Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 14: Dornen im Herzen ---------------------------- Die Friedenswächter tauchen wie aus dem Nichts auf. Binnen Sekunden sind sie an Annies Seite, jagen ihr eine Nadel in den Arm und heben sie, abgeschirmt von den Blicken des Publikums, hoch. Die Kameras halten beharrlich auf die jubelnde Masse unten auf dem Korso, die wie ein buntes Meer wogt. Sie feiern das Ende des Blutbads, dessen letztes Opfer Edy war. Finnick ist auf den Beinen, als die meisten Mentoren um ihn herum noch gar nicht begriffen haben, was geschieht. Ihre Blicke sind festgesaugt an der Leinwand, auf der die Karrieros alle Opfer des Kampfs zusammentragen. Er hingegen sieht nur Annie, die schlaff zwischen den weiß gekleideten Soldaten des Kapitols hängt, das Gesicht so bleich wie ihre Uniformen. Protestierend versucht er, die Männer zu überreden, sie loszulassen. Die Friedenswächter beachten ihn nicht. Annies Blick trifft seinen, aber in ihren Augen ist nur Leere, die mit eisigen Fingern nach seinem Herzen greift. Ihr eigenartig hohes Lachen klingelt in seinen Ohren. Das ist nicht mehr seine Annie. Die Sitzreihe ist zu eng, sodass er nicht schnell genug zu ihr gelangt und die Männer wenden sich schon zum Gehen. Finnick macht das Einzige, was ihm bleibt. Er schreit, so laut er kann. „Lasst sie los!“ Bei dem Klang seines Zorns dreht sich die Reihe vor ihnen um. Er hört leises Getuschel, doch es ist ihm egal. „Sie hat nichts getan, lasst sie runter!“ Einer der Friedenswächter kehrt sich zu ihm. „Mr. Odair, setzen sie sich!“ Seine Stimme ist beherrscht, aber die Worte sind scharf wie die Waffen, mit denen sich die Tribute bis eben bekriegt haben. „Sonst müssen wir sie auch entfernen.“ Floogs steht jetzt ebenfalls, zwischen Finnick und den Soldaten. Beschwichtigend hebt er die Hände und versucht, sie davon zu überzeugen, Annie in seiner Obhut zu lassen. Aber die Männer hören ihm gar nicht zu, sondern arbeiten sich rückwärts durch die Reihe, in Richtung Ausgang. Von Annie in ihrer Mitte ist kein Schrei mehr zu vernehmen. Was immer sie ihr gespritzt haben, es muss stärker als die mächtigste Dosis Morfix sein. Weitere Friedenswächter tauchen an den Treppen auf. Sie sind unbewaffnet, doch ihre alleinige Präsenz sorgt dafür, dass die übrigen Mentoren sich hastig von der Szene abwenden, zurück zu Flickerman und Templesmith. Keiner traut sich, etwas zu unternehmen. Finnick ignoriert die leisen Rufe seines Teams und drängt sich an ihnen vorbei zur Treppe. Er hört Ceces entsetztes Luftschnappen und hektisch klickende Absätze hinter sich. Dadurch angespornt nimmt er immer zwei Treppenstufen nacheinander, bis er den Ausgang erreicht. Zum Glück sind ihre Stöckelschuhe so unerhört hoch und ihr Rock so eng, dass sie ihn nur mit Trippelschritten verfolgen kann. Ein letzter Blick auf die Leinwand zeigt ihm die Karrieros und Cordelia, vor einem aufgetürmten Berg Leichen. Sie wird klarkommen, irgendwie. Alle seine Gedanken gelten Annie. Cece ruft seinen Namen, doch er hält geradewegs auf den Friedenswächter zu, der vor dem Ausgang Position bezogen hat. Wie erwartet stellt sich dieser ihm in den Weg. „Die Eröffnungszeremonie ist nicht beendet.“ „Das sehe ich, aber Sie können doch sicher eine Ausnahme machen. Dort“, Finnick wedelt mit der Hand in Richtung der riesigen Leinwand, „passiert eh nichts mehr und ich muss mir nur kurz die Beine vertreten.“ Mit seiner letzten Kraftreserve gelingt es ihm, dem Mann gewinnend zuzuzwinkern. „Meine Anweisungen sind klar und deutlich. Niemand verlässt die Feier, bevor der Präsident sie nicht beendet hat.“ Wie aus einem Roboter kommen die Worte von dem Friedenswächter. Er sieht Finnick nicht einmal an. Die Geduld am Ende, strengt dieser sich an, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen. „Ich glaube nicht, dass Präsident Snow hiervon je erfahren wird. Nicht, wenn sie es ihm nicht sagen.“ Den Mund zu einem falschen Grinsen verzogen legt er den Finger an die Lippen. „Ich behalte es jedenfalls für mich.“ Endlich wandert der Blick des Manns kurz zu ihm. Hellblaue Augen, wie so viele in Distrikt zwei. Mit den strohblonden Haaren und Aknenarben im Gesicht sieht er definitiv nicht aus, wie ein Sohn des Kapitols. Trotzdem hier zu dienen ist eine Anerkennung, ebenso wie die Abzeichen, die an seiner akkurat gebügelten Paradeuniform glänzen. „Setzen Sie sich“, sagt er harsch und wendet die Augen wieder ab. Ein braver Schoßhund von Snow also, denkt Finnick bitter. Lächeln und Schmeichelei stoßen auf taube Ohren, anders als bei Wächtern wie Edmont. Die Sprache von Distrikt zwei spricht er aber genauso. Betont lässig tritt er einen Schritt näher an den Mann heran. „Schön, sagen Sie das lieber ihren Kollegen, die eine Mentorin meines Teams entführen. Für sie gelten die Regeln anscheinend auch nicht.“ Jede Sekunde, die er mit ihm feilscht, entfernt sich Annie weiter von und Cece nähert sich dafür. „Und ich werde nicht zusehen, wenn mein Team auseinander gerissen wird. Ein paar Rechte haben sogar wir Mentoren.“ Kurzentschlossen packt er den Soldaten an der Schulter und bohrt seinen Daumen schmerzhaft unter dessen Schlüsselbein. Dem Mann weicht jegliche Farbe aus dem Gesicht. Für Außenstehende sieht es nach einem kumpelhaften Schulterklopfer aus – aber in Wirklichkeit schießen Schmerzen durch seine Nervenbahnen wie Nadelstiche. Dank Ambers rigorosem Training kennt Finnick das Gefühl aus eigener Erfahrung. „Ich gehe jetzt.“ Bevor der Friedenswächter etwas erwidert, schiebt er ihn kraftvoll beiseite. Mit hängendem Arm stolpert der Soldat ein paar Schritte zur Seite, leise fluchend. Ehe er reagieren kann, ist Finnick an ihm vorbei und verlässt die Zuschauerränge. Außer Sicht von Kameras und Zuschauern fängt er an zu rennen. Hinter der Tribüne warten bloß ein paar Avoxe, die ihm mit großen Augen nachsehen. Im Schatten der Aufbauten parkt ein unauffälliger Wagen, auf den die Männer mit der zusammengesackten Annie zusteuern. Finnick ignoriert die Forderung seiner Lungen nach mehr Luft und sprintet noch schneller. Er ist auf der Hälfte der Strecke, da erreichen sie das Auto. Die Tür wird aufgerissen und Annies schmale Gestalt auf die Rückbank fallen gelassen. In seiner Kehle formt sich ein Schrei, doch ihm mangelt es an Luft. Stolpernd hält er inne und ringt nach Atem. „Stopp“, ruft er, so laut seine brennenden Lungen es erlauben, „Stopp!“ Trotz dem Stechen in seiner Brust läuft er ein paar letzte Schritte. Weit kommt er nicht, denn ein Arm schlingt sich um seinen Oberkörper. Der Friedenswächter von eben hat aufgeholt. „Tun Sie das nicht“, zischt dieser, ebenfalls atemlos. Finnick will ihn abschütteln, doch sein Griff ist eisern. Die Soldaten, die Annie entführen, steigen in den Wagen und schlagen die Türen zu. „Miss Cresta wird zu Ihrem eigenen Wohl ins Krankenhaus gebracht.“ „A-aber... Annie!“ Fassungslos sieht Finnick dem Auto hinterher, das rasch an Fahrt gewinnt. Wütend wirft er sich gegen den Mann und versucht auszubrechen, doch der ist erstaunlich kräftig, trotz seines Angriffs auf ihn. Erst, als der Wagen um die nächste Ecke verschwindet, lockert der Friedenswächter den Griff. Immer noch keuchend schüttelt Finnick seinen Arm von sich. „Welches Krankenhaus?“ „Ich habe keine Befugnis Ihnen Auskunft zu geben.“ Er überlegt, den unglückseligen Mann zu packen und schütteln, bis er mit der Sprache rausrückt, da hört er in der Ferne das harsche Klappern von Absätzen auf Asphalt. Cece. „Finnick Odair“, ruft sie wütend, „was ist nur in dich gefahren?“ Seufzend tritt er einen Schritt zurück und beschränkt sich darauf, dem Speichellecker aus Distrikt zwei einen vernichtenden Blick zu schenken. Dann wendet er sich an seine Betreuerin, deren hochrotes Gesicht sich schrecklich mit der knallorangenen Perücke beißt. „Cece...“, sagt er entschuldigend, „meine liebe Cece...“ Aber ihm fallen keine Worte ein, um sie zu beruhigen. Nicht, solange in seinem Inneren der Sturm tobt. „Meine Liebe?“, faucht sie, sobald sie vor ihm steht und auf ihn herabblickt. Dem Friedenswächter schenkt sie keine Beachtung. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Ausnahmsweise sind alle Emotionen in ihrem Gesicht echt. „Das wird ein Nachspiel haben.“ Finnick ist nicht sicher, ob Wut ihre Stimme zittern lässt, oder Angst.   Das Kapitol hat Annie. Wieder und wieder kreist dieser Gedanke durch Finnicks Kopf. Fortgezerrt wie eine Verbrecherin. In seiner Vorstellung tun sie ihr die schlimmsten Dinge an, in irgendeinem dunklen Folterkeller tief unter der Erde. Er glaubt nicht eine Sekunde, dass sie wirklich im Krankenhaus ist. Am liebsten will er losstürmen, um sie zu befreien. Stattdessen ist er gefangen in diesem schrecklichen Appartement, das er schon immer gehasst hat, und hört Ceces Litanei an Vorwürfen zu. „Vor laufender Kamera!“, ruft diese theatralisch. „Zum Glück ist es nicht direkt an das ganze Land übertragen worden. Wie hätte das ausgesehen? Ihr beide seid Sieger, Mentoren!“ Wie schon in der letzten Stunde, seit das Blutbad vorbei ist, läuft sie wieder von einer Seite des Wohnzimmers zur anderen. „Ich hätte es wissen müssen. Sie hätte das Morfix gleich nehmen müssen, dann wäre das alles nicht passiert. Sie ist einfach nicht ganz richtig-“ „Wage es nicht, Annie zu beleidigen“, fährt Finnick ihr dazwischen. Erschrocken weiten sich die Augen der Betreuerin. Die pink geschminkten Lippen zu einem stummen O geformt starrt sie ihn an, ehe sie die Hände in die Hüften stemmt. „Genau Cece, halt die Fresse“, springt Amber ihm zur Seite. „Und das ist noch nett gesagt.“ Ceces perfekt gezupfte Augenbrauen verschwinden beinahe in ihrer wilden Lockenpracht, so hoch zieht sie diese. „Ihr... ihr wagt es frech zu werden?“ Mit lautem Stampfen tritt sie ein paar Schritte auf die versammelten Mentoren zu, die dichtgedrängt auf demselben Sofa sitzen. Den Zeigefinger anklagend erhoben setzt sie zu einer neuerlichen Predigt an. Blitzschnell erhebt Amber sich und verschränkt die breiten Arme vor der Brust. „Falls du es noch nicht gemerkt hast, Cece“, sie spuckt ihren Namen förmlich aus, „wir sind ein Team und Annie ist ein Teil davon. Wir halten zusammen. Wenn du nichts Hilfreiches zu sagen hast, schlage ich dir vor, dass du endlich abhaust. Du bist hier nicht willkommen.“ „Das werden wir ja noch sehen!“ Wütend schnaubt Cece und packt ihre glitzernde Handtasche. „Vergesst nicht, was ich alles für eure Tribute getan habe! Ich denke doch, dass ich hilfreicher bin, als eure arme, verrückte Annie.“ Sie kreischt laut auf, denn Finnick ist mit einem Satz bei ihr und packt ihr Handgelenk. „Noch ein Wort und du wirst es bereuen“, grollt er. „Und wage es ja nicht, das an Cordelia auszulassen. Du magst doch schließlich den Sieg so gerne.“ Er sieht die Furcht in ihren Augen aufflackern, als würde sie sich zum ersten Mal daran erinnern, dass er nicht nur der gutaussehende Junggeselle ist, sondern auch ein Mörder, der ohne Zögern getötet hat. Schlagartig gibt er ihr Handgelenk frei und spürt Scham in sich aufwallen. Die Spiele sind ein Teil der Vergangenheit und er würde ihr nie etwas antun, selbst wenn sie noch so widerliche Dinge sagt. Einen Moment lang sehen sie einander stumm an. „Sorg lieber dafür, dass unser Team wieder vollständig ist. Bring Annie zurück.“ Bei diesen Worten ist die Schärfe aus seinem Tonfall verschwunden. „Bitte“, setzt er fast schon flehend hinzu. „Du bist die Einzige, die hier raus kann.“ Ceces Unterlippe zittert leicht und selbst durch die dicke Schicht Make-up erkennt er, wie sie errötet. „Keine Sorge“, sagt sie schrill, „das hatte ich eh vor. Und ihr bleibt hier und passt besser auf Cordelia auf. Nicht...“, ihre Stimme bricht kurz ab, „ nicht, dass ihr auch etwas passiert.“ Kurzzeitig meint er, ein feuchtes Schimmern in ihren Augen zu sehen, doch Cece schenkt ihm rasch ein strahlendes Lächeln. „Sie ist schließlich unsere kleine Gewinnerin.“ Niemand antwortet und sie schreitet mit größtmöglicher Grazie aus dem Zimmer. Alle verharren stumm, bis ihre Schritte auf dem Gang verklingen. Finnick merkt, wie die Energie seinen Körper verlässt. Kraftlos lässt er sich rücklings in einen plüschigen Sessel fallen, den Kopf gesenkt. Trotz allem hätte er Cece nicht so angehen dürfen. Sie gehört zum Kapitol und ihr Wort kann jederzeit sein Verderben bedeuten. Ambers Hand landet auf seiner Schulter. „Du wirst schon sehen, Annie ist in Windeseile wieder bei uns.“ Überzeugt klingt sie allerdings nicht. „Sie haben sie ja nicht ins Gefängnis gebracht“, fügt sie hinzu. Vom Sofa kommt ein Räuspern. „Trex und ich wir, hm, gehen rüber in die Zentrale und sehen was mit Cordelia ist.“ „Schon gut, ich gehe“, entgegnet Finnick an Floogs gewandt. „Die Hungerspiele gehen weiter. Ich kann wenigstens ihr helfen.“ Er spürt ihre mitleidigen Blicke im Rücken, als er sich aufrafft und hinüber zur Mentorenzentrale läuft. In seinem Kopf wummern die Schmerzen, doch alleine in einem dunklen Zimmer zu liegen wäre noch unerträglicher. In der Kommandozentrale sieht er Cordelia auf den Bildschirmen, den Rücken ans Füllhorn gelehnt. Die Leere in ihren Augen lässt ihn frösteln. Innerhalb der ersten Stunden haben die Spiele seinen Schützling gebrochen. Körperlich ist sie wohlauf, wie die Sensoren ihn informieren. Kein Hunger, kein Durst, keine Verletzungen. Nur seelische Qualen. Ihm ist klar, dass Edys Tod sie von heute an verfolgen wird, selbst wenn sie gewinnt. Und sie weiß nicht mal, dass es Cato war. Besser, sie findet es vorerst nicht heraus. Wahllos klickt er sich durch die neuen Sponsorenanfragen. Der frühe Tod von Edy hat eine tiefe Kerbe in die Spendenbereitschaft geschlagen. Zumindest Titania ist bereit, ihr Sponsoring für Cordelia zu verdoppeln, wenn er sich ein weiteres Mal mit ihr trifft – so schnell wie möglich. Entmutigt lässt er den Kopf in seine Hände sinken. Ehe er Annie nicht in Sicherheit weiß, kann er sie keinesfalls treffen. Hinter ihm kommen die anderen in den Raum, aber keiner spricht ein Wort. Stunde um Stunde verstreicht, ohne, dass etwas passiert. Wie in echt senkt sich in der Arena die Sonne und langsam verblasst das Licht. Falsche Sterne schimmern matt in der Ferne. Unter lautem Gelächter schichten die Karrieros ein Feuer auf, bevor die erste Jagd beginnt. Am Himmel werden die Opfer des Blutbads verkündet, elf an der Zahl. Teilnahmslos registriert Finnick, dass auch seine Freunde Schützlinge verloren haben, Johanna sogar beide. Dafür haben alle Tribute aus Elf und Zwölf überlebt. Ein schwacher Trost, der nur knapp die kleine Flamme der Hoffnung am Leben erhält. Peeta ist jetzt mit den Karrieros verbündet, Thresh schlägt sich alleine durch und sowohl Katniss, als auch Rue, sind unbewaffnet unterwegs. Er fürchtet, sie könnten die erste Nacht nicht überleben, wenn sie Pech haben. Die Tribute rüsten sich gerade zur Jagd, da klopft es. Cece schiebt ihren Lockenkopf durch die Tür. Ihr Blick gleitet prüfend über die stummen Mentoren. „Sollten sich nicht ein paar von euch ausruhen? Wir brauchen eure Kräfte für die Nachtschicht!“ Kein Wort zu Annie. Finnick hebt den Kopf und schaut sie vorwurfsvoll an. Die Betreuerin beißt sich auf die Unterlippe. Schnell sieht sie in einen der großen Bildschirme und überprüft den Sitz ihrer Perücke in der Reflexion. „Nun, also, ihr fragt euch sicher was mit“, räuspert sie sich, „Annie ist.“ Sie tupft sich verschmierten Lidschatten aus dem Augenwinkel und vermeidet es dabei tunlichst, einen der Anwesenden anzusehen. „Das... Krankenhaus hat mir gesagt, dass sie noch etwas länger in Behandlung bleiben muss. Die Geschehnisse des Tages haben sie zu sehr aufgewühlt, aber-“, und an dieser Stelle sieht sie ihn endlich an, „ich versichere euch, es geht ihr gut. Den Umständen entsprechend.“ „Du hast sie gesehen?“, fragt Finnick knapp. Cece hält inne. Unter seinem strengen Blick schmilzt ihr Selbstvertrauen dahin. Ein zartes Pink schießt ihr in die Wangen. „Nein, aber das Personal hat mich selbstverständlich informiert!“ Bitter denkt er daran, wie oft das Kapitol die Bürger Panems belügt. Warum sollte es jetzt nicht genauso sein? „Im Übrigen“, fährt sie fort, „hat uns diese ganze Sache eine Vorladung zum Präsidenten eingebracht.“ Bei diesen Worten verschränkt sie schützend die Hände vor dem Bauch. „Snow?“, entkommt es Amber. Sie schaut von ihrem Tablet auf und starrt Cece mit großen Augen an. „Keine Sorge, du nicht. Nur Finnick und ich“, erklärt diese. Selbst sie kann das nicht schönreden und anstatt des üblichen künstlichen Lächelns bringt sie nur ein Zucken der Mundwinkel zustande. „Eine reine Formalie, da bin ich sicher.“ Ihn beschleicht das Gefühl, dass sie nicht nur die Mentoren mit ihren Worten beruhigen will. Mit einem müden Seufzen sieht er sie an. „Wann?“ „Sofort.“ Eine stachlige Dornenranke windet sich um sein Herz. Von jetzt auf gleich bedeutet jeder Atemzug ein Stechen in seiner Brust. Auf ein Treffen mit dem alten Tyrannen ist er nicht vorbereitet. In Snows Büro zitiert zu werden verheißt niemals etwas Gutes. Steif steht er auf und folgt Cece zur Tür. Die anderen Mentoren sehen ihm bestürzt hinterher. Sogar in Trexlers ewig grimmigen Gesicht zeichnet sich Sorge ab.   Snows Palast befindet sich unweit des Trainingscenters, mitten im Herzen der Stadt. Ein prächtiger Prunkbau auf einem künstlichen Hügel, umgeben von Gärten. Davon bekommt Finnick nichts zu Gesicht, denn er und Cece werden von zwei Friedenswächtern durch ein verschachteltes unterirdisches Labyrinth direkt in die untere Etage des Palastes geführt. Er kommt nicht umhin, sich wie ein Sträfling zu fühlen. Auch seine Begleiterin sieht verstimmt aus. Auf ihre Versuche, eine Konversation anzufangen, hat keiner reagiert und jetzt sind ihre Lippen fest aufeinandergepresst. Das harsche Klackern ihrer Absätze hallt von den grauen Betonwänden wieder. „Können wir nicht hier abkürzen?“, herrscht sie die Friedenswächter urplötzlich an. Sie weist mit einem langen Fingernagel einen weiteren, identisch aussehenden, Gang hinab. „Ich habe keine Lust ewig hier herumzuspazieren. Ich habe Arbeit zu erledigen, eine Tributin zu betreuen!“ Der Größere der Soldaten lässt ein Seufzen hören. „Mrs. Sae, bitte folgen sie uns. Wir haben direkte Anweisungen sie in den Rosengarten zu bringen.“ Bei diesen Worten wird Finnick hellhörig. In der Vergangenheit hat Snow ihn ausnahmslos in sein Büro bestellt, aber nie in den Garten. Cece scheint davon ebenfalls verwirrt. Langsam lässt sie ihre Hand sinken und folgt den Männern in die andere Richtung, ihre Augenbrauen beunruhigt zusammengezogen. Am Ende des Gangs wartet ein Fahrstuhl auf sie, der direkt vor die gläsernen Tore eines gewaltigen Gewächshauses fährt. Von draußen drückt die Nacht sich an die Fenster, doch im Inneren brennt Licht. Schon im Vorraum ist der süßliche Blumenduft allgegenwärtig. Als die Friedenswächter die Türen öffnen und Finnick eintritt, überwältigt ihn der Geruch. So viele Rosen wie hier hat er nie zuvor gesehen. Links und rechts des Weges drängen sich Rosenbüsche in den unterschiedlichsten Farben. Rot, gelb, rosa. Im Zentrum wachsen allerdings ausschließlich weiße Blüten, Snows Markenzeichen. Genau darauf steuern sie zu. In der Ferne hört Finnick Wasser plätschern, sieht aber keine Quelle. Auf einem gewundenen Pfad laufen sie zu einer großen Terrasse mit einem Pavillon. Ranken voller schwerer Rosen wachsen über das Dach und zarte Blütenblätter bedecken die Pflastersteine davor. Inmitten seiner Blumen erwartet der Präsident sie. Er trägt einen schlichten Anzug, wie immer mit einer einzelnen Rose am Revers. Ihre Ankunft scheint er nicht zu bemerken, denn er sitzt zurückgelehnt in einem Gartenstuhl, ein aufgeschlagenes Buch in seinen Händen. Die Friedenswächter führen sie bis vor den Pavillon, ehe sich einer von ihnen verlegen räuspert. Snow sieht auf, sein Gesicht völlig reglos. Knapp nickt er den Soldaten zu und stumm verschwinden sie zwischen den Büschen. Einen Moment lang betrachtet der Präsident sie schlicht. Finnick bemerkt, dass Cece begierig einen der freien Stühle beäugt, aber er bietet weder ihr noch ihm einen Platz an. Schließlich schlägt er gemächlich das Buch zu. „Mrs. Sae, Mr. Odair. Ich danke Ihnen, dass sie zu mir gekommen sind.“ Weiterhin zeigt sich keine Emotion auf der unnatürlich glatten Haut. „Ich denke es ist Ihnen bewusst, in welcher Sache ich mit Ihnen das Gespräch suche.“ Neben sich hört Finnick, wie Cece energisch einatmet und der steife Stoff ihres Kleides raschelt, als sie die Schultern strafft. „Natürlich, Mr. Präsident. Ich bin hier um die volle Verantwortung für Miss Cresta zu übernehmen. Wenn Sie mir gestatten-“ Weiter kommt sie nicht. Abwehrend hebt Snow die Hand. „Mrs. Sae, wir wollen doch nicht voreilig sein.“ Aus dem Augenwinkel sieht Finnick, wie sie rasch den Blick senkt. „Offen gestanden haben wir wohl unterschätzt, in welcher Verfassung sich Miss Cresta befindet.“ Snow lächelt schmallippig. „Dafür möchte ich mich bei Ihnen beiden, als auch bei Ihrem Team, entschuldigen. Es hätte unsere Aufgabe sein müssen, vor den Hungerspielen dafür zu sorgen, dass Miss Cresta angemessen behandelt wird.“ „Es tut mir wirklich Leid, Mr. Präsident, ich hätte ehrlicher-“ wieder wird Cece von Snow unterbrochen. „Meine Liebe Mrs. Sae, ich verstehe ihre Aufregung, doch ich bin noch nicht fertig.“ „Natürlich.“ Verlegen sieht sie wieder hinab auf ihre Hände. „Wir haben uns entschlossen, diesen Fehler unsererseits zu korrigieren. Es ist nicht meiner Aufmerksamkeit entgangen, dass sie von dem Personal verlangt haben, dass Miss Cresta freigelassen wird. Es schmerzt mich, Ihnen das sagen zu müssen, aber in ihrem gegenwärtigen Zustand, bedarf es weiterer Behandlung. Wir werden Miss Cresta zurück in das Trainingscenter schicken, sobald ihr Zustand sich stabilisiert hat. Ich verspreche Ihnen, dass es nicht allzu lange dauern wird.“ Bei den letzten Worten sieht er Finnick direkt an, als wolle er ihn herausfordern, sein wahres Gesicht zu zeigen. Nur die jahrelange Erfahrung hilft ihm, nicht die Fassung zu verlieren. Stattdessen nickt er dem Präsidenten zu. Innerlich aber zieht sich die Dornenranke um sein Herz enger. „Ich habe Ihnen meine Befürchtung geschildert, dass sie nicht bereit ist, Mentorin zu sein, wie Sie sicherlich erinnern. Für alle wäre es besser, wenn Annie nicht weiter gezwungen ist, dieser Tätigkeit nachzugehen.“ Snows Lächeln gewinnt, noch während er spricht, an Boshaftigkeit. „Mr. Odair, ihre Besorgnis um Miss Cresta ist wirklich rührend. Und dennoch wiederhole auch ich mich, wenn ich sage, dass wir von jedem Sieger Einsatzbereitschaft erwarten. Die besten Ärzte des Landes kümmern sich um Miss Cresta und werden genau das sicherstellen.“ Mit welchen Mitteln nur, fragt Finnick sich. Manche Wunden können nicht geheilt werden, man lernt höchstens, mit ihnen zu leben. Von der Seite wirft Cece ihm einen strengen Blick zu, der es ihm verbittet, mehr zu sagen. „Mr. Präsident, vielen Dank, dass Sie uns noch eine Chance geben. Dieses Mal werde ich Sie nicht enttäuschen“, sagt sie bestimmt. „Ich werde sicherstellen, dass sie ihre notwendigen Medikamente erhält, bevor sie einen Fernsehauftritt hat und sollte sich ihre... Konstitution verändern, werde ich sie selbstverständlich informieren lassen.“ „Vielen Dank, Mrs. Sae. Ich sehe, Sie verstehen, warum das hier so wichtig für uns ist. Ein derartiger Aufall vor den Kameras darf sich nicht wiederholen. Das wäre vorerst alles, für Sie. Sie können gehen.“ Cece senkt höflich den Kopf und Finnick gewinnt den Eindruck, dass sie beinahe einen Knicks macht. Aber dabei bleibt es nicht. „Mr. Odair“, fährt Snow fort, „mit Ihnen möchte ich allerdings noch eine andere Sache besprechen.“ Cece wirft Finnick einen langen Blick zu, ehe sie sich abwendet und den gewunden Weg entlang verschwindet. In der Ferne verhallt das Klackern ihrer Absätze. Zurück bleibt nur das Plätschern des unsichtbaren Wassers. „Kommen Sie heran, Mr. Odair und setzten Sie sich.“ Snow deutet auf den freien Stuhl gegenüber von sich. „Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen und ich hoffe, dass Sie mir ehrlich antworten werden.“ Steif geht Finnick hinüber zu dem Stuhl. Lieber würde er Distanz wahren, aber ihm bleibt nichts anderes übrig. Im Herzen seines Rosengartens hält Snow alle Fäden in der Hand. „Natürlich werde ich ehrlich sein, was sollte ich Ihnen auch sonst erzählen?“ Er schenkt dem Präsidenten ein künstliches Lächeln. „Lügen, Mr. Odair. Lügen. Sie glauben gar nicht, wie oft die Menschen mir Lügen erzählen, in dem Glauben, dass ich Sie nicht durchschauen würde. Aber ich werde ehrlich zu Ihnen sein und im Gegensatz würde ich es begrüßen, wenn sie genauso ehrlich zu mir sind. Das würde uns einiges ersparen.“ „Natürlich.“ Ein schmales Lächeln legt sich auf Snows Lippen und er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, die Hände im Schoß verschränkt. „Wir beide kennen einander nun eine lange Zeit. Sie haben viele meiner Wünsche erfüllt und das rechne ich Ihnen zweifellos an. Sie sind ein würdiger Sieger. In letzter Zeit komme ich allerdings nicht umhin mir... Sorgen zu machen. Können Sie sich denken, warum?“ In Finnicks Kopf dreht sich alles und es ist unmöglich, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Mit einem Stechen melden sich die Kopfschmerzen zurück. Die Leere in Annies Augen kommt ihm wieder in den Sinn. Er muss sie vor Snow beschützen, nur wie? Sein Schweigen scheint dem Präsidenten Antwort genug zu sein. „Es betrübt mich, aber es geht um ihre Verbindung zu Miss Cresta. Selbstverständlich ist mir aufgefallen, dass Sie oft an ihrer Seite sind, nicht nur heute.“ Finnick öffnet den Mund, um etwas zu sagen – irgendetwas – doch Snow kommt ihm zuvor. „Ich weiß, die Sieger sind Ihre Familie und dazu gehört, dass man sich umeinander sorgt, so wie Sie sich alle um Ms. Flanagan gesorgt haben. Und dennoch müssen wir beachten, dass Sie, als Sieger, in einer besonderen Position sind. Sie sind etwas Besonderes und damit geht Verantwortung einher. Stimmen Sie mir zu?“ „Ich bin mir dieser Verantwortung als Vorbild und Mentor durchaus bewusst“, gibt Finnick zu. „Und meiner Verantwortung Ihnen gegenüber, Sir.“ „Gut. Sagen Sie mir, welche Person tragen Sie derzeit im Herzen?“ „Titania Creed“, sagt er, wie aus der Pistole geschossen. Snows eisige Augen bohren sich in seine eigenen. Einen Moment lang starrt er ihn nur an, wie ein Raubtier kurz vor dem Sprung – oder eine Schlange, die darauf wartet ihre Zähne in das Opfer zu schlagen. „Sehen Sie, das Problem ist, dass ich Ihnen nicht glauben kann. Sie sagen es schnell, doch, mit Verlaub, Ihnen fehlt die Überzeugung eines Verliebten. Andere, einfältigere Geister, mögen allein den Worten glauben, aber ich erkenne, dass eben nur das sind – Worte. Und mit der Zeit werden vielleicht auch andere erkennen, dass es ihnen an Gewicht mangelt.“ „Ich denke, dass ich meine Worte mit genug Taten untermauert habe.“ Finnicks Kiefer verkrampft sich, als er dem Präsidenten direkt in die Augen sieht. „Mit Ihnen darüber zu reden ist nicht dasselbe, wie mit ihr zusammen zu sein. Das werden Sie doch verstehen?“ „Werde ich das?“ Endlich löst Snow seinen Blick von ihm. Stattdessen schaut er zu den Rosen, die vom Dach herabranken. Scharrend schiebt er seinen Stuhl zurück und tritt auf eine Ranke zu. Aus einer Hosentasche zieht er eine kleine, goldene Gartenschere. Mit einem leisen Schnipp trennt er eine weiße Blüte ab. „Ich halte es mit Panem, wie mit meinem Rosengarten. Wenn ich einen faulen Trieb oder eine verwelkte Blume entdecke, empfiehlt es sich, diese zu stutzen, bevor der Verfall sich ausbreitet. Es täte mir leid, dasselbe mit Ihnen zu tun, Mr. Odair. Aber Panem wird immer an erster Stelle stehen.“ Langsam dreht er die abgetrennte Rose in seiner Hand. Dann sieht er ihn direkt an. „Ich werde eine weitere Ausschreitung dieser Art nicht dulden.“ Er weiß es. Natürlich. Finnick fragt sich, warum er so naiv war und dachte, es verbergen zu können. Snows Augen und Ohren sind überall. Jetzt hängt alles von ihm ab. Er lehnt sich im Stuhl zurück und breitet die Arme aus. „Sagen Sie, was Sie von mir wünschen und ich werde es tun.“ Snow lässt ein trockenes Hüsteln hören und tupft sich den Mund mit einem Taschentuch. „Mr. Odair, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie mich darüber informieren, was Miss Titania Creed bewegt. Ich habe gerne einen guten Überblick von meinen Ministern und ihren Angestellten. Noch halten Sie Miss Creed in der Hand. Es wäre doch schade, das nicht zu nutzen.“ Es braucht einen Moment, bis Finnick wieder ein Lächeln zustande bringt. „Wie passend, dass meine herzallerliebste Tita mich gerade erst nach einem Treffen gefragt hat. Vielleicht könnte ich Sie ja mal an einen neuen Ort ausführen?“ „Nein, Ihre Belohnung wird es diesmal sein, dass Miss Cresta zu Ihnen zurückkehrt. Schließlich schreit sie die ganze Zeit nach Ihnen.“ Die Dornenranke um Finnicks Herz zieht sich ruckartig zusammen und treibt ihre Spitzen tief in sein Innerstes. Unbewegt starrt er Snow an, der ihn immer noch mit seinem Schlangenlächeln mustert. Hunderte Möglichkeiten kommen ihm in den Sinn, wie er den Mann tötet. Was könnte er dagegen tun? Er ist achtzig Jahre alt, kein Gegner. Die kleine Gartenschere, mit der könnte er ihn einfach erstechen. In seinen Gedanken breitet sich schon Snows Blut aus, als dieser zum Tisch zurückkehrt und die abgetrennte Rose vor ihm ablegt. „Mr. Odair, lassen Sie nicht zu,dass ihre Gefühle ihr Leben bestimmen. Handeln Sie klug und Sie werden belohnt. Setzen Sie noch einmal Gewalt gegen meine Friedenswächter ein und Sie werden bestraft. Es liegt ganz bei Ihnen.“ Finnick starrt auf die Rose, blütenweiß, bis auf einen schmalen bräunlichen Rand, wo die Blume welkt. Den Kampf gegen seine Gefühle hat er längst verloren, spätestens seit er Annie in den Ruinen ihres Lebens gefunden hat. Doch auf seinem Gesicht liegt die jahrelang antrainierte Maske, die ihn lächeln lässt, wenn er weinen will und die ihm die Worte verdreht, bis sie das Gegenteil sagen von dem, was sein Herz verlangt. „Gefühle können mich nicht bestimmen, wenn sie nicht existieren“, sagt er leichthin, „ein Vorteil, wenn man so viele Menschen glücklich machen will, wie ich.“ Er schenkt Snow sein bestes, widerliches Grinsen. „Ihre Friedenswächter brauchen sich keine Sorgen machen. Ich bin ein braver Sieger. Das Kämpfen überlasse ich den Tributen.“ Der Präsident nickt langsam. „Gut. Dann gehen Sie lieber und sehen, was Ihre Tributin macht.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)