Ein Suchender von CurryOfDeath (Lichtermeer) ================================================================================ Wo ich herkomme, fühlt sich sogar das Wasser anders an. Gelassen, gefasst, schon fast gedankenvoll seinem Weg folgend. Hier dagegen ist es wild – und das spüre ich schon daran, wie es um meine Füße spült. Dass es eisig kalt ist, gerade über dem Gefrierpunkt, hat damit nichts zu tun, das ist nicht sein Charakter. Nein, es ist eher, als würde es mit aller Kraft jeden noch so kleinen Spalt einnehmen wollen, zwischen meinen Zehen, zwischen den Kieseln, auf denen ich stehe, zwischen jedem Hauch Luft, der dicht über seine Oberfläche streift. Zuckend springen die Wellenberge gen Himmel, spritzen und schillern im schwachen Mondlicht, als wäre jeder Fingerbreit Bewegung über seine natürliche Schwelle es wert, seine gesamte Kraft zusammenzunehmen. Es sind kleine, regelmäßige Bewegungen, die sich zu einem großen Rauschen zusammenfügen. Spielerisch vielleicht, im Kleinen. Doch als Ganzes verbirgt es eine unbändige Macht unter seiner wandlungsfähigen Oberfläche. Der Atem des sogenannten Meeres. Vielleicht ist es ein Lebewesen, das wartet. Es liegt zwischen den Kontinenten dieses verfluchten Landes, voller Dunkelheit, die jahrelang alles war, was seine Lungen füllte. Ein und aus, Jahrhunderte der Finsternis, bis sein Blut so schwarz war wie es die Seelen der hier Lebenden sind. Nichts ist mehr übrig von der Harmonie, die ich kenne, für die es geschaffen wurde.   Es schmerzt mich, hier zu stehen und die karge Küste in meinem Rücken zu wissen, die einst blühendes Land hätte sein sollen. Eisbedeckte Felsen, schneeverhüllte Hänge, gerade sichtbar durch das Leuchten der Blumen und meterhohen Pilzkappen. Wo kein echtes, warmes Sonnenlicht die Oberfläche berührt, fand die Natur eigene Wege, sich zu erleuchten. Verstreutes, schwaches Schimmern, nicht einmal ansatzweise vergleichbar mit den satten Strahlen, die meine Heimat am Leben erhalten und die Luft mit einem eigenen Puls füllen. In meinem Land bildet jedes Licht einen klaren Pfad, beleuchtet eindeutig jedes Ziel und jeden Schritt – hier dagegen ist es nichts als andersfarbiger, diffuser Schein, gekräuselt im Wasser und fast zu verwechseln mit dem Mondlicht auf den Wellen. Ein treffendes Bild für all die Sucher und vergeblich Wandernden, die sich auf diesem Land niedergelassen haben. Ihr Tölpel. Hier werdet ihr niemals den rechten Pfad erblicken, eure Augen würden erblinden. Diese Irrlichter, die euer Dasein dimm anflimmern, führen euch sinnlos im Kreis, weil ihr euer eigenes Ziel nicht sehen könnt. Eure Mühen sind mir so fremd wie dieses Wasser, ich weiß genau, was es mir zeigen soll. Mehr falschen Glimmer, nichts anderes! Für meine Gewissheit muss ich es nur noch sehen, darauf warten, dass es sein Gesicht entblößt. Mittlerweile kann ich nicht mehr wahrnehmen, wo mein Gewicht die Steine berührt, das Meer hat mich mit seiner eigenen Sohle verbunden. Sollte es mir nicht Schmerzen bereiten, mit dieser Fremdheit eins zu sein? Es sticht weniger als erwartet - und doch hilft es, sich nicht in den traurigen Gedanken um das verlassene Land und dessen Schicksal zu verlieren. Kaum bemerkbar wandeln sich die wilden kleinen Strudel, die mühsam am Boden kratzen oder nach dem Wind haschen. Von einem Moment auf den anderen lassen die tausenden Fühler das Fühlen sein, ihre kraftraubende Aufgabe niederlegend. Ruhe. Der Atem des Meeres wird länger, friedlicher. Und so, wie die Wärme aus meinem Körper weicht, verschwinden die Gefühle, die ich gegenüber dem Land gerade noch voller Überzeugung vor mir halten konnte. Auf einmal federleicht entschwinden sie, als hätten sie ihre Kraft und ihr Gewicht verloren, ohne dass ich sie jemals wieder ins Herz schließen könnte. Es kehrt Stille ein, die ich im Tosen und Brausen dieser Küste vermisst habe. Sie ist mehr als das Fehlen eines blinden Wütens, es ist das Warten darauf, dass man es sprechen lässt. Je länger ich verharre, desto deutlicher wird sein leises Wispern, so völlig anders, als es vor kaum einem Herzschlag noch gerauscht hatte. Was ist dieses Wesen?   Hier ist etwas, das voller Dunkelheit seine Schatten hütet, und doch ist es am Leben. Was geht hier vor sich? Ist das die Kraft, die ich zuvor nur hatte erahnen können? Nimmt es mir meinen Geist? Habe ich mich geirrt und verliere nun den Verstand? Ich will mich ängstigen und fürchten, mit eisiger Gewissheit – doch ich kann nicht anders, als einen kühlen, festen Stand zu halten und zu spüren, wie meine Ablehnung nach unten sinkt. Dort, wo die glatte Oberfläche der Steine meine Sohle berührt, verlässt mein Wissen, mein Glauben über die Wahrheit, meinen Körper, ohne Pein. Was mich all mein Leben aufrecht gehalten hat, versinkt in diesen schwarzen Tiefen, und es macht mir nichts aus, obwohl es das doch sollte. Mir stockt der Atem, meine Kehle staubtrocken, mein Puls stolpernd und unstet – und doch spüre ich nichts als die kühle Gelassenheit, die die lebenden Wellen an meine Beine herantragen. Ich werde zerrissen und gleichermaßen hier in Stein gehauen. Meine Glieder – angebunden, vereist, unwichtig. Ich stehe bewegungslos auf diesem Grund und kann nichts tun als sehen. Das ist es. Ich soll hier sein und wahrnehmen, was mich hierher geführt hat, ohne all die dunklen Gedanken. Hier ist Finsternis, doch ich bin frei, meinen Blick davon zu lösen. Ich habe alles den Wellen überlassen und fühle etwas anderes als Ablehnung. Ein leerer Platz in mir ist entstanden, voller Bereitschaft, etwas Neues aufzunehmen. Keine nagende Qual, kein verkrampftes Festhalten und Zerren, einfach ein Ort, frisch und frei, ohne den Schleier meiner Erfahrungen. Ich bin bereit, auch wenn ich nicht mehr weiß, wofür.   Dieses Meer hat gewartet, ich erkenne es nun deutlich. Erst ungestüm und gierig, zeigt es nun in seiner und meiner neuen Ruhe, was es unter der schwarzen Oberfläche verborgen hatte. Zunächst kaum mehr als eine Spiegelung der Farbenspiele an der Küste, ist in seinem Körper ein Licht zu erkennen, pulsierend, beweglich, zielstrebig. Ein kleines Irrlicht, wie seine Gleichnisse auf dem Festland. Es steigt auf und bringt noch eines mit sich, ein schwaches Leuchten, kühler, distanzierter und doch nach oben strebend. Vorsichtig. Dahinter noch eines, eifrig, erwartungsvoll, mit zwei weiteren in seinem Schein. Es sind nur wenige Sekunden, ein paar Mal Blinzeln, bis sich all die verschiedenen Lichter erhoben haben, aus dem Herzen der Dunkelheit, den kalten Wellen des durstigen Wassers. Orientierungslos werden sie herumgeworfen von den steten Bewegungen der Strömung, verketten sich zu Knäulen, um wieder auseinandergerissen zu werden und an anderen Lichtern neuen Anschluss zu finden. Chaotisches Wirbeln, ein Kampf um jeden Platz, der immer weiter von neuen schwebenden Leuchten eingenommen wird. Je mehr es werden, desto mehr erhellt sich die Luft über dem Meer. Jeder Atemzug bringt neuen Glanz hervor, der sich zu einer Fülle anhäuft, die beinahe greifbar erscheint.   Vor mir erscheint ein Teppich aus funkelndem Reichtum, es ist kaum auszumachen, wo ein Glimmer endet und der nächste beginnt. Dicht an dicht, anmutig auf den Spitzen der gleitenden Wellen, versammeln sie sich, ein jedes mit einer eigenen Färbung, so anders von seinen Nachbarn, dass es ihn perfekt ergänzt. Die Willkür, die die einzelnen Irrlichter herumgetrieben hatte, wird zu einem anmutigen Tanz, einem Reigen, der eigenen Gesetzen folgt. Einhellig gleiten sie durch die ehemals dunklen Wasser, ein gewundener Pfad der Entdeckung, dessen Ziel der Horizont ist. In der Ferne ist ihr klarer Strahl erkennbar, golden im Gesamtbild, unbewegt trotz der Wellen. Warmes Leuchten, friedlicher Atem, kühle Gewissheit strahlt gleißend auf die Felsen, in den Nachthimmel und in mein kleines, unbedeutendes Gesicht. Ich kann die Grenzen nicht sehen, nicht fühlen, ich weiß nur: ich bin eines von ihnen, ein Teil ihres Wegs. Die unvergleichliche Macht ihres Lichtes, zu dem ein jedes kleine Schimmern beiträgt, treibt mir die Tränen in die Augen. Mein angehaltener Atem drängt nach außen und steigt in Wolken auf. Flüchtig, schon ist der Beweis meiner Lebendigkeit vergangen, im Angesicht dieser majestätischen Schönheit. Wo ich zuvor Angst und Abscheu spürte, ist nun nichts anderes als Erstaunen. Staunen, dass es so etwas so tief verborgen gab, so alt, so ehrwürdig und so unbefleckt von all der Finsternis. Staunen, dass es sich mit solcher Macht so sanft zeigt. Staunen, dass es Furcht nimmt und eine Mitgift anbietet, die ich in keiner Weise verdient habe.   Vergib mir, Herrin, ich war ein Narr. Blind sah ich nur, was die Oberfläche zeigte, ohne auch nur eine Sekunde an das Herz dieses Landes zu denken. Es mag von Finsternis befallen sein, doch sein Licht ist echt, ein strahlendes Band über seinem Leib. So fremd es aussehen mag, so verschieden und vielfältig, dieses Leuchten ist Leben, das auch in mir weilt und in jedem Fleck dieses Landes. Jeder Funke kann ein Sterblicher sein, eine Seele, ein Herz – ein jeder anders, für sich, und doch Teil eines großen Ganzen, das darauf wartet, in Frieden zu erstrahlen. Ich verstehe es nun. Ich konnte es nicht sehen, weil mein falsches Wissen mir die Sinne vernebelte. Wo ich das hortete, was mich von diesem Land hier abgrenzte, ist nun Raum, um Neues zu entfalten. Er ist so viel größer als dieses Leuchten, dass es mein Leben lang dauern wird, ihn zu füllen. Ich habe nie geglaubt, Leere finden zu müssen, doch hier habe ich sie gefunden. Und nun werde ich mehr suchen müssen, mehr sehen und mehr staunen, um diesen Platz in mir zu beleuchten. Eine große Aufgabe, die an meinem Horizont gerade erst beginnt, dort, wo der Lichterpfad vor mir endet.   Die hellen Funken dieses Meeres haben mir gezeigt, was ich habe finden müssen, ihre Aufgabe ist getan. Und so zahlreich und eifrig, wie sie auftauchten, erlöschen sie allmählich wieder. Friedlich, still und leise sinken sie zurück in das schwarze Blut, das sie hervorgebracht hat, wartend auf neue Augen, die sie öffnen können. Sie brauchen meinen Dank nicht, und doch möchte ich meinen Kopf vor ihnen neigen, vor dem Meer, und vor allem anderen, was mir sein Licht noch zeigen wird. Ich stehe mit den Füßen im kalten Wasser, das sich anders anfühlt als dort, wo ich herkomme. Die klare Luft streicht über mein Gesicht und nimmt die letzten Schleier von meinen Augen. Ich atme, wie es auch dieses Meer tut. Ich bin ein Suchender, weil ich gefunden habe. Und egal, wo ihr herkommt oder hingeht, auch ihr werdet finden, solange ihr Geduld habt, euch alles anzusehen, ein offenes Herz, alles aufzunehmen und Mut, mitten in alles hineinzugehen, was fremd und furchterregend wirkt. Und wenn ihr dann den Blick zurück zu der Küste wendet, von der ihr gekommen wart, werdet auch ihr sie mit anderen Augen sehen.   Es ist Zeit, weiterzuziehen.  Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)