch die gleiche Fernbedienung wie die dieser Briten. „Ah, hab ich deine Aufmerksamkeit?“, flötete Wilde vergnügt. „Du hast sicher schon eine Ahnung, dass das hier“, er fuchtelte von neuem mit dem Fernzünder herum, „zu einer Sprengladung gehört, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht, irgendwo in dieser Halle versteckt ist.“ Man konnte hören, wie der Mafioso seine eigenen Zähne zermalmte, während er Rashomon langsam zu sich zurückzog und den anderen Männern ein Zeichen gab, nicht auf den Unbekannten zu schießen. Chuuya hatte ihn eindringlich gewarnt, dass sie nicht noch eine Waffenlieferung verlieren durften. „Es geht auch ganz schnell“, sprach Wilde weiter. „Erstens, muss ich dich für deinen Gothic-Style loben; der steht dir unfassbar gut! Gibt nicht viele, die so etwas tragen können.“ Akutagawa stellte sich vor, dem Kerl die Zunge herauszureißen. „Zweitens, wärst du so lieb und würdest mir ganz flink verraten, wo ich Osamu Dazai finden kann?“ „Dazai?“, stutzte der Mafioso. „Ihr wollt auch etwas von Dazai?“ „Oh“, sein Gegenspieler machte große Augen, „dann waren die anderen schon hier gewesen, ja? Hmm, hab ich mir gedacht. Also, wie sieht es aus, Gothic-Boy? Wo finde ich diesen Dazai?“ „Wir haben euren feigen Freunden schon erklärt, dass ihr wegen Dazai das lächerliche Büro der bewaffneten Detektive belästigen sollt“, antwortete Akutagawa, sichtlich Mühe habend, die Ruhe zu bewahren. Wilde legte den Kopf schief. „Wie? Dieser Dazai ist gar nicht mehr bei der Hafen-Mafia?“ In diesem Augenblick fiel Akutagawa etwas auf. Wenn es eine Sprengladung gab, dann konnte sie nicht im oder am Container sein, da der nervige Typ sich ja damit selbst in die Luft sprengen würde. Noch bevor er diesen Gedanken vollkommen zu Ende gedacht hatte, ließ Akutagawa Rashomon auf ihn losstürmen. Geistesgegenwärtig sprang Wilde auf den Dachbalken zurück, über den er ursprünglich hinein gekommen war. „Hey! Gothic-Boy! Das ist aber nicht nett!“ Rashomon wollte gerade den Dachbalken zerschmettern, als Wilde den Knopf auf dem Fernzünder drückte und mit einem Mal mehrere bereits aus dem Container ausgeladene Kisten explodierten und die Halle in dichten Rauch hüllten.   Kurz nachdem er die Explosionen gehört hatte, gelang es Chuuya endlich, sich mithilfe seiner Fähigkeit aus seinem Gefängnis zu befreien. Joyce hatte dies bereits kommen sehen und war auf Abstand gegangen. „Uuuui, was für ein brachialer Typ“, flötete plötzlich ein weiterer Mann, der angelaufen kam und zu Chuuya blickte. „Wilde“, begrüßte Joyce ihn kopfschüttelnd, „das ist wohl nicht so glatt gelaufen, oder?“ „Gothic-Boy war gemein zu mir“, jammerte der Angesprochene. Chuuyas Venen pulsierten auf das Heftigste. „Glaubt ihr, ihr könnt euch mit der Hafen-Mafia anlegen und dann einfach damit davonkommen?!“ „Wow.“ Wilde starrte den Rotschopf mit großen, funkelnden Augen an. „WAS?!“ „Du hast echt total das Gesicht für diesen Hut.“ „Häh?“ Chuuya blinzelte ihn verdattert an, ehe sein letzter Millimeter Geduldsfaden riss. WAS WAREN DAS DENN FÜR SPINNER?! „Ich glaube, wir gehen besser.“ Joyce nahm wieder etwas aus seiner Manteltasche (ein Klumpen Lehm? War das Lehm?), warf es in die Luft und bevor Chuuya auch nur blinzeln konnte, fand er sich unter einer weiteren Kuppel wieder.   Irisch. Der Akzent der beiden anderen Trottel hatte Irisch geklungen. Chuuya stöhnte innerlich, als er an diesen Vorfall vor nicht allzu langer Zeit zurückdachte. Was hatte er beim Boss dafür zu Kreuze kriechen müssen! Immerhin war bei dieser Aktion ein nicht ganz so großer Teil der Waffen vernichtet worden, aber immer noch zu viele. Und Akutagawas Laune war seitdem auch im Keller. Also, noch mehr als sonst sowieso schon. „Was glaubst du, wollen die von Dazai?“, hatte Chuuya ihn wider besseren Wissens gefragt. Es interessierte ihn doch nicht. NICHTNICHTNICHT! „Eine alte Rechnung?“, hatte Akutagawa ungerührt gemutmaßt. „Ja. Gut möglich. Feinde hat er genug.“ Chuuya gab es nicht gerne zu, aber diese Briten und diese Iren schienen verdammt stark zu sein. Und verdammt gefährlich. Wenn die es alle zur gleichen Zeit auf Dazai abgesehen hatten, dann würde selbst dieser neunmalkluge Bastard ins Schwitzen geraten. Geschah ihm recht. Die Briten waren seitdem nicht mehr aufgetaucht, nur die Iren trieben sich hin und wieder noch in der Speicherstadt herum und belästigten alle Mitglieder der Hafen-Mafia, denen sie begegneten mit Fragen über Dazai. Ob sie ihn kannten, was sie von ihm hielten …. Was bezweckten sie damit? Die Iren waren auf jeden Fall gekonnt darin, wieder so schnell zu verschwinden wie sie aufgetaucht waren, sobald es brenzlig wurde. Irgendwoher hatten sie wohl tatsächlich schon einige Antworten erhalten, denn ihre Fragen waren mit der Zeit spezifischer geworden, soweit Chuuya dies mitbekommen hatte (um ihn und Akutagawa machten sie einen Bogen – ganz lebensmüde waren sie wohl nicht). Doch Chuuya hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass sie eh bei ihrem ersten Erscheinen schon so einiges gewusst hatten, besonders darüber, dass ihn und Akutagawa etwas mit Dazai verband, sonst wären sie nicht bei ihnen aufgetaucht. Vielleicht, dachte sich Chuuya, als er nach einem langen Arbeitstag endlich im Bett lag und müde die Augen schloss, vielleicht trachteten diese Leute Dazai tatsächlich nach dem Leben. Vielleicht hatte auch er endlich mal Glück.   „Was machst du da, du Spinner?“ Mit skeptischer Miene betrachtete Chuuya Dazai. Der Trottel war inmitten der Schneeschauer stehen geblieben, hatte den Kopf gen Himmel gereckt und den Mund geöffnet. „Ich probiere den Schnee“, gab der Brünette genervt zurück, als wäre seine Aktion selbstverständlich und die Frage des Kleineren somit nichts Anderes als überflüssig. „Und warum tust du das?“ „Tsk.“ Dazai ließ den Kopf sinken und fasste sich tief seufzend mit einer Hand daran, als hätte der Rotschopf gerade etwas unfassbar Dämliches gesagt. „Das ist eine wirklich dumme Frage, Chuuya.“ „IST ES NICHT, DU SPATZENHIRN!!“ „Wenn überhaupt bist du das Spatzenhirn, weil DU die dummen Fragen stellst.“ Es war immer das Gleiche mit ihm. Chuuya versuchte, nicht auszurasten. Dazai hatte es sich zum Ziel gesetzt, ihn in den Wahnsinn zu treiben und er würde den Teufel tun und auf jede Provokation gleich anspringen. „Können wir jetzt weitergehen?“ Während Chuuya sprach, hörte man sein Zähneknirschen heraus. Nicht. Aus. Ras. Ten. Anstatt zu antworten, legte Dazai seinen Kopf wieder in den Nacken und blickte erneut zum Himmel empor. Er stand völlig regungslos da, während der Schnee um ihn herumtanzte, sich auf ihm niederließ und seine braunen Locken mehr und mehr bedeckte. „Hey. Hey!“, fuhr Chuuya ihn mit wachsender Ungeduld an. Wenn der Spinner hier zur lebendigen Schneeskulptur werden wollte, konnte er das ja gerne tun, aber er selbst hatte da keine Lust drauf. „Es ist seltsam, oder nicht?“, sagte Dazai mit beinah entrückt klingender Stimme und ließ Chuuya damit aufhorchen. Immer wenn Dazai so klang, dann rutschte er wieder in eine seiner Phasen ab. Eine von denen, die Chuuya einen unheimlichen Schauer über den Rücken jagten, weil sie seinen unfreiwilligen Partner so unberechenbar machten. Für ihn war es alltäglich, dass Dazai eine Gefahr für andere war, aber richtig schlimm wurde es immer dann, wenn er zu einer Gefahr für sich selbst wurde. „Was ist seltsam?“ „Im Grunde genommen ist Schnee nur gefrorenes Wasser und doch ist er ganz anders als Regen. Die Menschen nehmen den Schnee anders wahr als den Regen. Meinst du, der Regen würde den Schnee als seinesgleichen akzeptieren? Würde eine einzelne Schneeflocke sich in einer Regenschauer einsam fühlen?“ Chuuya schaute in die herabfallenden Schneeflocken hinauf – und doch war ihm bewusst, dass er dort nie das sehen würde, was Dazai in diesem Augenblick dort sah. Seine Augen wanderten wieder zu dem Dunkelhaarigen. „Es ist beides nur Niederschlag, Dazai. Weder Schnee noch Regen haben Gefühle. Es ist also unsinnig, sich darüber Gedanken zu machen.“ Stille legte sich über sie. Dann senkte Dazai bedächtig seinen Kopf und starrte gen Boden. „Ja“, sagte er enttäuscht. „Natürlich.“ „Außerdem“, ergänzte Chuuya, nicht wissend, warum er dies ergänzte, denn es konnte ihm doch egal sein, ob der Andere enttäuscht klang oder nicht, „ist es unwahrscheinlich, dass nur eine einzelne Schneeflocke vom Himmel fällt. Da müssen irgendwo auch andere sein und dann ist sie nicht einsam.“ Erneute Stille legte sich über sie. Dann – ganz plötzlich – hob Dazai seinen Kopf, sah den Rothaarigen unaufgeregt an und setzte sich in Bewegung. „Lass uns gehen. Es ist kalt. Und auf deinem Hut türmt sich schon der Schnee. Nicht dass dein Spatzenhirn noch einfriert.“   Verdattert schreckte Chuuya aus dem Schlaf hoch. Was in aller Welt …?? Wieso hatte er denn jetzt von dieser uralten, ewig zurückliegenden Episode aus seiner Zeit mit Dazai geträumt? Dieser verfluchte Dazai!! Jetzt träumte er schon von ihm!! Wütend schlug der Mafioso mit einer Faust gegen die Wand, an der sein Bett stand und haute damit ein Loch in die Wand. Sollten sie Dazai doch abmurksen, Hauptsache sie ließen ihn damit in Ruhe!!   Alles andere als aufmerksam beobachtete Chuuya das Ausladen der neusten Lieferung an diesem Abend. Natürlich beschäftigten ihn diese Gerüchte, die er gehört hatte, nur, weil das Büro der bewaffneten Detektive ihre erklärten Todfeinde waren und nicht, weil er sich fragte, ob das etwas mit diesem hassenswerten, albernen, dämlichen Vollpfosten zu tun hatte. „Hast du diese Gerüchte gehört?“, fragte er den gerade eingetroffenen Akutagawa so beiläufig wie möglich. „Die Gerüchte?“ Er hustete. „Über die Angriffe auf diese Ärztin und diesen selbsternannten Meisterdetektiv?“ „Außerdem soll eine Bombe am Bezirksgericht hochgegangen sein. Und irgendwas soll auch in einem Krankenhaus vorgefallen sein.“ „Der Menschentiger und Kyoka vermuten, das habe mit Dazai zu tun“, antwortete Akutagawa, ebenso schwer um Beiläufigkeit bemüht. Chuuya hob kritisch eine Augenbraue. „Wann hast du denn mit denen geredet?“ Unwillig zuzugeben, dass die Detektive in seinem Schlafzimmer gelandet waren, entgegnete er grummelnd: „Eine flüchtige Begegnung heute Nachmittag.“ „Aha“, machte der Ältere skeptisch. „Also wahrscheinlich die Typen, die letztens nach Dazai gefragt haben.“ „Wahrscheinlich.“ „Zum Glück ist der Spinner nicht mehr bei uns, sonst hätten wir jetzt den Ärger am Hals.“ Bevor Akutagawa antworten konnte, klingelte plötzlich sein Handy und er ging ran. „Gothic-Boy!“, tönte es fröhlich aus dem Telefon und Akutagawas Blutdruck ging sofort rasant durch die Decke. „Woher habt ihr Ungeziefer diese Nummer??!!“ „Stell auf Lautsprecher“, befahl Chuuya ihm umgehend. „Ah~, Herr Hutgesicht ist auch da? Das ist ja wundervoll!“, flötete es aus dem Handy. Herr … Hutgesicht? Die Augen des Rothaarigen begannen, unwillkürlich zu zucken. Wieso zur Hölle riefen diese Iren Akutagawa an?? „Verzeihen Sie die Störung“, meldetet sich Joyces Stimme zu Wort, „wir rufen wegen einer wichtigen Sache an, die Herrn Osamu Dazai betrifft.“ Dazai. Chuuyas Zähne knirschten erneut gefährlich aufeinander. „Wir haben euch gesagt, dass wir mit diesem Dreckskerl nichts zu tun haben!!“ „Wir dachten“, sprach Joyce unbeirrt weiter, „es würde Sie vielleicht interessieren, wenn Herr Dazai in wirklich großen Schwierigkeiten steckte.“ „NEIN! KEIN INTERESSE!“, brüllte Chuuya so laut, dass selbst Akutagawa angesichts der Lautstärke ein wenig das Gesicht verzog. „Es würde Sie also nicht interessieren, wenn Herr Dazai heute noch umgebracht würde?“ Der Hutträger stutzte. So wie Joyce dies sagte, klang es so definitiv, so unabwendbar, wie eine unausweichliche Tatsache. „Niemand kann Dazai so einfach töten“, schaltete Akutagawa sich in das Gespräch ein. „Oh, doch“, entgegnete Wilde, „wir sind uns ziemlich sicher, dass unsere früheren Kollegen ihn heute Nacht erledigen werden. Kein Zweifel.“ „Tsk“, entfuhr es Akutagawa übellaunig. „Wie gesagt, es ist nicht unser Problem“, erwiderte Chuuya und war bereits im Begriff, sich von dem Telefon abzuwenden. „Sollen sich seine tollen Freunde aus der Detektei damit befassen.“ „Hmm, ja, verstehe“, sagte Wilde verständnisvoll, „dann verhält es sich mit der Hafen-Mafia wohl wirklich so, wie dieser Dazai gesagt hat.“ „Was hat er gesagt??“ Chuuya stand wieder direkt neben Akutagawa. „Na ja, nichts weiter, nur“, erklärte Wilde, „dass bei der Hafen-Mafia eben nur Feiglinge arbeiten würden, die es eh mit keinen starken Gegnern aufnehmen könnten und dass dies besonders zuträfe auf diesen einen Typen aus der Führung, dem keine Hüte stehen würden – oh! Herrje, meinte er etwa dich, Herr Hutgesicht?“ „GRRRRRRRRRRRRRRR“, war der einzige Laut, der über Chuuyas Lippen kam. „Dann erzähl ich lieber nicht, was er noch alles gesagt hat, weil da war ja wirklich nichts Nettes dabei“, log der dunkelhaarige Ire fröhlich weiter, „auch die Sachen, die er über Gothic-Boy gesagt hat – uiuiuiuiui. So was Beleidigendes hab ich noch nie gehört.“ Die Zornesfalten auf Akutagawas Stirn vertieften sich so sehr, dass sie fast zu Gräben wurden. „Nur für den Fall, dass Sie jetzt Interesse daran haben, der Hinrichtung von Herrn Dazai beizuwohnen“, fügte Joyce hinzu, „ich schicke Ihnen gerne die Adresse.“ Die Iren legten auf und eine Sekunde später erschien die Nachricht auf dem Display von Akutagawas Handy. Die zwei Mafiosi starrten einen nicht unerheblich langen Moment schweigend auf den Bildschirm. Chuuya durchbrach die Stille mit einem abschätzigen Geräusch. „Pah! Wenn die Recht haben, wird es ja heute Nacht noch einen Grund zum Feiern geben!“ Er drehte sich schwungvoll um und ging von dem Jüngeren weg. „Erst einmal wartet auf uns noch eine Menge Arbeit. Ich gehe zum Hafen zurück und überwache das Abladen des zweiten Containers. Du passt hier auf.“ Was war das nur für ein nerviges Geräusch, dachte Chuuya, während er schnellen Schrittes die Lagerhalle verließ und schließlich den Weg zum Hafen einschlug. Oh. Es waren seine knirschenden Zähne. Wegen dieses verdammten Dazais rieb er sich noch seine hübschen Beißer kaputt!! Er hätte den Iren noch sagen sollen, dass sie ihm Bescheid geben sollten, sobald Dazai tatsächlich das Zeitliche gesegnet hatte. Ja! Dann würde er sich einen guten, ach was, einen verdammt guten und verdammt teuren Wein aufmachen und sich selbst zuprosten! Wenn die Briten ihm diesen Gefallen täten, dann könnte er auch den Ärger vergessen, den er ihnen zu verdanken gehabt hatte. Eine Welt ohne Dazai! Was für ein Segen das für ihn wäre! Dieser Mistkerl hatte ihn hereingelegt, benutzt, hintergangen, wie oft beleidigt, diffamiert, bloßgestellt und versucht zu töten. Nur um dann aus dem Nichts zu verschwinden, sich den bescheuerten bewaffneten Detektiven anzuschließen und bei ihnen diese lächerliche Gutmenschnummer abzuziehen! Wie dumm waren die eigentlich, dass sie auf ihn hereinfielen? Oder … hatte Dazai sich wirklich geändert? Wenn dem der Fall war, wieso hatte Dazai sich dann so plötzlich ändern können? Wieso konnte er sich für diese Detektive anscheinend zusammenreißen und ein geringeres Arschloch sein? Wieso hatte er ihm das Leben zur Hölle machen müssen? Wieso machte er ihm immer noch das Leben zur Hölle? Wieso? Wieso? Wieso?! Seine Schritte stoppten abrupt. Nein. Irgendwelche dahergelaufenen Briten hatten gar nicht das Recht, Dazai umzubringen. Das hatte nur er. Er, der schon so viel und so lange unter ihm hatte leiden müssen. Nur er durfte Dazai töten. Chuuya machte kehrt. Kapitel 12: Because a heart that hurts is a heart that works ------------------------------------------------------------ „Because a heart that hurts is a heart that works“   Placebo, „Bright Lights“   Dazais Schritte trugen ihn durch die stille und spärlich beleuchtete Straße, die hinauf zu seinem Zielort führte. Der Großteil der alten Residenzen, die in dieser Straße standen, war irgendwann aufgegeben und sich selbst überlassen worden. Hausruine reihte sich an Hausruine und Dazai versuchte, sich an Details zu dem Anwesen zu erinnern, das er gerade suchte. Ein Zaun. Da war doch ein hoher Zaun gewesen. Wohin er musste, hatte ihm bereits zu dämmern begonnen, als er Barries Stimme durch Kunikidas Telefon gehört hatte. Der Akzent war leicht zuzuordnen gewesen. Das vierte Kind. Das Kind, das er damals versäumt hatte zu suchen. Wenn ich ihn damals erledigt hätte, wäre es jetzt nie zu den Angriffen auf die anderen gekommen, kam es ihm in den Sinn und er schüttelte - leicht gequält grinsend - den Kopf. Oje. Wenn Kunikida diesen Gedanken gehört hätte, hätte es ein mächtiges Donnerwetter gegeben. Und auch der Chef wäre vermutlich nicht so angetan von dieser Art, die Dinge zu betrachten. Und Atsushi … Atsushi würde ihn wieder mit diesen vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen anstarren und vielleicht, vielleicht sogar wahrscheinlich, würde selbst Atsushi ihm dafür eine runterhauen. Er war vermutlich selbst schuld daran, dass diese Angelegenheit den Jungen so mitnahm. Atsushi war eine unschuldige, manchmal recht unbedarfte, treuherzige und stets integre Seele und Dazai war sich inzwischen vollends bewusst, was der Jüngere in ihm sehen wollte. Er hätte an irgendeinem Punkt mal eingreifen und Atsushis Sicht auf ihn geraderücken müssen – doch er hatte es bisher immer unterlassen. Oder sich zumindest sehr wenig Mühe damit gegeben, die Verehrung des Jungen für ihn zu unterbinden. Deswegen traf sie ihn jetzt so hart; die Erkenntnis, wer Dazai früher gewesen war. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Egal, in welche Richtung. Sie blieb immer unveränderlich gleich, ungeachtet der Dinge, die man in der Gegenwart tat. So gesehen war auch Barries Rache sinnlos, aber Dazai konnte erkennen, warum er dies tat. Sich so zu fühlen, so verzweifelt, so allein gelassen, so von der Welt verraten; es war menschlich, nicht wahr? Zumindest bis zu einem gewissen Punkt war es menschlich – und diesen hatte Barrie mit den Angriffen auf die Detektei längst überschritten. Dazai blieb vor dem umzäunten Anwesen stehen und musterte es einen Moment lang. Das Dach der Residenz war zum Teil eingefallen, auch klafften hier und da Löcher in den Außenwänden. Überall wucherten Hecken, Sträucher und Unkraut. An der Vorderseite, wo er sich gerade befand, fehlten Teile des Zauns, wie zum Beispiel die Tür, sodass Dazai einfach bis zum Eingang weitergehen konnte. Kein anderes Haus in der Straße sah so verlassen aus wie dieses hier. Vermutlich stand es schon leer, seit seine damaligen Bewohner ermordet worden waren. Dazai drückte die halb aus den Angeln hängende Eingangstür beiseite und ließ sich selbst in das Innere des Hauses hinein. Hier war alles dunkel und bis auf ein ab und an hörbares Rascheln, das wahrscheinlich von Mäusen oder Ratten kam, die sich hier eingenistet hatten, herrschte eine unheimliche Stille. Dazai wusste, wohin er musste. Die papierenen Wände, die zum Garten hinaus führten, waren alle noch intakt, aber sie ließen die faden Lichtschimmer, die draußen loderten, ins Innere durchscheinen. Er öffnete die Schiebetüre, die in den Garten führte und schloss sie wieder hinter sich, ehe er gemächlich und in aller Ruhe von der Veranda auf das Grün schlenderte – den dort im Lichtschein der Steinlaternen in wenigen Metern Entfernung wartenden Barrie nicht aus den Augen lassend. Dazai blieb mit dem Rücken zum Haus stehen. Alles außerhalb des durch die Steinlaternen erhellten Lichtkreises lag in absoluter Finsternis. Er konnte nicht ausmachen, wo Huxley sich wohl versteckte und jeder falsche Schritt hier würde höchstwahrscheinlich in eine Falle führen. Mit dem Rücken zum Haus hätte er in einem Kampf zwar wahrlich die schlechtere Position, aber da auch er in dieser Dunkelheit nichts sehen konnte, war dies zugleich auch sein einziger erreichbarer Rückzugsweg. Auf gut Glück im Dunkeln die Tür suchen, die aus dem Garten führte, kam nicht in Frage. Bei dem verwahrlosten Zustand des Anwesens war dieser Weg sowieso sehr wahrscheinlich versperrt. „Du bist also tatsächlich gekommen.“ Der junge Schotte sprach ruhig und sah seinen Gast unaufgeregt an, während er sich nicht von Ort und Stelle rührte. Er hatte nicht einmal sein Schwert gezogen, sondern die Arme vor der Brust verschränkt. Der Brünette zuckte mit den Schultern. „Wenn man mich so dringlich einlädt.“ Ein süffisantes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Wobei es mir lieber gewesen wäre, ihr hättet die Einladung direkt an mich geschickt, statt sie so umständlich über die anderen Mitglieder der Detektei zu schicken.“ Auch Barrie zuckte mit den Schultern. „Das ging leider nicht anders.“ „Oh ho, na, da bin ich aber auf die Erklärung gespannt.“ Dazai klang beinah belustigt. „Ursprünglich hatte ich wirklich nur dich töten wollen“, erklärte Barrie freimütig. „Doch dann erfuhr ich hier, dass du nicht wie erwartet ein kaltherziger Mafioso bist, der ohne jegliche Bindung zu anderen Menschen in der Dunkelheit vor sich hin vegetiert, sondern nun ein Teil dieses Büros der bewaffneten Detektive bist und das hat mich meine Pläne ändern lassen.“ „Hah“, machte Dazai spöttisch, „ich würde mich ja für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, wenn ich nicht so wahnsinnig sauer darüber wäre, dass ihr Unbeteiligte da mit hinein gezogen habt. Warum hat der Umstand, dass ich zum Büro der bewaffneten Detektive gehörte, deine Pläne über den Haufen geworfen und dich so überreagieren lassen?“ Sichtlich gereizt durch diesen Kommentar löste Barrie die Verschränkung seiner Arme auf und ballte seine Hände zu Fäusten. „Du solltest deine Zunge im Zaum halten. Was bildest du dir ein von einer Überreaktion zu reden?“ Sogleich schüttelte Dazai den Kopf. „Wir können uns gerne über Semantik streiten, aber eine Frage bleibt dabei noch unbeantwortet: Es hätte schließlich immer noch gereicht, nur mich anzugreifen oder auch nur einen einzigen aus der Detektei, um auf euch aufmerksam zu machen. Aber du sprichst davon, dass es nicht anders ging, als sie anzugreifen. Also, warum musstet ihr sie alle verletzen?“ „Das ist dir nicht klar?“ Der Schotte wurde wieder etwas ruhiger und ein selbstgefälliges Grinsen kroch über sein Gesicht. „Wie enttäuschend. Die ganze Unterwelt Yokohamas, die übrigens sehr gerne über die Detektei und ihre Mitglieder spricht, wenn man sie nur höflich und mit etwas Nachdruck fragt, hat angsterfüllte Lobreden auf deine Intelligenz gehalten.“ Dazai stutzte, ehe seine Mimik sich verfinsterte. „Meinetwegen. Ihr habt sie meinetwegen so zugerichtet. Weil sie meine Kollegen sind.“ Erneut zuckte Barrie mit den Schultern. „Eine einfache Lektion, die ich im Leben gelernt habe. Sie hatten sich mit dir eingelassen und du hast sie dadurch in Gefahr gebracht. Eine absurde Version von Ursache und Wirkung. So wie meine Mutter und meine Geschwister nichts mit den Geschäften meines Vaters zu tun hatten und trotzdem deswegen sterben mussten.“ „Mit anderen Worten: Du bist nicht besser als ich“, konterte Dazai scharf. Mit einem Mal verengten sich die Augen des Schotten vor Zorn. „Was für ein arroganter Mistkerl du bist. Ich habe niemanden aus der Detektei umgebracht, oder? Sicher, sie sind verletzt, aber keine der Wunden oder Vergiftungen war sofort fatal. Wenn sie nicht überleben, ist es nicht meine Schuld. Also sag nicht noch einmal, dass ich eine so bösartige und herzlose Kreatur wie du wäre.“ „Ah, es stimmt also, was man sagt.“ Dazai machte eine kurze, aber bedeutungsschwere Pause. So besessen, dachte er währenddessen, war Barrie von dem Wunsch, ihn zu töten, dass es dem Schotten nicht auffiel, dass er selbst zu einer Version desjenigen geworden war, den er so sehr verabscheute. „Ein Mensch, der sein Leben der Jagd von Dämonen widmet, bemerkt es nicht einmal, wenn er irgendwann selbst zum Dämon wird.“ „Tsk“, machte Barrie abschätzig. „Klopf ruhig kluge Sprüche. Von deinem hohen Ross glaubst du ja eh, du könntest die Welt täuschen, indem du einfach den Arbeitsplatz wechselst. Jemand abgrundtief Böses wie du versteht das Ausmaß seiner eigenen Untaten nicht einmal! Die Welt hat deine Sünden nicht vergessen und sie wird erst ein besserer Ort werden können, wenn du von ihr verschwunden bist.“ Dazai seufzte übertrieben laut und warf in einer beinah theatralischen Geste den Kopf in den Nacken, bevor er wieder zu seinem Gegenüber sah und erneut süffisant grinste. „Dann wirst du diese Welt von mir befreien? So viel Aufwand, um jemanden zu töten, der sowieso sterben will.“ Es irritierte Dazai ein wenig, dass Barrie nun einfach anfing, zu lachen. Er hatte immer noch nicht ganz herausfinden können, wie genau die Briten ihre Mission nun zu Ende bringen wollten. Er sollte sterben, so viel war klar. Da sich seine und Barries Denkweisen so ähnelten, wusste er, dass seine Gegenspieler noch etwas vorhatten. Und aller Wahrscheinlichkeit nach hatte es zu tun mit- „Keine Sorge“, antwortete der Schotte schließlich, „heute Nacht werden wir alle befreit werden. Aber erst … ah!“ Er hielt inne, als würde er etwas bemerken. „So was … sie kommen tatsächlich. Die zwei, die noch fehlten.“ Ach, Atsushi, dachte Dazai zeitgleich innerlich seufzend und grinsend, manchmal bist du schon ein wenig arg berechenbar.   „Hier muss es irgendwo sein.“ Atsushi sah von dem Zettel, den Joyce ihm gegeben hatte, wieder hoch und blickte in die dunkle Straße voller verlassener, alter Häuser. Immerhin weigerten sich noch einige der in die Jahre gekommen Straßenlaternen, ihren Geist endgültig aufzugeben und spendeten noch ein schwaches, flackerndes Licht, ohne das sie in der angebrochenen Nacht ziemlich im Dunkeln tappen würden. „Das scheint ein sehr alter Teil der Stadt zu sein“, bemerkte Kyoka. „Wahrscheinlich sind die meisten Menschen hier weggezogen, weil er so abgelegen vom Stadtzentrum ist.“ „Jetzt müssen wir nur noch das richtige Grundstück finden.“ Sie schritten weiter die Straße entlang und Atsushi hoffte inständig, dass die unheimliche Stille, die hier herrschte, nicht bedeutete, dass sie bereits zu spät waren. Natürlich setzte er darauf, dass ein Fuchs wie Dazai sich nicht so einfach töten ließ, aber … dann wiederum gab es den schwerwiegenden Umstand, dass eben dieser Dazai auch nicht allzu sehr an seinem Leben hing. Atsushi tat sein Bestes, um den Gedanken beiseite zu schieben, doch er drängte sich ihm immer wieder auf: Wollte Dazai alleine herkommen, um zu sterben? „Atsushi!“, rief Kyoka plötzlich warnend aus. Hinter dem Jungen tauchte aus dem Nichts ein Dutzend mit Maschinengewehren bewaffneter Kinder auf, die direkt das Feuer auf die zwei Detektive eröffneten. Während Kyokas Weißer Dämonenschnee die Salven abblockte, aktivierte Atsushi seine Fähigkeit, um blitzschnell das Mädchen zu packen und mit ihr außerhalb der Reichweite der Gewehre zu sprinten. Was waren das für Kinder? Sie hatten einen vollkommen leeren Blick, als würden sie ins Nichts starren und doch verfolgten ihre Augen sie unnachgiebig. Waren das etwa …? „Das muss die Fähigkeit sein von der Wilde erzählt hat“, sagte Kyoka. „Die Lost Boys. Das heißt, diese Kinder sind bereits tot und wir müssen uns nicht zurückhalten.“ Bei ihren nüchtern vorgetragenen Worten stockte Atsushi. „Ja, aber … sie sind trotzdem Kinder.“ Ungeachtet seines Einwands stürzte sich Weißer Dämonenschnee auf die Kinder und begann, eins nach dem anderen zu zerteilen. „Sie sind bereits tot“, wiederholte Kyoka. „Mir gefällt das auch nicht, aber wenn wir nichts tun, werden sie uns töten.“ Atsushi biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte Recht. Plötzlich spürte der silberhaarige Junge weitere Präsenzen aus dem Nichts auftauchen. Drei Dutzend Kinder standen nun an der Stelle, an die sie vor den anderen geflüchtet waren. Sie hatten immerhin nicht alle Maschinengewehre, doch bewaffnet waren sie trotzdem auf irgendeine Weise. Schwerter, Äxte, Pfeil und Bogen, es war nichts dabei, mit dem man nicht irgendwie angreifen konnte. Zudem erschienen noch einmal gut zwanzig weitere Kinder hinter ihnen. „W-wie, wie viele sind das denn?“ Atsushi besah sich vollkommen entgeistert die schier endlose Masse an untoten Kindern. „Es werden immer mehr.“ Kyoka sah sich fahrig um. Sie waren zu allen Seiten von Dutzenden der Lost Boys umzingelt. Doch noch wurden sie nicht angegriffen. „Also dann“, schallte Barries Stimme aus nicht allzu weiter Entfernung zu ihnen herüber, „Atsushi Nakajima und Kyoka Izumi, euer Leben liegt gerade in den Händen eures herzlosen Kollegen. Er darf jetzt die Entscheidung treffen, ob er oder ihr sterben sollt!“ Die zwei Detektive drehten sich hastig zu der Richtung, aus der die Stimme kam, herum. Allerdings konnten sie nicht auf das Grundstück sehen, die Hecken und der Zaun versperrten ihnen die Sicht. „Öhm“, vernahmen sie Dazais flapsigen Kommentar, „also eigentlich Ex-Kollegen. Ich habe nämlich heute gekündigt.“ Das ist doch jetzt total unwichtig, wollte Atsushi einwerfen, ließ es aber. Tief im Innern war er erleichtert, dass sein Mentor noch lebte. „Das ist also tatsächlich, was ihr vorhabt“, sprach Dazai weiter. „Atsushi und Kyoka als letztes Druckmittel gegen mich benutzen? Das gibt aber Abzüge in puncto Kreativität. Sooo vorhersehbar.“ Der erwähnte Junge stutzte zum wiederholten Mal. Hatten sowohl Dazai als auch die Briten damit gerechnet, dass er und Kyoka herkommen würden? Hörbar genervt seufzte Barrie. „Es war mir klar, dass du damit rechnest, aber verrate mir, was willst du an der Situation ändern?“ Dazais Augen wanderten von seinem Widersacher zu der nicht einsehbaren Straße außerhalb des Gartens und zurück zu seinem Gegenüber. Nicht schlecht, dachte er. Der Grund, dass Barrie so viel Abstand zwischen ihnen hielt, lag darin, dass er damit verhindern wollte, dass Dazai seine Fähigkeit neutralisieren konnte. Wenn er sich dem Schotten nähern würde, würden in dem Augenblick die Abkömmlinge seiner Fähigkeit Atsushi und Kyoka angreifen. „Nun denn“, sagte Barrie, „du willst sterben? Dann, bitte, tu es jetzt.“ „Und ich kann mich darauf verlassen, dass ihr dann die Detektei in Ruhe lassen werdet?“ Als er diese ernst vorgetragenen Worte hörte, gefror Atsushi das Blut in den Adern. Wollte Dazai wirklich …? „Dazai!“, rief er mit plötzlich einsetzender Panik herüber. „Warte! Es muss einen anderen Ausweg geben!“ Nur welchen? Nur welchen?? Atsushi blickte nervös umher, doch nichts kam ihm in den Sinn. Überall standen nur diese Kinder, die ihre Waffen auf sie gerichtet hatten und gegenüber ihm und Kyoka eine kolossale Übermacht bildeten. „Versprochen. Wir verschwinden dann wieder aus Yokohama.“ „Ich kann mich auf euer Wort verlassen?“ „Wie ich schon sagte, ja.“ Eine längere Pause entstand, in der Atsushi sein Herz in seinen Ohren schlagen hörte. „Gut, in Ordnung.“ Dazai atmete hörbar aus. „Da wäre nur noch eine Sache.“ „Was denn?“, fragte Barrie mit wachsender Ungeduld. „Deine Fähigkeit … DIESE KINDER SIND ALLESAMT BEREITS TOT, ja?“ Verwirrt zuckte Barrie angesichts Dazais plötzlichem und äußerst lautem Ausruf zusammen. Was sollte das denn jetzt? „Atsushi“, hauchte Kyoka da auf einmal verschwörerisch. Der Junge hatte gerade einmal genug Zeit zu bemerken, dass etwas auf sie zukam, als es bereits auf sie zukam. „Fähigkeit: Rashomon!!“ Mit einem gewaltigen Knall krachte Rashomon durch die Menge der Kinder und eins nach dem anderen löste sich auf. Durch die Schneise, die so geschlagen worden war, kam am anderen Ende der Straße Akutagawa hustend zum Vorschein. „A-akutagawa?“ Atsushi traute seinen Augen kaum. Deswegen hatte Dazai eben diesen Satz gebrüllt! „Ich hab mir schon gedacht, dass du herkommst, wenn es um Dazai geht.“ Neben den gerade aufgetauchten Mafioso gesellte sich ein weiterer Mann, der noch schlechtere Laune als Akutagawa hatte – und einen Hut. „Ch-chuuya?“ Der silberhaarige Detektiv verstand die Welt nicht mehr. „Was macht ihr hier?“ „Ich hab gehört, jemand will MIR das Vorrecht wegnehmen, diesen Mistkerl Dazai zu erledigen. Das geht natürlich gar nicht. NUR ICH DARF DAZAI TÖTEN, VERSTANDEN?!“ Entgeistert starrte derweil Barrie zwischen seinem eigentlichen Opfer und dem verborgenen Geschehen auf der Straße hin und her. „Was … was machen die denn hier??“ Ein amüsiertes Glucksen ließ ihn seine gesamte Aufmerksamkeit wieder auf Dazai konzentrieren. „Das kannst du unmöglich geplant haben ...“ „Mir war klar, dass eure Freunde von früher niemals Atsushi und Kyoka alleine herkommen lassen würden und Chuuya und Akutagawa sind so leicht zu manipulieren. Ich musste dich nur so lange hinhalten, bis sie eintrafen.“ Barrie fasste sich mit einer Hand an den Kopf. Dann jedoch lachte er erneut. Das war allerdings kein „der Feind sieht seine Niederlage ein und lacht vor Verzweiflung“-Lachen. Mit einem flauen Gefühl im Magen versuchte Dazai eiligst herauszufinden, was er übersehen haben könnte. „Gut gespielt“, Barrie lachte immer noch, „gut gespielt. Aber leider nicht gut genug.“ „Was ist denn das?!“, erklang es da erzürnt von Akutagawa. Die Kinder, die er gerade beseitigt hatte, kamen wieder und mit ihnen noch mehr neue. Immer mehr und mehr und mehr. Und alle waren sie bewaffnet. „Das waren noch nicht alle?!“ Kyokas Ausruf war halb eine Frage und halb eine Feststellung, während alle vier auf der Straße Anwesenden erschrockenen Auges die scheinbar unendliche Masse an Kindern betrachteten, die um sie herum erschien und die gesamte Straße ausfüllte. „Was soll der Scheiß?!“ Chuuya kickte ein paar von ihnen weg, doch selbst wenn sie verschwanden, kamen sie sofort wieder. „Was ist da los?“, rief Dazai herüber. „Hier sind bestimmt fast Tausend von diesen Lost Boys“, beschrieb Atsushi die Situation, „und es ist unmöglich, sie verschwinden zu lassen!“ „Ihr hatte eure Chance.“ Barrie zuckte mit den Schultern und im nächsten Augenblick ging seine Fähigkeit zum Angriff über. Dazai sprintete nach vorn, um nach dem Schotten zu greifen, doch ein Schuss von links, dem er gerade so ausweichen konnte, ließ ihn wieder zurückweichen. War das Huxley? Oder noch eines von diesen Kindern? Während Weißer Dämonenschnee versuchte, Kyoka und Atsushi vor den Angriffen abzuschirmen, schafften es Akutagawa und Chuuya mit ihren Attacken zumindest einen kleinen Teil der Lost Boys um sie herum für wenige Augenblicke auszuschalten. Die erneute Schneise, die Rashomon geschlagen hatte und der Krater, den Chuuya verursacht hatte, gaben Atsushi für den Bruchteil einer Sekunde die Möglichkeit zu handeln. Kurz nachdem Weißer Dämonenschnee sich durch die übermächtige Wucht der zahllosen Angriffe auflösen musste, packte Atsushi Kyoka, fokussierte noch einmal all seine Kraft in seinen Beinen und sprang mit ihr über den Zaun und die dahinter wuchernden Hecken auf das Grundstück. Sie mussten zu Dazai! Sie mussten ihm helfen, damit er Barries Fähigkeit auflösen konnte! Die beiden Detektive landeten auf dem Gras, direkt vor den dichten Hecken und es blieb ihnen nur ein Augenaufschlag Zeit, die Situation zu überblicken (Dazai rechts von ihnen, mit dem Rücken zum Haus; links von ihnen derjenige, der Barrie sein musste; der Rest des Gartens in eine alles verschluckende Dunkelheit gehüllt), als eine Drahtpistole abgefeuert wurde. Am Ende des Drahtes befand sich ein Haken, der auf brachiale Weise durch Atsushis linke Schulter schlug und den vor Schmerzen aufschreienden Jungen mit Gewalt an dem Draht zu dem Punkt zurückzog, von dem er abgefeuert worden war. Atsushi wurde durch den Lichtkreis, in dem sich Barrie und Dazai gegenüber standen, geschleppt und kam schließlich neben Barrie zum Erliegen. Im gleichen Moment, in dem Atsushi getroffen worden war, hatte jemand von hinten aus den Hecken heraus Kyoka hart an ihrem Handgelenk gepackt und sie festgehalten, sodass sie ihren Kameraden hatte loslassen müssen. „Atsushi!“, rief Dazai entsetzt aus. Der Junge richtete sich so weit auf, dass er auf dem Boden hockte und er sich den Haken aus der Schulter ziehen konnte, als umgehend weitere Waffen auf ihn gerichtet wurden: eine Klinge an seine Kehle, eine Pistole an seinen Kopf. Das Messer und die Schusswaffe wurden von zwei Jungen gehalten. Aus dem Augenwinkel konnte Atsushi erkennen, dass die Drahtpistole von einem danebenstehenden Mädchen abgefeuert worden war, das ein wenig größer als die beiden anderen Kinder war. „Ich würde mich jetzt ganz ruhig verhalten“, sagte Barrie kaltblütig, „auch wegen deiner Freundin.“ Die Blicke Atsushis und Dazais rasten zu Kyoka, die in diesem Moment kraftlos auf ihre Knie fiel. Ihr Kopf fiel nach vorne, als wäre sie ohnmächtig geworden. Huxley stand hinter ihr und hielt mit einer Hand ihr Handgelenk fest. In der zweiten hielt er eine Pistole. „Eigentlich war das die Lösung, die wir nicht hatten verfolgen wollen“, erklärte der dunkelhaarige Mann ruhig und klang dabei doch irgendwie kurzatmig. „Aber da sich die Herren von der Hafen-Mafia einmischen mussten ...“ Er machte eine kurze Pause, in der man überdeutlich das fortlaufende Kampfgeschehen und die derben Flüche der beiden von der Straße hören konnte. „ … bleibt uns nur diese Möglichkeit.“ „Wenn Sie uns töten“, sagte Atsushi mit bebender Stimme zu Barrie, „dann wird das Ihre Familie auch nicht wieder lebendig machen.“ „Oh, das ist mir bewusst“, entgegnete der Schotte, „aber ich will meinen Geschwistern zeigen, dass das Monster, das uns dies angetan hat, zur Rechenschaft gezogen wird.“ Atsushi stutzte und sah, wie Dazais Blick zu den Lost Boys ging, die ihn mit den Waffen bedrohten. „Du benutzt deine eigenen Geschwister für deine Fähigkeit?“, fragte Dazai. „Benutzen, sagt er, benutzen.“ Barrie klang angewidert. „Ich hatte bis zu dieser Nacht damals nicht mal eine Ahnung gehabt, dass ich ein Befähigter bin und dann ist meine Fähigkeit auch noch ausgerechnet das.“ Ein verzweifeltes Lachen entwich seiner Kehle. „Aber immerhin können sie so Zeuge dieses Augenblicks der Gerechtigkeit werden.“ Atsushi versuchte, aus dem Augenwinkel heraus zu den Kindern zu sehen, die ihn bedrohten. Das waren Barries Geschwister? Er schluckte schwer. Sie sahen noch so jung aus. Jünger als Kyoka. Und Dazai hatte sie … ermordet? „Was ist?“, wandte sich Barrie hochmütig an ihn. „Realisierst du gerade, dass du dein Leben und vor allem das Leben dieses Mädchens für jemanden riskierst, der keinerlei Wertschätzung für das Leben anderer besitzt? Wenn Osamu Dazai hier und heute stirbt, dann sollt ihr ihn als das unmenschliche, herzlose Monster in Erinnerung behalten, das er tief in seinem Inneren ist.“ „Dazai ist kein-“, begann Atsushi und erhob seine immer noch zittrige Stimme, doch Dazai fiel im ins Wort. „Lass es, Atsushi. Deine Worte erreichen ihn nicht.“ „Du glaubst mir immer noch nicht, wie?“ Barrie schüttelte übertrieben laut seufzend den Kopf, ehe er sich Dazai zuwandte: „Sag es ihm, sag dem Jungen, was du getan hast, damit er endlich erkennt, dass er sich in dir geirrt hat. Dass du ihn getäuscht hast. Sag es ihm!“ Ein kurzer Moment des Schweigens entstand, in dem Barrie und Dazai sich gegenseitig anblickten. „Na schön.“ Dazai zuckte mit den Schultern. „Wenn du so sehr darauf bestehst.“ Atsushi hielt unbewusst den Atem an. „Ich habe damals deine Mutter, deine Geschwister und letztlich auch deinen Vater getötet. Und wenn ich mich recht erinnere, war es mit genau diesem Schwert da, das du an deiner Hüfte trägst.“ In Barries ernsten Blick mischten sich Wut und Trauer. „Und hast du dabei irgendetwas gefühlt?“ „Nein. Nichts.“ Durch Dazais knappe Antwort hatte Atsushi mit einem Mal das Gefühl, dass ihm jemand den Hals zuschnürte. Tränen sammelten sich in seinen Augen, die er versuchte, am Herauskommen zu hindern. Es war unbeschreiblich hart, diese Worte zu hören und nichts, nichts in der Welt hätte ihn darauf vorbereiten können. In dieser Welt war Dazai sein Stützpfeiler – und jetzt in diesem Moment hatte Atsushi das Gefühl, dass ihm dieser wegbrach und alles um ihn herum in sich zusammenfiel. Barrie wartete ab, ob Atsushi noch etwas sagen würde, doch ein Blick auf den Jungen genügte, um zu erkennen, dass über seine bebenden Lippen kein Ton kommen würde. „Dann wäre das wohl geklärt. Behalte ihn so in Erinnerung. Er ist ein Monster. Ein Dämon. Seinetwegen mussten so viele Menschen leiden. Auch deine Kollegen. Vergesst das niemals. Vergesst niemals, was er euch angetan hat.“ Er nickte Huxley zu, der seinen Revolver sicherte und ihn zu Atsushis Verwirrung daraufhin Dazai vor die Füße warf. Der Brünette senkte seinen Blick zu der Pistole, die vor ihm auf dem Boden lag. Es machte keinen Sinn, einen der beiden anzugreifen. Würde er Barrie attackieren, würde Huxley die bewusstlose Kyoka töten. Würde er Huxley angreifen, würde Barrie Atsushi töten. Sie waren wirklich verdammt gut, das musste er ihnen lassen. „Ist das wirklich das, was Sie wollen?“, fragte Dazai plötzlich Huxley. Der dunkelhaarige Brite atmete laut aus und ein leises Rasseln war zu hören. „Es muss heute enden. Das ist, was ich will.“ „Verstehe.“ Dazai hob die Pistole vom Boden auf und entsicherte sie erneut. Mit wachsender Verstörung beobachtete Atsushi das Geschehen. Wieso gaben sie Dazai eine Waffe? Was bezweckten sie damit? Sein Herz blieb beinahe stehen, als ihm bewusst wurde, worin der Grund dafür lag. Doch in diesem Moment führte sein Mentor den Lauf des Revolvers bereits an seine eigene Schläfe. „Dazai!“, rief er panisch aus. „Nicht! Tu das nicht!“ „Vielleicht willst du lieber wegsehen, Atsushi“, entgegnete Dazai ruhig. „Nein!!“ Der Junge schrie nun aus vollem Halse. „Tu das nicht!! Bitte!!“ „Du willst immer noch sein Leben retten?“, warf Barrie irritiert ein. „Er ist ein herzloses Monster.“ Barrie erkannte den Widerspruch nicht. Dazai war bereit sein Leben zu opfern, um das der anderen zu retten, man konnte ihn folglich kaum ein herzloses Monster nennen. Wieso erkannte der Schotte dies nicht? Atsushi war ratlos, er konnte nicht nachvollziehen, was in Barries Kopf vorging. Wie sollte er jemandem, der nicht hören wollte, was andere ihm sagten, diesen Widerspruch verständlich machen? Es musste doch einen Weg geben, sie alle zu retten. Von Angst ergriffen versuchte Atsushi, einen klaren Gedanken zu fassen zu kriegen, doch wenn anscheinend nicht einmal Dazai eine Lösung einfiel, wie sollte er dann auf eine kommen? Aber es musste einen anderen Weg geben, einen Ausweg, irgendwas. Irgendwas. Irgendwas. Vor Panik vergaß er fast zu atmen. „Es gibt keine andere Möglichkeit mehr, Atsushi.“ Dazai sprach immer noch so verdammt ruhig, auch wenn seine Mimik ganz ernst geworden war. „Sie werden dich und Kyoka laufen lassen, wenn ich tot bin.“ „Es muss eine andere Möglichkeit geben! Es muss!“ „Nimm endlich Vernunft an!“, erwiderte der Brünette erbost. „Sollen du oder Kyoka etwa meinetwegen sterben? Die ganze Detektei hat meinetwegen schon leiden müssen! Das hier …“, er senkte seine Stimme wieder, „das hier wird euch alle in Sicherheit bringen.“ „Dazai … Dazai …“ Atsushis Stimme bebte nicht mehr nur, sie war ein panisches, atemloses Hauchen. „Tu es endlich!“, rief Barrie jähzornig dazwischen. „Nein!! Bitte nicht!! Bitte nicht!!“ Die Dämme in Atsushis Augen brachen und heiße Tränen rannten in Strömen über seine Wangen. Ein flüchtiges, süffisantes Lächeln legte sich noch einmal auf Dazais Gesicht. „Also dann.“ „NEEEIN!“ Dazai drückte ab und trotz des Lärms um ihn herum konnte Atsushi nichts anderes mehr hören als das Geräusch des Schusses, das durch den Garten hallte; konnte er nichts anderes mehr sehen als das Blut, das aus dem Kopf seines Mentors schoss. Obwohl so viel um ihn herum passierte, vernahmen Atsushis Ohren nichts als die Stille nach dem Schuss, und seine Augen nichts als Dazais Körper, der leblos zu Boden fiel. Atsushi schrie; er schrie sich die Seele aus dem Leib. Kapitel 13: That's the gift and that's the trick in it ------------------------------------------------------ „That's the gift and that's the trick in it“   Placebo, „Twenty Years“   Wilde klappte sein Handy zu, nachdem sie das Gespräch mit Akutagawa und Chuuya beendet und ihnen die Nachricht geschickt hatten. „Worüber denkst du nach?“, fragte Joyce. „Hmm“, machte Wilde sichtlich in Gedanken versunken, „ich weiß nicht, ob das ausreicht.“ „Wahrscheinlich nicht. Was willst du tun?“ Wilde warf ihm einen ungewohnt ernsten Blick zu. „Lass uns noch einmal mit Fukuzawa reden.“ Naomi zuckte an ihrem Platz neben dem Bett ihres Bruders überrascht zusammen, als die Iren erneut das Zimmer betraten. Fukuzawa hatte es äußerst widerwillig aufgegeben, Kyoka und Atsushi zu folgen. Seine Schulter schmerzte höllisch und es war ausgeschlossen, dass er in dieser Verfassung kämpfen konnte, selbst wenn die Wirkung des Soma sehr langsam, aber immerhin endlich, etwas nachließ. Aufmerksam beobachtete er das Eintreffen der beiden Iren. „Sie machen sich Sorgen um Ihre Mitarbeiter, nicht wahr?“, fragte Joyce, als er dem Chef ins Gesicht sah. „Sie sind nicht einfach nur Mitarbeiter“, antwortete Fukuzawa. „Ja, das merkt man Ihnen an.“ Joyce machte eine kurze, gedankenverlorene Pause. „Sie und Huxley sind sich gewissermaßen ähnlich. Dieser Eifer für einen anderen Menschen alles Nötige zu tun, um ihm zu helfen …. Hätten wir Sie und Ihre Detektei direkt kontaktiert … nein, alles Bedauern nützt nun nichts mehr. Egal, wie untröstlich wir sind, wir haben es versäumt, das Richtige zu tun.“ „Sagen Sie, Herr Fukuzawa“, sagte Wilde plötzlich, „wenn Sie einen Ihrer Detektive losschicken könnten, der am ehesten den Kindern und Herrn Dazai in dieser Lage helfen könnte, welcher von ihnen wäre es?“ Angesichts dieser Frage stutzte Fukuzawa kurz, begann aber dann sogleich, darüber nachzudenken. So wie Wilde ihn dies gefragt hatte, war leicht zu erkennen, dass ein tieferer Sinn hinter der Frage steckte. „Tanizaki“, antwortete er nach einer kurzen Weile bestimmt und ließ seine Augen zu dem jungen Mann links von sich wandern. Naomi blinzelte zuerst ihn erstaunt an, dann das schlafende Gesicht ihres Bruders. „Ah, dieser hübsche junge Mann, ja?“ Wilde schritt zwischen den Betten Fukuzawas und Tanizakis entlang und zog dabei seinen Mantel aus, den er auf dem Fußende von Tanizakis Bett ablegte. Dann legte er eine Hand auf die Stirn des Rothaarigen und alarmierte damit sofort Naomi, die aufspringen wollte, um ihn davon abzuhalten, doch Fukuzawa stoppte sie. „Ich spüre bei den beiden keine Tötungsabsicht“, stellte er fest, ohne Wilde und Joyce aus den Augen zu lassen. Letzterer blickte abwartend und besorgt zu seinem Kameraden. „Und?“, fragte er nach einer Weile. „Wie sieht es aus?“ Wilde zog seine Hand wieder von Tanizakis Stirn zurück. „Er hat allem Anschein nach nicht so viel Soma eingeatmet, es müsste also machbar sein, ihn aufzuwecken. Seine Verletzungen allerdings sind recht schlimm. Es wird schwierig, aber nicht unmöglich.“ „Willst du das wirklich tun?“ Der brünette Ire warf ihm ein trauriges Lächeln zu. „Es ist keine Frage des Wollens. Es ist das, was die Menschlichkeit uns gebietet.“ Fukuzawas fragender Blick durchbohrte Joyce nun beinahe, dessen Herz bei den Worten des Anderen sichtbar schwerer geworden war. „Ja. Du hast Recht“, antwortete Joyce, Fukuzawa absichtlich ignorierend. „Trotzdem … ich will nicht, dass du-“ „Besitzen Sie eine Heilfähigkeit?“, warf der Chef an Wilde gerichtet ein. „Mmmh, ja, man kann es so nennen“, erklärte dieser geheimnisvoll. „Vereinfacht gesagt, kann ich Verletzungen aufheben, so als seien sie nie geschehen. Bei leichten Verletzungen ist das keine große Sache, aber bei einer wie dieser hier, ist es schwierig, jemanden vollkommen wiederherzustellen. Ich werde sehen, was ich tun kann. Allerdings ist meine Fähigkeit wirklich nicht schön anzusehen.“ Er blickte zu Naomi, die sogleich vehement den Kopf schüttelte. „Ich weiche meinem Bruder nicht von der Seite.“ Dies ließ Wilde sanft schmunzeln. Dann knöpfte er sein Jackett auf und wandte sich energisch an seinen Partner. „Jimmy, sei so lieb und hol schon mal einen Arzt. Das wird wirklich, wirklich unschön.“ Es irritierte Fukuzawa zunehmend, wie sorgenvoll Joyce zu dem Brünetten sah. „Mach ich“, antwortete Joyce todernst, „verblute mir bloß nicht.“ Mit diesen Worten eilte er blitzschnell zur Tür hinaus, während Wilde aus seiner Manteltasche einen Dolch zog, was Fukuzawas Instinkte Alarm schlagen ließ. Was in aller Welt würde jetzt hier geschehen? „Fähigkeit“, sprach Wilde entschlossen und mit einem Lächeln im Gesicht, „The Happy Prince!“ Unter den erschrockenen Blicken Naomis und Fukuzawas rammte sich Wilde den Dolch in den eigenen Bauch.   „Dazai!! Dazai!!!“ Atsushi Schreien und Schluchzen war so heftig, dass er kaum noch Luft bekam. Er war auf alle Viere gesunken und krallte seine Hände vor Verzweiflung und Schmerz in das Gras unter ihm. Ein unerträgliches Leid breitete sich in seinem Brustkorb aus und sein Herz fühlte sich an, als würde es zerrissen werden. Dies konnte nicht sein! Es konnte nicht sein! Wieso hatte er das nicht verhindern können?! Wie hatte er so versagen können?! Dazai war tot und er hatte es nicht verhindern können. „Es … es ist vorbei.“ Neben ihm starrte Barrie auf das grausige, blutige Bild, das sich vor ihnen ausbreitete. Als er endlich zu registrieren anfing, was geschehen war, hellten sich die Augen des jungen Schotten, die zuvor immer von Finsternis und Trauer überwältigt waren, auf und er begann, über sein ganzes Gesicht zu strahlen. „Es ist vorbei! Es ist vorbei!“, rief er freudig aus, während Huxley Kyoka losließ und sich von ihr entfernte. „Es ist endlich vorbei!!“ In genau diesem Augenblick traf der Schlag einer Faust, die aus dem Nichts kam, Barrie mitten ins Gesicht und ließ ihn mit voller Wucht auf die Erde knallen. Im gleichen Moment lösten sich die Kinder auf, die ihre Waffen auf Atsushi gerichtet hatten und der Lärm von der Straße verstummte augenblicklich. Aufgeschreckt hob der silberhaarige Junge seinen Kopf und erstarrte vor Entsetzen. Sein Gehirn konnte die Information, die seine Augen sahen, kaum verarbeiten. Dazai stand dort und richtete den Revolver auf den am Boden liegenden Barrie. „Dazai?“, hauchte Atsushi entgeistert. „Bevor Sie Kyoka auch nur anrühren können, werde ich abgedrückt haben. Das wollen Sie nicht, oder?“ Dazai hatte Huxley, während er diese Warnung aussprach, den Rücken zugedreht, aber dies hielt ihn nicht davon ab, die Gedanken des Älteren zu erraten. „W-was …?“ Atsushi verstand immer noch nicht, was nun los war, bis er ein grünliches Flimmern in der Luft bemerkte und die Illusion von Dazais Leiche sich in Luft auflöste. Dahinter kamen in der geöffneten Schiebetüre des Hauses Joyce und Tanizaki zum Vorschein. Ersterer stützte den Rothaarigen ab, der nach wie vor sehr blass aussah und vor Erschöpfung keuchte. „Pul-pulverschnee …“ Erneute Tränen rannten Atsushis Wangen herab, während der Rest seiner Mimik ein von Unglauben getränktes Lächeln annahm.„Pulverschnee!“ „Nein!“, rief Barrie so verzweifelt aus, das es herzzerreißend war. „Nein! Das kann doch nicht … … ich … es war doch vorbei ...“ Seine Lippen zitterten und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Wir geben auf.“ Mit wackligen Schritten und erhobenen Händen näherte sich Huxley und blieb stehen, als er in Dazais Blickfeld kam. „Bitte ... lassen Sie ihn am Leben.“ Die Stimme des Briten klang schmerzerfüllt und nachdem er dies gesagt hatte, hustete er qualvoll. „Wir geben nicht auf! Wir können nicht aufgeben!“, entgegnete Barrie mit wachsender Verzweiflung. „Sie wollten ihn retten, nicht wahr?“ Dazais Blick wandte sich Huxley zu, während er weiter die Pistole auf Barrie richtete. „Sie wollten ihn retten, indem sie durch meinen Tod seine Seele von der Dunkelheit befreien, die sich seit dieser Nacht damals auf ihn gelegt hat. Deswegen haben Sie auch mit dem Plan weitergemacht, obwohl die Umstände sich geändert hatten.“ Huxley wischte sich das beim Husten ausgeworfene Blut weg und versuchte, tief Luft zu holen. „Ich hatte es ihm versprochen. Und dieses Versprechen … ist alles, was ihn … am Leben gehalten hat. Ich dachte … ich dachte, wenn ich den Dämon der Vergangenheit töte, der sich seines Herzens bemächtigt hat, dann ...“, er lächelte ein trauriges Lächeln, „kann er endlich ... frei sein.“ Sprachlos sah Atsushi zu den drei Männern. Dies alles war nur geschehen, um ein Leben zu retten. Trotzdem … es legitimierte nicht, was die zwei Briten getan hatten. „Es … tut mir … leid“, fuhr Huxley wehmütig und deutlich gequält fort, „es tut mir leid ... dass ich dich … nicht retten konnte.“ Er hustete schon wieder, dieses Mal noch heftiger als zuvor, sodass er sich dabei vor Schmerzen krümmte und auf die Knie sank, als hätte jegliche Kraft gerade seinen Körper verlassen. „Aldous!!“, schrie Barrie entsetzt und sprang ungeachtet der Waffe, die auf ihn gerichtet war, auf und lief zu seinem Kameraden. Dazai ließ ihn. „Nein! Was ist mit dir? Du musst durchhalten! Hörst du?!“ Barrie hockte sich vor Angst zitternd vor ihn und nahm ihn verzweifelnd in den Arm. Huxley atmete kaum noch. „Was ...“ Atsushi blickte irritiert zu Dazai, „was ist mit ihm?“ Dazai ließ den Revolver in seiner Hand sinken. „Ich kann nur mutmaßen, aber wahrscheinlich hat seine eigene Fähigkeit ihn langsam vergiftet. Bei einer Fähigkeit mit einer so mächtigen Wirkung gibt es meistens irgendeinen Haken. Er wusste, dass dies bald passieren würde, deswegen hat er eben darauf gedrängt, mich heute zu erledigen.“ Er sah zu Joyce, als würde er darauf warten, ob dieser seine Theorie bestätigte. Der Ire schluckte schwer, während er zu der Szene schaute, die sich vor seinen kummervollen Augen abspielte. Er nickte schwach. „Huxley hat mir dies mal im Vertrauen erzählt. Er wusste schon lange, dass das Soma ihn irgendwann umbringen würde. Ich hätte nur nicht gedacht, dass es sobald geschehen würde. Wahrscheinlich haben ihm die vielen Freisetzungen heute den Rest gegeben.“ Bittere Tränen strömten über Barries Gesicht, als er dies hörte und seine Hände sich in die Haare und in die Jacke des Älteren krallten. Huxley hatte aufgehört zu atmen. „Ich … niemand hat mir gesagt, dass es so schlimm … warum …? Das ist nicht … wahr … was soll ich denn jetzt nur machen?“ Eine erdrückende Grabesstille legte sich über den Garten und die Umgebung, als Barries Tränen versiegten und er sachte den toten Körper seines Freundes auf dem Boden ablegte. „Alles nur, damit ich frei sein kann?“ Der junge Schotte verblieb in seiner knienden Position auf dem Boden. „Wenn man es nicht schafft, ein Leben zu retten“, sagte Joyce und verstärkte vor Kummer seinen Griff um Tanizaki, fast so, als müsste er sich an ihm festhalten und nicht andersherum, „wie soll man dann die ganze Welt retten? Seine Worte, nicht meine. Auch wenn da etwas sehr Wahres dran ist.“ „Ja“, erwiderte Barrie nach einem kurzen Schweigen und seine Augen nicht von Huxley nehmend, „ja, das ist wahr.“ Kaum hatte er diesen Satz zu Ende gesprochen, zog Barrie geschwind sein Kurzschwert und stieß es sich mit der gleichen Geschwindigkeit durch seinen Bauch hindurch. Joyce und Tanizaki erstarrten vor Entsetzen, während Atsushi - obwohl sie eben noch Feinde gewesen waren – bestürzt aufschrie und an Dazai vorbei zu dem Schotten rannte. Alles, was er noch tun konnte, war Barrie aufzufangen, als dieser nach vorn kippte. Der junge Schotte spuckte Blut und sein Körper wurde einige qualvolle Male von heftigen Krämpfen geschüttelt, ehe jegliches Leben ihn verließ. Dazai blickte auf die Waffe, die er immer noch in einer Hand hielt, sicherte sie wieder und warf sie ins Gras. Dann richtete er seinen Blick von dem Revolver zu Barrie, den Atsushi sorgsam und mutlos auf dem Boden niederlegte. Plötzlich begannen aus dem Körper des Toten unzählige, hellstrahlende Lichter in Form kleiner Kugeln zu entweichen, die gen Himmel stiegen und sich dort oben im Nachthimmel auflösten. „Die Lost Boys?“, fragte Atsushi, während seine Augen den Lichtern folgten. Dazai sah ebenso empor. „Ja. Sie werden in die Freiheit entlassen.“ „Herr Joyce?“, fragte Tanizaki bedächtig und der Ire schüttelte schwach den Kopf. „Es geht schon“, antwortete er mit zitternder Stimme. „Ich bin nur froh, dass Wilde das nicht mit ansehen musste. Ihn würde das sehr mitnehmen.“ Voller Mitleid betrachtete Tanizaki die Tränen, die dem Iren übers Gesicht liefen. „Musste es so enden?“ Atsushi wandte sich Dazai zu, der immer noch in den erleuchteten Nachthimmel sah. „Huxley hatte Recht mit dem, was er sagte. Es musste enden. Und jetzt ist es vorbei. Es ist wirklich vorbei.“ „Gehen wir“, ertönte von jenseits des Gartens Chuuyas Stimme und Atsushi erschrak beinahe. Er hatte fast vergessen, dass er und Akutagawa noch da waren. Hatten sie etwa gewartet, bis alles beendet war? „Wir sind übrigens auch nie hier gewesen“, ergänzte Chuuya mit einem drohenden Unterton. „Deswegen werde ich es auch ignorieren, falls je irgendein dahergelaufener Spinner mich darauf ansprechen sollte!“ „Das gleiche gilt für dich, Menschentiger!“ Atsushi konnte ein hauchzartes Schmunzeln in Dazais immer noch emporblickendem Gesicht ausmachen. Epilog: It may be elaborate fantasy, but it's the perfect place to start ------------------------------------------------------------------------ „It may be elaborate fantasy, but it's the perfect place to start“   Placebo, „Bright Lights“   „Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet, Herr Fukuzawa.“ Joyce schob seine Brille hoch, während er und Wilde dem Chef in der Detektei gegenüberstanden. „Wegen allem, was geschehen ist, hätten wir es beileibe verstanden, wenn Sie uns gegenüber feindlich gesinnt wären, doch stattdessen ließen Sie uns Hilfe zuteil werden und dafür danken wir Ihnen von Herzen.“ „Danke, dass Sie es möglich gemacht haben, dass Matty im Grab seiner Familie beigesetzt werden konnte und dass Sie die Einäscherung von Aldy organisiert haben.“ Wilde umklammerte die kleine Urne, die er in den Armen hielt, noch etwas fester. Wie es von ihm gar nicht anders zu erwarten war, reagierte Fukuzawa minimalistisch und deutete lediglich ein Kopfschütteln an. „Das verstand sich von selbst. Ihr Verlust tut mir leid.“ Atsushi stand mit den anderen Detektiven im Hintergrund und besah sich die Szene. Es waren fünf Tage vergangen, seit die Detektei angegriffen worden war und die Angreifer so kurz darauf gestorben waren. Ranpo war der Erste gewesen, der am darauffolgenden Tag wieder zu sich gekommen war. Und er war nicht glücklich gewesen, denn zum einen – so beschwerte er sich fortlaufend – war es wirklich kein Spaß gewesen, angeschossen zu werden und zum anderen war dann auch noch der Chef verletzt worden, woran man seiner Meinung nach mal wieder erkennen konnte, dass der Laden ohne ihn, den großen Meisterdetektiv, einfach nicht lief. Vor allem wurmte ihn aber die Erkenntnis, dass er über einen Tag verloren hatte, an dem er keinerlei Süßigkeiten hatte zu sich nehmen können. Was für eine maßlose Verschwendung von Zeit! Kurz nach Ranpo war Kunikida wieder zu sich gekommen und auch er war nicht sonderlich glücklich gewesen, als Atsushi ihm im Groben geschildert hatte, was alles passiert war. Atsushi hatte kaum etwas von dem lesen können, was Kunikida seitdem ständig in sein Notizbuch kritzelte, aber er war sich ziemlich sicher den Satz gesehen zu haben: „Ihm gehörig den Kopf dafür waschen, den Bengel so erschreckt zu haben.“ Auch Kyoka war etwa zu diesem Zeitpunkt wieder aufgewacht. Wie es schien, hatte Huxley ihr keine so hohe Dosis verpasst. Da Atsushi anwesend war, als sie wieder zu sich gekommen war, hatte ihre erste Reaktion darin bestanden, ihm um den Hals zu fallen. Erst als der Junge ihr glaubhaft hatte versichern können, dass er nicht verletzt war, hatte er sie dazu überreden können, sich weiter auszuruhen. Yosano und Kenji waren am dritten Tag wieder aufgewacht und die Ärztin war halb beeindruckt, halb sauer, dass Kenjis Bärenkräfte ihm wohl dabei halfen, dass das Soma viel schneller als bei ihr abgebaut wurde. Ihre schlechte Laune hatte vor allem auch daher gerührt, dass fast alle Kollegen lädiert waren und sie nichts für sie hatte tun können. Für sie – und ihr Vergnügen. Selbst nach ihrem Erwachen war sie noch zu geschwächt, um ihre Fähigkeit anwenden zu können. Mit seiner Schulterwunde hatte Fukuzawa innerlich ein Dankgebet gesprochen, dass dem so war und auch der verletzte Wilde hatte, nachdem man ihm von Yosanos Fähigkeit erzählt hatte, drei Kreuze gemacht. Kenji hingegen war einfach nur froh. Froh, dass es Tanizaki gut ging, froh, dass niemand von ihnen gestorben war und froh, dass Haruno daran gedacht hatte, seine Pflanzen während seiner Abwesenheit zu wässern. Und nun befanden sie sich alle wieder in der Detektei. Fast alle, denn einer fehlte: Dazai war seit dieser tragischen Nacht verschwunden. „Herr Wilde“, Naomi trat an den Iren heran, „ich möchte Ihnen noch dafür danken, dass Sie die Verletzung meines Bruders behandelt haben.“ „Oh, nein, nein, nein, schönes Kind“, Wilde winkte mit einer Hand ab, „nicht doch. Die unseligen Umstände hatten es ja nötig gemacht, dass dein Bruder zum Einsatz kommen musste. Wenn überhaupt haben wir ihm zu danken.“ „Trotzdem“, meldete sich Tanizaki unaufdringlich zu Wort, „Sie haben schließlich sich selbst verletzt, um mich zu heilen. Das ist nicht selbstverständlich und dafür danke ich Ihnen. Ich kenne es sonst nur, dass ich bei der Behandlung erst noch schlimmer zugerichtet werde.“ Den letzten Satz fügte er so leise an, dass er kaum gehört wurde. Allerdings sprach der blanke Horror in seinen Augen Bände. „Durch Selbstverletzung Verletzungen anderer aufheben“, kommentierte Yosano. „Also eine Heilfähigkeit, bei der der Heiler hinterher selbst einen Arzt braucht. Ich möchte nicht mit Ihnen tauschen. Aber da Ihre Wunde noch nicht ganz verheilt ist … ich bin wieder fit!“ Sie leckte sich mit der Zunge über ihre Lippen. „Äääh“, auf Wildes Stirn bildeten sich ein paar Schweißtropfen, „d-das kann ich unmöglich verlangen. Außerdem merke ich die Wunde kaum noch. Gerade heute Morgen habe ich zu Jimmy noch gesagt, wie wenig ich diese Wunde doch nur noch merke, nicht wahr, Jimmy?“ Der Angesprochene kreuzte seine Arme vor der Brust und trommelte missgelaunt mit einem Finger auf seinem Arm. „Ich werde mal so nett sein und dir einfach zustimmen, obwohl du mich die ganze Zeit wieder 'Jimmy' nennst und ich dir schon tausend und ein Mal gesagt habe, dass du das in der Öffentlichkeit lassen sollst.“ Ah, ging es Atsushi durch den Kopf, da fiel ihm doch noch etwas ein, das er die beiden die ganze Zeit schon hatte fragen wollen. „Mich würde da eine Sache noch interessieren“, begann er höflich und die beiden Iren blickten aufmerksam zu ihm. „Wieso haben Sie mich angesprochen, um nach Dazai zu fragen?“ Die zwei Iren tauschten einen Blick aus. „Nun ja“, Joyce räusperte sich verlegen, „das war so. Wir hatten uns im Vorfeld Informationen über die bewaffneten Detektive eingeholt und waren zu der Erkenntnis gekommen, dass Sie alle ein sehr … nun ja, wie soll ich sagen, einschüchternder Haufen sind.“ Yosano freute diese Aussage unangemessen heftig, Tanizaki war sie sichtlich unangenehm, Kyoka blinzelte lediglich, Ranpo grinste sich einen zurecht, Kenji strahlte wie immer, der Chef verzog nicht eine Miene und Kunikida schrieb „An Außenwirkung arbeiten“ in sein Notizbuch. Atsushi wusste nicht, ob er dazu etwas sagen sollte, denn irgendwie ... gab er dem Iren vollkommen recht. „Tja, aber da wir weiterkommen mussten ...“ fuhr Joyce zögerlich fort, ehe Wilde ihm ins Wort fiel: „... entschieden wir uns dafür, den Detektiv mit dem treudoofsten Gesicht anzusprechen, weil dieser am ungefährlichsten wirkte.“ Treu. Doofstes. Gesicht. Atsushis Augen begannen unwillkürlich zu zucken, während er versuchte, das Gegluckse seiner Kollegen auszublenden. Gab es hier immer noch kein Loch, in das man sich verkriechen konnte? „Herr Fukuzawa“, wandte sich Joyce ein wenig oberlehrerhaft an den Chef, „ich will Ihnen nicht sagen, wie Sie Ihre Leute erziehen sollen, aber Sie müssen doch mal ein ernstes Wort mit den jüngeren Angestellten Ihrer Detektei wechseln. Der Junge ist einfach so mit zwei ihm völlig fremden Männern mitgegangen. Da muss ihm doch mal jemand sagen, dass das nicht geht.“ Für den Bruchteil einer Sekunde entglitten sogar Fukuzawa die Gesichtszüge bei diesem Vorwurf. Zum einen war er natürlich verstimmt darüber, belehrt zu werden, zum anderen fragte er sich, ob dies nicht wirklich ein Versäumnis seinerseits war. Dann wiederum aber war das, was Joyce beschrieben hatte, mehr oder weniger die Art und Weise gewesen, wie Atsushi überhaupt für das Büro angeworben worden war. „Jimmy“, warf Wilde gespielt tadelnd ein, „verärger nicht immer alle hübschen Männer, die uns begegnen.“ Während Haruno sich im Hintergrund heftig an einem Schluck Wasser verschluckte und Yosanos Glucksen zu einem ausgewachsenen Lachanfall wurde, war sich Atsushi ziemlich sicher, dass der Chef sich spätestens jetzt auch ein Loch zum Darin-Verkriechen herbeisehnte. „Und was haben Sie nun vor?“, fragte der Junge die Iren, um geschmeidig das Thema zu wechseln – auch weil er eine Vene an Joyces Stirn hervortreten sah, die ihn sehr an die von Kunikida erinnerte. „Wir kehren nach Hause zurück und machen mit dem weiter, was wir eigentlich tun wollten. Auch wenn wir nur noch zu zweit sind.“ Es ließ sich nicht leugnen, dass Joyces Antwort einen stark wehmütigen Unterton hatte. Verdenken konnte man ihm dies wohl kaum. „Vielleicht“, ergänzte Wilde betont fröhlich und zwinkerte, „finden wir ja auch neue Mitglieder und dann werden wir auch ein so einschüchternder Haufen. Obwohl ich dann die schöne Zweisamkeit mit Jimmy vermissen werde.“ Eine zweite Vene trat auf Joyces Stirn hervor. „Du testest doch gerade aus, wie weit du deine Scherze treiben kannst, nicht wahr?“ „Aber wo denkst du hin, Jimmy.“ Zusätzlich zu seiner nun verschmitzten Miene klimperte Wilde schelmisch mit den Wimpern. „Ich weiß nicht, was du meinst … Jimmy. Der rote Teint, den sich dein Gesicht gerade zulegt, steht dir übrigens sehr gut ... Jimmy. Etwas Farbe im Gesicht schadet nie … Jimmy.“ „DU WIRST MEIN UNTERGANG SEIN!!“ Die Mitglieder des Büros starrten ungläubig ihre beiden Gäste an. „Diese ...“, Tanizaki versuchte, seine Sprachlosigkeit angesichts dieser Situation zu überwinden und hauchte den anderen leise zu: „Diese Ähnlichkeit ist ja wirklich beängstigend. Findet ihr nicht?“ „Wie ein schief gegangenes Klonexperiment mit ungewissen Folgen für die Welt.“ Selbst Yosano schien dies zu unheimlich zu sein. „Ich bin einzigartig!“ Ranpo schob sich ungeniert einen ganzen Muffin in den Mund. Kyoka beobachtete aufmerksam Kunikida, der überhaupt nicht auf das gerade Geschehene reagierte. „Kann es sein, dass es ihm selbst gar nicht auffällt?“ „Das ist unmöglich“, widersprach Tanizaki und seine Schwester stimmte ihm zu: „Das muss er bemerken.“ „Bitte sag mir, dass dir diese Ähnlichkeit auffällt“, forderte Yosano letztlich von Kunikida ein. Der Angesprochene blickte aus seinem Notizbuch hoch. „Von was für einer Ähnlichkeit redet ihr da überhaupt? Wer soll wem ähneln?“ Alle außer Kunikida schlugen sich gedanklich mit einer Hand gegen die Stirn. „Wo ist Dazai eigentlich?“, warf Kenji vergnügt ein. „Ich hab ihn die ganze Zeit noch nicht gesehen.“ „Er schwänzt mal wieder die Arbeit, was sonst“, antwortete Kunikida angefressen. „Er wurde als einziger nicht verletzt und rührt trotzdem keinen Finger.“ Kyokas Blick ging zu Atsushi, der bei den Worten Kenjis und Kunikidas zusammengezuckt war. „Atsushi, sollen wir ihnen nicht sagen, was Dazai vor fünf Tagen getan hat?“ Sie achtete peinlichst genau darauf, so leise zu flüstern, dass die Kollegen nichts davon mitbekamen. Stimmt ja, dachte der Junge bekümmert, sie haben keine Ahnung. Sie haben keine Ahnung, dass Dazai gekündigt hat. Und da er bis jetzt nicht zurückgekommen ist, heißt das wohl … es ist ihm ernst. Anscheinend hatten weder der Chef, noch Naomi die anderen darüber in Kenntnis gesetzt. „Hört mal“, setzte er an und sein beklommener Tonfall ließ die restlichen Detektive aufhorchen. „Dazai, er …“ „Atsushi.“ Fukuzawas tiefe Stimme unterbrach den Jungen harsch. „Ich möchte dich unter vier Augen sprechen.“ Der Chef rauschte hinaus und Atsushi folgte ihm auf dem Fuße, die Kollegen verwundert zurücklassend. „Was Dazais Kündigung betrifft“, sagte Fukuzawa, sobald sie im Flur standen und Atsushi die Tür hinter sich geschlossen hatte, „will ich, dass du ihm etwas von mir ausrichtest.“   Dazai beugte seinen Kopf zurück, sodass er ihn gegen Odasakus Grabstein anlehnte und er in den blauen Himmel hinaufgucken konnte. Was für ein schöner Tag es war. „Sie würden dir ohne jeden Zweifel gefallen“, sagte er leise. „Sie sind laut und chaotisch und jeder, wirklich jeder von ihnen hat mindestens eine Macke. Aber wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat, dann ….“ Ein sanftes Lächeln umspielte Dazais Lippen. Sie waren ihm ans Herz gewachsen und das war ein Umstand, den er nicht leugnen konnte. Es war ein unbeschreibliches, unfassbares Gefühl und genauso wie er sich darüber wunderte, was dort mit ihm geschah, war er ihnen dankbar dafür, dass dort etwas mit ihm geschah. Er war ihnen dankbar für jeden Tag, an dem er sie und ihre Eigenarten beobachtete und er ein Teil von ihnen geworden war, während sie ein Teil von ihm geworden waren. Kenji mit seiner unschuldigen Gutgläubigkeit, die ihm so viel Fröhlichkeit verlieh, dass selbst diese Stadt und die in ihr lauernde Finsternis ihm nichts anhaben konnten. Der unscheinbare und gutmütige Tanizaki, der sein Licht ständig unter den Scheffel stellte und sich seiner Stärke gar nicht bewusst war, sie aber in den richtigen Momenten trotzdem immer couragiert abrufen konnte. Yosano, die wie eine blutrünstige Irre wirkte und … es auch war, aber nichtsdestotrotz sich um jeden einzelnen ihrer zusammengewürfelten Truppe sorgte und kümmerte als wären sie ein Teil ihrer eigenen Familie. Der vor Arroganz und Egozentrik strotzende Ranpo, der nicht nur wegen seiner Intelligenz und Beobachtungsgabe der Stützpfeiler der Detektei war, sondern auch weil er alle anderen dazu antrieb, das Beste aus sich herauszuholen. Die traumatisierte Kyoka, die es geschafft hatte, tiefe Verzweiflung in neuen Lebensmut umzuwandeln und sie alle damit daran erinnerte, dass man den Kampf um seine Seele nie aufgeben durfte. Kunikida, der … - Dazais Lächeln wurde beim Gedanken an ihn kurz zu einem beinahe diabolischen Grinsen – der, wenn er nicht aufpasste, aufgrund seiner Ideale noch zu einer Gefahr für sich selbst werden würde. Aber es waren eben seine Ideale, sein unerbittlicher Glaube an Recht und Ordnung, die ihm die Kraft gaben, gegen das Chaos und die Finsternis in dieser Welt anzukämpfen. Kunikida war jemand, der sich kümmerte, egal, ob derjenige dies überhaupt zu schätzen wusste oder ob derjenige ihn in den Wahnsinn zu treiben versuchte. Kunikida würde sich immer um jeden und alles kümmern, weil er nicht einfach nur Wertvorstellungen darüber besaß, was es wohl hieß, ein guter Mensch zu sein, sondern weil er nach diesen Vorstellungen zu leben versuchte und ihn dies zu einem guten Menschen machte. Dazai konnte bei diesen Gedankengängen nicht anders, als an die Worte zurückzudenken, die Herr Taneda aus dem Innenministerium damals zu ihm gesagt hatte. Fukuzawa hatte ein sehr offenes und sehr gutes Herz? Das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Der Chef war so unglaublich gutherzig, dass er selbst einem ehemaligen Führungsmitglied der Hafen-Mafia eine Chance gegeben hatte. Und Fukuzawa war jemand, der sich die Ausmaße von Dazais früheren Verbrechen ohne Weiteres vorstellen konnte. Trotzdem. Trotz alldem hatte er ihn bei sich eingestellt, nein, aufgenommen. Bis vor einigen Jahren hätte Dazai so jemanden als einen absoluten Idioten erachtet, aber jetzt wusste er dass dies keine unsägliche Idiotie war, auch kein bemitleidenswerter Idealismus – es war das, was Odasaku ihm damals beschrieben hatte. Es war der schönere Weg. Ja, wenn er sie alle betrachtete, dann verstand er, was es bedeutete, ein guter Mensch zu sein. Dazai war weit davon entfernt, sich glücklich zu nennen (oh nein, das war er ganz sicher nicht), aber er hatte etwas gefunden, das sich so anfühlte, als könnte er darin Erfüllung finden. Wenn er mit diesem bunten Haufen Wahnsinniger zusammen war und sie ihre aberwitzigen Fähigkeiten einsetzten, in dem Vertrauen, dass das, was sie taten, das Richtige war, dann wurde das nagende Gefühl in seinem Innern manchmal ganz leise, so als würden die anderen es in Schach halten. Vielleicht, so schoss ihm gelegentlich eine flüchtige Hoffnung durch den Kopf, vielleicht war er mit ihrer Hilfe, wenn er mit ihnen zusammen auf dem schöneren Weg blieb, in der Lage, es irgendwann abstellen zu können. Ob Odasaku dies geahnt hatte? Mit einem zufriedenem Lächeln im Gesicht schloss Dazai seine Augen. Ja. Das hatte er bestimmt. Odasaku war viel klüger als er selbst gewesen und er war sein Freund gewesen. Er hatte gewusst, was das Beste für ihn war. Und so hatte es Dazai damals auch nicht verwundert, dass er an Odasakus Worte hatte denken müssen, als ihm ein gewisser Waisenjunge, der sich unbewusst in einen Tiger verwandelte, über den Weg gelaufen war und ihm sein Leid geklagt hatte. Atsushi war verzweifelt, verängstigt und einsam gewesen. Kurzum: eine schwache Waise, die gerettet und beschützt werden wollte. Als hätte Odasaku persönlich den Jungen zu ihm geschickt. Was Dazai damals überrascht hatte und heute eigentlich immer noch überraschte, war wie sehr er ihn retten und beschützen wollte. So gesehen war Atsushi das komplette Gegenteil von ihm selbst: Er war aufrichtig, emotional, hatte einen natürlichen Sinn dafür das Richtige zu tun und vor allem einen immensen Überlebenswillen. Fukuzawa hatte sich zweifellos etwas dabei gedacht, den Jungen ausgerechnet in seine Obhut zu geben – so wie es mit Sicherheit auch kein Zufall war, dass er und Kunikida ein Team bilden sollten. Es hatte Dazai daher auch nicht überrascht, als Atsushi und Kyoka ihm zu Hilfe hatten kommen wollen. Vielmehr hatte er dies ja sogar erwartet, denn der Junge konnte nicht anders. Wenn jemand in Gefahr war, dann regte sich etwas in ihm; ein unabdingbarer Drang, Menschenleben zu retten. Das Lächeln im Gesicht beibehaltend, öffnete Dazai seine Augen wieder. „Was gibt es, Atsushi?“   Atsushi hatte Dazai schon ausfindig gemacht, als er die Treppen zum Friedhofsgelände heruntergekommen war. Stutzend blieb er vor dem Grab mit der Inschrift „S. Oda“ stehen. Dazai hatte ihm den Rücken zugewandt und er war auf so leisen Sohlen herangeschlichen, wie in aller Welt hatte er ihn gehört? Was für ein übermenschliches Hörvermögen hatte der Mann eigentlich? „Ich habe dich gesucht. Wo hast du die letzten Tage gesteckt?“ Dazai schmunzelte bei dem unterschwellig vorwurfsvollen Ton des Jungen. „Mal hier, mal da“, gab er lapidar und ganz absichtlich unbefriedigend zur Antwort. „Das Büro nimmt heute wieder den Regelbetrieb auf.“ „So?“ „Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.“ „Na ja.“ Obwohl er ihn nicht sah, konnte Dazai sich vorstellen, wie Atsushi bei diesem schleppend verlaufenden Gespräch langsam den Kopf hängen ließ. Nicht nur, dass es tatsächlich so war, zusätzlich erfüllte ein angestrengtes Seufzen des Jungen die Umgebung. Dann trat für einen Moment ein Schweigen zwischen ihnen ein, ehe Atsushi tief Luft holte, als würde er sich darauf vorbereiten, etwas zu sagen, das ihn Überwindung kostete. „Was … was hättest du gemacht, wenn Joyce und Tanizaki nicht aufgetaucht wären?“ „Das ist eine unsinnige Frage, Atsushi. Sie sind schließlich gekommen.“ „Du weißt, was ich meine“, drängte er. Dazai seufzte. Nach Atsushis heftiger Reaktion auf das Trugbild vor einigen Tagen war ihm nicht danach, ihm zu sagen, dass er dann trotzdem abgedrückt hätte. Dass er eigentlich schon im Begriff gewesen war, abzudrücken, als er die Geräusche im Haus vernommen hatte und eine einzelne grüne Schneeflocke in sein Blickfeld gefallen war, die das Kommen Weiterer angekündigt hatte. Doch das musste Atsushi jetzt nicht wissen. Die Tränen des Jungen waren Dazai noch allzu präsent und er wollte sich keine Wiederholung davon ansehen. „Das liegt doch jetzt schon in der Vergangenheit. Und die kann man eh nicht ändern.“ Er stand auf, steckte seine Hände in die Taschen seines Mantels und drehte sich zu seinem Schützling. Atsushis große Augen verrieten ihm, dass er mit dieser Antwort noch immer nicht zufrieden war. Ein Pokerface hatte der Junge wirklich nicht. „So gesehen ist dies genau das, woran Barrie zerbrochen ist. An der Unveränderlichkeit der Vergangenheit.“ Trübsinn legte sich über Atsushis Miene. Er war niemand, der solche Erlebnisse einfach abhakte. Er war vor allem niemand, der den Tod von Menschen einfach in Kauf nahm. „Hätte man Barrie noch irgendwie retten können?“, fragte der Junge mit einem Tonfall, der ebenso trübsinnig klang. Dazai wusste, dass er ihm irgendetwas an Antworten geben musste, damit er die Sache verarbeiten konnte. Er zuckte geringfügig mit den Schultern. „Wenn er einen besseren Weg gefunden hätte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, hätte er eventuell eine Zukunft sehen können. Aber es ist nicht allein sein Fehler gewesen. Die Umstände haben ihn zu dem gemacht, der er zum Schluss war.“ Barries Pech, fasste Dazai für sich selbst lakonisch zusammen, war es gewesen, dass sich ihre Pfade damals gekreuzt hatten. Sein wahres Unglück aber hatte darin bestanden, dass sie danach ihre Rollen getauscht hatten: Der Mensch hatte den Dämon gejagt, der zu einem Menschen geworden war, der von einem Dämon gejagt wurde. Neugierig erwiderte der Brünette nun Atsushis Blick, der ihn mit einer gewissen Unbeirrbarkeit in der Mimik betrachtete. Die Fragerunde war also noch nicht beendet. „Du hast viele Menschen ermordet, oder?“ Dazai entwich ein erstauntes „Oh“, denn mit einer solchen Direktheit hatte er nicht gerechnet. Es ließ ihn innerlich schmunzeln, da er es liebte, wenn Atsushi ihn überraschte. „Viele wäre nicht einmal das passende Wort.“ Der silberhaarige Junge nickte bedächtig. „Ich gebe zu, dass ich meine Augen davor hatte verschließen wollen, was du als Mitglied der Hafen-Mafia wohl alles so getan hast. Ich wollte es verdrängen, obwohl es mir immer klarer wurde, dass dies unmöglich ist.“ Er machte eine kurze Pause, in der er seinen Blick ein wenig senkte. „Ich hatte Angst, dass, wenn ich mich deiner Vergangenheit stelle, ich dich dann mit anderen Augen sehen würde – und das wollte ich nicht.“ „Und? Was siehst du jetzt?“ Dazai sah weiterhin gefasst zu ihm. Aber tief in seinem Inneren war er auf die Antwort gespannt. „Kyoka erzählte mir, du hättest sie mal gefragt, ob sie glaubte, dass jemand, der andere getötet hat, kein guter Mensch mehr werden könnte.“ Endlich blickte Atsushi wieder auf und schaute Dazai direkt an. „Ich habe darüber nachgedacht und … ich halte dich für einen guten Menschen. Der Dazai, der jetzt und hier vor mir steht, ist der, der mich gerettet hat und dem ich mein Leben zu verdanken habe. Es gab mal einen anderen Dazai, der wahrscheinlich sehr viele schreckliche Dinge getan hat, aber über ihn kann ich nicht viel sagen, da ich ihm nie begegnet bin. Und um ehrlich zu sein, bin ich sehr froh darüber, ihn nicht kennen gelernt zu haben. Doch ich bereue es nicht, dich damals aus diesem Fluss gezogen zu haben, denn du bist ein guter Mensch, Dazai. Du bist ein Mensch, der andere Menschen beschützt und ich will, dass du noch möglichst lange an meiner Seite bleibst.“ Der Ältere der beiden blinzelte ihn verblüfft an. Das war … schon wieder eine Überraschung gewesen. Und ein bisschen zu viel Pathos für seinen Geschmack, aber wie auch immer – Atsushi hatte ein Händchen dafür, solche emotionalen Reden zu schwingen. Dazai lächelte in sich hinein und schüttelte gleichzeitig gedanklich den Kopf darüber. Die Worte des Jungen trafen in seinem Herzen auf unerwartet viel Zuspruch. Mit so etwas konnte er nicht gut umgehen. Oje, dachte er, was soll ich denn darauf antworten? Zu viel, Atsushi. Zu viel! Da fehlt ja nur noch die Liebeserklärung am Ende! „Weswegen hast du mich eigentlich gesucht?“ Dazais Frage kam so unerwartet, dass es nun an Atsushi war, verwundert inne zu halten. Weil der Braunschopf es aber geschafft hatte, sie so nonchalant vorzutragen, sammelte der Junge sich relativ schnell wieder, auch wenn man in seinen Augen ablesen konnte, wie enttäuscht er war, dass Dazai nicht auf das eingegangen war, was er ihm unter Zusammennehmens all seines Mutes gesagt hatte. „Ah, ja! Ich soll dir etwas vom Chef ausrichten.“ „Vom Chef?“ Ein Lächeln fand den Weg zurück auf Atsushis Gesicht. „Der Chef lässt dir ausrichten, dass du zu spät zur Arbeit kommst.“ Dazai stutzte kurz, bevor er das Lächeln erwiderte. Das hieß dann wohl, dass seine Kündigung ignoriert wurde. Dem Chef widersprach man eben nicht so einfach. Nicht einmal er. Dazai setzte sich in Bewegung und schloss zu Atsushi auf und während sie gemeinsam den Friedhof verließen, drehte der Brünette sich noch einmal zu Odasakus Grabstein um. „Aber wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat, dann … möchte man sie nicht mehr missen“, flüsterte er in dessen Richtung. „Huh? Hast du was gesagt?“, fragte Atsushi und Dazai schüttelte amüsiert den Kopf. „Im Übrigen bin ich schon fleißig gewesen, während ihr alle noch eure Wunden geleckt habt“, antwortete er stattdessen und irgendetwas an seiner schelmischen Bemerkung beunruhigte Atsushi zutiefst.   Kunikida hatte damit begonnen, sich dem riesigen Stapel Dokumente zu widmen, der sich auf seinem Schreibtisch türmte. Ein paar Tage Abwesenheit und schon hielt im Büro das Chaos Einzug. Aber nicht mit ihm! Auch wenn sein Kopf noch schmerzte, begab er sich beflissentlich an die Arbeit und begann, alle Papiere, die vor ihm lagen, nach Wichtigkeit zu sortieren. Doch ... was war das für ein Dokument? Das sah ja aus wie eines der Formulare zur Quartalskostenaufstellung. Neugierig zog der Brillenträger es aus dem Stapel heraus und sein Blick fiel als allererstes auf die Namenszeile im oberen Teil des Formulars. Dazai? Dazai hat freiwillig die Kostenaufstellung neu ausgefüllt? Ungläubig blinzelte er den Namen seines Partners an, ehe sein Blick zu den Zeilen darunter wanderte und seine Augen immer größer wurden, während sein Blutdruck immer weiter anstieg und die Venen auf seiner Stirn eine nach der anderen hervortraten. Das Blatt Papier war von oben bis unten voll gekrakelt. In der linken Hälfte war eine ganze Herde von Kühen mit Brille und Pferdeschwanz zu sehen, denen alle Sprechblasen anhafteten, in denen „KUHnikida“ stand. Über einen Großteil der Seite war einfach immer nur „KunikunikunikunikunikunikuniKIDA!“ gekritzelt worden und dann gab es noch ein großes Herz, in dem zu lesen war: „Kunikida + seine Brille.“ Doch in mitten all dieses kindischen Geschmieres entdeckte Kunikida ein in mikroskopisch kleiner Schrift geschriebenes Wort, das einem weniger aufmerksamen Menschen sicherlich entgangen wäre. Er musste beinahe mit seinem Gesicht in das Papier kriechen, um entziffern zu können, was in aller Welt da geschrieben stand: „Danke.“ Kunikida betrachtete das Formular wortlos für einige Sekunden, ehe er eine Schublade an seinem Schreibtisch öffnete, es dort hineinlegte und die Schublade wieder schloss. Dann räusperte er sich und widmete sich von neuem seiner Arbeit, während er unbeirrt sagte: „Neu ausfüllen muss er es aber trotzdem.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)