Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 7: Flammen in der Dunkelheit ------------------------------------ „Gleich zwei Freiwillige für Distrikt vier, das sind wunderbare Neuigkeiten. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht ganz sicher, was wir von Edy erwarten können, er sieht recht schmächtig aus. Aber wenn es eines gibt, was wir alle gelernt haben, dann, dass man einen Tribut niemals nach seinem Äußeren beurteilen sollte, nicht wahr Claudius? Absolut Caesar! Wir alle erinnern uns an Johanna Mason, die uns mit ihren Tränen täuschte, bis sie plötzlich ihre Axt zückte. Wer weiß also, welche Überraschungen Edy für uns bereit hält. Seine Partnerin Cordelia hingegen, bei ihr sind die Talente wohl etwas offensichtlicher. Ich wette sie kann ausgezeichnet mit dem Speer umgehen. Und dazu ist sie noch eine klassische Distrikt Vier Schönheit! Wirklich vielversprechend. Aber nicht nur Distrikt vier hat seine Freiwilligen, in diesem Jahr hat auch Distrikt zwölf uns eine ungewohnte Überraschung beschert...“ Im Fernsehen läuft, mal wieder, eine Zusammenfassung der Ernte, gewürzt mit Interviews der Mentoren. Anscheinend reicht es nicht, dass wir uns das Drama bereits im Zug hierher angesehen haben. Die Gesichter der Kinder haben sich schon beim ersten Mal in meine Gedanken gebrannt. Es ist alles dabei – von mageren Kindern mit ohnmächtigem Blick zu großgewachsenen Karrieretributen. Von zwölf bis achtzehn, jede Altersstufe ist vertreten. Gegenwärtig befinden diese Tribute sich im Erneuerungscenter, nur eine Etage unter uns. Ich erinnere mich nur zu gut an den Raum aus blankem Metall, in dem ich für meinen Auftritt bei der Wagenparade vorbereitet wurde. Im Aufenthaltssaal der Mentoren ist davon nicht viel zu merken. Anstatt kalter Metallwände und skrupelloser Stylisten sind wir von Gemütlichkeit umgeben. Ausladende Sofas stehen für uns bereit, Köstlichkeiten warten an einem Buffet auf uns und durch ein bodentiefes Panoramafenster haben wir einen spektakulären Ausblick auf den Korso im Kapitol, über den sich langsam die Sonne senkt. Die Annehmlichkeiten eines Lebens als Siegerin. Und trotzdem fühle ich mich ein Stück weit, als wäre ich wieder ein Tribut in den Spielen. Ich starre aus dem Fenster hinab auf die breite Straße, entlang derer Avoxe die letzten Vorbereitungen treffen. Zumindest vermute ich, dass es Avoxe sind, dem bewaffneten Trupp Friedenswächter nach zu urteilen die über sie wachen. Riesige Leinwände sind zu beiden Seiten des Wegs aufgestellt, damit auch ja niemand den ersten Auftritt der Tribute verpasst. Am Ende dieser Straße werden wir Mentoren später am Abend auf unsere Tribute warten. Bis dahin sind wir allerdings dazu verdammt uns im Erneuerungscenter zu „vergnügen“ wie es Cece ausgedrückt hat. Nach der allgegenwärtigen Meinung des Kapitols scheint das Vergnügen aus Essen und Drinks zu bestehen. Zumindest bei Letzterem langen einige Mentoren ordentlich zu. Allen voraus Chaff, ein Berg von Mann mit nur einem Unterarm. Er scheint ebenso ein Außenseiter zu sein wie Haymitch Abernathy. Beide sitzen mit düsteren Mienen nebeneinander auf einem Sofa, bunte Drinks in der Hand. „Sie schaffen es nicht mal für ihre Tribute einen klaren Kopf zu behalten. Eine echte Schande“, murmelt eine dunkelhaarige Frau, die nicht weit von mir entfernt steht, ihrem Begleiter zu. „Ich würde mir echt Sorgen um Zwölf machen, wenn nicht Abernathy ihr Mentor wäre. Der schafft es noch seinen größten Triumph zu verspielen. Wann hatte sein armseliges Loch von Heimat je eine Freiwillige?“ Sie lacht freudlos auf. „Das arme Mädchen, sie kann einem beinahe leidtun. Aber umso besser für uns, wenn wir die Spiele gewinnen wollen.“ Sie wendet sich vom Fenster ab und unsere Blicke kreuzen sich flüchtig. Mit einem Grinsen zieht sie die Lippen zurück, eine Reihe spitz zulaufender Zähne enthüllend. Als sie bemerkt, wie ich einen Schritt zurück weiche wirft sie lachend den Kopf in den Nacken. Das muss Enobaria aus Distrikt zwei gewesen sein. Die meisten Mentoren sehen in der Realität unerwartet anders aus, doch ihre Zähne sind legendär. Unwohl reibe ich mir die Arme. An der Oberfläche wirken wir wie eine Gemeinschaft, aber der Schein trügt. Nicht nur unsere Tribute, nein auch wir, sind Feinde. Immer noch. Vor dem Saal werden Schritte laut und keine Sekunde später marschieren Friedenswächter mit großen Kisten herein, gefolgt von einer älteren Dame mit strengem Dutt. Ungewohnt ist vor allem der Anblick der feinen Fältchen, die ihr Gesicht zieren. Entweder sie hält nichts von Schönheitsoperationen, oder, was wahrscheinlicher ist, sie hat ein so hohes Alter erreicht, dass die Spuren des Lebens sich nicht mehr vertreiben lassen. Sie trägt einen eleganten silbernen Anzug und aus jeder Pore scheint Autorität zu tropfen. Energisch klatscht sie in die Hände. „Liebe Mentoren, willkommen – willkommen zu einer neuen Runde der Hungerspiele!“ Ihre Stimme schwingt in demselben lächerlichen Akzent, den Cece ebenfalls hat. „In Kürze erhalten Sie Ihre personalisierten Tablets mit denen sie wie immer vollen Zugriff auf ihr Spendenkonto, den Geschenkshop und natürlich den Vital-Tracker haben werden. In diesem Jahr gibt es einige Neuerungen, denn zum ersten Mal wird es Ihnen möglich sein, feste Allianzen Ihrer Tribute auszuwählen. Wenn Mentoren aus beiden Distrikten die Verbindung bestätigen, wird es Ihnen möglich sein Ihre Sponsorengelder zum ersten Mal in der Geschichte der Hungerspiele zu verbinden. Vorher war es nur möglich einem distriktfremden Tribut ein Geschenk von den eigenen Geldern zu bezahlen, doch jetzt können Sie sich die Kosten erstmals nach eigenem Gutdünken teilen.“ Herrisch winkt sie einem der Friedenswächter zu und diese beginnen glänzende Tablets aus den Kisten zu verteilen. Auch ich bekomme eines dieser dünnen Wundergeräte in die Hand gedrückt. Noch schimmert das Display nachtschwarz, doch auf Anweisung der strengen Dame legen wir unseren Zeigefinger auf den Bildschirm und dieser erwacht zum Leben. Golden erblüht das Siegel des Kapitols ehe sich ein verschachteltes Menü öffnet. Ich sehe die Bilder von Cordelia und Edy, nebst ihrem Alter und Daten wie Größe oder Gewicht. Die meisten Felder, wie für Wettquoten und Sponsorengelder, sind allerdings leer. „Sobald die Wagenparade heute Abend startet werden wir Ihnen den vollen Zugriff freischalten und Sie können live die Berichterstattung, sowie die Reaktionen der Fernsehzuschauer verfolgen. Außerdem haben wir leichte Modifikationen an den zur Verfügung stehenden Werbemaßnahmen vorgenommen. Machen Sie sich ruhig in Ruhe mit Ihren Geräten vertraut. Wie immer – bei Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie erreichen mich wie gewohnt direkt über einen Holo-Anruf über ihr Tablet.“ Erneut winkt sie dem Friedenswächter und diese verteilen nun etwas, das wie ein Stapel Zettel aussieht. „Bitte denken Sie daran die Kondolenzkarten in diesem Jahr rechtzeitig auszufüllen.“ Ich starre auf das kleine Bündel weißer Karten mit schwarzer Trauerbanderole, die mir ein Friedenswächter wortlos in die Hand drückt. „Die Karten sind bis spätestens zum Interviewtag an Ihre jeweiligen Betreuerinnen weiterzureichen. Keine Ausnahmen. Auf der Innenseite der Karte finden Sie einen Vermerk an welchen Verwandten die Karte zu adressieren ist. Eine Missachtung wird Konsequenzen nach sich ziehen.“ Mit einem letzten strengen Blick wendet die Frau sich von uns ab. Die Friedenswächter packen die Kisten und folgen ihr. Elf Karten zähle ich, bereits wissend, dass ich nicht einmal eine füllen kann. Wenig liebevoll stopfe ich sie in das kleine Handtäschchen, das Roan mir zugestanden hat. „Noch Platz für ein paar mehr von denen?“, fragt mich eine Stimme, die ich immer und überall erkennen würde. Lässig lehnt Finnick neben mir am Fenster, ebenfalls einen Packen Kondolenzkarten in der Hand. „Schleich dich nicht so an“, sage ich vorwurfsvoll, nehme aber mit einem Lächeln seine Karten entgegen und schiebe sie irgendwie in die vollgestopfte Tasche. „Wie war dein Interview?“ frage ich. Er zuckt mit den Schultern. „So wie es halt immer ist, wenn man umwerfend ist.“ Albern schmeißt er sich in eine affektierte Pose, ein scherzhaftes Grinsen im Gesicht. Ebenso gespielt rolle ich mit den Augen. „Caesar Flickerman ist also bei deinem Anblick in Ohnmacht gefallen?“ „Nein“, er lacht, „aber zu Füßen lag er mir schon.“ „Und bei dir? Die Aussicht der Sieger genossen?“ Sein Tonfall wird vorsichtiger. Natürlich kann ich hier nicht nach seiner Hand greifen um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung ist, ich auf mich selber aufpassen kann. Stattdessen beschränke ich mich auf ein Nicken. „Der Sonnenuntergang ist überall schön anzusehen.“ „Dann wird es dir nichts ausmachen, dass er dich als nächste sehen möchte?“ Es ist nur eine feine Nuance in seiner Stimme, die seine Sorge verrät. Erneut schenke ich ihm ein tapferes Nicken. Natürlich bin ich die Nächste. Wenn ich erwartet habe, dass ich verschont bleibe, dann war es naiv. Immerhin bin ich jetzt ‚die Neue‘ zwischen all den jahrelangen Mentoren. „Wenn ich komme muss Caesar wenigstens nicht länger auf dem Boden liegen, der Arme“, sage ich in dem Versuch witzig zu sein, „denn mir muss man sicherlich nicht zu Füßen liegen.“ Finnick sieht aus als würde er darüber anders denken, verkneift sich jedoch etwas zu sagen. Friedenswächter kommen und führen mich einen türlosen Gang entlang zum Fernsehstudio. In dem engen Raum ist es stickig und warm. Hastig wird mein Gesicht neu gepudert. Von irgendwoher taucht Kolibrichen auf um meine Haare zu richten. Kurz erhasche ich einen Blick auf das Set, eine weiße Couch, und den darauf thronenden Caesar Flickerman. Dann werde ich schon vor die Kameras geschoben. Gleißendes Licht blendet mich. Etwas orientierungslos tapse ich hinüber zu dem Schemen von Caesar. Sein Lächeln bei der Begrüßung ist fast so strahlend wie die Scheinwerfer. Das Erste, was mir auffällt, ist, dass er dieses Jahr in glitzerndes Blau gehüllt ist, von den Haaren bis zu den Schuhen. „Blau gefällt mir, wie das Meer zu Hause“, höre ich mich sagen. Caesar lässt ein begeistertes Lachen hören. „Danke meine Liebste“, ruft er, auch wenn er überrascht von meiner Begrüßung zu sein scheint. „Das Meer ist reizend, ganz so wie die Sieger die es uns schenkt.“ Hitze kriecht in meine Wangen. Wir setzen uns und ich erhasche einen Blick auf jenen Monitor, der zeigt wie wir gerade im Fernsehen in ganz Panem übertragen werden. Von der Röte in meinem Gesicht ist nichts zu sehen, dank der dicken Schicht Make-Up. „Also liebe Annie, wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen“, plaudert Caesar drauf los, „deswegen fragen wir uns natürlich alle wie es dir ergangen ist? Was macht eine Siegerin in Distrikt vier?“ Das ist eine gute Frage, darauf kann ich antworten. „Danke, dass du fragst, Caesar. Ich habe viel an meinem Schiff gearbeitet. Es wieder seetauglich gemacht.“ Mir fällt die Farbe aus dem Kapitol ein. „Dank der wundervollen Spezialfarben aus dem Kapitol sieht es jetzt besser aus als je zuvor.“ Natürlich ist das eine Übertreibung, denn früher gefiel mir das Schiff immer am Besten. Aber das wollen die Zuschauer hören, das hat Cece uns gestern auf der Zugfahrt eingetrichtert. „Was habe ich auch anderes erwartet bei jemandem aus Distrikt vier“, lacht Caesar in die Kameras. Eine Weile führen wir diesen Smalltalk fort. Er stellt mir belanglose Fragen über Distrikt vier, mein Hobby und das Leben im Dorf der Sieger. Zwar bin ich längst nicht so charmant wie Finnick, aber ich überstehe es. Sobald das Gespräch sich wieder den Tributen zuwendet spüre ich allerdings wie meine Hände schweißnass werden. Im Fernsehen zeigen sie statt uns nun einen kleinen Einblick in das Erneuerungscenter, wo wir Zeugen werden wie Cordelias Körper enthaart wird. Beschämt wende ich den Blick ab. Es ist erniedrigend sie so zu sehen, völlig nackt und sich nicht bewusst, dass ganz Panem sie gerade beobachtet. Bis eben war es mir ebenfalls unbekannt, dass sie die Tribute während der Erneuerung filmen. Ich fühle mich auf einmal selbst entkleidet, obwohl ich hier in einem zartgrünen Kleid sitze. Unwillkürlich gleitet meine Hand an meine trockene Kehle. Unter meinen Fingern pocht der Herzschlag schnell. „Alles gut, alles gut“, flüstere ich mir zu. Jetzt darf ich nicht schwach werden, ich habe es doch fast geschafft. „Gleich zwei Freiwillige, meine Liebe, das muss ja ein echter Traum sein für das erste Jahr als Mentorin. Wir sind ja schon sooo neugierig eure Goldstücke bald kennenzulernen! Kannst du uns nicht vielleicht ein klitzekleines Geheimnis deiner Tribute verraten? Nur um die Neugier wenigstens ein bisschen zu stillen.“ Caesar hat sich vertrauensvoll zu mir herüber gelehnt. Ihm scheint nicht bewusst zu sein wie unwohl mir gerade zu Mute ist. Leider ist deswegen auch mein ganzer Kopf wie leergefegt. Verzweifelt klammere ich mich an dem letzten Fakt fest, den ich über Edy gerade erinnere. „Nun Caesar… ich, äh, will natürlich nicht zu viel verraten, schließlich hat… es ja noch nicht angefangen“, stottere ich mir zurecht, „aber ich denke es schadet nicht, wenn ich verrate, dass Edy der Jüngste ist, der je die Bucht von Distrikt vier durchschwommen hat.“ Das hat Edy uns gestern beim Abendessen verraten. Jedes Jahr gibt es im Frühjahr ein Wettschwimmen, bei dem es gilt von einer Seite der Bucht zur Anderen zu schwimmen. Für uns ist es ein ziemliches Spektakel und einer der wenigen Feiertage, die uns das Kapitol zugesteht. Edy hat erst letztes Jahr mitgemacht. Zwar ist er nicht Erster geworden, aber er hat die Strecke geschafft, was manch ein Erwachsener nicht packt. Auch Caesar scheint angemessen beeindruckt und fragt mich ein wenig über das Wettschwimmen aus. Vielleicht, so hoffe ich, hilft das Edy bei den Sponsoren Fuß zu fassen. „Annie, eine Frage habe ich dir aber noch nicht gestellt“, sagt Caesar schließlich als das Interview sich dem Ende nähert, „und zwar: Was denkst du über eure Gegner? Dieses Jahr haben wir es mit einigen Freiwilligen zu tun. Potentielle Verbündete oder Feinde?“ Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Nachdenklich starre ich auf einen Fleck über seiner rechten Schulter. Vor meinem inneren Auge sehe ich im Schnelldurchlauf die gestrige Wiederholung der Ernte vor mir. Distrikt zwölf, die große Überraschung. Sicher will er darüber etwas hören. Im Vergleich sind die Tribute aus Eins und Zwei geradezu langweilig. „Letztlich ist es eine Entscheidung der Tribute“, erwidere ich ausweichend, „aber ich könnte mir auch vorstellen ein Bündnis mit Distrikt zwölf einzugehen. Warum auch nicht? Wir sollten uns jeden Weg offen halten.“ Das scheint ihm aber noch nicht genug zu sein, denn Caesar ergreift nun meine Hand und sieht mir geradewegs in die Augen. Sein starrer Blick macht mich so unruhig, ich kann nicht einmal erkennen was für eine Augenfarbe er hat. „Aber was denkst du, persönlich, von Distrikt zwölf, meine Liebe?“ Zaghaft lächle ich. „Wir sollten sie nicht unterschätzen, Caesar.“ Laut lachend lehnt er sich zurück, die Intensität des Moments verflogen. „Meine Damen und Herren, das war Annie Cresta, Mentorin aus Distrikt vier!“ Eilig kehre ich anschließend zu den anderen Mentoren zurück. Finnick schenkt mir ein anerkennendes Nicken. Anscheinend habe ich meine Sache gut gemacht. Erleichtert atme ich auf. Zum ersten Mal an diesem Tag fühle ich mich danach einen Happen zu essen. Köstliche Törtchen füllen meinen Magen, während wir darauf warten, dass die Parade endlich beginnt. Im Fernsehen können wir die Interviews der übrigen Mentoren verfolgen, darunter, wie könnte es anders sein, Haymitch Abernathy. Das gesamte Interview über klammert er sich an dasselbe Glas pinker Flüssigkeit, das er schon vorhin in der Hand hatte. Er trinkt nicht einen Schluck, aber trotzdem scheint er nicht ganz Herr seiner Sinne zu sein. Immer wieder gleitet sein Blick abwesend in die Ferne und Caesar muss seine Fragen wiederholen. Von Seiten der Mentoren aus Distrikt zwei und eins erklingt höhnisches Gelächter. Sie nehmen ihn auf jeden Fall nicht ernst. Bald darauf ist die Zeit gekommen unsere Tribute bei den Streitwagen wieder zu treffen. Mit dem Fahrstuhl fahren wir hinunter ins Erdgeschoss, wo uns wildes Gewusel empfängt. Nervöse Aufgeregtheit liegt über der ganzen Halle. Wohin ich auch schaue sehe ich bunt gekleidete Personen, unfähig zu unterscheiden wer zum Kapitol gehört und wer Tribut ist. Überall gibt es Farbkombinationen zu bestaunen die mir in den Augen wehtun. Selbst einige Sieger sind so exzentrisch gekleidet, dass sie in der Menge untergehen. An Finnicks Seite schiebe ich mich durch das Gedrängel. Im Vorbeigehen schnappt er sich eine Hand voll Zuckerwürfel, die eigentlich für die Pferde bereit stehen. Auf meinen fragenden Blick hin wirft er mir einen zu. „Den Pferden geht es gut genug, aber wir haben uns ein bisschen Luxus verdient. Und es beruhigt die Nerven.“ Ich stecke mir den Würfel in den Mund und spüre wie sich Süße auf meiner Zunge ausbreitet. Unsere beiden Tribute sind schon auf ihrem Wagen, gehören sie doch zu den ersten, die hinaus auf den Korso fahren werden. Ihre Kleider sind himmelblau und mit silbrigem Glitzer bestäubt. Cordelia ist stark geschminkt, was zu dem aufreizenden Schnitt ihres Kleides passt, das ihre Kurven umschmeichelt. Roan ist mal wieder in seinem Element. Der Blickfang ist allerdings die gewaltige Krone auf ihrem Haupt. Muscheln, Korallen und allerlei billiger Plastikkram sind zu einem kolossalen Turm verklebt, der scheinbar durch pure Magie auf ihrem Kopf hält. Auch Edy ist nicht unversehrt geblieben, wenn auch seine Krone spürbar kleiner ist. Sobald ich sie sehe muss ich an die elf Kondolenzkarten in meiner Tasche denken. Es fühlt sich an wie Verrat bereits an ihren Tod denken zu müssen. Unsere Blicke treffen sich und sein rundliches Jungengesicht hellt sich auf. Er winkt uns freudig zu. „Und, wie geht es euch?“, fragt Floogs als wir sie erreichen. „Zufrieden mit euren Paradenkostümen?“ Roan, der gerade Cordelias Kleid richtet, grummelt etwas unkenntliches. Cordelia schneidet nur eine kleine Grimasse, wohl um ihm gegenüber nicht zugeben zu müssen, was sie über ihr Outfit denkt, aber glücklich scheint sie nicht zu sein. Auf jeden Fall gab es schon bessere Outfits. Ich gebe es nicht gerne zu, aber mein eigenes Paradeoutfit damals war definitiv vorteilhafter. Edy dagegen grinst breit, als er erwidert: „Ich hatte schon schlechteres an. Immerhin hab ich jetzt schon mal eine Krone, vielleicht überzeugt das ja manchen Sponsor, dass es auch für die Siegeskrone reicht.“ Das bringt mich zum Lächeln. Sein Optimismus ist ansteckend, obwohl ich weiß, dass es nicht lange währen wird. Schon gestern im Zug fiel es ihm schwer die Ernte seiner Gegner gelassen anzusehen und nun gleiten seine Blicke wiederholt zu den muskulösen Karrieretributen. Den Funken Furcht in seinem Inneren kann er nicht vollständig verbergen. Er ist nicht wirklich freiwillig hier. Immerhin lässt er den Kopf nicht hängen, so wie einige seiner Konkurrenten. Aus Richtung der Distrikte eins und zwei werden längst bedrohliche Blicke in alle Richtungen verteilt, doch Cordelia und Edy werden eher mit Interesse gemustert. „Sieht so aus als wenn die anderen Karrieros ein Auge auf euch geworfen haben“, bemerkt Amber. „Vermutlich solltet ihr euch im Training schon mal mit ihnen bekannt machen.“ „Oh, ich habe mein Auge auch auf sie geworfen“, gibt Cordelia frei heraus zu und winkt dem riesigen Jungen aus Distrikt zwei kühn zu. Der Tribut aus Distrikt zwei nickt uns knapp zu. „Ich weiß, wie wichtig Verbündete sind.“ Edy hingegen wendet den Blick ab und blickt unglücklich zu Boden. „Na schön ihr zwei, dann seid ihr ja jetzt vorbereitet auf euren großen Auftritt, nicht wahr?“ fragt Floogs. Beide nicken. „Das Wichtigste ist, dass ihr gute Laune da draußen verbreitet, das lieben die Zuschauer. Strahlt als wärt ihr die Sonne. Dann werden sie euch nicht vergessen.“ Wie auf Kommando wirft Cordelia sich in Pose. Niemand muss ihr sagen, dass sie mit ihren weiblichen Reizen spielen sollte, sie tut es bereits ganz von alleine. „Noch dreißig Sekunden!“ tönt eine Ansage durch die Halle. Hastig werden letzte Korrekturen vorgenommen und Pferde scharren unruhig mit den Hufen. Plötzlich fällt mir noch etwas ein. Ohne nachzudenken platzt es aus mir heraus: „Schaut ob ihr eine Blume oder so auffangen könnt! Das lieben die Zuschauer, wenn die Tribute ein Geschenk fangen können.“ Überrascht schaut mein eigenes Team mich an. Bisher habe ich kaum etwas zu unseren Tributen gesagt, auch gestern Abend im Zug nicht. Aber jetzt erscheint es mir wichtig, ihnen diesen kleinen Tipp aus meiner eigenen Erfahrung mitzugeben. Dankbar lächelt Edy mir zu. „Ich werds versuchen!“ In diesem Moment setzt sich der erste Wagen in Bewegung. Die großen Rolltore gleiten auf um den Blick auf den prächtig geschmückten Korso freizugeben. Eine Welle des Jubels strömt herein und schickt einen überwältigenden Schauer durch meinen Körper. Es ist genauso atemberaubend wie damals, als ich auf dem Streitwagen stand. Wir alle wünschen unseren Tributen viel Glück, sobald auch ihr Wagen sich in Bewegung setzt. In meinem Hals bildet sich ein Kloß, während ich sehe wie sie in die Nacht entschwinden. Stumm beobachte ich die Tribute, die ihnen folgen, bis zuletzt Distrikt zwölf an mir vorbeizieht. Mein Atem stockt, als ich sie erblicke. Kohlestaub und Elend sind fortgewischt. Stattdessen steht dort auf dem Streitwagen eine Kriegerin in schimmernder Rüstung. Sofort wird mir klar, dass Distrikt zwölf nie so ausgesehen hat. Grimmig blickt sie nach vorne, nicht einen Blick an uns verschwendend. Und noch etwas ist anders – ihre Hand hält die des Jungen. Er sieht weniger wie ein Krieger aus, doch ihre Stärke färbt auf ihn ab. Vielleicht gerade, weil sie Hände halten, überlege ich. Wie von alleine folge ich dem Wagen einige Schritte in Richtung Ausgang. Während sonst oft die Kostüme die Tribute tragen ist es bei ihnen umgekehrt. Sie überschatten alles was ihr Designer ihnen angezogen hat. Mich beschleicht die Vermutung, dass er das beabsichtigt hat. Kurz vor den Toren halte ich inne, während ihr Wagen weiter fährt. Dunkelheit verschluckt sie, nur um im nächsten Moment von einer hellen Flamme zurückgedrängt zu werden. Erschrocken weiche ich einen Schritt zurück als Funken um mich her zu Boden gehen. Feuer umhüllt die Tribute aus Distrikt zwölf. Wild zucken orange Zungen über ihre Körper. Die Flammen sind stumm, brennen nur zur Show. Ihr Wagen gewinnt an Fahrt, einen Schweif aus Funken hinter sich zurücklassend. Erstarrt blicke ich ihnen nach. Ihre hoch erhobenen, verbundenen Hände umhüllt vom Feuerschein sind das Letzte was ich sehe, ehe sich die Tore des Vorbereitungscenters vor mir schließen. Vor meinen Augen scheinen die Flammen allerdings immer noch zu tanzen. „Wow“, flüstere ich leise. Gerade will ich mich abwenden, da sehe ich Haymitch Abernathy neben mir stehen. Ausnahmsweise hält er keinen Drink in den Händen. Seine schmutzig blonden Haare fallen ihm vor die Augen, sodass ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen kann. „Die Kleine ist wirklich ne Erscheinung“, brummt er. Höflich nicke ich ihm zu, ohne zu wissen ob er mich hinter seinem Vorhang aus Haaren überhaupt sehen kann. Unsere letzte Begegnung auf der Siegestour ist mir auch jetzt noch unangenehm. Trotzdem lasse ich mich dazu hinreißen meinen Eindruck seiner Tribute mit ihm zu teilen. „Sie überstrahlen alles heute Abend. Ich weiß nicht viel über die Spiele, aber selbst ich kann erkennen, dass du zwei außergewöhnliche Tribute hast dieses Jahr.“ Lässig schüttelt er die Haare aus seinem Gesicht und mustert mich prüfend. „Muss wohl so sein, wenn alle das Gefühl haben es mir andauernd sagen zu müssen. Als hätte ich keine Augen im Kopf.“ In seinen sturmgrauen Augen sehe ich tiefliegenden Schmerz, uralt und doch frisch. Ich kann mir nur vorstellen wie viele Geister ihn seit den 50. Spielen begleiten. „Ich sehe sie und ich sehe auch die Tribute aus Eins, aus Zwei und ja… auch aus Vier.“ Sein Blick durchbohrt mich geradewegs. Fest klammere ich mich an das Tablet in meinen Händen. „Ich weiß, wir sollten Feinde sein-“ „Nein, wir sollten nicht“, unterbricht er mich, „wir sind Feinde.“ „Und trotzdem denke ich, dass sie eine Chance verdient haben“, sage ich leise, fürchte ich mich doch davor Cordelia und Edy zu verraten. Irgendwas in mir hat der Auftritt dieser anderen Tribute bewegt, nur kann ich es nicht in Worte fassen. Alles was ich weiß, ist, dass Haymitch ihnen helfen muss, sonst haben sie keine Chance. Finnick und Amber, die offensichtlich schon auf mich gewartet haben, kommen zu uns herüber. Krachend beißt Finnick auf einen Zuckerwürfel. Grinsend wirft er einen weiteren Würfel in Haymitchs Richtung, der ihn erstaunlich geschickt aus der Luft greift. Mit einem Achselzucken wirft er sich den Würfel in den Mund, verzieht aber das Gesicht. „Ich werde nie verstehen was du an diesem Süßkram findest.“ Darüber lacht Finnick nur und schiebt sich noch einen zweiten Zuckerwürfel hinterher. „Jeder hat so seine ungesunden Laster, Haymitch.“ Er wirft ihm einen vielsagenden Blick zu. „Sieht ganz so aus, als wenn Distrikt zwölf bei der Wagenparade dieses Jahr den Vogel abgeschossen hat“, fährt er fort, „denn die da drüben können sich gar nicht einkriegen“, er deutet hinter sich, wo der Rest von Mentoren und Stylisten tuschelnd im Kreis steht, die Blicke auf einen einsamen Monitor gerichtet auf dem wir die Parade verfolgen können. Sie zeigen fast ausschließlich die in Feuerschein gebadeten Tribute aus Zwölf. Erneut überkommt Gänsehaut mich. Haymitch schnauft angestrengt. „Da hab ich mir was eingefangen…“ „Ja, und Annie hat Recht“, sagt Amber eindringlich, „dein Stylist hat dafür gesorgt, dass ihr Auftritt unvergesslich ist, aber danach ist es an dir, sie durch die Arena zu bringen. Zumindest dein Mädchen ist eine Kämpferin. Aus ihr könntest du was machen. Lass sie nicht hängen. Das hat sie nicht verdient.“ Bei ihren Worten werde ich rot. Eigentlich wollte ich nicht, dass sie hören wie ich unsere Schützlinge hintergehe. „Solltet ihr nicht lieber an eure eigenen Tribute denken?“, grummelt Haymitch verstimmt. „Keine Sorge, wir werden alles geben für unsere Tribute“, erwidert Finnick. „Aber man weiß ja nie, ob das Glück einem gewogen ist...“ „Wenn es nicht mit unseren Tributen ist, dann sollen es wenigstens würdige Gewinner sein“, setzt Amber bedeutungsvoll hinzu. „Auf die brutalen Karrieros aus Eins oder Zwei können wir alle verzichten.“ Haymitch seufzt nur. Ich spüre, dass sie recht haben und doch fühle ich mich, als würde ich unseren Tributen eigenhändig ein Messer ins Herz rammen. Sollte es uns nicht egal sein, was aus Haymitchs Tributen wird? Nein, höre ich eine leise Stimme in meinem Inneren, denn das haben die Beiden nicht verdient. Unsere Unterhaltung wird von einer aufgescheuchten Cece unterbrochen, die uns unter wüsten Schimpftiraden in einen Wagen hetzt, der zum Trainingscenter fährt. Während der Fahrt schauen wir uns die Parade auf den Tablets an. Wieder scheint die Kamera an den Tributen aus Distrikt Zwölf zu kleben. Katniss Everdeen und Peeta Mellark, informiert das Tablet mich. Beide sechzehn Jahre alt. Immerhin bekommen unsere Tribute ebenfalls etwas Aufmerksamkeit von den Moderatoren – wegen ihrer grotesken Kronen. Besser als nichts. Ehe ich mich versehe sind wir im Trainingscenter angekommen und die Streitwagen kommen unter lautem Klappern herein gerollt. Für kurze Zeit erhasche ich einen Blick auf die nicht mehr brennenden Zwölfer, dann scheucht Haymitch seine Schützlinge in Richtung der Fahrstühle. Alle Blicke folgen ihnen. Trotz dessen bin ich bemüht unseren eigenen Tributen ein fröhliches Lächeln zu zeigen, sobald sie von ihrem Wagen steigen. Wir loben ihren Auftritt, machen ihnen Mut, dass es schon einige Interessenten für sie gibt. Das ist nicht einmal gelogen, die ersten Sponsorenanfragen sind bereits auf den Tablets eingetrudelt. Ihr Auftritt hat damit wenig zu tun, denn es sind die üblichen Verdächtigen wie Amber mir versichert, die jedes Jahr für Distrikt vier spenden. Leute wie Titania Creed, die nur spenden weil sie einen Narren an Finnick gefressen haben. Mir soll es recht sein, so ist das Leben einfacher, als in armen Distrikten. Wie Distrikt zwölf. Aber nach diesem Auftritt… wird sich bestimmt ein Sponsor finden lassen. Mein Herz wird schwer, während ich erahne, dass wir es schwer haben werden in diesem Jahr. 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