See you at the bitter end von rokugatsu-go ================================================================================ Kapitel 3: I wonder: is this all there is? ------------------------------------------ „I wonder: is this all there is?“   Placebo, „The never-ending why“     Genervt zog der Junge den immer noch zu großen schwarzen Mantel aus und legte ihn am Fuße des Hügels zusammen. Es waren bestimmt 38 Grad im Schatten und wenn er den Mantel anbehielt, so war sich Dazai sicher, würde er an einem Hitzschlag sterben. Und das war definitiv nicht die Methode seiner Wahl. Außerdem wollte er nicht, dass Herr Moris Mantel dreckig wurde. Missmutig blickte er den steilen Hügel hinauf. Wieso musste seine Zielperson ausgerechnet an einem so heißen Tag auf eine so steile Anhöhe fliehen? Jetzt hatte er ihn den ganzen Weg aus der Stadt bis hierher verfolgt und musste auch noch eine Wanderung einlegen? Dazai stöhnte. Manchmal hatte dieser Job seine Tücken. Aber Herr Mori wollte, dass er die Zielperson erledigte. Der Typ hatte den Boss bei Schmuggelgeschäften übers Ohr gehauen und Geld von der Organisation abgezweigt und weil Herr Mori immer noch nicht über den größten Rückhalt in der Hafen-Mafia verfügte, wollte er den Vorfall möglichst klein halten. Überhaupt auf den Franzosen hineinzufallen war schon peinlich genug gewesen, aber sich dann auch noch so lange von ihm vorführen zu lassen …. Und deswegen musste Dazai jetzt an einem verdammt heißen Tag einen verdammt steilen Hügel hinaufkraxeln. Es half ja nichts. Der Junge hoffte nur, dass er es bis zum Abend in die Stadt zurück schaffte, denn er war für heute mit Odasaku verabredet und wollte ihn nicht warten lassen. Von Temperatur und Hügel abgesehen (immer noch zu heiß, immer noch zu steil), war der Auftrag ansonsten nichts Besonderes. Hatte er gedacht. Denn Dazai konnte nicht anders als sich zu wundern, warum der Franzose, der unter dem Decknamen „Der Fremde“ agiert hatte, auf diese Anhöhe geflüchtet war, von der es kein Entkommen mehr gab. Zur rückwärtigen Seite konnte man nicht hinabsteigen, denn dort befand sich das Meer und von dieser Stelle die Klippen hinabzuspringen, würde man dank der Felsen im Wasser nicht überleben. Aus dieser Höhe auf Gestein krachen? Nein, auch nicht die Methode seiner Wahl. Entnervt keuchend erreichte er die Spitze des Hügels. „Hätte der Boss nicht den Wicht herschicken können? Chuuya hätte den blöden Berg einfach dem Erdboden gleichgemacht“, lamentierte Dazai und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Was ist das denn?“, begrüßte seine Zielperson ihn skeptisch. Dazai blickte zu dem dunkelhaarigen Mann, der am Rand der Klippen stand und ihn kritisch beäugend angesprochen hatte. „Ich hatte erwartet, die Mafia würde mir so eine schwer bewaffnete Einheit auf den Hals hetzen und ich würde dramatisch in einem Kugelhagel sterben. So wie im Film.“ Er klang tatsächlich ein wenig enttäuscht. „Aber stattdessen schicken sie nur einen einzigen Jungen, um mich zu erledigen? Das lässt mich ja geradezu denken, dass ich mich nicht genug angestrengt habe, um wichtiger genommen zu werden.“ Was war denn das für einer? Für den Hauch eines Moments war Dazai tatsächlich sprachlos. Keiner seiner bisherigen Ziele hatte so reagiert. Normalerweise flehten sie um ihr Leben oder stürzten sich in einen aussichtslosen Kampf, aber … das hier? Das war neu. „Wenn es Ihnen irgendein Trost ist, ich bin Herr Moris fähigster Untergebener“, bot er schließlich an. „Der Fremde“ legte nachdenklich den Kopf schief. „Na ja, ich will dir das mal glauben. Dann wäre es in der Tat ein kleiner Trost.“ „Wollen Sie nicht um Ihr Leben betteln? Oder so etwas in der Art? Das machen die meisten an dieser Stelle.“ Dazais Gegenüber blinzelte ihn mit großen Augen an. „Um mein Leben betteln? Würde das denn was bringen?“ „Nein.“ „Wäre auch nicht meine Art.“ Der Franzose zuckte mit den Schultern. „Es ist zwar schade, dass mein Leben hier ein Ende findet, aber ich allein bin schließlich für mein Handeln verantwortlich, nicht wahr? Dann sollte ich auch bis zum Schluss zu meinen Entscheidungen stehen.“ Neugier regte sich in Dazais Innern. „Hängen Sie denn nicht an Ihrem Leben, Herr ...“, der richtige Name des Mannes fiel ihm wieder ein, „Herr Camus?“ „Oh? Doch. Auf jeden Fall!“, rief der Angesprochene aus. „Warum sind Sie dann hergekommen? Ich hatte angenommen, Sie wollten sich hier in den Tod stürzen.“ „In den Tod stürzen?“ Camus winkte ab. „Nicht doch. Ich wollte den Sonnenuntergang noch einmal sehen. Und von hier ist die Aussicht grandios.“ Er zeigte auf das Meer hinaus, dem die Sonne sich mehr und mehr annäherte, während sie den Himmel und das Wasser langsam hellrot färbte. „Sag, Junge“, fuhr er fort, nachdem sie sich einen Moment lang angeschwiegen hatten, „war das Einbildung oder hast du 'in den Tod stürzen' gerade mit sehr viel mehr Begeisterung gesagt, als es bei den meisten Menschen üblich ist?“ Ein Lächeln legte sich auf Dazais Lippen. „Ich hatte gehofft, Sie wären vielleicht auch ein Selbstmordfanatiker.“ „Auch?“ Der Franzose stutzte. „Oje, Junge, denk da lieber nicht weiter drüber nach. Damit wirst du nicht glücklich werden. Selbstmord ist unsinnig.“ „Glücklich?“ Dazai sah „den Fremden“ an, als hätte dieser den Verstand verloren. „Wieso soll Selbstmord unsinnig sein?“, konterte er, merklich beleidigt, dass jemand sich schlecht über Suizid geäußert hatte. Camus schaute ihn an, als hätte er gerade etwas äußerst Dummes gesagt. Normalerweise war es Dazai, der genau diesen Blick sonst Chuuya zuwarf. „Oh ja, Selbstmord ist unsinnig. Genau wie das Leben“, antwortete der Franzose ihm. Der Mann hatte es im Handumdrehen geschafft, den jungen Mafioso aus der sonst beinahe apathischen Ruhe zu bringen. „Was soll das denn nun wieder heißen? Wie können sowohl der Selbstmord als auch das Leben keinen Sinn haben? Sie widersprechen sich doch total!“ „Nein, tue ich nicht.“ Camus überlegte kurz. „Oh, warte, ich erkläre dir genauer, was ich meine. Einen tieferen Sinn im Leben zu suchen, das ist … nun ja, unsinnig. Den gibt es nämlich nicht und wenn man danach sucht, wird man nur daran verzweifeln.“ Er lächelte. „Aber aus einem Mangel an Sinn das Leben zu beenden, ist genauso unsinnig. Man muss so lange leben wie es einem möglich ist und jeden Augenblick so intensiv leben wie es einem möglich ist. Das ist das einzige, was man tun kann. Und dann kann man auch Glück erfahren. Jetzt verstanden?“ Der Kerl hatte sie eindeutig nicht alle. Hatte er es hier mit einem Wahnsinnigen zu tun? Das musste es sein! Nur ein Wahnsinniger würde solche Dummheiten von sich geben und um das, was ein Wahnsinniger behauptete, musste er sich nicht scheren! Dieser Typ wusste doch nicht, was er da sagte. Was er da Ungeheuerliches sagte. Dazai tat sein Bestes, das Kribbeln unter seiner Haut zu ignorieren, das plötzlich in ihm aufkam, während er versuchte, Camus als Lügner zu strafen. „Wenn Sie ein langes Leben haben wollten, war es ziemlich dumm, der Hafen-Mafia das Geld zu klauen.“ Erneut zuckte Camus mit den Schultern. „Ja, aber um intensiv leben zu können, habe ich das Geld gebraucht. Ich habe jeden Moment bis zum Äußersten ausgekostet und ein Leben gelebt, das mich erfüllt hat. Ich bereue also nichts.“ „Ein Leben, das Sie erfüllt hat? Woher wollen Sie wissen, dass es Sie erfüllt hat? Wenn Sie behaupten, das Leben hätte keinen tieferen Sinn, können Sie auch nichts gefunden haben, was Ihnen Erfüllung bietet. Ich wusste es, Sie haben keine Ahnung, was Sie da sagen!“ Überrascht sah der Franzose Dazai an. Dann legte sich ein Ausdruck von Mitgefühl über sein Gesicht. „Oh, Junge.“ Camus seufzte mitleidsvoll. „Wenn man etwas gefunden hat, in dem man aufgeht, in dem man Erfüllung findet, dann weiß man das und dann versteht man auch, dass die Suche nach einem tieferen Sinn absurd ist. Das heißt ... du hast nichts, in dem du aufgehen kannst? Nichts, dass dich das Leben spüren lässt und dich Glück empfinden lässt?“ „Ich brauche nichts, in dem ich aufgehe.“ Dazai bemerkte selbst nicht, wie gereizt er klang. „Ich brauche kein Glücksempfinden. Ich suche nach etwas Anderem. Etwas Größerem.“ „Hatte ich dir nicht gerade erklärt, dass die Suche nach einem Sinn des Lebens sinnlos ist?“ Der Ältere seufzte. „Du brauchst etwas, das dich erfüllt. Das braucht jeder Mensch.“ „Ich bin nicht wie andere Menschen“, widersprach der Junge trotzig. Camus blinzelte verwundert, ehe er lachte. „Was du nicht sagst!“ „Was wissen Sie schon über mich?!“ „Es ist so offensichtlich, dass du deines Lebens überdrüssig bist“, antwortete der Mann ruhig. „Ich vermute mal, du empfindest dich auch von anderen Menschen entfremdet, nicht wahr? So verzweifelt suchst du nach einem Sinn. Und jetzt komme ich und sage dir, dass deine Suche sinnlos ist und du dich lieber anderen Dingen zuwenden solltest. Ich kann deine Frustration verstehen, aber sie wird dich auch nicht weiterbringen.“ „Ihre Erklärungen sind das, was unsinnig ist! Sie helfen mir kein Stück weiter!“ Es war unstrittig, dass Dazais Stimme zitterte. Das Kribbeln unter seiner Haut wurde schlimmer und er wünschte sich, er könnte die Worte des Anderen ungehört machen. Das Kribbeln wurde zu einem Druckgefühl, das sich in seinem gesamten Körper breitmachte, sein Herz begann zu rasen und es war, als würde er sein eigenes Schreien in seinem Kopf hören. Er hat nicht Recht. Er hat nicht Recht. Und weil er die Unwahrheit sagt, sollte er besser schweigen. Der Franzose ließ seinen Blick erneut zum Sonnenuntergang wandern. „Das tut mir leid. Trotzdem wünsche ich dir, dass du etwas findest, das dich erfüllt. Mir ist wahrlich noch nie zuvor ein derart unglücklicher Mensch, wie du es einer bist, begegnet.“   Die tiefrote Sonne war fast im Meer versunken, als Dazai zu ihr hinaussah und die Pistole wieder wegsteckte. Der Junge ging zum Rand der Klippen, wo eben noch Camus gestanden hatte, und blickte auf die Felsen, die dort unten aus dem Meer ragten und vom tosenden Wasser umspült wurden. Irgendwo da unten trieb nun der Franzose und Dazais Wut über dessen Worte vermischte sich nun mit dem Neid darüber, dass für Camus die Frage nach Sinn und Unsinn ein für allemal beendet war. Wie gebannt starrte der Junge die Felsen und das Wasser an und etwas in seinem Inneren sagte ihm lauter und lauter werdend, noch einen Schritt nach vorne zu machen. Der Augenblick, den er dort hinuntersah, zog und zog sich, bis es tatsächlich dunkel war. Auf einen Schlag bemerkte Dazai, wie sehr es abgekühlt hatte und er blickte zum finsteren Horizont. Ah, ja!, fiel es ihm plötzlich ein. Odasaku wartete ja auf ihn. Dazai machte kehrt und stieg den Hügel wieder hinab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)