Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 23: Alles wendet sich ----------------------------- Ich habe keine Ahnung, was gestern Nacht geschehen sein mag, aber die gute Laune, mit der Finnick heute pünktlich zum Frühstück auftaucht, passt nicht zu seinem sonstigen Verhalten. Anstatt direkt in sein Zimmer zu verschwinden, lässt er sich bei uns am Frühstückstisch nieder, der an diesem Morgen jedenfalls keinen Anlass zur Fröhlichkeit bietet. Anstelle der üblichen reichhaltigen Brot- und Brötchenauswahl liegen bloß ein paar grüne Seetangbrötchen bereit, deren Anblick Cece mindestens genauso grün um die Nase werden lässt. Auch die Hafermilch, nach der sie stets verlangt, kann ihr die Avoxdienerin nicht bringen. Mir ist das gleich, ich bediene mich wie jeden Morgen seit unserer Ankunft nur an ein paar Früchten und etwas süßem Milchpudding. Über den Rand meiner Schüssel mustere ich skeptisch Finnick, der mit einem breiten Lächeln sein Frühstücksei köpft. „Und, ist gestern noch was passiert?“, fragt er in die Runde, während er das Ei salzt. Ich bin ganz konzentriert darauf, ein Stück eingelegten Pfirsich in zwei Hälften zu teilen. Nachdem Finnick zu seinem Termin aufgebrochen ist, habe ich mich in mein Zimmer eingeschlossen, den Kopf unterm Kissen versteckt und so lange vor Erleichterung geweint, bis ich von der Erschöpfung in den Schlaf getragen wurde. Nach all dem wilden Geschrei und der Konfrontation mit Dr. Gaul bin ich einfach froh, die Sache überstanden zu haben. Von den Spielen habe ich so natürlich nichts mehr mitbekommen. Aber es liegt nahe, dass die Karrieros wieder auf Jagd sind. Solange sie zu dritt sind, stellen sie immer noch eine Übermacht da. Der letzte Rest Appetit schwindet zusehends, also viertle ich meine Pfirsichhälften lustlos. Ambers Antwort höre ich über das Klappern des Löffelns auf dem Porzellan trotzdem. „Ob du’s glaubst oder nicht, es ist überhaupt nichts passiert.“ Verdutzt horche ich auf. „Unsere lieben ‚Freunde‘ sind die ganze Nacht durch den Wald gelaufen und selbst mit ihren tollen Nachtsichtbrillen sind sie nicht einmal über ein Häschen gestolpert.“ Finnick nickt befriedigt. „Das ist gut“, murmelt er um einen Löffel Ei herum. „Naja, nichts ist untertrieben“, mischt Floogs sich ein. „Sie hatten einen Streit. Das Karrierobündnis beginnt zu bröckeln.“ „Na, als wenn das was Neues wäre.“ Amber rollt mit den Augen. „Die Wetten eskalieren schon. Mittlerweile wird auf die verbleibenden Minuten gesetzt, die das Bündnis noch Bestand hat. Wenn ich wetten dürfte“, sie grinst und pflückt ihr Seetangbrötchen auseinander, „dann würd ich sagen es passiert in ungefähr einer Stunde.“ Cece betrachtet pikiert Amber, die ihrem armen Brötchen die weiche Füllung entreißt und pur verschlingt. „Manieren!“, zischt sie empört und erntet damit Gelächter sämtlicher Mentoren. Ihre perfekt gezupften Augenbrauen wandern irritiert in die Höhe, ehe sie fortfährt. „Heute Abend sind wir im Übrigen in den Präsidentenpalast eingeladen, zur feierlichen Abstimmung über die Regeländerung. Ich baue darauf, dass ihr euch dort benehmt! Nächstes Jahr ist schließlich das Jubeljubiläum und das Fiasko von diesem Jahr können wir uns wahrlich nicht noch einmal leisten!“ Ein lautes Klirren lässt mich zusammenzucken. Finnick hat seinen Löffel auf den Teller geworfen und funkelt unsere Betreuerin grimmig an. „Cece, welches Fiasko?“, fragt er und derselbe unterdrückte Zorn wie gestern Abend bebt in seiner Stimme. „Nennst du es ein Fiasko, dass unsere Tribute sich nicht der Rolle als gewissenlose Karrieros beugen wollten? Sie waren jedes Ringen um ihr Überleben wert, auch wenn das Glück nicht mit ihnen war.“ Ein leises ‚Tsss‘ kommt Cece über die grellpinken Lippen. „Wir brauchen Karrieros, keine ängstlichen Kinder. Ihr seid lange genug Mentoren. Ihr lügt euch in die Tasche, wenn ihr glaubt, dass wir noch einmal gewinnen bei solcher Nachsicht.“ Mit diesen Worten erhebt sie sich vom Frühstückstisch und pfeffert ihre Serviette nieder. „Roan und sein Team kommen nachher fürs Styling. Punkt sechzehn Uhr treffen wir uns am Fahrstuhl – und keine Sekunde später!“ Schweigend starren wir ihr hinterher. Die anderen sehen aus, als hätten sie in eine rohe Forelle gebissen. Amber lässt ihre Brötchenhälften fallen und verzieht das Gesicht. „Die hat doch einen kompletten Realitätsverlust“, murmelt sie. „Und dann schon wieder so eine Veranstaltung beim ollen Snow. Das ist was, die vierte in zwei Wochen?“ „Irgendwie so“, stimmt Trexler ihr zu. „Bin schon ’n wenig gespannt, was uns da erwartet. Sind ja nich‘ mehr viele Tribute übrig, für die ’ne Regeländerung von Bedeutung is‘ ...“ Ich schiebe die mittlerweile viergeteilten Pfirsichstücke in meiner Schüssel umher, bevor ich scheppernd den Löffel fallen lasse. Angesichts des Tagesplans ist mir der Appetit endgültig vergangen. „Ich hab Angst“, gestehe ich. Floogs schenkt mir ein warmes Lächeln. „Genau wie ich. Aber was auch immer passiert, es wird nicht mehr lange dauern, bis wir das Meer wiedersehen. Dann wird alles besser.“ Seufzend beiße ich mir auf die Unterlippe. Hoffentlich behält er recht. Finnick allerdings sieht gar nicht besorgt aus. Auf seinen Lippen liegt schon wieder dieses Grinsen, das ich nicht einordnen kann. Es ist weder jenes, das er für seine offiziellen Auftritte aufsetzt, noch das Freche, welches er zeigt, wenn er mich neckt. Er streckt seine Hand über den Tisch nach meiner aus und drückt sie leicht. „Vielleicht wird das alles gar nicht so schrecklich. Die Zuschauer lieben Drama, aber sie werden schon nicht für eine Regel abstimmen, die pure Tortur ist. Schließlich wollen sie ja auch, dass ihre Lieblinge eine Chance haben.“   Bis die Stylisten auftauchen, haben wir Freizeit, die ich ausnahmsweise mit Finnick verbringen kann. Nach dem gestrigen Ausbruch vor Dr. Gaul ist er gleich zu seinem abendlichen Termin aufgebrochen, sodass wir jetzt zum ersten Mal seitdem alleine sind. Er sitzt mir gegenüber am anderen Ende der Couch, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Selbst wenn wir beide nur schweigen, tut es gut, in seiner Nähe zu sein. Hin und wieder stupse ich ihn mit dem Fuß an und er lächelt zurück, sonst hängt jeder seinen eigenen Gedanken nach. Ich habe mir Ceces digitalen Reader geschnappt, ein papierdünnes Gerät, auf dem sie in ihren Pausen gerne den neusten Klatsch und Tratsch aus dem Kapitol liest. Da sie in der Stadt unterwegs ist, wird sie wohl nichts dagegen haben, wenn ich ihn mir ausleihe. Mit unseren Mentorentablets können wir nur Informationen rund um die Hungerspiele abrufen, aber Ceces kleines Wundergerät eröffnet mir eine grenzenlose Welt an Neuigkeiten. Sie hat unzählige Magazine abonniert, die sich hauptsächlich Mode und Berühmtheiten widmen und voller Artikel über die letzten Partys oder Trends sind. Ganz uneigennützig mache ich mich nicht darüber her, auch wenn es auf eine bizarre Art unterhaltsam ist, in die High Society abzutauchen. Insgeheim hoffe ich, in den Magazinen über einen gewissen Namen zu stolpern. Dr. Gaia Gaul. Selbst wenn der gestrige Abend in meiner Erinnerung von einem Nebel aus Furcht und Aufregung verhüllt ist, so hat sich doch eine Sache bei mir festgesetzt: wo sie arbeitet oder besser, woran sie arbeitet. Dr. Gaia Gaul, Abteilung für genetische Ursachen- und Optimierungsforschung – das waren ihre Worte gegenüber Finnick. Was überhaupt nicht zu Tias Behauptungen passt. Sie hat immer nur von Verhaltenstherapie geredet, nie von Genen. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, was wirklich hinter der Ärztin – oder viel mehr Wissenschaftlerin? – steckt. Denn eines ist klar: Sie verbirgt etwas. Ich habe es satt, eine Spielfigur des Kapitols zu sein, die nach Lust und Laune gefoltert und bedroht wird. Bevor ich Dr. Gaul das nächste Mal überraschend begegne, bereite ich mich vor. Wenn ich Glück habe, dann taucht ihr Name vielleicht in irgendeinem Zeitungsartikel auf. Sollte sie wirklich eine bedeutende Forscherin sein, wird man irgendwann über ihre Arbeit berichtet haben – es sei denn, sie ist so geheim, dass das Kapitol sie aus gutem Grund tief unter der Erde vergraben hat. Ich weiß nicht, was mir lieber ist. Leider hat Cece nur zwei Zeitungen abonniert, die nichts mit Mode oder Tratsch zu tun haben. Den Panem Express und die Capitol Times. Nachdem Erstere sich als belangloses Blatt entpuppt, das vorrangig über Nachbarschaftsstreitigkeiten, Friedenswächtereinsätze in Nachtclubs und bevorstehende Kunstausstellungen berichtet, entscheide ich mich, in der Capitol Times mit meiner Recherche anzufangen. Weit komme ich allerdings nicht, denn kaum öffnet sich die Titelseite der Zeitung, erstreckt sich eine bildschirmfüllende Aufnahme einer völlig zerstörten Lagerhalle über das Display. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, dass es eine der Fabrikhallen daheim in Distrikt vier ist, bis ich das große, zusammengeschmolzene Wappen an einer eingestürzten Wand erkenne. Die Elf ist schwarz von Ruß, aber es besteht kein Zweifel. Beinahe augenblicklich schmecke ich Asche auf der Zunge und höre morsches Holz unter meinen Füßen brechen wie zarte Muschelschalen. Alleine stehe ich inmitten der Verwüstung, eine schwarze Einöde, die daran erinnert, wie die Flammen unzählige Menschenleben verschlungen haben. Schon lange haben mich die Erinnerungen an das Grab von David und meinem Bruder nicht mehr verfolgt. Tränen brennen mir in den Augenwinkeln, also wische ich die Seite schnell fort, bevor die Gefühle mich überfluten. Trotzdem schwebt das Bild der verbogenen Stahlträger und eingestürzten Steinmauern noch vor meinem inneren Auge, als stünde ich mitten drin. Finnick scheint die Anspannung zu bemerken, und er wendet den Blick vom roten Morgenhimmel ab. Mit schräg gelegtem Kopf mustert er mich. „Alles in Ordnung?“ Schnell nicke ich. Nach seiner gestrigen Aufregung will ich ihn nicht weiter beunruhigen. Er sorgt sich ohnehin genug und ausnahmsweise liegt es mal in meiner Hand, ihn zu schützen. „Was liest du da überhaupt?“ Er linst auf den Reader, den ich jedoch so gegen die Oberschenkel gelehnt habe, dass er unmöglich etwas erkennen kann. „Ach, bloß ein bisschen Klatsch und Tratsch ... ich wollt mal sehen, was grad so angesagt ist im Kapitol.“ Beiläufig blättere ich eine Seite um. „Vielleicht lasse ich mich ja inspirieren – Roan redet doch immer darüber, dass ich so langweilig bin. Was hältst du von einem echten, hm, Fischschuppen-Tattoo?“ Hoffentlich merkt Finnick nicht, wie unüberlegt die Worte aus meinem Mund stolpern. Er zieht zwar nachdenklich die Augenbrauen zusammen, aber als ich mich zu einem Grinsen zwinge, lacht er leise auf. „Gefällt mir. Cece würde den Geruch sicher lieben. Vielleicht sollte ich überlegen, mir den Oberkörper damit verzieren zu lassen.“ Über die Knie hinweg strecke ich ihm die Zunge heraus. „Hey, klau nicht meine Ideen!“ „Selbst Schuld, wenn du sie mir auf dem Silbertablett servierst.“ Er lässt sich in die Kissen zurückfallen und ich widme mich wieder dem Reader. Aus dem mehrseitigen Artikel über den Brand erfahre ich, dass vor Kurzem ein bedeutendes Vorratslager in Distrikt elf in Flammen aufgegangen ist – Gasleck heißt es. Das erklärt wohl die Abwesenheit der üblichen Getreideprodukte auf unserem Frühstückstisch. Aber die Bilder rühren noch an etwas anderem aus meiner Erinnerung. Von Distrikt elf haben schon Tia und Seneca Crane gesprochen, wie die Schnattertölpel mir verraten haben. Es ging darum, dass sie unter Kontrolle gebracht werden müssten. Ob das der Grund für die Zerstörung ist? Waren es gar die Bewohner von Elf? Was immer die Wahrheit ist, in der Zeitung steht sie nicht. Stattdessen suche ich lieber nach dem, weswegen ich überhaupt hier bin. Dr. Gaia Gaul. Zu meiner Frustration stelle ich schnell fest, dass ihr Name in keinem einzigen Artikel der vergangenen Jahre auftaucht, abgesehen von einer Auflistung derjenigen, die ihren Abschluss an irgendeiner berühmten Akademie erhalten haben. Am liebsten würde ich das Gerät in eine Ecke pfeffern. Seufzend lasse ich den Blick aus dem Fenster schweifen. Mittlerweile nähert sich die Sonne dem Zenit und damit schmilzt die Zeit nur so dahin. Geistesabwesend verknote ich schon wieder eine Haarsträhne zwischen den Fingern, da durchbricht Finnick unser gemütliches Schweigen. „Es tut mir leid, falls ich dich gestern Abend erschreckt habe“, sagt er leise. „Diese Frau ... hat mir solche Angst gemacht, dass sie dich wieder wegbringen. Ich konnte nicht zusehen, wie das passiert. Nicht erneut.“ Überrascht senke ich die Hand und sehe ihn an. Sein Blick zeigt, dass es ihm ernst ist. „Du hast mir nie Angst gemacht. Es war nur so ... laut. Und ich wusste nicht, ob ich Furcht vor ihr haben sollte oder nicht.“ „Trotzdem. Ich hätte dir helfen müssen, ohne sie anzuschreien.“ Er streckt seine Hand nach mir aus, und ich ergreife sie. „Manchmal tun wir das Falsche aus all den richtigen Gründen. Deswegen liebe dich mit jedem dieser Fehler. Und manchmal gerade wegen ihnen.“ Das entlockt ihm endlich wieder ein Lächeln. „Ich liebe dich dafür, dass du das kannst. Und noch so viel mehr.“ Den Reader an den Bauch gepresst, lehne ich mich vor und küsse ihn. Dann fällt mir allerdings noch etwas anderes ein, das mir keine Ruhe lässt. „Sag mal – hast du heute Nacht eigentlich gut geschlafen?“ „Komischerweise ja. Die üblichen Schlafprobleme haben mich letzte Nacht gar nicht gequält.“ Sein Daumen streicht beruhigend über meinen Handrücken. Nur leider wirft das mehr Fragen auf, als es beantwortet. Was war anders? Seine erzwungenen Liebschaften schicken ihn für gewöhnlich in ein tiefes Loch des Selbsthasses, das mir genauso wehtut wie ihm. Auch wenn ich mich freuen sollte, dass er gestern nicht gelitten hat, verstehe ich es nicht. Finnicks Mundwinkel zucken leicht. Er lehnt sich vor, um den Kuss zu erwidern. „Du wirst sehen. Alles wird gut.“ Seine Augen suchen die Meinen und für einen winzigen Sekundenbruchteil habe ich das Gefühl, jeden seiner Gedanken fühlen zu können. Zuversicht erfüllt mich, obwohl ich immer noch nicht schlauer bin. „Dann glaube ich dir.“ Doch wie so oft im Kapitol, wird dieser Moment der Verbundenheit einmal mehr von einem alarmierenden Piepen durchbrochen. Mein Atem setzt kurz aus, fängt sich dann aber wieder. Finnicks Hand erdet mich in der Gegenwart. „Soll ich nachsehen, was los ist?“ Er hat den Blick nicht von mir gelöst. Dankbar, dass er mir einen Fokus gibt, nicke ich. Bevor wir auf der Feier des Präsidenten auftauchen, sollte ich informiert sein, was in der Arena passiert ist, und wenn es nur Finnicks Erzählungen dessen sind. Er zieht sein Tablet zu sich heran und betrachtet mit gerunzelter Stirn das Geschehen, während ich konzentriert auf den Reader in meinem Schoß starre. Zur Ablenkung tippe ich mit zittrigen Fingern neue Suchbegriffe ein. Labor; Genetik. Unzählige Treffer ploppen auf und ich klicke mich wahllos hindurch. Zu meiner Erleichterung stellt sich heraus, dass bloß die streitenden Karrieros Schuld am Alarm sind. Die anderen Mentoren kommen aus ihren Zimmern und ich bedeute Finnick, dass es okay ist, wenn sie den Fernseher anmachen. Wenigstens habe ich den Reader, um mich von der Arena abzulenken. Nachdem die Karrieros die gesamte Nacht durch den weitläufigen Wald marschiert sind, auf den vermeintlichen Spuren von Katniss, sitzen sie jetzt erschöpft auf einer Lichtung, die letzten Vorräte vor sich ausgebreitet. Anscheinend hat der Anblick von ein paar Trockenfrüchten und Dosenbrot ihrem Enthusiasmus einen entscheidenden Dämpfer versetzt. „Wir sind noch acht Leute hier drin. Drei von uns und fünf von den anderen. Wir brauchen also ungefähr für eine Woche Essen, eventuell auch weniger“, sagt Marvel mit Blick auf das zusammengeworfene Häufchen an Nahrung. „Zur Not können wir jeden zweiten Tag ohne Essen auskommen, solange uns das Trinken nicht ausgeht.“ Cato verschränkt die Arme vor der breiten Brust. „Um dann abzumagern, wie eines von diesen Klappergestellen aus Drei?“ Er schüttelt den Kopf und wirft einen provokanten Blick in Richtung der Stelle, wo er die Kameras vermutet. „Ich wäre dafür, dass unsere Fans ein bisschen was von ihrer Fanliebe zeigen!“ Der Augenblick gehört ganz ihm und er nutzt es aus, indem er seine Muskeln spielen lässt. Mit den blonden Haaren, der kräftigen Statur und den himmelblauen Augen hat er genug Fans da draußen. Selbst die hässlichen grün-gelben Schwellungen dort, wo die Jägerwespen ihn gestochen haben, haben seine Reize nicht ruiniert. Marvel jedoch seufzt. „Und warum haben wir dann seit gestern nichts mehr bekommen?“, fragt er gereizt. „Notfalls müssen wir mit dem auskommen, was wir haben, und das ist nicht viel.“ „Ach, und warum?“ Cato schaut zu Clove, die auf dem Rücken liegt und fortwährend eines ihrer Messer in die Luft wirft und geschickt wieder auffängt. Ein spöttisches Grinsen ziert ihr Gesicht, als sie der Klinge erneut Schwung gibt, um sie nach oben zu befördern. „Weil wir zu dritt sind. Einer weniger und wir hätten das Problem nicht.“ Ich finde es erstaunlich, dass Marvel in diesem Moment ruhig sitzen bleibt. Ob ihm das Herz genauso bis zum Hals schlägt wie mir gerade? Kalkuliert er schon seine Möglichkeiten? Dezimieren sich gleich die Karrieros gegenseitig? Schnell wende ich den Blick ab, zurück zu meiner Recherche. Feierliche Einweihung der neuen Dovecote-Einrichtung für genetische Forschung heißt der Artikel, den ich zuletzt angeklickt habe. „Arroganz wird noch der Untergang von Distrikt zwei sein“, murmelt Amber halblaut auf dem anderen Sofa. „Nun, eins is’s sicher – die Sponsoren werd’n ihnen jetzt nix schicken“, brummt Trex. „Nich‘ solange sie stattdessen nen Kampf haben können.“ In der Arena starren die drei verbliebenen Karrieros einander schweigend an, jeder von ihnen darauf bedacht, eine Regung zu vermeiden. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Es fällt mir schwer, nicht hinzusehen. „Weißt du, Marv‘, ich glaub, du hast recht“, sagt Cato in die Stille hinein. „Wir müssen die Vorräte gut einteilen. Aber mir gefällt Cloves Idee besser als deine.“ Und das Grinsen, das er jetzt Marvel zeigt, hat nichts von dem charmanten Lächeln für die Zuschauer. Es ist das eines Raubtiers, bereit die Zähne in seine Beute zu schlagen. Mein Blick flackert zurück auf Ceces Reader – und mir entweicht ein Keuchen. Der Artikel über die Dovecote-Einrichtung wird von einem Bild begleitet, das eine nur zu bekannte pinkhaarige Wissenschaftlerin zeigt. Ich habe tatsächlich Dr. Gaul gefunden! Im Hintergrund höre ich Marvels Antwort auf Catos Drohung – trockenes Lachen. „Willst du Everdeen fangen oder nicht? Zu dritt sind unsere Chancen immer noch größer.“ Doch ich kann die Augen nicht von dem Bild lösen, das mehrere festlich gekleidete Menschen zeigt, die strahlend zwischen technischen Geräten stehen. Und es sind nicht irgendwelche Leute, neben denen Dr. Gaul steht. Hoher Besuch: Die Einweihungsfeier der neuen Dovecote-Einrichtung wurde von Hector Snow, dem jüngsten Sohn des Präsidenten, und seiner Verlobten, links, mit einer festlichen Rede eröffnet. Cloves boshaftes Kichern erscheint mir nur zu passend angesichts dieser Erkenntnis. Dr. Gaia Gaul ist nicht irgendwer – sie gehört zu dem engsten Kreis um Snow. Was ihre Taten nur fragwürdiger macht. „Warum beweist du uns nicht, wie nützlich du bist, indem du ein paar von deinen Fallen im Wald aufbaust? So bist du doch an deine Neun im Training gekommen. Vielleicht verdienst du dir dann ja deine Ration.“ Die schneidende Stimme von Clove lässt mich wieder aufsehen. Reglos starrt Marvel Cato an. „Los“, wispert dieser mit einem hämischen Grinsen. „Fang die Kleine. Und wenn du sie hast, erledigen wir das auf meine Art.“ Marvel wagt es nicht, die Hand nach den gesammelten Vorräten auszustrecken. Er greift seinen Rucksack mit dem letzten bisschen, was ihm geblieben ist, und seinen Speer, dann entfernt er sich langsam, rückwärts, von der Lichtung und dem Bündnis. „Das war es mit den Karrieros“, jubiliert Amber lautstark. Auch die anderen sehen ziemlich zufrieden aus. Nur mir könnte das alles nicht egaler sein, angesichts meiner Entdeckung in der Capitol Times. Die Dovecote-Einrichtung gilt als zukünftige Speerspitze der Genetikforschung. Das vom Präsidenten geförderte Programm widmet sich vornehmlich der (Weiter-)Entwicklung von Mutationen zum Schutz der Allgemeinheit. Vielfältige Experimente sollen Erkenntnisse über die gezielte Nutzbarkeit dieser Schöpfungen zutage bringen. Erste Erfolge verzeichneten die Forschenden bereits Anfang des Jahres mit ihrem Bericht zur Wirkung des Jägerwespengifts auf die menschliche Wahrnehmung und daraus resultierenden Möglichkeiten, das Mittel in Fällen schwerer schizoider Wahrnehmungsstörungen gezielt zur Therapie einzusetzen.   ***     Präsident Snows Palast hat sich seit Rivens Siegertour kein Bisschen verändert. Schwere Kronleuchter unter der Decke, buntes Publikum und unzählige Speisen auf dem Büffet. Alles erscheint wie damals, selbst das Kleid, was Roan mir zugesteht, ist wieder unangenehm figurbetont. Tiefgrüner Satin fließt um meinen Körper, gehalten von einem metallenen Halsreifen, der sich wie eine Schlange vom Nacken herab windet und auf Höhe der Schulter in den Stoff übergeht. Ich hasse es mit jeder Faser des Seins. Das einzig Neue ist die Empore mit Sitzplätzen für uns Mentoren und Snow, direkt gegenüber der großen Leinwand, die von der Galerie im dritten Stock bis zum Boden herabhängt. Darauf läuft – wie könnte es anders sein – die Übertragung der Hungerspiele. Mir fällt es, genauso wie den vielen Gästen, schwer, die Augen von den überlebensgroßen Bildern abzuwenden. Momentan gibt es immerhin keinen Kampf. Die meisten Tribute halten sich bedeckt, in der Hoffnung, diesen Tag irgendwie zu überstehen. Sie ahnen ja nicht, welcher Sturm sich hier im Kapitol zusammenbraut. Nur Katniss ist mit dem Bogen im Anschlag auf der Suche nach Rue, die nicht wie verabredet in ihr gemeinsames Lager zurückgekehrt ist. Als Zuschauerin weiß ich natürlich längst, was ihre kleine Verbündete davon abgehalten hat. Eine geschickt platzierte Falle der Spielmacher, einen einzigen Fehltritt und die Invasion hunderter knallbunter Schlangen später, ist Rue zwar unverletzt, musste dafür aber die Nacht in einer windigen Baumkrone verbringen, während die Vipern auf den niederen Ästen nach ihr schnappten. Die Karrieros haben ihr Lager auf der Jagd mehrfach umkreist und bloß durch reinen Zufall nicht entdeckt. Mit klopfendem Herzen, wie wir dank der Einblendung von Rues Puls wissen, pirscht sie nun durch den dichten Wald, immer auf der Hut vor weiteren schuppigen Leibern, die aus dem Blattwerk herabfallen könnten. Offenbar hat ihr diese Begegnung mit den Mutationen den Weg durch die Bäume ordentlich verleidet. Aber selbst wenn keine Schlangen mehr über sie herfallen – für uns Zuschauer ist längst ersichtlich, dass dieser Weg eine Sackgasse ist; geschickt von den Spielmachern eingefädelt. Am Ende ihrer momentanen Route wartet Marvel mit seinen improvisierten Fallen und dem Wunsch nach Rache. Jetzt stellt sich nur die Frage, wer ihn zuerst erreicht – Katniss oder Rue. In diesem Moment landet ein schwarz-weiß gefiederter Spotttölpel auf einem Ast in Rues Nähe. Der Hoffnungsschimmer in ihren dunklen Augen ist nicht zu übersehen. Sie singt ihre kleine Melodie, das Erkennungszeichen dafür, dass es ihr gut geht. Ganz wie seine unheimlichen Verwandten im Labor greift der Vogel die Töne auf und trägt sie auf ausgebreiteten Schwingen hoch in den Himmel, zu seinen Artgenossen, die sogleich in die Hoffnungsmelodie einstimmen. Vielleicht wird die Botschaft Katniss rechtzeitig erreichen. Während ich diese Szenen verfolge, treibt es meine Gedanken zusehends fort von den Spielen, in die unruhigen Tiefen des eigenen Verstandes. Bin ich bloß ein Experiment in Dr. Gauls Laboren? Nutzt das Kapitol diese Angst aus, damit ich endgültig eine willenlose Marionette werde? Will Dr. Gaul mich möglicherweise nur über die Klippen des Wahnsinns treiben und aus der Ferne beobachten, wie ich von Schuldgefühlen und Panik innerlich zerfressen werde, damit sie noch mehr Medikamente an mir ausprobieren kann – oder ... Schlimmeres? Zum Glück sehe ich ihre pinken Haare nirgends in der Menge, nur zahlreiche andere Damen mit derselben pastellenen Haarfarbe. Ich bin unsicher, wie ich reagieren würde, wenn sie jetzt hier stünde. Sie hat mir nie persönlich etwas getan. Das war immer Tia mit den Stromschlägen. Im Gegenteil, gestern hat Dr. Gaul mir die Hand gereicht, als die Wellen der Angst über mir zusammenschlugen. Für einen winzigen Splittermoment habe ich wirklich geglaubt, dass sie die Furcht vielleicht doch versteht. Ein lautes Geräusch aus der Arena lässt mich schließlich zusammenschrecken, aber es ist bloß ein trockener Ast, der unter Rues Füßen bricht. Floogs wirft mir einen fragenden Blick zu, woraufhin ich nur den Kopf schüttle. Momentan bin ich nicht bereit, diese Sorgen mit dem Rest meiner Familie zu teilen. Sollen sie nur glauben, dass es bloß die Spiele sind. Manchmal kann der Ruf der „Verrückten“ auch ein Schutzschild sein. Finnick unterdessen hat mit seinem Ruf des begehrten Junggesellen einmal mehr zu kämpfen. Kaum sind wir angekommen, hat ihn Titania Creed in Beschlag genommen. Auch eine Stunde später, hängt sie immer noch an ihm und versucht, ihn zum Tanzen zu überreden. Ich bemühe mich, die hauchzarten Nadelstiche in meinem Herzen zu ignorieren, also wende ich den Blick wieder dem einzigen anderen Unterhaltungspunkt zu – die Beobachtung der bunten Gästeschar. Lange muss ich mich indes nicht damit begnügen, denn nur Minuten später öffnet sich eine gewaltige Tür auf der Galerie im dritten Stock und Präsident Snow tritt heraus. Nur seine Anwesenheit vermag es, einen Saal voller geschwätziger Kapitolvögel binnen Sekunden zum Schweigen zu bringen. Ich scheine nicht die Einzige zu sein, der ein phantomhafter Eisschauer über den Rücken läuft, sobald er den Raum betritt. Der Präsident begrüßt die Anwesenden mit dem üblichen Geschwafel von historischen Momenten, tapferen Tributen und ähnlichem Unsinn. Aber der eigentliche Star dieses Abends ist nicht er, sondern der oberste Spielmacher, der wie ein Schatten an seiner Seite steht. Seneca Cranes feuerroter Anzug wirkt beinahe wie eine Verneigung vor Katniss brennendem Interviewkleid. Eine Reihe funkelnder Edelsteine am Revers gibt ihm eine ähnlich entflammte Aura. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Dessen ist er sich offenbar nur zu bewusst, denn er lächelt kühl zu uns herab, sobald der Applaus aufbrandet. Im Saal wird unterdessen in Windeseile die Tanzfläche geräumt, auf der Caesar Flickerman und der oberste Spielmacher Platz für die Show nehmen werden. Snow allerdings hält geradewegs auf die Empore zu, die Augen voller Zufriedenheit über uns Sieger gleitend, als wären wir eine besonders prachtvolle Zucht seiner geliebten Rosen. Schließlich bleibt sein Blick an mir hängen. In einer untypischen Geste hebt er seine Mundwinkel zu der Andeutung eines Lächelns, doch seine Augen sind ein kalter Spiegel seines unbewegten Inneren, wie zwei feingeschliffene Diamanten. Leblos, hart. „Miss Cresta“, grüßt er höflich, „es freut mich, zu sehen, dass es Ihnen wieder besser geht.“ Mein Mund ist trockener als die heißeste Arenawüste, aber ich zwinge mich zu einem gleichermaßen unehrlichen Lächeln. Das scheint leider eine Einladung für Snow zu sein, sich unserem Tisch weiter zu nähern. Ich höre, wie die übrigen Sieger erleichtert aufatmen, nun, da die Aufmerksamkeit nicht länger ihnen gilt. Selbst unter den einstigen Karrieros hat der Präsident wenige Freunde. Von Snow geht derselbe überwältigende Rosenduft aus, der mich schon in Flickermans Studio zu ersticken drohte. Irgendwie bezweifle ich, dass es an der einzelnen weißen Rose an seinem Revers liegt. Jede Faser meines Körpers drängt zur Flucht. Aber wie ein Tier in der Falle beobachte ich bloß, wie er den Rest unserer Mentorenfamilie begrüßt. Titanias Anblick an Finnicks Seite erfreut ihn anscheinend. Zumindest habe ich für wenige Sekunden das Gefühl, dass doch etwas Leben in den Diamantaugen ruht, während sie triumphierend aufblitzen. „Es wäre mir eine Ehre, wenn ich mich zu Ihnen setzen dürfte“, sagt Snow schließlich höflich, aber bestimmt. Oder andersgesagt – wir müssen seine Anwesenheit ertragen. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Amber ihre Knöchel knacken lässt, und schenke ihr einen beschwichtigenden Seitenblick. Wir haben in der Vergangenheit zur Genüge Aufmerksamkeit erregt. „Natürlich“, erwidere ich leise. Wie aus dem Nichts taucht ein Diener mit gesenktem Kopf hinter Snow auf, der ihm einen weißen Stuhl mit hoher Lehne an unseren kleinen Tisch schiebt. Kein bequemer Sessel wie bei uns, mehr eine Machtdemonstration, fast schon ein Thron, mit fein gearbeiteten Intarsien an der hölzernen Rückenlehne. „Was für ein betrübender Umstand, dass Ihre Tribute dieses Jahr so früh ausgeschieden sind.“ Snow legt seine langen schmalen Finger bedächtig gegeneinander. „Sie waren vielversprechende Kandidaten. Es ist immer schade, Potential verloren zu sehen.“ Seine Augen bohren sich in meine wie kalte Speerspitzen. „Jeder Anfang ist schwer. Nächstes Jahr, werden Sie uns sicherlich mehr ... überraschen.“ Es ist unser aller Rettung, dass wir Floogs haben. Er schenkt Snow ein Lächeln, so höflich, das man meinen könnte, er würde einen lange vermissten Freund endlich wiedersehen. „Wir geben stets unser Bestes. Für unsere Tribute. Auch im nächsten Jahr wieder. Vielleicht können Sie sich ja dann wieder über einen Sieger aus Distrikt vier freuen, Mr. Präsident.“ „Ich werde es mit Spannung erwarten.“ Wie magnetisch angezogen wandert Snows Blick wieder zu mir. Aber ausnahmsweise wird selbst dem Präsidenten das Wort abgeschnitten, denn Caesar Flickerman hat sich inzwischen mit Seneca Crane auf der ehemaligen Tanzfläche eingefunden und tappt prüfend auf sein Mikrofon. Bunte geschmückte Köpfe im ganzen Saal drehen sich zu ihm und Spannung breitet sich aus, sobald Caesar uns seine unnatürlich weißen Zähne in einem breiten Grinsen zeigt. „Meine Damen und Herren, endlich ist es so weit! An diesem ganz besonderen Abend begrüße ich Sie recht herzlich aus dem Präsidentenpalast! Heute wird unser verehrter oberster Spielmacher uns offenbaren, welche Regeländerungen für Sie da draußen zur Auswahl stehen. Ja, Sie haben richtig gehört! Sie vor den Fernsehern des Kapitols werden die einmalige Chance haben, für eine nie dagewesene Änderung der Regeln dieser Hungerspiele zu stimmen! Ist das nicht aufregend?“ Ich gebe Caesar nicht gerne recht, aber ja, es ist aufregend. Meine Finger klammern sich Halt suchend um die Armlehnen des Sessels. Nur dem letzten Rest Entschlossenheit verdanke ich es, dass mein Gesicht vor Snow, der ein aufmerksames Auge auf unsere Runde hat, ausdruckslos bleibt. „Seneca, ich fürchte, ich kann meine Aufregung nicht länger zurückhalten. Was haben Sie sich überlegt?“, fragt Caesar wie ein kleines Kind am Morgen der Jahreswende. Der Spielmacher lächelt schmallippig. „Nun Caesar, was halten Sie davon, wenn Sie es selber herausfinden?“ Wie aufs Stichwort trägt eine junge Frau eine große Glaskugel herbei, die unbestechliche Ähnlichkeit mit den Loskugeln bei der Ernte hat. Und genau wie bei der Ernte sind im Inneren mehrere gefaltete Zettel cremefarbenen Papiers, jeder mit einem roten Wachssiegel verschlossen. „Oh, es wäre mir eine Ehre“, seufzt Flickerman und schließt dramatisch die Augenlider, „aber ich denke, ich habe noch eine bessere Idee. Warum lassen wir nicht einige von unseren geschätzten Gästen heute Abend die Vorschläge verlesen?“ Die Schnappatmung von Titania Creed ist nicht zu überhören. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie ihre Hand in die Luft hebt und auf ihrem Platz auf und ab hopst wie eine Schülerin, die unbedingt ihre richtige Antwort loswerden will. Vermutlich halten nur ihre Manieren sie davon ab. Es dauert nicht lange und der Moderator hat sich mithilfe von Seneca Crane vier Gäste ausgesucht – tatsächlich auch Titania. Unter höflichem Applaus versenkt der erste von ihnen, ein dürrer Mann mit blass fliederfarbener Haut, seine Hand in das Glas. Alles hält den Atem an. Nur Snow betrachtet das Geschehen mit scheinbarer Gelassenheit, immer noch ein amüsiertes Lächeln im Gesicht. Das leise Knacken des Wachssiegels hallt durch den Saal. Dann räuspert sich der Mann und beugt sich zu dem Mikrofon, das Caesar ihm entgegenstreckt. „Die erste vorgeschlagene Regeländerung lautet: Sponsorengeschenke dürfen nur noch am Füllhorn von den Tributen empfangen werden.“ Mir ist nach Lachen zumute. Sowas haben sich die Leute also überlegt? Klar, es ist eine Einschränkung, aber bei all dem Aufheben, das um diese Veränderung gemacht wird, hätte ich mehr erwartet. Der einzige Sinn dieses Vorschlags ist es, die Tribute für einen Kampf zusammenzutreiben. Das bekommen die Spielmacher üblicherweise ohne solche Tricks hin. Trotzdem brandet Applaus auf und schon ist die nächste Losfee an der Reihe, eine große Dame, der ein Geweih aus ihren laubgrünen Haaren wächst. „Regeländerung Nummer zwei lautet wie folgt“, verkündet sie mit deutlich mehr Elan als ihr Vorgänger, „mit jedem Tag, der in der Arena vergeht, wird ein neuer Bereich zur Todeszone erklärt. Fünfzehn Minuten nach Bekanntgabe dieser Todeszone wird in dem Abschnitt eine Mine explodieren und alle zurückgebliebenen Tribute töten.“ Meine Fingernägel graben sich tief in die weichen Sesselpolster. Diese Regel ist deutlich heftiger. Es gäbe keine Rückzugsorte mehr in der Arena, die Tribute wären ständig in Bewegung. Es wundert mich nicht, dass der Applaus dieses Mal bedeutend enthusiastischer ausfällt. Doch schon bittet Caesar Titania nach vorne. Sie versenkt ihre Hand voller Dramatik in der halbleeren Glaskugel. Anscheinend hat sie sich einiges von Cece abgeguckt. Viel zu langsam, für meinen Geschmack, faltet sie ihren Zettel auseinander und räuspert sich spannungsheischend. „Die dritte mögliche Regeländerung lautet ...“ Sie dehnt die Pause, bis selbst Caesar ein drängendes Hüsteln hören lässt. „Es dürfen zwei Tribute siegen, solange sie aus demselben Distrikt stammen.“ Kollektives Luftanhalten im Saal. Was immer die vierte Regel ist, ich denke nicht, dass sie diese Wirkung übertrifft. Die Wahl ist gefallen, sobald Titanias Stimme verklingt. Zwei Sieger? Hundertfach höre ich die Worte wiederholt, ein Echo, das einer warmen Brandungswelle gleich von Gast zu Gast weitergetragen wird. Snow lächelt nicht mehr. Seine Hände ruhen immer noch bedächtig gefaltet in seinem Schoß, doch die harten Diamantaugen sind fest auf Seneca Crane gerichtet. Es ist die wichtigste Regel der Hungerspiele seit ihrem Beginn, dass nur ein Tribut überlebt. Ich kann nicht glauben, dass die Spielmacher das verändern wollen – und noch weniger, dass sie es verändern dürfen. Trotzdem applaudiert Snow, als Titania den Zettel ablegt und Platz für den letzten Loszieher macht. Der ältere Herr, dem nun die Ehre gebührt, wackelt gerade nach vorne zur Loskugel, da ertönt ein dumpfer Schlag. Die Hungerspiele, die wir allesamt vor Aufregung für einen Moment vergessen haben, drängen sich uns wieder ins Bewusstsein. Das übergroße Bild von Caesar auf der Leinwand ist ruckzuck verschwunden. An seiner statt sehen wir Marvels Falle – mitsamt ihrem Fang. Rue. „Oh, oh, meine Damen und Herren, es sieht aus, als wenn die Tribute nicht abwarten können, bis wir alle Regeländerungen verlesen haben“, wechselt Caesar Flickerman scheinbar mühelos in den Kommentatorenmodus. „Ob nun wohl ein weiterer Tribut ausscheiden wird?“ Mein Magen hüpft auf und ab wie auf stürmischer See. Bitte nicht, schreie ich in Gedanken, während ich stumm die Fingernägel noch tiefer in das Polster grabe. Neben mir schleicht sich das falsche Lächeln wieder auf Präsident Snows Gesichtszüge und er lehnt sich in seinem hölzernen Stuhl zurück. Rue, begraben unter einem dicken Netz, beißt sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien. Es ist purer Hohn, dass in diesem Moment ein Spotttölpel hoch oben in den Baumwipfeln wieder ihre kleine Melodie anstimmt. Die nächsten Ereignisse rollen über mich hinweg wie eine Sturmflut, die aus dem Nichts hervorschießt. Eben noch war alles in Ordnung und plötzlich reißt es die Welt aus den Angeln und stellt sie Kopf. Katniss fängt die Botschaft des Spotttölpels auf und singt gerade den Vögeln ihre eigene Melodie vor, da hört Rue sie. Ein angsterfüllter Schrei bahnt sich über ihre Lippen – und alarmiert Marvel genauso wie ihre Freundin. Einige Zuschauer schreien auf. Ob vor Überraschung, Angst, Mitleid oder Erregung kann ich nicht sagen. Die Menge im Saal verwandelt sich in ein verschmolzenes Wesen, das einen einzigen tiefen Atemzug nimmt, als Katniss und Marvel gleichzeitig auf die Lichtung mit der gefangenen Rue zustürzen. Selbst Caesar Flickerman und Seneca Crane sitzen bloß da und beobachten das Geschehen. So sehr mein Herz auch rast, Katniss anfeuert, schneller zu sein – sie kommt trotzdem zu spät. Marvels Speer bohrt sich gnadenlos in das zierliche Mädchen. Den Pfeil, der seinen Hals durchdringt, sehe ich bloß durch einen Tränenschleier. „Wie tragisch“, schweben die Worte federleicht von Snow zu mir herüber. „Bedauerlich, dass die Sünden der Distrikte ihr so junges Leben fordern. Notwendig und doch ... traurig, nicht wahr, Miss Cresta?“ Unwirsch wische ich eine verräterische Träne von meiner Wange. Marvels Kanone wird abgefeuert, aber da ist kein Mitleid übrig für ihn. „Ungerecht“, presse ich heiser hervor. Rues Tod ist genauso ungerecht wie der von Edy, von Cordelia ... von ihnen allen. Wie die Hungerspiele an sich. „Ungerecht? Ich fürchte, Sie verkennen, dass dies alles nur die Schuld jener ist, die sich gegen die gerechte Ordnung aufgelehnt haben. Ohne Ordnung gibt es niemals Sicherheit. Ihr Tod ist ein großer Dienst für den Fortbestand unseres Landes. Weinen Sie nicht, Miss Cresta, sondern sehen Sie das größere Ganze dahinter. Diese Tribute sterben für unser aller Wohl. Eine Lektion, die nicht nur in Distrikt elf noch einmal gelernt werden will.“ Ich starre unbewegt auf die Leinwand, wo Katniss die sterbende Rue auf ihren Schoß gebettet hat und heiser ein Lied anstimmt. Selbst die Spotttölpel in den Bäumen schweigen, als ihre Stimme den ganzen Saal erfüllt. Aus den gebrochenen Worten bricht der Schmerz hervor und irgendwie, auf eine verdrehte Art und Weise, wärmt das Lied mein Innerstes; treibt die Trauer ein Stück zurück, bevor sie mich genauso überwältigt wie Katniss.   Hier ist es sicher, hier ist es warm, Hier beschützt dich der Löwenzahn.   Katniss Stimme versagt. Die finalen Zeilen ihres Gesangs sind genauso still und einfach zu überhören wie Rues letzte, zitternde Atemzüge. Ausnahmsweise schweigt sogar das Kapitol. In der einsetzenden Ruhe ist das erste Zwitschern der Spotttölpel, die Katniss Lied aufgreifen, lauter als der Kanonenschlag, der Rues Tod endgültig verkündet. Ungerecht. Ich hebe den Kopf und treffe auf Snows Blick, der mich ausdruckslos mustert. Die Tränen auf meinen Wangen sind trocken, bloß der salzige Geschmack auf den Lippen bleibt. „Ich denke, ich habe die Trauer überwunden“, entgegne ich leise. Für einen Augenblick sieht er mich bloß schweigend an, dann schenkt er mir ein neuerliches falsches Lächeln. „Es wäre in ihrem besten Interesse.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)