In Time von Arcturus ================================================================================ Kapitel 1: In Time ------------------ Die Gestalt seines Vaters mit der Strömung des Styx verschwinden zu sehen, hatte etwas seltsam Befriedigendes. Nur etwas Befriedigendes, allerdings. Keine Erleichterung. Dafür war es zu kalt. Und zu schmerzhaft. Und zu … seltsam. Zu richtig, irgendwie, und gleichzeitig sehr, sehr falsch.   Für einen Moment stand Zagreus einfach nur da und beobachtete, wie die Schneeflocken auf seinen Armen schmolzen und wie Wasserdampf dort aufstieg, wo seine Füße den Boden berührten. Nur wenige Meter entfernt plätscherte der Bach voller Oberweltwasser fröhlich vor sich hin. Er konnte Fische unter der Wasseroberfläche tanzen sehen, doch aktuell fehlte ihm die Energie, um ihnen einen Besuch abzustatten. Wenn er sich auf die eisige Kälte und den Schmerz all der Schnitte und Prellungen konzentrierte, konnte er den Rest beinahe ignorieren. Aber nur beinahe. Egal, wie viele Schneeflocken er auch zählte, seine Gedanken kreisten doch immer wieder zu dem zurück, was gerade geschehen war. Und desto mehr sie es taten, desto schlechter fühlte er sich. Zagreus hatte keine Ahnung, wie eine glückliche Familie funktionierte. Einfach, weil es in der Unterwelt keine glückliche, funktionierende Familie gab. Außer Nyx und ihren Söhnen vielleicht. (Und das auch nur dann, wenn man Hypnos als funktionierend anerkannte.) Und selbst bei ihnen war da immer Vaters Schatten gewesen, der über ihnen schwebte wie drohendes Unheil. Und die olympischen Götter? Als Kind waren sie für ihn kaum mehr gewesen als Geschichten. Mittlerweile kannte er sie natürlich. Sie und ihre Konflikte und ihre Auseinandersetzungen und ihr Misstrauen. Entsprechend wusste er es mittlerweile auch besser, als von ihnen zu erwarten, das Musterbild einer glücklichen Familie zu sein, das sie vorgaben zu sein. Selbst jetzt spürte er Zeus’ letzten Zorn über seine Haut kribbeln spüren und das nur, weil er die Gabe seiner Tochter der seinen vorgezogen hatte.   Nein. Es tut uns leid, sie darüber zu informieren, dass aktuell keine Vorzeigefamilie zur Verfügung steht. Bitte versuchen Sie einen anderen Pantheon. Vielen Dank für Ihre Anrufung.   Urgh.   Natürlich, Nyx hatte ihn so gut erzogen, wie es ihr möglich gewesen war, und dafür war Zagreus ihr dankbar. Trotzdem konnte sie nicht allem abhelfen. Das jähzornige Temperament seines Vaters lag beispielsweise weit außerhalb ihrer Macht. Genauso wie seine Ausbrüche. Dass es hierzu gekommen war. Zu alledem. Es lag in niemandes Macht.   Nicht in der von Nyx. Nicht in der der anderen Götter. Nicht in Zagreus’. Nicht in der von Meister Chaos. Nicht in der von Meg. Nicht in der von Than. Nicht- Zagreus atmete durch und konzentrierte sich wieder auf die Schneeflocken, auf seine Füße, die den Schnee um ihn herum schmelzen ließen, auf die Fische, die nur eine gut gezielte Angelrute weit entfernt von ihm schwammen. Niemand konnte dieses Ende seiner verfluchten Familie reparieren. Aber vielleicht war die andere Hälfte noch zu retten - und Zagreus wäre verdammt, würde er es nicht versuchen.   Erst jetzt registrierte er, dass er beobachtet wurde. Irritiert hob Zagreus seinen Kopf. Dieses Gefühl kannte er. Zwar hatte keine Glocke geläutet, um die Anwesenheit anzukündigen, die ihm mittlerweile so vertraut war, doch nach all den Begegnungen verstand er auch so. Es war nur … seltsam. Immerhin gab es hier keinen Wettstreit, der auszukämpfen war, genauso wenig wie es Feinde zum Erschlagen gab. Er wirbelte herum, um das Schlachtfeld zu mustern. »Than?«, fragte er die massive Steinsäule, hinter der er sich vor einigen Minuten selbst noch versteckt hatte. »Hast du uns beobachtet?« »Ich … ja.« Thanatos klang seltsam. Verlegen, vielleicht. Dennoch trat er aus dem Schatten seines Verstecks. »Als ich hörte, dass du die Helden des Elysiums geschlagen hast, entschied ich mich für einen … Umweg.« »Ich würde diesen großmäuligen Trottel von einem König keinen Helden nennen, selbst wenn mein immer-zu-früh-endendes Leben davon abhängen würde«, witzelte Zagreus. »Das heißt - wenn es danach geht, würde ich ihn auch nicht König nennen. Trotzdem … angesichts der Tatsache, dass mein Vater bereits vor einer Weile mit dem Styx verschwunden ist und du immer noch hier bist, gehe ich davon aus, dass nicht hier bist, um ihn mitzunehmen?« »Ha, nein.« Than schüttelte den Kopf. »Charon wird sich darum kümmern. Ich bin mir sicher, es würde sie beide erzürnen, sollte ich mich einmischen. Ich-« Than zuckte mit den Schultern. »Man könnte sagen, ich wäre gekommen … um es mit eigenen Augen zu sehen.« »Oh.« »Du willst immer noch gehen, habe ich recht?« Thans Gesichtsausdruck schmerzte mehr, als es Wörter gekonnt hätten. War es Verdruss? Trauer? Zagreus konnte es nicht benennen. Die unangenehme Vorahnung, dass er im Begriff war, in Fettnäpfen von der Größe von Zeus letztem Zorn zu treten, kroch über seinen Rücken. »Ja«, sagte er trotzdem. »Ja, will ich.« »Ich verstehe.« Keiner von beiden brachte es über sich, Blickkontakt herzustellen. Zagreus fühlte sich irgendwie verloren. Die Härchen auf seiner Haut kribbelten, so, als würde gleich der vollkommen falsche Blitz einschlagen. Vielleicht fühlte sich Thanatos genauso. Vielleicht auch nicht. Immerhin verärgerte er Zeus nicht mit jeder zweiten Entscheidung, die er traf. Außerdem … war Schweigen schon immer so ein Than-Ding gewesen. Es fiel Zagreus immer noch schwer, zu bestimmen, ob sein Freund einfach nichts sagen wollte oder ob er gerade bis zum Hals in einem Fettnapf verschwand. Er mochte es nicht sonderlich. Es erinnerte ihn viel zu sehr an die Stille, mit der Than verschwand, wenn Zagreus es wieder nicht über sich gebracht hatte, die Worte auszusprechen, die ihm auf der Zunge lagen. »Ich verstehe.« Zagreus wusste, was als nächstes geschehen würde. Thanatos würde den Griff um seine Sense korrigieren und sich nur ein wenig drehen und dann- »Wir könnten eine Weile hier bleiben«, beeilte er sich zu sagen. »Nur wenn du möchtest, natürlich.« »Du willst gehen, Zag. Außerdem hast du Schmerzen.« »Ich hatte schon schlimmere.« Als er sah, wie Than den Mund zum Protest öffnete, fügte er hinzu: »Nein, wirklich! Meg hat mich ein paar Mal böse erwischt. Und dieser Hexenzirkel, in den ich immer dann gerate, wenn ich versuche, diesen dämlichen Gorgonenkopf zu umschiffen? Eine satte Elf von Zehn auf der Schmerzskala. Würd ich wieder für sterben.« »Zagreus.« Zagreus hatte längst beschlossen, dass er sich nicht Zagreus!en lassen würde. Unbeirrt fuhr er fort: »Und weißt du, was noch schlimmer ist, als vom Minotaurus aufgespießt zu werden? Von einem Minotaurus aufgespießt zu werden, während dieser andere Typ jeden Zentimeter kommentiert, als wäre er ein Moderator bei diesen Spielen, die die Sterblichen angeblich veranstalten.« Than öffnete den Mund und schloss ihn doch wieder. Schließlich schüttelte er einfach nur den Kopf. Für einen Moment überlegte Zagreus, ob sein Freund einen seiner Kämpfe in der Arena gesehen hatte. Die Idee war irgendwie niedlich. Than, wie er inmitten von Schatten saß, eine Tüte voller Granatapfelkerne in der einen und eine selbstgebastelte Fahne in der anderen Hand … Jep. Definitiv. Zagreus würde glatt sterben, um das zu sehen. Nur zugeben würde er das vor Than sicher nicht. »Aber mal im Ernst?«, sagte er stattdessen. »Dieser Ort hier beeinträchtigt mich nicht so sehr, wie es die Welt jenseits dieser verdammten Tür dort tut. Wir könnten hier ein Weilchen bleiben. Also … soll ich dir zeigen, wie man angelt?« Wenn Thanatos andere Ideen hatte, was sie alternativ tun konnten, sprach er sie nicht aus. Schweigend verließ er die Sicherheit seiner Steinsäule verließ und gesellte sich zu ihm an den Bach. Für einen Moment beobachteten sie beide einen Schatten, der ein Barsch sein mochte oder ein besonders seltsam geformtes Stück Holz. Zagreus war es auch egal. Thans Schulter berührte die seine und das allein ließ all die Schnitte und Prellungen ein bisschen weniger schmerzen.   Letztendlich war es Thanatos, der die Stille mit einem leisen Schnauben unterbrach. »Ich verstehe wirklich nicht, warum du versuchen solltest, eines von diesen Dingern an Land zu ziehen.« Zagreus zuckte mit den Achseln, vornehmlich, um mit seinem Arm über Thans Haut zu streichen. »Es ist wirklich befriedigend, wenn du einen erwischst. Und selbst wenn nicht, ist es entspannend, einfach hier zu stehen und sie zu beobachten. Außerdem … du weißt, dass sie beim Chefkoch einen ordentlichen Preis einbringen? Ich meine, Schlüssel? Edelsteine? Sogar das gute Zeug.« »Das gute-« Zagreus konnte förmlich dabei zusehen, wie die Erkenntnis über Thans Gesicht wusch. Zuerst zog er die Augenbrauen hoch. Dann öffnete er die Lippen, nur um sie einen Moment später zu einem dünnen Strich zusammenzupressen. Zagreus genoss jede Sekunde von diesem Schauspiel. »Sag mir nicht, dass der Chefkoch Schmuggelware unter dem Küchentresen aufbewahrt, den Dusa nicht reinigen darf.« »Seit ein paar Jahrhunderten, glaube ich«, flötete Zag. »Aber wirklich, es geht hier nicht darum, dass ich dir nichts erzähle. Es geht darum, dass du Meg nichts erzählst.« Than nickte bedächtig. »Sie würde ihn umbringen.« »Nee. Nicht Ihn, Than. Mich.« Zagreus wedelte mit dem Finger, nur um dann auf sich selbst zu zeigen. »Sie würde mich umbringen. Also sag’s ihr nicht. Bitte?« Er schenkte Than sein bestes Lächeln, doch dieser schnaubte nur. Ein Funkeln spiegelte sich in seinen Augen, das von ‘Nur, wenn du weiter so lächelst’ bis hin zu ‘Was, wenn ich das längst getan habe?’ alles bedeuten konnte. »Du weißt, es ist ihr Job«, erwiderte Thanatos schließlich. Er klang beschwichtigend, doch gleichzeitig zog er die Augenbrauen noch ein wenig weiter hoch, fast so, als wolle er ihn herausfordern. »Ich bin mir sicher, dass sie davon wissen wollen würde. Besonders, weil sie sicher selbst ein paar Flaschen aus diesem Geheimvorrat erhalten hat, oder?« »Urgh.« Statt Thans Blick zu erwidern musterte Zagreus seine Füße. »Was wäre wenn?« »Sie würde dich mindestens zweimal umbringen«, beschied Thanatos und nickte erneut, fachmännisch, dieses Mal. »Pro Flasche.« »Ich hätte dir das nicht sagen sollen, oder?« »Nein, hättest du nicht. Aber wo wir schon einmal dabei sind …« Ein dünnes Lächeln huschte über Thanatos’ Lippen. »Wie verwendet man jetzt diesen Stock?«   Die Grundlagen waren einfach genug. Nimm den Haken, spieß einen Köder drauf und wirf ihn zu den Fischen. Behalte die Angel dabei in der Hand und wirf sie nicht hinterher. Warte, bis einer der Fische anbeißt. Zieh ihn an Land, bevorzugt innerhalb einer halben Sekunde. Solltest du weitere Fische sehen, wiederhole den Prozess. Einfach, wirklich. Trotzdem fingen sie nicht einen mickrigen Fisch. Es war allerdings nicht Thans Schuld. Der hatte die Angel in die Hand genommen und den Köder ausgeworfen. Sein Griff um die Angelrute hätte zwar sicherer sein können, aber für den ersten Fisch hätte er sicher gereicht. Trotzdem. Als der Schwimmer zu zucken begann, fürchtete Zagreus doch, dass Thanatos die Angel zu früh einholen würde. Oder zu spät. Also fasste er ebenfalls nach dem Holz. Natürlich nur, um Thans Griff zu korrigieren. Zagreus hatte danach nur schlicht keinen Grund gefunden, wieder loszulassen. Das war echt klischeehaft, wie Zagreus sich in Gedanken eingestand, doch er mochte es, wie seine Hände auf Thans verweilten. Und es waren längst nicht mehr nur seine Hände. Nachdem Than ihn nicht abgewiesen hatte, war Zagreus näher getreten, bis er seinen Kopf an die Schulter seines Freundes lehnen konnte. Den Blick abwesend auf den Bach vor ihnen gerichtet, strich er mit dem Daumen über Thans Handgelenk und genoss es, wie Thans Haar über seine Stirn kitzelte. »Hätte ich nicht irgendwann an der Angel ziehen sollen?«, fragte Thanatos irgendwann. Anstalten, sich zu bewegen, machte er nicht. Zagreus nickte. In der Bewegung strich er mit seinem Kinn über Thans Chiton. »Sobald einer anbeißt.« »Oh.« Er folgte Thans Blick hinunter zum Bach. Ein einsames Stück Holz schwamm am Ende der Angelsehne. Kein einziger Fisch war mehr zu sehen. »Oh. Ooops.« Than prustete. Die Bewegung, die er dabei machte, strich angenehm warm über Zagreus’ Haut. Zur Antwort lachte er ebenfalls. »Scheint, als wäre ich ein miserabler Lehrer.« »Dem würde ich nicht unbedingt zustimmen.« »Oh?« Sein Freund zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, ich besuche das Haus nicht halb so oft, wie ich vielleicht sollte. Aber selbst ich bemerke, wie sich die Anderen verändert haben, Zag. Orpheus ist nicht nur zurück, er spielt ab und an sogar auf seiner Leier. Dusa strahlt förmlich vor Motivation. Und Cerberos? Der ist nicht halb so wild darauf, meinen Lieblingsbalkon zu zernagen, wie üblich. Und das ist dir zu verdanken. Nur dir.« »Than.« Er fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. »Ich versuche nur, sie ein wenig aufzuheitern. Ihnen etwas für ihre harte Arbeit zurückzugeben. Das ist doch gar nichts.« »Tsk. Alles, was ich sagen will, ist … du unterschätzt dein Potential, Zag. Du inspirierst die anderen. Du inspirierst mich.« Thanatos schüttelte den Kopf. »Und trotzdem willst du uns verlassen.« »Than.« Zagreus vergrub sein Gesicht in der Schulter seines Freundes. »Ich muss das tun, weißt du?« »Ich weiß, was vor dir liegt. Und du weißt es auch, oder nicht?« Zagreus schnaubte. »Eisige Kälte und beißende Winde? Grelles Licht? Zu zittern und zu husten, während meine Mutter mich darum anfleht, noch etwas länger durchzuhalten? Nicht den schmerzhaften Weg zurück zu nehmen, aber den peinlichen? Hypnos’ Gerede über »Natürliche Ursachen«, wann immer ich ihn versehentlich wecke? Ja, Than. Ich weiß.« Zagreus presste sein Gesicht, wenn möglich, noch etwas tiefer in dem warmen Stoff des Chitons. Er ließ die Angel los, wenn auch nur, um Thanatos an sich ziehen zu können. »Glaub mir, ich weiß das alles.« Für einen kurzen Moment lehnte Than sich in die Umarmung. Noch bevor Zagreus jedoch entscheiden konnte, ob er weitermachen wollte, versteifte sein Freund sich. »Vielleicht solltest du gehen.« Zagreus nickte träge. »Vielleicht sollte ich-« Er hielt inne. Unter seinen Fingern konnte er bereits spüren, wie Thanatos sich zum Gehen wandte, doch noch hingen dessen Worte zwischen ihnen. Du inspirierst sie, hatte er gesagt. Du inspirierst mich. Vielleicht. Nur vielleicht … »Ja«, sagte er leise, noch während sich die Idee formte. Statt ihn gehen zu lassen, vergrub er seine Finger behutsam tiefer in Thans Chiton. »Vielleicht sollten wir gehen.« »J- … halt. Wir?« »Wir.« Zagreus hob den Kopf, damit er Thans Reaktion besser beobachten konnte. »Begleite mich. Es wird nicht lange dauern.« Thanatos schnaubte. »Ja, wird es nicht. Du hast da draußen nur wenig Zeit. Solltest du sie nicht besser nutzen? Mit deiner Mutter?« »Wozu könnte ich sie besser nutzen, als um meiner Mutter meinen Freund vorzustellen?« Than versteifte sich erneut. »Du-« »Wie gesagt, es wird nicht lange dauern. Du wirst sicher nicht zu spät zurück zu deiner Arbeit kommen.« »Ich sorge mich nicht darum, zu spät zur Arbeit zu kommen!« »Oh, tust du nicht?« Zagreus stellte sich sich auf seine Zehenspitzen, damit er die nächsten Worte in Thans Ohr flüstern konnte. »Gut. Wenn das der Fall ist, könnte es auch noch etwas länger dauern. Weißt du, der Baumeister hat seit kurzem diesen Liegesessel im Angebot. Bislang habe ich mich immer gefragt, was ich damit soll, aber …« Zagreus hörte, wie Than »Blut und Finsternis« murmelte. Die Gänsehaut, die sein Vorschlag über Thans Nacken jagte, sah er nicht, doch er wusste, dass sie da war. Er reizte ihn nicht weiter. Noch nicht. »Also? Kommst du?« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)