Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 28: Die Letzte Welle ---------------------------- Distrikt Vier steht in Flammen. Wortwörtlich. Am ersten Februartag brennen die Schiffe im Hafen. Der Qualm ist meilenweit zu sehen, die Asche regnet selbst auf die Blumen in Annies Garten. Wie Schnee legen sich die Flocken auf den knorrigen Stamm des Flieders und erinnern Finnick an Distrikt Zwölf. Verborgen unter einer ewigen Staubschicht. Es ist gut, dass Annie an diesem Tag in einer anderen Welt ist, in der sie mit den Löffeln in ihrer Küche spricht und über Witze lacht, die außer ihr niemand hört. So muss Finnick kein schlechtes Gewissen haben, dass er sich fortschleicht; sie merkt es schließlich nicht, wie er sie mit diesem beängstigenden Erlebnis alleine lässt. Das weiß er. Eigentlich. Doch als er von einer der höher gelegenen Marktterrassen neben Amber und Lana sowie unzähligen Schaulustigen auf den Hafen schaut, erfüllt Angst sein Herz. Der Drang, Annie in die Arme zu schließen, weit mit ihr wegzurennen, von allem hier – noch nie ist er derart groß gewesen. Emerald Isle reicht lange nicht mehr, um diesem Albtraum zu entkommen. Von einem der Wachtürme an der Hafenkante hängen die Leichen von fünf Friedenswächtern. Die Nachtwachen. In roter Farbe – Finnick weiß einfach, dass es Blut ist; ihr Blut – sind auf die Brustplatten ihrer Rüstungen Katniss’ Spotttölpel-Emblem und eine stilisierte Welle gemalt. Über dieser improvisierten Hinrichtung verkündet ein Banner aus aneinandergenähten Stoffstücken: ‚Das Wasser kommt – Freiheit für das Volk!‘ Hinter einer Barrikade aus Schutt, Strandgut und alten Fischernetzen stehen vermummte Gestalten, Tücher über Mund und Nasen – auch hier ist das Wellensymbol wieder zu sehen, weiße Farbe auf blauem Grund. Die Widerständler halten Speere, Harpunen, sogar Dreizacke. Aus harmlosem Arbeitsgerät werden plötzlich Waffen für eine Rebellion. Das ist es, was hier passiert. Ganz ohne Distrikt Dreizehn, ohne großen Plan oder Führung von außen. Ungeplant, blutig, chaotisch. Distrikt Vier rebelliert. Vor der improvisierten Blockade drängen sich hunderte Menschen. Fischer, Hafenarbeiter, Anwohner. Alle treten sich gegenseitig auf die Füße, rufen nach Wassereimern und erreichen damit nur eines: Sie behindern die Arbeit der Friedenswächter. Die kleine Phalanx weiß uniformierter Soldaten geht im Meer aus Distriktbürgern unter und obwohl sie regen Gebrauch von ihren Schlagstöcken machen, wogt die Menge weiter um sie her, ein lebendiger Schutz für die Aufständigen. Alleine sind die Menschen nur alte Frauen mit zittrigen Händen, ausgezehrte Fabrikarbeiter oder Invalide mit Holzbeinen – doch in der Masse werden sie zu einer wütenden Brandung, die alles zwischen sich zerreibt. So auch Snows Schergen, die voneinander getrennt werden, bis die einsamen weißen Uniformen ganz aus Finnicks Blickfeld verschwinden. Im Hintergrund fallen die ersten Schiffe den Flammen zum Opfer, ihre brennenden Planken treiben durch das Hafenbecken und setzten weitere Rümpfe in Brand. Fisch wird es für eine lange Zeit deutlich weniger geben, begreift er. Vor seinen Augen wird gerade die Lebensgrundlage eines ganzen Distrikts vernichtet. In Anbetracht der Umstände ist es lächerlich, dass er trotzdem voller Sorge das Inferno nach Annies Schiff absucht. Was zählt schon das Fischerboot einer Siegerin im Vergleich zu den Booten all jener, die wirklich darauf angewiesen sind? Doch die Peppersheep bedeutet ihr so viel; ist die letzte Erinnerung an ihre Familie. Die Restauration hat ihr geholfen, sie in dieser Welt zu erden. Bei ihren Ausflügen auf das offene Meer haben sie beide sich so frei gefühlt wie sonst nur auf Emerald Isle. Es ist nicht irgendein Boot, das man einfach austauschen kann, nicht für ihn und ganz sicher nicht für Annie. Und so kann Finnick nicht anders – als er die entflammte Peppersheep in ihrer roten Speziallackierung ausmacht, treten Tränen in seine Augen. Er will schreien und toben. Am besten da unten, in der maskierten Menge. Will die Fäuste ballen und Rache am Kapitol nehmen, dass diesen Aufstand überhaupt erst notwendig gemacht hat. Eine Hand landet auf seiner Schulter und drückt sie so fest, dass es schmerzt. Ambers Fingerspitzen wissen genau, wo sie über seinem Schlüsselbein zugreifen müssen, damit es ihn aus seiner Starre reißt. Gnadenlos, aber es funktioniert. Jedes Mal. »Das ist außer Kontrolle«, flucht Amber leise. Um sie her ist wütendes Gesumme wie in einem Jägerwespenstock, alle Umstehenden tuscheln – entweder voller Angst oder Wut –, sodass ihre Worte beinahe untergehen. Aber jahrelange Vorsicht hat sie gelehrt, die Stimme besser nicht unnötig zu erheben. »Wenn die so weiter machen ... wer weiß, was dann passiert. Stell dir nur vor, Snow wirft Bomben ab. Dann ist alles vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat.« Finnick schüttelt den Kopf. »Das kann er nicht tun. Er braucht den Distrikt, unsere Lebensmittel. Stell dir vor, er müsste seinen Leuten erklären, dass sie keine Scampi mehr für ihre Partys bekommen. Schon mit der Knappheit im letzten Jahr sind sie nicht gut umgegangen. Wenn das jetzt käme, stünde es der Zugabe einer Niederlage gleich. Das wird er nicht tun ... noch nicht.« Mit einem resignierten Ausatmen stützt er die Hände auf die steinerne Brüstung vor sich. »Aber ... diese Menschen sind in großer Gefahr. Snow wird etwas unternehmen und ich will nicht wissen, was.« Es ist ein eindeutiges Zugeständnis an Ambers Nervosität, dass sie sich auf die Unterlippe beißt. In all den Jahren, die Finnick sie nun schon kennt, kann er die Gelegenheiten, bei denen sie sich derart hat gehen lassen, an einer Hand abzählen. »Irgendetwas müssen wir doch tun können«, stößt sie schließlich hervor – aber nicht ehe ihr Blick zweimal von links nach rechts gehuscht ist. »Wir können doch nicht einfach zusehen!« Lana ergreift ihre Hand. »Dann sollten wir gehen – von der Akademie aus hat man einen schlechten Blick auf den Hafen.« Die Botschaft ist eindeutig. Lasst uns nicht hier darüber reden. Obwohl sie zwei Sieger und die Leiterin der Akademie sind, weicht niemand vor ihnen zurück, als sie sich rückwärts durch die Masse drängeln. Alle haben nur Augen für den brennenden Hafen und die Wagen voller Friedenswächter, die jetzt mit quietschenden Reifen vor der Barrikade halten. Mit dem Rücken zur Szene hört Finnick noch, wie die ersten Strahlen der Wasserwerfer die Menge zersprengen. Im Viertel rund um die Akademie hingegen ist es totenstill. Selbst die Straßenkatzen scheinen die gärende Unruhe zu bemerken und haben sich verkrochen. In der alten Lagerhalle ist dafür die Welt stehen geblieben. Da warten die Trainingsspeere auf künftige Tribute und alles erweckt den Anschein, dass gleich eine Horde an Mädchen und Jungen hereinplatzt, um Finnick und Amber von sich zu überzeugen. »Wie viele bleiben noch?«, fragt er Lana in die allumfassende Stille hinein. »Eine Handvoll. Diejenigen, die sich nicht trennen können.« Die Trainerin hält immer noch Ambers Hand und macht keine Anstalten, sie loszulassen. »Die paar Unglücklichen, für die das hier ihr Leben ist, genauso wie für mich.« Amber öffnet den Mund, stößt dann jedoch nur Luft aus. Sie tauscht einen festen Blick mit ihrer langjährigen Freundin, bis diese die Augen abwendet und mit den Schultern zuckt. »Was soll man tun? Ihr habt es auch gesehen. Die Leute sind es satt, für ihr Kapitol zu sterben.« »Das werden sie aber, wenn sie sich nicht geschickter anstellen.« Amber starrt Finnick an. »Ich weiß, ich weiß. Ihr habt recht. Aber was sollen wir tun? Wenn wir nicht aufpassen, können wir den ganzen Plan von Dreizehn immer noch zum Scheitern bringen. Was wenn Snow zu früh Wind davon bekommt?« »Meinst du nicht, dass der Alte längst ahnt, dass etwas schiefläuft?« Lana hat ihre Hand aus Ambers gezogen und wirbelt gedankenverloren einen Holzspeer um ihren Oberkörper. »Ich meine ... Am hat mir erzählt, dass es in Elf ähnlich aussieht wie hier. Die Nachricht von der Rebellion wird sich verbreiten, so oder so.« Finnick zieht eine Augenbraue an seine Co-Mentorin gewandt hoch, doch die beachtet ihn gar nicht, sondern hat nur Augen für Lanas Künste im Speerwirbeln. »Also glaubt ihr, dass wir die Menschen aus Vier mit Dreizehn zusammenbringen sollten?« Amber zuckt mit den Schultern. »Im besten Fall – ja. Allein sind diese Menschen dem Untergang geweiht. Das hier ist die Chance, auf die wir immer gewartet haben! Mit vereinten Kräften können wir es wirklich schaffen!« Klappernd schlägt Lanas Speer auf den Boden. Sie hat den letzten Wurf hinter ihrem Rücken versaut, doch sie macht keine Anstalten, die Übungswaffe aufzuheben. »Das ist jetzt oder? Das wird die große Rebellion. Und wenn es schiefläuft, sterben wir alle.« »Ich hoffe es.« Für einen Moment tauschen die beiden Frauen ein kleines, seltenes Lächeln, das Finnick nicht wirklich versteht. Seine Gedanken sind noch bei brennenden Schiffen und sterbenden Menschen. »Snow wird uns nicht davonkommen lassen, wenn er bemerkt, dass wir mit den Aufständen zu tun haben. Wir müssen wirklich vorsichtig sein. Falls die Leute da draußen überhaupt noch auf uns hören werden. In ihren Augen sind wir schließlich genauso der Feind wie das Kapitol.« Mit einem Seufzen verschränkt Amber die Arme vor der Brust. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um Annie machst. Und sie braucht dich wirklich. Lass mich gehen. Ich kann mich unter die Menge mischen und sehen, ob ich herausfinde, wer diese Aufstände organisiert. Wer hinter dieser Welle steckt. Und dann wollen wir doch mal sehen, ob die mir nicht zuhören werden.« Lana sieht aus, als wenn sie ihrerseits widersprechen will, doch Finnick kommt ihr mit einem müden Kopfschütteln zuvor. »Wir alle tragen dieses Risiko. Ich werde es genauso versuchen wie du. Auch für Annie. Sie verdient eine bessere Welt.«   Im Siegerdorf ist die Welt noch in Ordnung, wenn man von der Asche absieht, die wie ein Leichentuch darüber ruht. Annie sitzt mit einer Strickdecke auf dem Sofa, ihre Hände um eine Teetasse geschlungen, aus der es längst nicht mehr dampft. Das Porzellan ist kalt unter Finnicks Fingern, als er Annies Handrücken umfasst. Sie hebt nur langsam den Blick, doch in ihren Augen bahnt sich ein Lächeln an. Ihre Lippen sind blutig gebissen, sodass die Wunden sich infolge der Bewegung spannen. In ihr tobt einmal mehr ein unsichtbarer Kampf. »Hey«, flüstert Finnick. »Hey.« Er entwindet ihr vorsichtig die Tasse kalten Tees, bevor er sie in die Arme zieht und seine Stirn gegen ihre lehnt. »Wo warst du?« »Am Hafen.« »Ist alles fort? Die Schiffe?« »Ich fürchte ja.« »Das war nicht das Kapitol oder?« »Nein.« Sie seufzt kaum hörbar und schlingt die Arme fester um ihn. »Ich will keine Angst haben, Fin, aber ... es macht mir Angst.« Ihr Atem streift seinen Nacken, sodass die Worte ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagen. »Es macht mir Angst, weil ich diese Menschen verstehe. Ich verstehe, dass sie nicht mehr leiden wollen! Und trotzdem ... habe ich Angst vor dem, was sie auslösen werden.« Es wundert ihn nicht, dass sie längst im Bilde über alles ist, was in Distrikt Vier vor sich geht. Er wäre ein Narr, wenn er geglaubt hätte, dass die Geschehnisse an ihr vorbeiziehen, nur weil sie in ihrer Welt unterwegs ist. Und Finnick weiß seit jeher, dass er nicht die Kraft in sich hat, Annie in die minutiöse Planung der Rebellion von Seiten Distrikt Dreizehn einzuweihen. Aber spätestens diese Aussagen zementieren seinen Entschluss. Selbst wenn er wollte, es geht nicht. Die Worte verkanten sich wie Seeigel in seinem Hals. »Dir wird nichts passieren«, murmelt er in ihr Haar, das so gut riecht, nach Sonne, Salz und Sommerblüten. »Was auch passiert, ich werde auf dich aufpassen. Das verspreche ich dir. Hier sind wir sicher, nur wir beide. Ok?« Sie nickt, ehe sie einen Kuss in seine Halsbeuge drückt. Nur eine winzige Berührung ihrer Lippen, doch es fühlt sich an wie ein Bad in der winterlichen See und gleichzeitig geht die Sommersonne in seiner Brust auf. »Sie haben übrigens Davids Vater gehängt. Für Hochverrat.« Annies Stimme hat diesen desinteressierten Flüsterton angeschlagen, der eigentlich nur Tarnung dafür ist, dass etwas sie wirklich aufwühlt. »Oh. Woher weißt du ...?« »Die Liste am Markt. Ich habe ihn besucht, bevor die Strafe vollstreckt wurde.« Gedankenverloren zupft sie an seinem Pullover. »Es tut mir leid, dass ich dir nichts davon erzählt habe, Fin. Aber ich wusste selber nicht, was ich dort tue. Warum ich ihn sehen musste, nach allem, was er und seine Frau mir an den Kopf geworfen haben. Ich wusste nur, dass ich es muss.« Finnick schluckt angestrengt gegen die Seeigel in seinem Hals an. »Du warst im ... Gefängnis zu Besuch?« Er bemüht sich, seine Stimme ruhig zu halten, doch die letzte Prise Besorgnis schlägt trotzdem durch. »Isla hat mir geholfen. Niemand hat mich erkannt« Wie zur Beruhigung seiner Sorgen malt Annie ein Herz unter sein Schulterblatt. »Ich habe mich nicht von den Kameras filmen lassen. Und ich war auch gar nicht lange da. Er hatte mir nämlich nichts zu sagen. Er hat nur davon gebrüllt, dass die Letzte Welle den Distrikt befreien wird oder so.« Die Besorgnis ob Annies Alleingang streitet sich in Finnicks Brust mit der Wut über die Familie, die Annie Trost hätte spenden können und sie stattdessen nur verstoßen hat. Diese Behandlung hat sie nicht verdient – und es ist einfacher, wütend auf fremde Menschen zu sein, als das Herz von Furcht malträtieren zu lassen. »Jedenfalls hatte das Kapitol recht mit dem Hochverrat«, fährt Annie leise fort. »Er war an diesen ganzen Aufständen beteiligt. Und ich habe ihn verstanden. Irgendwie habe ich verstanden, warum er mich so hasst. Das Kapitol hat sie alle umgebracht. Meinen Vater. Meinen Bruder. David! Und sie werden nie aufhören, mir alles zu nehmen, nur weil ich bin wie ich bin. Dabei haben sie mich erst dazu gemacht!« »Shh.« Sacht wiegt Finnick Annie in seinen Armen. »Shhh, Annie, alles gut. Das ist furchtbar, aber nicht deine Schuld. Außerdem sagte ich doch, dass ich immer bei dir sein werde.« »Versprich nicht, was du nicht halten kannst.« Er will ihr widersprechen, voller Empörung ... aber sie hat recht. Er kann es nicht, nicht bei allem, was er am Morgen mit Amber und Lana besprochen hat. »Aber ich werde alles daran setzen«, erwidert er stattdessen. »Das Kapitol wird mich nicht kampflos bekommen, wenn es darauf aus sein sollte.« Annie schnieft leise, doch Tränen folgen keine. Sie drückt sich nur fester an seine Brust und malt fast schon trotzig weitere Herzen auf seinen Rücken. »Danke, dass du verstehst, warum ich ihn trotzdem besuchen musste.« »Natürlich. Sie waren auch deine Familie, das weiß ich doch. Ich hätte dich auch gehen lassen, wenn du erst mit mir darüber gesprochen hättest.« Wie ein Kätzchen zieht Annie die Knie an die Brust, ein erschöpftes, aber doch irgendwie glückliches Seufzen auf den Lippen. Nur Finnick kann nicht vergessen, was sie über ihren einstigen Schwiegervater in spe erzählt hat. Dass er zurecht verurteilt wurde. Dass er ihr gegenüber die Organisation der Aufstände zugegeben hat. Fast hätte er die Chance gehabt, einen Zugang zu den Rebellen des Distrikts zu bekommen. Aber eben nur fast. Finnick hält Annie noch eine ganze Weile in den Armen, bis draußen die Sonne untergeht und die Asche im Dunkel verschwindet. Für einen Moment kann er vergessen, dass vor ihrer Haustür längst der Kampf tobt. Irgendwann ist Annie so müde, dass ihr die Augen an seiner Brust immer wieder zufallen und er trägt sie hoch ins Schlafzimmer. Vorsichtig bettet er sie auf die weiche Matratze, drückt ihr einen Kuss auf die Schläfe. Er ist schon fast an der Tür, als ihre träge Stimme ihn erreicht. »Kannst du ... kannst du die Kiste auf dem Wohnzimmertisch in den Dachboden bringen? Oder noch besser, nimm sie mit in dein Haus. Es sind seine Sachen und ich – ich will sie nicht sehen.« »Natürlich.«   Er weiß nicht, warum er den Pappkarton öffnet. Er weiß es wirklich nicht. Er weiß nur, dass er es nicht tun sollte. Die Erinnerungen an diesen Mann und seine Familie gehen ihn nichts an, nur weil er sein Leben jetzt mit Annie teilt. Und gleichzeitig drängt es ihn danach, zu sehen; zu verstehen. Er bereut, sobald er den Deckel aufgeklappt hat und auf den anklagenden Stapel Fotos blickt. Bilder einer Erinnerung, die ihn in seine Eingeweide zwicken, obwohl er genau weiß, dass Annie sich vor Jahren bewusst gegen David entschieden hat. Der Kompass neben den Aufnahmen ist es allerdings, der seine Aufmerksamkeit gewinnt, bevor er den Karton doch wieder schließt. Das Gold ist kalt unter seinen Fingern und lenkt ihn ab von den Fotografien der unbeschwerten Annie, die aus einem fernen Leben stammen. Ein ums andere Mal klappt er den Kompassdeckel auf und zu, hält seine Hände beschäftigt, während seine Gedanken davonlaufen. Bestimmt zwanzig Mal hat er den Schließmechanismus betätigt, ehe ihm die eingeritzten Koordinaten auf der Innenseite des Deckels auffallen. Neu im Vergleich zu der abgewetzten Prägung auf der Rückseite, die das Alters des Kompasses offenbart. Und dahinter eine kleine Welle. Vielleicht ist es der verzweifelte Griff nach dem letzten Strohhalm, dass er aufsteht, sich in einen dunklen Kapuzenmantel hüllt und Amber aus ihrem Haus klingelt. Vielleicht stehen sie gleich vor einem Ort, der gar nichts bedeutet. Vielleicht ist es auch ein Zeichen.   Wenn man Finnick fragen würde, wie er sich die Rebellion in Distrikt Vier vorstellt, dann gälten seine Gedanken heruntergekommenen Bootsschuppen irgendwo in den Ausläufern der Stadt, wo geheime Treffen in Arbeitspausen abgehalten werden. In seiner Vorstellung träfen sich Fabrikarbeiter und die ärmsten Distriktbewohner in zerrissenen Kleidern, mit einfachen Holzspeeren bewaffnet. Ständig auf der Flucht vor den Friedenswächtern, Zeit und Ort ihrer Aktionen auf das Einwickelpapier der Fische geschrieben, die am Markt verkauft werden. Ein verzweifeltes Unterfangen, allein aus Wut geboren. Nichts davon trifft zu. Die Koordinaten auf dem Kompass des toten Rebellen führen ihn sowie Amber und Lana zu einem schicken Stadthaus, nur zwei Querstraßen vom Justizgebäude entfernt. Dreistöckig, mit dunkelblauen Fensterläden und Balkonen, die über das Straßenpflaster ragen. An einer Wäscheleine zwischen dieser und der gegenüberliegenden Fassade hängen bunte Kleider, die kein bisschen geflickt sind, sondern von gewissem Wohlstand zeugen. Hinter den zugezogenen Vorhängen im Erdgeschoss brennt gedimmtes Licht, ansonsten liegt das Haus im Dunklen. Eine große Muschelschale neben der Tür informiert Besucher darüber, dass hier Familie Pescéano wohnt. Kein Name, der Finnick etwas sagt. Dafür ahnt er, dass hier Kinder zuhause sind, denn auf der perlmutternen Schale sind lauter kleine Fingerabdrücke, die bunte Fische formen. »Das kann es nicht sein«, spricht Amber aus, was er denkt. »Lass mich noch mal schauen!« Stumm reicht Finnick ihr den Kompass, ohne den Blick von der Hausfront zu wenden. Lana, die bei Amber zu Besuch war, als er diese abgeholt hat, und die sich das Abenteuer nicht nehmen lassen will, tritt neben ihn, den Kopf ebenfalls in den Nacken gelegt. »Verdammt, wenn das ihr Haus ist, dann haben sie es echt gut. So schön habe ich in meinem ganzen Leben nicht gewohnt.« An ihrer Seite flucht Amber leise und schüttelt das kleine Navigationsgerät, das eigentlich für die Hochseenavigation gemacht ist. »Komm schon, Mistding!« Finnick wirft ihr einen warnenden Blick zu. »Nicht so laut.« »Sag das dem Scheißgerät«, zischt Amber zurück. »Es muss irgendeine Macke weghaben. Da geht gar nichts mehr, immer wenn ich die Koordinaten eingebe, lande ich hier. Als wenn das Teil wirklich nur auf dem Meer funktioniert, das ist doch lächerlich!« »Gib mal her.« Mit einem harten Schlag pfeffert Amber das Teil vor Finnicks Brust. Sie hat recht – das Display zeigt ihnen unmissverständlich an, dass sie ihre Koordinaten gefunden haben. Er gibt sie noch einmal ein – was ihm einen bitterbösen Seitenblick von Amber einbringt –, aber nichts ändert sich. »Na schön, gehen wir doch mal davon aus, dass wir hier richtig sind«, merkt Lana mit einem Schulterzucken an. »Warum auch nicht? Wir sollten es einfach hinter uns bringen.« Bevor Finnick oder Amber sie aufhalten können, betätigt sie den Klingelknopf unterhalb der Muschelschale. Das helle Glockenläuten hören sie selbst durch die schwere Holztür, ebenso wie die näherkommenden Schritte. Amber stöhnt leise und zieht ihre Kapuze tiefer in die Stirn, dann geht die Tür auch schon einen Spaltbreit auf. Eine zierliche Frau lugt hindurch, schätzungsweise in Floogs Alter. Ihr dunkles Lockenhaar wird von einem bunten Tuch zusammengehalten und trotz der späten Uhrzeit trägt sie noch eines der vornehmen Kleider, die auch auf der Wäscheleine hängen. Als hätte sie Besuch erwartet. Irgendetwas an dem Bild kommt Finnick vage bekannt vor. Hat er sie schon einmal gesehen – vielleicht sogar am Hafen, unter den vermummten Rebellen? Er kann es nicht sagen. Bei seinem Anblick zieht die Frau misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Ja? Kann ich Ihnen helfen?« Finnick nimmt einen tiefen Atemzug und tritt vor, sodass das Licht aus dem Hausflur auf ihn fällt. Er schiebt die Kapuze ein Stück zurück, bemüht um ein ehrliches Lächeln – nicht das Kameralächeln, das man von ihm kennt. Die Augen der Frau weiten sich, doch ihr Mund wird im selben Moment zu einem schmalen Strich. Nicht ein Laut des Erkennens kommt über ihre Lippen. Nicht einmal dann, als Amber sich mit verschränkten Armen neben ihn stellt. »Wir wollen nur jemandem etwas zurückbringen«, erklärt Finnick in lockerem Plauderton, doch mit gedrückter Stimme. Er hält den Kompass so vor, dass die junge Frau die eingeritzten Ziffern nebst Welle im Deckel sieht. »Ich glaube, das könnte jemandem aus diesem Haus gehören?« Panik flammt in den Augen der mutmaßlichen Mrs Pescéano auf. Sie macht einen kleinen Schritt zurück und Finnick fürchtet schon, dass sie die Tür zuschlagen wird. Doch dann tritt sie zur Seite. »Kommen Sie bitte herein. Aber schnell, bevor die Katze entwischt.« Von einer Katze ist weit und breit nichts zu sehen, als Finnick rasch an der Frau vorbei drängt, dafür umarmen ihn prompt Wärme und Geruch des fremden Hauses. Direkt von dem kleinen Vorraum hinter der Tür tritt er in das Wohnzimmer, das ihn ein wenig an die Bilder von Annies altem Zuhause erinnert, nur in einer wohlhabenderen Ausgabe. Er selber hat nie so ein Haus gekannt, geschweige denn diese Fülle an persönlichen Gegenständen und Bequemlichkeiten. Alles, was er besitzt, stammt vom Kapitol. Und letztlich ist seine Siegervilla zwar groß, aber leer. Hier allerdings reihen sich Bilderrahmen auf dem Fenstersims aneinander, jemand hat gleich mehrere bunt durcheinandergewürfelte Kerzen angezündet und Stapel von zerlesenen Büchern bedecken die wenigen freien Flächen. Alles strahlt eine Gemütlichkeit aus, die Finnick nur von der heruntergekommenen Villa auf Emerald Isle kennt – oder in seltenen Momenten in Annies Wohnzimmer im Siegerdorf empfindet. Nur der Fernseher, auf dem tatsächlich ein Programm des Kapitols läuft, bricht mit dem Wohlgefühl. Er sieht eine Sprecherin in einem Blazer mit Schulterpolstern, die so spitz sind, dass sie an Speerspitzen erinnern. Doch anstatt von Unruhen im Land zu berichten, widmet sie sich ausführlich der Schilderung einer Feierlichkeit, bei der die Regierung dem Erlass irgendeines bedeutenden Gesetzes gedenkt. Was ihn wieder daran erinnert, warum er hier ist und nicht dort im Kapitol die Hand von irgendjemandem hält, der Snow gut bezahlt. »Mrs Pescéano«, wendet er sich an ihre unfreiwillige Gastgeberin, »unser überraschender Besuch tut mir wirklich leid –« Die Frau würgt ihn mit einer schneidenden Handbewegung ab. »Spar dir die überflüssigen Worte.« Auf diese Art kommt sie Finnick erst recht bekannt vor. Er durchforstet geistig die Erinnerungen an die Familien von seinen 14 toten Tributen, doch an eine wie Mrs Pescéano erinnert er sich nicht – und dabei vergisst er weder die Kinder noch die Gesichter auf ihren Beerdigungen. Vielleicht gehört Mrs Pescéano auch zu jemandem, der vor ihm kam ... Die mutmaßliche Rebellin mustert ihn ihrerseits ebenso intensiv, als müsse sie erst überlegen, was sie mit ihm anfangen soll. Ein wenig wie die Karrieretribute in der Arena, wenn sie sich nicht entscheiden können, ob sie dem neuen Verbündeten nicht doch den Kopf abhacken. Schließlich deutet sie auf den Kompass in seiner Hand. »Woher habt ihr den?« »Von einem ... Bekannten«, entgegnet Finnick. »Das glaube ich kaum. Ich kannte den wahren Besitzer nämlich. Also noch einmal: Woher habt ihr den Kompass?« Finnick hört, wie Amber an seiner Seite tief Luft holt. Er ahnt, was ihr Unflätiges auf der Zunge liegt und so bleibt ihm keine Zeit, zu überlegen. In Gedanken schickt er ein Stoßgebet an die Götter vergangener Länder, an die er gar nicht glaubt – auf dass er seine Worte nicht bereuen wird. »Ich gebe zu, es ist nicht mein Bekannter, dem dieser Kompass gehört hat. Aber der einer Person, die mir – uns – nahesteht. Jemanden, den Sie wahrscheinlich auch kennen, wenn Sie uns erkannt haben. Jedenfalls sind sie und der Besitzer des Kompasses sind nicht im Guten auseinandergegangen, aber als letzte Kontaktperson hat sie dennoch dieses Vermächtnis von den Friedenswächtern erhalten. Und so bin ich am Ende zu diesem Kompass gekommen.« Sein Gegenüber zieht die Augenbrauen zusammen. »Und weshalb seid ihr dann hier? Ihr wisst offenbar, dass der Besitzer tot ist. Hier gibt es niemanden, der diesen Kompass vermisst. Er erfüllt für uns keinen Zweck mehr.« »Aber die Wellen vermissen etwas«, schaltete Amber sich ein. »Gerade jetzt, in diesen schwierigen Zeiten ...« Mrs Pescéano, von der Finnick immer noch nicht weiß, ob sie das überhaupt ist, tritt einen Schritt zur Seite und stützt eine Hand auf dem Esstisch ab – unmittelbar in Reichweite des dicken Kerzenständers darauf. Ihre Augen blitzen voller Entschlossenheit zu der potentiellen Waffe. »Was meine Begleiterin damit ausdrücken möchte«, interveniert Finnick hastig, »ist, dass Sie Unterstützung brauchen. Deshalb sind wir hier.« Er dreht den Kompass so in seiner Handfläche, dass das Kerzenlicht sich in der eingeritzten Welle auf der Deckelinnenseite bricht. »Ein einzelner Wassertropfen trocknet schnell im Sonnenlicht, doch ein ganzer Ozean ist stark. Und was ist ein Ozean, wenn nicht eine Ansammlung unzähliger Wassertropfen?« Der Blick seiner Gesprächspartnerin ruht einen Moment auf dem Wellensymbol, ihre Lippen zu einer harten Linie gepresst, die trotzdem nicht verbergen kann, dass ein leichtes Zittern durch sie zieht. Dann hebt sie wieder den Kopf und die Strenge ist zurück auf ihren Zügen. »Und wenn ich euch sage, dass ihr hier nicht findet, was ihr sucht?« »Dann werden wir es anders versuchen. Wobei das Risiko besteht, dass die Friedenswächter auf unsere Versuche aufmerksam werden. Eine Gefahr für beide Seiten. Aber wenn Sie uns nicht helfen können ... Wir werden auch alleine kämpfen. Wir müssen einfach.« Finnick zuckt mit den Achseln, klappt den Kompass zu und tut, als würde er in Richtung Haustür gehen wollen. Einen Augenblick lang verharrt Mrs Pescéano still, dann wirbelt sie herum und greift nach seinem Handgelenk. Ihre Finger sind eiskalt, der Griff fest – genauso wie ihr Blick, der Finnick aus dunklen Augen durchbohrt. »Wie viel wisst ihr?« »Nicht genug. Aber wir haben mit eigenen Augen gesehen, was am Hafen passiert ist. Das reicht uns. Wir wollen wissen, ob wir hoffen können. Helfen können.« »Du bist ein Sieger.« Mrs Pescéano bringt es nicht als Vorwurf heraus, eher als Feststellung. »Ein beliebter Sieger. Hast du überhaupt eine Ahnung, welchen Preis du bezahlen wirst, wenn dein Ungehorsam bekannt wird?« Dazu kann Finnick nur bitter auflachen. »Den schlimmsten Preis zahle ich bereits jedes Mal, wenn ich das Kapitol betrete. Also ja – ja ich weiß, was auf dem Spiel steht. Genau deshalb bin ich ja hier. Damit es ein Ende hat.« Ein grimmiges Lächeln hebt Mrs Pescéanos Mundwinkel. »Niemand ist wütender als die Personen, die das Kapitol lieben sollten, nicht wahr? Der mächtigste Feind ist der, den man sich selber schafft. Das hat meine Mutter zumindest immer gesagt.« Verwundert mustert Finnick sie. Mit dieser Reaktion hat er wiederum nicht gerechnet. Offenbar sieht man ihm seine Verwirrung an, denn Mrs Pescéanos lacht leise auf. »Meine Mutter war Ophelia Waterstone«, erklärt sie mit einem Zwinkern. Er schnappt nach Luft. Auch Amber und Lana klappen die Münder auf. Und plötzlich ist klar, warum der Anblick von Mrs Pescéanos so bekannt ist. Es fällt Finnick wie Schuppen von den Augen – sie ist ganz das Ebenbild ihrer Mutter, dass er sich nur wundern kann, weshalb es ihm nicht eher eingefallen ist. Immerhin verdankte er Ophelia einst seinen Platz in der Akademie. Damals, vor so vielen Jahren. Vor dem Tod von Distrikt Viers zweiter Siegerin aller Zeiten. Überlebende der 23. Hungerspiele, Begründerin des Tributtrainings. »Du ... du bist Marlia Waterstone?«, fasst Amber das Erstaunen in Worte. »Die Fast-Tributin der 52. Hungerspiele?« Mrs Pescéanos lächelt nachsichtig. »Ich bin Marlia, ja. Allerdings nicht mehr Waterstone. Ich habe den Nachnamen meines Mannes angenommen. Das Erbe meiner Eltern wiegt schließlich so schon genug.« Einen Moment schweigen alle, bis Lanas belegtes Räuspern die Stille als Erstes bricht. Die heutige Leiterin der Akademie blinzelt ein paar Mal, aber ihre Augen schimmern trotzdem feucht. »E-es tut mir so leid –« »Wofür? Für den Tod meiner Mutter?« Mit einer beneidenswerten Ruhe winkt Marlia Pescéanos ab. »Als ihre Schülerin hättest du ihn nicht verhindern können. Das Kapitol bekommt schließlich immer, was es will. Und du hast dich wenigstens gut um ihr Erbe gekümmert. Zumindest hatten unsere Tribute in den letzten Jahren so etwas wie eine Chance.« »Aber ich zweifle immer mehr daran, ob das etwas ist, worauf ich stolz sein sollte«, gesteht Lana mit brüchiger Stimme, die Finnick so gar nicht von ihr kennt. »Vor allem nach den letzten Tributen, die ich zum Tode verurteilt habe ... nach Eric, nach Cordelia ...« »Sag so etwas nicht!«, fährt Amber dazwischen. Sie ergreift mit beiden Händen die ihrer Freundin, die mit einem Mal viel kleiner erscheint, obwohl sie doch so groß und trainiert ist wie die härtesten Seemänner und Frauen des Distrikts. »Wenn, dann sind wir alle Schuld. Wir alle haben dieses System am Leben gehalten!« Marlia zuckt angesichts von Lanas Selbstvorwürfen allerdings nur mit den Schultern. »Ich weiß ehrlich gesagt nie ganz, ob ich die Idee der Akademie verdammen oder lieben soll. Wenigstens nimmt sie vielen Kinder, die nie eine Chance hätten, die Angst vor der Ernte. Und das ist ein Gefühl, was ich nur zu gut kenne. Aber vermutlich kann ich mir darüber ohnehin kein Urteil erlauben, immerhin haben Freiwillige mir nur das Leben gerettet, aber ihr seid diejenigen, die das das Training – oder gleich die Arena – überlebt haben. Und jetzt seid ihr hier und wollt dem Regime die Stirn bieten. Das muss etwas Gutes heißen, schätze ich.« Finnick erwidert Marlias Worte mit einem sanften Lächeln, auch in Lanas Richtung. »Man könnte es wohl Schicksal nennen, dass unsere Wege sich auf diese Art kreuzen.« »Oder Fügung.« Ein Funkeln tritt in Marlias Augen. Sie strafft die Schultern und streicht den Rock ihres Kleides glatt. »Ausgerechnet heute treffen wir von der Letzten Welle uns. Und wir wissen nicht, wie oft das noch möglich sein wird. Womöglich ist das heute also zugleich auch die letzte Chance. Unsere Informationen verbreiten sich nur noch langsam durch den Distrikt, seit die Friedenswächter verstärkt wurden und so viele von uns festgenommen haben. Ihr könnt euch also noch glücklich schätzen, wenn heute überhaupt ein paar Leute zusammenkommen.« »Das ist ein Problem, bei dem wir vielleicht sogar helfen können«, entgegnet Finnick. Er muss sich darum bemühen, seine Stimme ruhig zu halten, denn sein Herz schlägt längst Saltos vor lauter Aufregung. Bis zuletzt hat er gezweifelt, doch mit einem Mal schmeckt er die Hoffnung in der Luft wie süßen Blumenduft im Sommer. »Wir kommen nicht mit leeren Händen«, sprudelt es aus ihm hervor. »Wir können euch Informationen anbieten. Aus anderen Distrikten – von anderen Rebellen.« Das Funkeln in Marlias Augen wächst sich zu einem wahren Feuer aus. Ihre Wangen werden roter und sie beißt sich auf die Lippe, als würde sie andernfalls befürchten, Finnick gleich mit Fragen zu bestürmen. Vielleicht schmeckt auch sie die Hoffnung. »Dann kommt«, murmelt sie nach kurzer Bedenkzeit hastig. »Ich zeige euch, wie ihr zu unserem Treffpunkt kommt.« Finnick folgt ihr in die Küche, wo Marlia eine Klappe öffnet, die in den Boden eingelassen ist – ein Gemüsefach, das ohne Kühlung frisch hält. Es ist bis zum Rand mit Kartoffeln und anderen Lebensmitteln gefüllt, doch Marlia hebt den gesamten Korb einfach heraus. Dann tastet sie mit den Fingerspitzen über die hölzerne Auskleidung des Bodenlochs, bis sie eine Einkerbung findet. Zu Finnicks Erstaunen öffnet sich eine zweite Klappe, die den Blick auf eine enge Stiege freigibt. Er kann nicht weiter als ein paar Handbreit sehen, so dunkel ist es in dem Loch. Ein kühler, modriger Mief steigt aus der Finsternis, der nach Meer und Mysterien riecht. »Es ist nicht gerade einladend, ich weiß«, sagt Marlia. »Aber von den alten Tunneln unter dem Stadtkern gibt es keine Karten, weder im Distrikt noch Kapitol, also ist man nirgends sicherer als dort unten. Und man kommt nur dorthin, wenn man jemandem mit einem Haus in der Altstadt kennt.« Sie gräbt zwischen den Kartoffeln herum und zieht schließlich eine Taschenlampe hervor, die sie Finnick in die Hand drückt. »Hier. Ich muss noch auf jemand anderen warten, aber ihr geht besser schon einmal. Es gibt nur einen Weg, ihr könnt es nicht verfehlen.« Finnick tauscht einen Blick mit Amber und Lana, die beide synchron nicken. Falls das hier ein Fehler ist, dann ist es ohnehin zu spät. Also schaltet er die Taschenlampe ein und zwängt sich durch die Öffnung des Gemüsefachs, die gerade so breit genug für seine Schultern ist. Jemand wie Trexler würde unmöglich hier durch passen. Trotz der Taschenlampe empfängt ihn nur Dunkelheit. Der Lichtstrahl trifft auf nackten Stein, an dem hin und wieder feuchte Flecken prangen, aber das war es. Je tiefer er hinabsteigt, desto intensiver wird der Geruch nach Salzwasser und Algen, fast so, als stünde er am Strand. Hinter sich hört er Ambers und Lanas Tritte auf der Stiege, gepaart mit ihrem nervösen Atem. Was, wenn sie von Friedenswächtern erwartet werden? Oder dort unten festsitzen? Hat das Tunnelsystem freie Ausgänge? Er hat keine Ahnung, denn bis eben wusste er nicht einmal von den Tunneln. Welchem Zweck mögen sie wohl einst gedient haben? Ihm fallen nur grausige Möglichkeiten ein, ganz wie in den unteren Etagen des Kapitols, bei Dr. Gaul ... Finnick zwingt sich, durchzuatmen – was er im selben Atemzug bereut, angesichts der muffigen Luft. Wenigstens erreicht der Lichtstrahl nun endlich den Boden. Ausgetretener Stein erstreckt sich vor ihm, weit bis in die Finsternis hinein. Zu beiden Seiten bedrängen ihn feuchte Wände, die Decke hängt tief. So tief, dass er nur gebeugt weitergehen kann. Er weiß nicht, wie lange sie dem Tunnel zu dritt stumm folgen, doch irgendwann sieht er in der Ferne ein Licht und während sie immer näher kommen, gesellen sich Stimmen dazu. Aber nicht nur das – von der Tunneldecke hängen plötzlich Schnüre hinab, an die kleine Muscheln geknüpft sind. Das bemerkt er allerdings erst, nachdem er geradewegs in sie hineinläuft und die Vordersten davon klackernd gegeneinanderstoßen. Eines muss er den Rebellen der Letzten Welle lassen – sie bedenken alles Mögliche bei der Sicherung ihrer Treffen. Nun deutlich vorsichtiger wagt Finnick sich weiter vor, den Lichtstrahl seiner Taschenlampe abwechselnd zwischen Boden und Decke schwenkend. Zusätzliche Fallen oder Warnsysteme erwarten ihn zum Glück nicht, dafür öffnet sich der Gang schlagartig zu einem größeren Raum hin und schon findet er sich den Anhängern der Letzten Welle gegenüber. Rund um einen kleinen Gitterkorb am Boden, in dem ein Feuer brennt, steht eine bunte Ansammlung der unterschiedlichsten Menschen, die Finnick in Distrikt Vier je auf einem Haufen gesehen hat. Er erkennt eine kaum volljährige Verkäuferin aus der Bäckerei, in der er öfters Annies Lieblingskuchen kauft; einen alten Mann, den er meint von der Hafenkontrolle zu kennen, genauso wie Leute in bunten Kleidern aus dem Tuchbezirk. Kaum fällt der erste Blick auf ihn und seine Begleiterinnen, verstummen die geflüsterten Gespräche. Als hätte jemand die Fernbedienung ergriffen und die Stummschalttaste gedrückt. Alles scheint fest mit Marlia gerechnet zu haben, doch es braucht nur einen Sekundenbruchteil, damit die Anwesenden sich von der Überraschung erholt haben. Kollektiv weicht die Menge einen Schritt in die Schatten zurück, bis neben dem Feuerkorb nur noch ein breiter Kerl steht, der ganz sicher sein gesamtes Leben auf See verbracht hat, so wettergegerbt ist sein Gesicht. »Wer seid’n ihr?«, ruft er ihnen entgegen, während eine Hand zu seiner rechten Seite wandert. Finnick würde um sein Ruderboot wetten, dass er dort ein Messer trägt. Und eigentlich freut es ihn, dass diese Leute bereit sind, mit dem Feuer zu spielen. Dennoch ist er nicht scharf darauf, es auf ein Handgemenge ankommen zu lassen – selbst wenn er es mit Sicherheit gewinnen würde. »Marlia hat uns hereingelassen«, antwortet er dem Mann daher laut und deutlich, ohne jedoch zu brüllen. »Sie kommt gleich nach. Hier –« Er zieht den Kompass hervor, die Seite mit den eingeritzten Koordinaten nebst Welle erneut vorgestreckt. »Das Schicksal hat uns zu euch geführt. Wir kommen als Verbündete.« »So, so ...«, brummt der Kerl. Seine Hand nimmt er trotzdem nicht von der Hüfte. »Du komms’ mir irgendwie bekannt vor. Komm mal näher, Bürschchen.« Mit einem Seufzen tritt Finnick ans Feuer und zieht seine Kapuze ganz vom Kopf. Prompt hört er aus der Ansammlung in den Schatten ein leises Keuchen. Ein schmächtiger Junge in einem langen Umhang der Segelmacher flüstert deutlich vernehmbar: »Das ist Orgien-Odair!« Ein unfreiwilliges Lachen entschlüpft Finnick, doch er würgt es in einem Husten ab. »Die Bezeichnung ist mir neu«, murmelt er an Amber gewandt, die sich ein Grinsen ebenso wenig verkneifen kann. Zum Glück für den Flüsterer werden sie just in diesem Moment unterbrochen, denn weitere Schritte nähern sich von hinten und Marlia taucht in Begleitung einer zweiten Frau auf. Anstatt Finnick noch eines Blickes zu würdigen, ruft der Mann, der offenbar so etwas wie ein unerklärter Anführer ist, ihr entgegen: »Sag mal, was bringst du uns solche Kapitolslieblinge hierher? Was soll das, Marls? Das hatt’n wir so nicht abgesprochen!« »Entspann dich, Rob. Sie haben mich gefunden, nicht umgekehrt. Sie wollen hier sein. Und bei Neptun, wir brauchen jede Unterstützung, die wir kriegen können.« Der Mann namens Rob spuckt auf den Boden. »Pah! Darf ich dich daran erinnern, dass der –« Er hält inne und weist auf Finnick wie eine besonders abstoßende Meeresschnecke. »Dass der mit allem im Kapitol rummacht? Wahrscheinlich lutscht der Snow höchstpersönlich noch –« Seine nächsten Worte gehen in einem überraschten Gurgeln unter. Amber ist vorgeschnellt und hat eine Hand um seinen Hals geschlossen, die Zähne gebleckt. »Ich würd vorsichtig sein, mit dem, was du sagst. Du hast nämlich keine Ahnung – Bürschchen.« »Lass gut sein, Amber.« Finnick schüttelt den Kopf und zieht sie an der Schulter zurück, bevor noch jemand auf die Idee kommt, ein Messer zu ziehen. »Er hat ja recht, dass ich mich mit fragwürdigen Menschen umgebe.« In den letzten Jahren hat er genug Vorurteile über sich gehört, um solche Worte an sich abperlen zu lassen. Wenn diese Beleidigungen der Preis für eine Rebellion mit echter Hoffnung sind, nimmt er das in Kauf. »Glück gehabt«, faucht Amber dem Rebellenführer dennoch zu, als sie ihre Hand zurückzieht. »Finnick ist einfach viel zu weich.« Auf diese Aussage hin spuckt der Mann erneut aus, bevor er sich den Hals reibt und Marlia einen wütenden Blick der Sorte »Was habe ich dir gesagt?« zuwirft. Diese zuckt allerdings nur mit den Schultern. »Du musstest ja unsensible Worte gegenüber Siegern wählen, Rob. Dümmer wäre es nur, ein Krokodil zu kitzeln. Und sollte sich noch jemand über die drei beschweren wollen ...« Sie hebt die Stimme zu einer unmissverständlichen Ansage: »Erinnert euch daran, wer ursprünglich die Letzte Welle gegründet hat. Nämlich zwei Sieger. Erinnert euch an meine Eltern, Ophelia und Brandon, die vor so vielen Jahren ihr Leben gaben für die Hoffnung auf ein besseres Panem. An mich, die deshalb ihre beiden Geschwister an die Spiele verloren hat. Wir leiden alle unter dem Kapitol und wir werden ganz sicher nicht die Unterstützung jener verschmähen, die Snow aus denselben Gründen hassen wie wir!« Die Worte hallen von den nackten Steinwänden wieder und niemand wagt es, etwas zu erwidern. Vermutlich hat Finnick sich darin getäuscht, wer hier das sagen hat. Der Typ namens Rob mag zwar eine große Klappe haben, doch auf Marlias Statement hin zieht er den Kopf ein und überlässt ihr kommentarlos das Feld. Dennoch erkennt Finnick das Misstrauen, das ihm sowie Amber und Lana entgegenschlägt. Wirklich überzeugt haben sie die übrigen Rebellen nicht und allein mit seinem Lächeln oder schmeichelnden Worten wird er sie nie für sich gewinnen. Dafür hoffentlich mit Informationen. Und so packt er aus über die Zustände in Distrikt Elf und den Sturm, der nicht nur in ihrem Distrikt wütet. Schnell wird klar, dass keines Wellenkinder, wie sich die Anhänger der Letzten Welle selber nennen, Ahnung davon hat, was andernorts geschieht. Mit jedem Wort über zerstörte Lagerhäuser, bestrafte Spielmacher und anhaltende Unruhen rücken sie näher an ihn heran; begierig darauf mehr zu erfahren. Von Dreizehn erzählt er trotzdem nichts, sondern deutet nur vage an, dass es durch ihren Stand Möglichkeiten gibt, Informationen über die Distriktgrenzen hinaus zu erhalten. »Dann beweis es uns!«, fordert Rob schließlich unwirsch. »Beweis uns, dass du es ernst meinst und besorg uns Bilder, einen Artikel ... irgendwas! Worte kenne ich selber viele, aber ich will Tatsachen sehen!« Finnick tauscht einen Blick mit Amber. »Es wird etwas dauern«, gesteht er zögerlich. »Aber ja, das kann ich tun. Unter der Voraussetzung, dass diese Informationen unwiderruflich zerstört werden, sobald ihr euch von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugen konntet.« Er wird sich mit Beetee etwas überlegen müssen, um die Letzte Welle einzubinden, aber mancher Preis kann nicht hoch genug sein im Vergleich zu dem, was man gewinnen wird. Doch schlussendlich ist es Lana, die auf sein Versprechen noch eins draufsetzt und womöglich die erste richtige Brücke baut. »Ich würde euch gerne gemeinsames Training in der Akademie anbieten«, sagt sie mitten in eine Diskussion über den möglichen Angriff einer Fischfabrik hinein. Bis eben haben Marlia und Rob angestrengt das Für und Wider erörtert, ob man es Distrikt Elf gleichtun sollte und damit die eigenen Leute dem Risiko aussetzen kann, ihre Arbeitsstätte zu verlieren. Nun schauen jedoch alle zu Lana, die sich noch gar nicht beteiligt hat. Ihr Blick bleibt starr auf das brennende Feuer gerichtet, als sie weiterspricht. »Es sind ohnehin kaum noch Schüler da – und niemand, der im Jubeljubiläum antreten könnte und dabei wirklich eine Chance hat.« Lana seufzt leise. »Ich bringe nicht noch mehr Kinder in ein frühes Grab, weil sie mir vertrauen. Also ...« Aus dem Augenwinkel sieht Finnick, wie Amber Lanas Hand fest drückt und sie mit einem stolzen Lächeln bedenkt. Davon bestärkt hebt Lana den Kopf und schaut in die Runde. »Es dürfte ein Leichtes sein, Zeit dafür zu finden, euch zu trainieren. Denn egal wie gut ihr auch plant, ihr seid den Friedenswächtern unterlegen. Körperlich, in Sachen Bewaffnung und allgemein in puncto Fertigkeiten. Snows Männer haben jahrelang trainiert. Bisher war das Glück auf eurer Seite, aber wenn ihr wirklich etwas bewegen wollt ... wird das nicht reichen. Manchmal kann man Feuer nur mit Feuer bekämpfen.« Einen Moment lang tauschen die Rebellen unsichere Blicke. Gerade die Älteren sehen verlegen auf ihre Hände hinab, die teils schon von Arthritis geplagt sind. Es ist ausgerechnet Rob, der sich als Erster ein Herz fasst. »Bin dabei. Wollt schon immer mal wissen, ob ich die Spiele nicht hätt überleben könn’.« Und somit ist es besiegelt. Nach Robs Vorbild folgen einige, die sich ebenfalls bereiterklären, von Lana zu lernen. Ehe Finnick es sich versieht, reißt ihn der allgemeine Enthusiasmus mit, wie die reißende Strömung im offenen Meer. Bis spät in die Nacht fachsimpeln sie über die nächsten Schritte. Aus einer guten Idee entspringt eine zweite, eine dritte ... und als er spätabends mit Amber in das schlafende Siegerdorf zurückschleicht, scheint er zu schweben. Am liebsten würde er seine Freude laut hinausschreien, doch er begnügt sich damit, neben Annie im Bett zu liegen, einen Arm um sie geschlungen, und davon zu träumen, wie sie über den Horizont ins ewige Blau segeln. Bald. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)