Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 27: Hochverrat ---------------------- Die Monate bis zur Siegertour ziehen unendlich zäh dahin, beinahe so endlos wie die zwei Wochen während der vergangenen Spiele im Kapitol. Cece plant derweil alles für das Jubeljubiläum bis ins kleinste Detail. Sie reist mehrere Male in den Distrikt, obwohl sie das sonst nie getan hat. Sogar das Vorbereitungsteam begleitet sie beim letzten Mal Ende Oktober, damit unsere Outfits für die Ernte perfekt aufeinander abgestimmt sind. Wir sollen eine Einheit verkörpern, vom ersten Augenblick an. Das Einzige, worüber Cece nicht begeistert ist, sind die mangelnden Tribute. Sie hat bereits ein ganzes Notizbuch voller Ideen, angefangen von Kleiderentwürfen für die Ernte bis hin zu ausgefeilten Strategien. Nur warten keine aussichtsreichen Kandidaten, wie sowohl Amber als auch Finnick ihr immer wieder erklären. Es gibt magere Sechzehnjährige, die bloß hoffen, durch die Spiele der Armut entkommen zu können, sonst niemanden. Und egal, was Cece verlangt, wir werden keine Wunder aus dem Nichts zaubern. Nach jedem Besuch aus dem Kapitol streiten sich die anderen Sieger. Amber, Riven und Trexler sind der Ansicht, dass wir trotz allem zwei Kinder aus der Akademie für die Spiele auswählen sollten – die, mit den größten Chancen, nicht im Blutbad zu sterben. Finnick, Floogs und Mags sind dagegen, denn sie halten daran fest, dass wir nicht das Schicksal zweier Kinder entscheiden dürfen. Obwohl wir letztes Jahr das Gleiche mit Cordelia getan haben, wie ich sanft einwerfe. Ich verstehe beide Seiten. Gerade das macht es schwer, einen Entschluss zu fällen. Wenn wir niemanden bestimmen, dann trifft es vielleicht Zwölfjährige wie Pon, die keine Chance haben. Kinder wie mich, die schon mehr Glück als Verstand brauchen, um irgendwie zu überleben. Andererseits würde ich mit einer Entscheidung mindestens einem Tribut in die Augen sehen und ihn zum Tod verdammen, nur weil dieser sich für die Sicherheit des Trainings in der Akademie entschieden hat. Da es noch Zeit hat, schiebe ich den Entschluss vor mir her. So verlässt uns Cece auch im Oktober wieder mit der eindringlichen Bitte, endlich Tribute aufzutreiben, damit wir den Weg zum Sieg fortsetzen können. Nach diesem letzten Besuch hören wir fast einen ganzen Monat lang gar nichts mehr von unserer übereifrigen Betreuerin. Dafür bemerken wir andere Veränderungen im Distrikt. An den Zugängen zu den Pieren im Hafen stehen plötzlich Friedenswächter, die alle Personalien kontrollieren. Niemand kommt mehr zu seinem Schiff, ohne sich vorher einer eingehenden Untersuchung der Soldaten zu unterziehen. Ich habe zwar die Ausflugserlaubnis, den Bootsführerschein und sogar die Besitzerurkunde für mein Schiff und trotzdem schlägt mir das Herz bis hoch in den Hals, als ich das erste Mal die Kontrollen passiere. Wie bei der Ernte wird den Wartenden in die Fingerkuppe gestochen und ein Friedenswächter analysiert den Tropfen Blut mit seinem Handgerät, um die Identität zu bestätigen. Danach muss ich durch einen Körperscanner laufen, der zum Glück nicht anschlägt. Ich habe keine Ahnung, wonach Snows Schergen suchen, aber es sorgt dafür, dass die Abläufe am Hafen sich zusehends verlangsamen. Wer frühmorgens auslaufen will, muss sich auf lange Schlangen einstellen und noch härtere Kontrollen bei Rückkehr. Zum Glück fange ich bei den gemeinsamen Nachmittagsausflügen mit meiner einstigen Klassenkameradin Survy keine Fische, sodass wir dem Schlimmsten entgehen. Die lange Reihe an Schiffen, die von den Friedenswächtern bis unters Deck inspiziert werden, entgeht aber auch mir nicht. Genauso wenig wie der Mann, den zwei Soldaten am Pier zusammenschlagen, nachdem sie eine Kiste mit Beifang gefunden haben, die er unter einem zweiten Boden in der Kajüte versteckt hat. Die Fischer zeigen zusehends ihren Unmut angesichts dieser Behandlung durch das Kapitol. Auch Survy wettert bei unseren Fahrten regelmäßig über die neuen Bestimmungen. Draußen auf dem Meer gibt es nur den Wind, der uns zuhört, und sie nutzt die Gelegenheit, Snows gesamte Regierung mit den deftigsten Schimpfwörtern zu überziehen, die Distrikt Vier kennt. Worte, wegen denen man sonst Bestrafungen von den Friedenswächtern kassieren würde. Aber das ist laut ihren Erzählungen gar nichts gegen das, was die Angestellten des Kutters, auf dem sie arbeitet, alles von sich geben. Bereits viermal sind sie einer vollständigen Durchsuchung unterzogen worden und einmal wurde die gesamte Besatzung über mehrere Stunden hinweg festgehalten, sodass ihr kompletter Tagesfang verdorben ist. Ein Ausfall, für den die Fischer aufkommen mussten. Seitdem werden Fantasien laut, wie die Menschen aus Distrikt Vier es dem Regime heimzahlen können. Einen ersten Vorgeschmack darauf bekomme ich, als Isla mit mir in die Stadt geht. Obwohl wir auf dem Markt mehrere Straßen entfernt einkaufen sind, hören wir die aufgebrachten Rufe aus Richtung des Wassers glasklar. Eine ganze Traube an Menschen hat sich dort versammelt, wie ersichtlich wird, sobald wir uns in die vollen Gassen drängen, die einen Blick auf den tieferliegenden Hafen ermöglichen. Eine anführende Person scheint es nicht zu geben, denn alle rufen wütend durcheinander, während Friedenswächter sie einkesseln. Ein paar haben aus altem Segeltuch Protestbanner gebastelt, auf denen sie die Aktionen des Kapitols kritisieren. Ich suche die Menge instinktiv nach einem bekannten Gesicht ab, aber entdecke Survy zum Glück nicht. Dafür meine ich für einen Moment, Davids Mutter erkannt zu haben. Doch nachdem ich blinzle, ist die Frau verschwunden. Isla beobachtet das Geschehen genauso besorgt wie ich. Unser Leben im Siegerdorf hat uns bequem werden lassen und trotzdem können wir es den Menschen dort unten nicht verdenken, dass sie die Willkür des Kapitols nicht länger erdulden wollen. Ihre zögerlich aufkeimenden Sprechgesänge erinnern mich an die Sorgen, die meine Familie hatte, als ich selber eine Fischerin war und nicht wusste, wovon wir bis zum Wochenende leben sollen. Was die aktuellen Maßnahmen für einen Großteil der ärmeren Leute bedeuten, kann ich inzwischen nur erahnen. Alle Proteste finden schließlich ein rasches Ende, als ein Soldat ohne Vorwarnung in die Menge feuert. Die Schüsse hallen zwischen den Gebäuden wieder, ebenso wie die Schreie der Getroffenen. In dem Gedränge um mich herum explodieren zornige Rufe. Ich presse mir zitternd die Hand vor den Mund und sehe die Menschen blutend zu Boden gehen, da stürzen die ersten Zuschauer von den Hafentreppen auf die Friedenswächter zu. Sie drängen auf die Soldaten ein. Schon stürzt einer davon mit verdrehten Gliedmaßen zu Boden. Langsam weiche ich rückwärts, doch ich kann den Blick unmöglich von dem Blutbad wenden, das sich mitten am Hafen ereignet. Es ist wie in den Hungerspielen, ein Kampf jeder gegen jeden. Ich lasse eine Tüte voller Kartoffeln fallen und drücke mich zu Boden, die Hände auf den Ohren. Isla zerrt mit beiden Armen an mir und schließlich wirft sie meinen kraftlosen Köper über ihre Schulter, während die Schreie des Aufstands uns bis hoch ins Dorf der Sieger verfolgen. Infolge dieses Vorfalls braucht es eine Weile, bis ich mich wieder aus dem Haus traue. Doch am Ende siegt die Sehnsucht nach dem offenen Meer und dem harschen Wind. Inzwischen halten alle ihren Kopf unten, aber ich höre sie leise murmeln, beim Be- und Entladen ihrer Schiffe. In Distrikt Vier ist man unzufrieden und selbst wenn überall kontrolliert wird – auf den Fischerbooten sind die Leute alleine, frei, ihrem Hass auf das Kapitol nachzugeben. In der letzten Novemberwoche muss ich auf dem Weg zum Hafen einen großen Umweg laufen, denn plötzlich versperren mir aufgrund von ‚Umbaumaßnahmen‘ Friedenswächter den Weg. Während ich mit Survy auf dem Meer bin, vergesse ich die Sorgen, doch bei unserem Einlauf in den Hafen erkennen wir schon von weitem, was dort auf dem großen Vorplatz wartet. Ein Galgen. Mir schlingt sich ein Knoten in den Magen. Jeder hier kennt die Härte des Kapitols. Meinen Vater haben sie früher auch schon eingesperrt, wegen Nichtigkeiten. Aber jetzt sieht es so aus, als würde die Regierung ganz andere Töne anschlagen, nachdem beim Aufstand die ersten tödlichen Schüsse gefallen sind. Außerdem informieren glänzende Metallschilder auf den Pieren und an allen Hafengebäuden uns, dass weitere Bestimmungen für den Fischereibetrieb erlassen werden. Das trifft mich zwar nicht, doch ich war lange genug eine Fischerstochter, um zu wissen, dass die neuen Regeln, die unter anderem eine stärkere Beteiligung des Kapitols an den Fängen und strengere Regulierungen der Seezeiten verhängen, eine Frechheit sind. Wenn man sich an alles halten will, bleibt einem kaum genug zum Leben, ganz zu schweigen davon, dass man für jedes kleinste Vergehen aufs härteste bestraft werden wird. Worauf früher nur eine monatelange Gefängnisstrafe stand, steht nun der Tod, so wie auf eine Liste neuer Verbrechen. Sorgenvoll betrachte ich Survy neben mir, deren Miene finster geworden ist. Im Gegensatz zu mir ist sie weiterhin auf den Fischfang angewiesen, um ihre Familie zu versorgen. Ich schäme mich meiner momentanen Erleichterung. „Keine Sorge, wir finden eine Lösung“, sage ich schnell. Immerhin ist das Siegergeld jeden Monat so hoch, dass ich gar nicht weiß, wofür ich es ausgeben soll. Die Kosten für mein Schiff sind damit ohne Probleme gedeckt. Aber Survy winkt ohnehin ab. „Schon gut, wir schaffen das auch so. Das ist doch nur wieder eine Laune aus der Hauptstadt. Wenn sie merken, dass die Qualität der Produkte sinkt, dann werden sie schon wieder damit aufhören. Vermutlich will sich irgendein neuer Politiker mal wieder beweisen und meint, er müsse das ganze Land umkrempeln. Aber ohne uns!“ „Uns?“, flüstere ich sorgenvoll. Ich erinnere mich noch gut an ihre Erzählungen von den anderen auf ihrem Arbeitskutter. „Glaubst du wirklich, weil sie es unter Todesstrafe verbieten, feste Arbeitsverbände zu schließen, dass die Leute nicht mehr reden werden?“ Sie schüttelt mit einem grimmigen Lächeln den Kopf. „Das Kapitol hat ja keine Ahnung. Da müsste schon auf jedem Schiff ein Friedenswächter mitfahren und dafür haben sie niemals genug Leute.“ „Bitte sei vorsichtig.“ Survy ist meine einzige Freundin außerhalb des Siegerdorfes und ich will nicht, dass sie ihre Wut mit dem Leben bezahlt. Die Siegestour beginnt nicht lange danach und die ersten Opfer baumeln im Dezembergrau von den Galgen. Es sieht nicht so aus, als sollte Survys Optimismus berechtigt sein. Obwohl die Kälte mir nichts ausmacht, stellen wir unsere Ausflüge aufs Meer ein. Die Friedenswächter brauchen keine Gründe mehr, um Leute festzunehmen oder gar aufzuhängen. Immerhin folgen nicht noch weiteren Aufstände, sondern eisiges Schweigen seitens der Bevölkerung. Der ganze Abgrund dieser neuen Vorkehrungen trifft uns Sieger aber erst, als eines Morgens ein dicker Briefumschlag aus Snows cremefarbenem Papier in den Briefkästen auftaucht. Wir werden darüber informiert, dass unsere Teilnahme an der Siegertour in diesem Jahr abgesagt wird. Die Anweisung lautet, dass wir im Dorf bleiben. Keine Erklärungen, keine Rechtfertigungen. Wie immer, wenn etwas los ist, landet jeder von uns früher oder später in Floogs Wohnzimmer. Ich werde von Finnick mitgenommen und sogar Riven findet den Weg dorthin, nachdem sie sich bei den übrigen Häusern durchgeklingelt hat und niemand aufgemacht hat. Die Briefe sind alle genau gleich – eine höfliche, aber eindringliche Information, dass wir uns von der Siegesfeier fernzuhalten haben. „Das ist doch ein schlechter Scherz!“, flucht Amber. „Cece hat sich vor Aufregung fast ins Höschen gemacht und jetzt sagen sie die Feier einfach ab? Das ist noch nie passiert, in der ganzen, verfluchten Geschichte der Hungerspiele nicht!“ Riven sieht ebenfalls ratlos aus. „Letztes Jahr habe ich alle früheren Sieger und Siegerinnen getroffen. Vor allem sollte gerade ich doch eigentlich meine Nachfolger treffen!“ Sie verschränkt die Arme vor der Brust und scheint gekränkt von der Neuigkeit, dass niemand ihr die Chance geben wird, noch einmal im Auge der Zuschauer zu glänzen. „Snow fürchtet sich vor etwas“, geht Mags ruhig dazwischen. Ihr fällt das Sprechen nach wie vor schwer, doch sobald sie die Stimme erhebt, verstummen automatisch alle anderen. „Er will uns von den beiden Kindern fernhalten, sie isolieren. Sie sind nicht wie wir, nachdem sie zu zweit sind.“ „Wenn ihr mich fragt“, ergänzt Floogs, „dann zielt das Kapitol darauf ab, dass sie uns noch weiter kontrollieren. Alle Distrikte. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in diesem Jahr die Fischereibestimmungen verschärft werden, wo die Teilnahme an der Siegestour abgesagt wird. Oder es einen Aufstand gab. Nur, dass Snow sich einer Sache vertut – er zwingt die Leute damit nicht in die Knie, sondern er macht sie wütend. So wie wir jetzt erzürnt sind, weil er uns vor dem Fest fernhält.“ „Also, ich bin nicht traurig, dass mir dieser ganze Rummel entgeht.“ Amber lacht freudlos auf. „Auch wenn ich fürchte, dass du recht hast. Snow ist wütend wegen des unverschämten Sieges der beiden aus Zwölf. Es sollte nur einen Sieger geben und diese Regel haben sie gebrochen, auch wenn er sie zuerst geändert hat. Und jetzt bekommen wir alle die Rechnung dafür.“ Ich tausche einen besorgten Blick mit Finnick. Mir macht es ebenfalls nichts aus, dass die Feier für uns ausfällt, doch es liegt auf der Hand, dass die Ordnung aus den Fugen gerät. Wie sehr Snow seine repräsentativen Feste liebt, habe ich während der letzten Hungerspiele am eigenen Leib erlebt. Die Siegestour kommt und geht. Es ist ein Tag wie jeder andere auch, nur, dass dieses Mal ein ganzer Trupp Friedenswächter vor dem Tor zum Dorf der Sieger postiert ist. Amber versucht, in der Stadt einkaufen zu gehen, wird aber mit gezogenen Waffen aufgefordert, sich zurück in ihr Haus zu begeben. Selbst Mags wird gebeten, nicht in ihrem Garten herumzulungern. Man verzichtet darauf, Gewehre auf sie zu richten, aber laut ihren Erzählungen sind die Soldaten äußerst unfreundlich aufgetreten. Im Fernsehen bekommen wir nur einen Ausschnitt zu sehen, der unseren reichlich geschmückten Festplatz zeigt. Die Reihen der Zuschauer sind dünner besetzt als sonst und ich erkenne auf Anhieb eine Handvoll Personen, die höhere Ämter am Hafen in der Fischkontrolle oder dem Rathaus bekleiden. Fischer und Leute aus dem Viertel der Schiffsbauer fehlen hingegen ganz. Nach allem, was die letzten Wochen geschehen ist, kann das unmöglich ein Zufall sein. Aber selbst diese wenigen bessergestellten Menschen haben den Unmut in ihre Gesichter geschrieben. Wir Sieger sehen uns die Szene alle gemeinsam an, doch es ist dieselbe stinklangweilige Feier wie jedes Jahr, nur eben ohne unseren – oder Ceces – Part. Katniss und Peeta verlesen ihre Reden von kleinen Karten, steif und frei von Charme. Keiner von ihnen sieht glücklich aus, dort oben zu stehen. Höchstens ihre Betreuerin. Insbesondere Katniss wirft immer wieder vorsichtige Blicke in Richtung der Tribüne, auf der Cordelias Familie steht. Riven kommen bei diesem Anblick die Tränen, ansonsten bleiben wir stumm. Der Winter zieht dunkel an uns vorbei. Stürme peitschen über die See, sodass wir das Kapitol nicht einmal als Feind brauchen. Tagelang verlasse ich das Haus nicht mehr, sondern rolle mich drinnen an Finnicks Seite zufrieden ein. Es sind selige Momente, wenn der Regen an die Fenster prasselt. Sonst kommt zu dieser Zeit immer ein Brief, der Finnick in die Hauptstadt bittet, um dort seinen ‚Diensten‘ nachzugehen, doch zum ersten Mal lassen sie ihn in Ruhe. Wer allerdings nicht in Ruhe gelassen wird, sind die Fischer. Es ist bereits Ende Januar, als ich mich mit Isla auf den Weg mache, um am Hafen Krebse für das Abendessen einzukaufen. Ich bin wochenlang nicht hier hergekommen. Neben den Galgen hängt jetzt eine Liste derer, die für die Todesstrafe vorgesehen sind. Der Anschlag ist so lang wie mein Arm und listet feinsäuberlich Namen, Vergehen und Datum der öffentlichen Hinrichtung auf. Doch damit nicht genug – unter den vielen Verurteilten ist auch ein alter Bekannter.   Ich habe Davids Vater nicht mehr gesehen, seit er sich vor den siebzigsten Hungerspielen von mir verabschiedet hat. Bei meiner Rückkehr in den Distrikt war er nicht anwesend, genauso wenig wie bei der Siegesfeier. In all den Jahren habe ich ihn nicht einmal auf dem Friedhof am Muschelbaum getroffen oder ihn auch nur in der Stadt bemerkt. Als hätte er nie existiert, außer in meiner Einbildung. Ungläubig starre ich die Liste an, die mich informiert, dass er in drei Tagen sterben soll. Man hat ihn für Hochverrat zum Tode verurteilt. Was immer das genau heißen mag. Die Friedenswächter werfen in den letzten Wochen nur so um sich mit diesem Begriff, aber es gibt einen ganzen Katalog an Taten, die zu dieser Verurteilung führen. Die Zunge klebt mir am Gaumen und entfernt schmecke ich Gummi. Meine Handgelenke kribbeln, sodass ich mit den Fingern darüber rubble, bis die Haut ganz gerötet ist und Isla mich von dem Aushang fortzieht. Ich bin Davids Vater nichts schuldig, immerhin hat seine Familie mir die alleinige Verantwortung am Tod ihres Sohnes gegeben. Nicht einmal haben sie mich besucht oder gefragt, was Davids Schicksal mit mir – seiner ehemaligen Verlobten – angerichtet hat. Am Tag nach der Siegesfeier haben sie einen Boten mit meinen privaten Sachen aus unserem alten Haus ins Dorf der Sieger geschickt, zusammen mit einem Brief, der unmissverständlich ausgedrückt hat, mich nie wiedersehen zu wollen. Dass mein Gewinn nicht nur David, sondern auch Papa und den kleinen Cyle das Leben gekostet hat, haben sie vollkommen vergessen – oder verdrängt. Alles, was sie in mir sehen, ist die verrückte Siegerin der siebzigsten Hungerspiele, die ihre geliebten Menschen in den Tod gestürzt hat, anstatt selber in den Spielen zu sterben. Der Verrat sitzt tief und trotzdem fühle ich mich betroffen, nun, da Davids Vater hingerichtet werden soll. Ich kenne den Mann seit frühester Kindheit. Er hat uns vor bestimmt fünfzehn Jahren das Krabbenpulen beigebracht. Wenn alles anders gelaufen wäre, hätte er mein Schwiegervater sein können. Den ganzen Einkauf über trage ich mich mit dem Gedanken, der Urteilsvollstreckung beizuwohnen. Oder noch besser, wie ich sie verhindern könnte. Aber das ist natürlich utopisch. Selbst mit meinem Status der Siegerin kann ich nicht einfach ins Rathaus spazieren und erwarten, dass man mir nur eine Sekunde zuhören wird. Vor allem, da ich doch ‚die Verrückte‘ bin. Erst als sich zwei Friedenswächter in der Schlange des Krebshändlers vordrängeln und Isla die beiden Rekruten wortgewaltig zu Krill macht, fällt mir wieder ein, dass sie ja mit einem Kommandanten der Truppe bekannt ist. Oder eher verwandt. Ihre ältere Schwester hat als eine der wenigen einen Soldaten aus Distrikt Zwei geheiratet, der hier stationiert ist und inzwischen zu einer führenden Position befördert wurde. Diese Verbindungen sind selten – und mittlerweile ist die Eheschließung zwischen Angehörigen verschiedener Distrikte vonseiten des Kapitols verboten. Aber an den alten Verhältnissen hat niemand gerüttelt. In der Vergangenheit hat Isla diesen Vorteil immer dann ausgenutzt, wenn sie mich zu offiziellen Veranstaltungen begleitet hat und man sie abweisen wollte. So wie vorletztes Jahr beim Finale der Hungerspiele. Oder bei der Versorgung der Kinderheime, die sie organisiert. Da sehen die Friedenswächter nicht so genau hin, wenn Lebensmittelreste aus den Fabriken verschwinden. Vielleicht kann ihr Einfluss mir helfen, Wiedergutmachung für Snows Mord an David zu leisten? Isla ist reichlich verwundert, als ich sie auf dem Heimweg danach frage, ob wir etwas bezüglich der Hinrichtung unternehmen können. Sie verspricht nichts, aber das erwarte ich gar nicht. Mir ist klar, dass das Kapitol nicht die Bestrafung aussetzen wird. Wenn überhaupt, hoffe ich, dass sie es vielleicht in eine mildere Strafe umwandeln, im Gefängnis oder Arbeitslager ... oder mich wenigstens zu Davids Vater lassen. Nach unserem Einkauf sehe ich jedenfalls, wie Isla in ihrer besten Feiertagskleidung zurück in Richtung Stadt spaziert. Sie besucht ihre Schwester nur selten, da diese in der Garnison wohnt und jeder Besuch mehrere Sicherheitskontrollen bedeutet. Alleine schon deshalb bin ich ihr unendlich dankbar, dass sie für mich – und diesen egoistischen Wunsch – so viel auf sich nimmt. Ein ganzer Tag vergeht, bevor Isla flankiert von zwei Männern in weißer Rüstung wieder vor meiner Haustür steht. Sie grüßt mich mit einem knappen Nicken, anders als sonst. „Du hast einen einzigen Besuch frei, Annie. Diese beiden Männer werden dich hin- und zurückbringen. Mehr kann auch ein Kommandant nicht unternehmen. Snow persönlich hat das Urteil unterzeichnet.“ Meine Hände zittern vor Aufregung und wieder breitet sich Kribbeln in jedem Nerv aus. „Okay. Danke, Isla –“ „Schon gut. Mach schnell, bevor irgendwer große Fragen stellt.“ Ich schnappe mir eine Jacke von der Garderobe und will den Friedenswächtern folgen, da drückt Isla mir bestimmt einen Schal in die Hand. Verdutzt greife ich danach – es ist zwar windig, aber nicht mehr so kalt –, doch Isla zieht mich rasch in eine Umarmung und schneidet mir dadurch die Frage ab. „Bedeck deinen Kopf lieber“, murmelt sie leise an meinem Ohr. „Besser, wenn dich keiner erkennt. Wir wissen nicht, wer hinter den Überwachungskameras in der Garnison sitzt. Und vertrau niemandem. Nicht einmal deinen Begleitern.“ Mit einem Kloß im Hals bringe ich bloß ein Nicken fertig. Ein letztes Mal drücke ich Isla fest an mich und sauge ihren beruhigenden Geruch ein. Für Bedenken ist es zu spät, jetzt muss ich das hier durchziehen, anstatt einmal mehr in Finnicks Arme zu flüchten. Denn dem habe ich extra nichts von dieser Angelegenheit erzählt. Hoffentlich sieht er nicht, wie die zwei Friedenswächter mich im Schutz der herannahenden Dunkelheit aus dem Dorf der Sieger abführen. Die Soldaten gehen zu einem Transporter, in dessen Heck ich Platz nehme. Den Schal tief in die Stirn gezogen, halte ich den Kopf unten, als das Auto am befestigten Tor zur Garnison durchleuchtet wird. Doch es stellt niemand Fragen oder wundert sich über meine Anwesenheit und wir passieren unbehelligt die Grenze. Das Fahrzeug hält auf einem asphaltierten Platz, der von drei Seiten mit flachen, langgestreckten Bauten gesäumt ist. Das Gefängnis lässt sich einfach erkennen – die Anlage ist komplett fensterlos, von großen Scheinwerfern ausgeleuchtet und an allen Ecken des Gebäudes stehen bewaffnete Soldaten in voller Uniform. Meine Begleiter schieben mich stumm darauf zu. Als eine Wache uns in den Weg tritt, zeigen sie routiniert ein kleines Plastikkärtchen vor und erklären lapidar, dass ich die Angehörige eines Inhaftierten sei. Erneut lässt man uns passieren. Ich werde durch zwei weitere Sicherheitskontrollen geschleust, von denen eine genau so ein Scanner ist, wie der am Hafen. In meinen schlichten Kleidern und ohne Make-up nehmen die diensthabenden Offiziere überhaupt keine Notiz von mir. Vermutlich ahnen sie nicht einmal, dass eine Siegerin der Hungerspiele vor ihnen steht. Sie befehlen mir gelangweilt, was ich zu tun und lassen habe, ehe sie mich endlich zu einer kleinen Zelle führen. Hinter einer stählernen Tür mit einem quadratischen Sichtglas wartet er – Davids Vater. Der Mann, den das Kapitol wegen Hochverrat hinrichten will. Nervös streiche ich über den Saum meines Pullovers. Ich habe keine Ahnung, weshalb ich hier bin, was ich sagen kann oder wie er reagieren wird. Gerade jetzt würde ich unglaublich gerne in Finnicks Armen auf dem Sofa liegen und die köchelnden Unruhen vergessen. Aber das könnte ich mir andererseits nie verzeihen. Also atme ich tief ein, bevor ich durch die Tür trete. Der Mann auf der anderen Seite hat nur wenig mit dem Vater meines einstigen Verlobten gemein. Sein schmutziger Overall hängt ihm lose von den Schultern und das Gesicht ist tief eingefallen. Aus dunklen Höhlen starren mir zwei vorwurfsvolle Augen entgegen. Ich sehe, wie das Erkennen in ihnen glimmt. „Natürlich bist du es, die hierher kommt“, spuckt er mir abfällig vor die Füße. „Hast wahrscheinlich gute Beziehungen, nicht wahr? Kommst direkt vom Präsidenten, um mich zu verhöhnen? Willst mir noch ein paar Geheimnisse entlocken?“ Die Begrüßung bleibt mir im Halse stecken. Stattdessen nehme ich einen tiefen Atemzug – ein Fehler. Es riecht nach ungewaschener Haut und menschlichem Elend. Aber die Tür hinter mir ist verschlossen, für die nächsten fünfzehn Minuten der Besuchszeit, die Isla mir erkämpft hat. Ich stelle mich mit dem Rücken zur Kamera in der Ecke und ringe um Worte. Den ganzen Weg über habe ich mir Sorgen gemacht, wie es wird, diesem Mann gegenüberzutreten. Doch jetzt stehe ich hier und es ist kein Stück, wie in meiner Vorstellung. Die Ähnlichkeit von Davids Vater zu seinem Sohn ist durch die Strapazen der Gefangenschaft völlig ausradiert. Sein dunkelblondes Haar ist strähnig und ein struppiger Bart zeugt davon, wie lange sie ihn bereits festhalten. Alles, was ich sehe, ist ein gebrochener Mensch. „Was – bist du nur hier, um mich anzuschweigen?“ Er hockt auf seiner Pritsche, die Hände zwischen den Knien gefaltet und beobachtet mich wie ein mäßig spannendes Fernsehprogramm. „Nein. Ich bin hier, um dir die Wahrheit zu sagen.“ Der Gedanke kommt mir erst, da habe ich den Mund schon geöffnet. Er wird hingerichtet, dagegen kann ich nichts tun. Aber bevor es so weit ist, verdient er es, zu erfahren, warum sein Sohn sterben musste. Vielleicht kann er mir dann doch noch vergeben. Oder wenigstens in Frieden gehen. „Welche Wahrheit? Die echte Wahrheit darüber, wie deine Ignoranz meinen Sohn umgebracht hat, oder deine Version der Wahrheit?“ „Beides.“ Ich konzentriere mich auf den Saum meines Pullovers. „Du hast recht – David ist gestorben, weil ich überlebt habe. Genauso wie mein Vater und Bruder. Wenn ich getan hätte, was man von mir verlangt hat, dann ... hätte es nicht geschehen müssen –“ Ein Lachen wie rostige Nägel, die am Pier kratzen, unterbricht mich. „Das sind keine Neuigkeiten. Wenn du nur deswegen hergekommen bist, muss ich dich enttäuschen. Es ist mir egal. Denkst du, ich sitze unschuldig hier vor dir?“ Davids Vater lehnt sich auf der Pritsche zurück und breitet seine knochigen Hände aus, als wolle er mir sein Reich – seine Todeszelle – präsentieren. „Du konntest nicht tun, was Snow von dir verlangt hat, und das hat meinen Sohn umgebracht. Du weißt seit Jahren, dass ich dir das nicht vergeben kann. Aber weißt du, wem ich noch weniger vergeben kann?“ Ich weiche einen Schritt zurück, als er sich mit aufgerissenen Lidern vorlehnt. Das Weiß in seinen Augen ist schmutzig, die Adern darin lauter rote Blitze. Hinter mir ist nur Stein und ich presse die Hände dagegen, im Wunsch, einfach in ihm aufzugehen. „Snow. Dem Kapitol. Wenn es die vermaledeiten Hungerspiele nicht gäbe, dann hättest du niemals David aufgeben müssen! Du hast das Messer gehoben, das meinen Sohn umgebracht hat, aber dieser Wichser hat zugestochen! Und dafür wird er bezahlen!“ Davids Vater sitzt immer noch auf der Pritsche, aber sein Geschrei füllt den ganzen Raum und bestimmt auch den Flur davor. Wahrscheinlich hören alle Friedenswächter da draußen jedes Wort. Ich atme hastig wie nach einem Ausdauerlauf. „Ich – ich wollte doch nur ...“ „Dein Mitleid ausdrücken? Dein Gewissen erleichtern?“ Mir läuft eine Träne über die Wange und der Verräter auf der Pritsche gegenüber lacht. Das ist nicht länger der Mann, der uns Kindern die ersten Angelhaken geschenkt hat. „Ich verrate dir etwas: Dieses Land wird untergehen. Das kannst du nicht aufhalten, genauso wenig wie Snow. Ihr alle und eure Spiele werdet brennen. Hängt mich, aber der Sturm ist gesät.“ „Was hast du getan?“, wispere ich überwältigt. „Wovon sprichst du?“ Ein breites Grinsen enthüllt die braunfleckigen Zähne meines Gegenübers. „Hat dir das niemand gesagt?“ Ich bin wie hypnotisiert von den Rissen auf seinen Lippen, den vielen kleinen, schartigen Wunden, die bei näherer Betrachtung offenbar werden. Wer weiß, was die Friedenswächter den Gefangenen alles antun. „Ich habe den Widerstand organisiert. Die letzte Welle. Ich versichere dir – wir sind überall. Und wir sind bewaffnet. Es ist Zeit, diesen Distrikt endgültig zu befreien.“ In diesem Moment bin ich dankbar für den Schal, der mir tiefer in die Stirn rutscht und mein Gesicht vor der Welt verbirgt. Widerstand. Das ist gefährlich. Solche Gedanken sind der Grund für die Hungerspiele! Aber ... ich kann ihm keinen Vorwurf machen. Tief in meinem Herzen weiß ich, dass er recht hat. Snow ist ein Tyrann, das Kapitol ein Unterdrücker. Und wie oft habe ich schon gewünscht, dass die Spiele nie wieder stattfinden? „Es tut mir so leid, dass es so endet“, flüstere ich in die Stille, die so viel schwerer wiegt als die Schreie von eben. Einem unerklärlichen Drang folgend, trete ich auf die Pritsche zu und lege die Arme um die Schultern des Mannes, der in einem einfacheren Leben mein Schwiegervater gewesen wäre. „Ich hoffe, es wird nicht vergebens sein.“ Bevor er etwas erwidern kann, löse ich mich von ihm und stehe wieder vor der Tür. Auf mein Klopfen hin öffnet ein Friedenswächter. „Mach’s gut, Annie. Ich grüße David von dir.“ Es sind die letzten Worte, die ich je von der einzigen Verbindung zu meinem alten Leben höre.   Zu der Hinrichtung gehe ich nicht, aber zwei Tage darauf klingelt es an meiner Tür und mir wird von einem uniformierten Friedenswächter eine Pappschachtel überreicht. Die letzten Besitztümer des Verurteilten, erklärt der Mann. Seinem Testament entsprechend an mich zugestellt. Anstatt eines Namens steht die Inhaftierungsnummer in dicken schwarzen Lettern auf der Pappe. Mit zittrigen Händen trage ich die Schachtel vor mir her ins Wohnzimmer, als handle es sich dabei um Sprengstoff. Jetzt bin ich froh, dass Finnick nicht hier ist, wie so oft, sondern mit Amber beim Training. Bestimmt eine halbe Stunde lang starre ich den kaum briefpapiergroßen Karton an, ehe ich den Mut finde, den Deckel zu lüpfen. Prompt sackt mein Magen in die Tiefe. Ganz oben liegt ein Bild von David und mir. Wir sind Kinder – ich in einem Rüschenkleid mit Fischmuster, er in einem Hemd. Aufgenommen wurde das Foto beim sommerlichen Hafenfest. Die arrangierte Kulisse und das prunkvolle Banner über unseren Köpfen tragen die Handschrift des Kapitols, aber immerhin sind diese Fotostationen eine kostengünstige Möglichkeit für Normalbürger, sich eine bleibende Erinnerung zu leisten. Darunter kommen weitere Bilder zum Vorschein. Eines für jedes Jahr, das David und ich einander kannten. Auf manchen davon sind unsere Eltern mit drauf, aber die meisten zeigen nur zwei Kinder, die langsam erwachsen werden. Ich streiche andächtig über das vergilbende Fotopapier. Es ist nicht viel, doch diese Bilder hätte mir niemand anders geben können. Abgesehen davon liegt allerdings noch etwas in der Schachtel. Ein Kompass, dessen vergoldete Hülle etliche Kratzer und Dellen trägt. Mein Herz stolpert. Ich erinnere mich an diesen Kompass! Besonders an den Zorn von Davids Vater, als wir Kinder ihn in einer Schublade entdeckt und damit gespielt haben. Kein Wunder, wo es sich doch um ein Erbstück seines Großvaters handelt. Für eine Fischerfamilie ist das Gold daran so wertvoll wie mehrere Monatseinkünfte – und jetzt hat er ihn ausgerechnet mir vermacht. Der Kompass klappert leise, sobald ich den Deckel aufschnappen lasse. Auf der Innenseite sind winzige Ziffern in das Gold geritzt. Ich fahre mit dem Daumen über die scharfen Kanten. Offenbar ist die Markierung ganz neu. Koordinaten. Wohin die wohl führen? Bestimmt eine weitere Erinnerung an David oder seine Familie. Ein Lieblingsort, das würde ich in solch einen wichtigen Gegenstand gravieren. Der Kloß in meinem Hals gewinnt. Rasch klappe ich den Kompass zu und werfe ihn zurück in die Schachtel, wo er mit einem Rasseln landet. Die Sofadecke über den Kopf gezogen, rolle ich mich zu einer Kugel, presse die Hände auf die Ohren und flüchte in eine Traumwelt, die keinen Widerstand nötig hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)