Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 6: Die Auserwählten --------------------------- Klirrend schlagen die Schwerter aufeinander. Das Mädchen mit den dunkelblonden Haaren keucht, ehe sie ihren Gegner zu Boden schlägt. Dieser tritt verzweifelt nach ihr, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, doch sie weicht ihm aus. Geschickt wirbelt das Schwert durch ihre Hand. In ihren blauen Augen ist kein Zögern zu erkennen, als sie die Klinge direkt auf das Herz zu stößt. „Sehr gut, Cordelia!“ Applaus erklingt aus der Reihe Jugendlicher, die den Kampf beobachtet haben. Mit einem Mal scheint es, als hätte es den Kampf nie gegeben. Grinsend streckt Cordelia ihrem Gegner eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. „Vielleicht ja nächstes Mal, Edy.“ Der Junge, ein schlaksiger Vierzehnjähriger mit wilden Locken, erwidert das Grinsen und lässt sich von ihr auf die Füße ziehen. „Das ist aber auch unfair, Elia, immerhin bist du schon viel länger dabei.“ „Keine Ausflüchte, Edy! In den Hungerspielen ist es egal wie alt du bist. Entweder du gewinnst – oder du stirbst.“ Beide Jugendlichen schauen zu der drahtigen Trainerin hinüber, die sie zusammen mit den anderen Schülern beobachtet. „Und jetzt gerade wärst du tot gewesen. Das dürft ihr nie vergessen.“ Unsicher grinst Edy. „Naja, deswegen trainiere ich ja noch. Mit Vierzehn bin ich doch noch viel zu jung für die Spiele.“ Verlegen kratzt er sich am Hinterkopf. Cordelia lacht nur, ehe sie ihm durch die Haare wuschelt. „Unser kleiner Edy, so ein Unschuldslamm. Als hättest du uns vorhin nicht alle im Messer werfen geschlagen.“ Mit einem zielsicheren Wurf befördert sie ihr Trainingsschwert in einen Ständer. „Es haben schon andere mit Vierzehn gewonnen.“ Die übrigen Schüler stimmen in ihr Gelächter ein. Finnick beobachtet das Geschehen aus sicherer Entfernung von der Zuschauertribüne. „Was meinst du, wird einer von ihnen sich freiwillig melden?“, fragt er Amber, die in seiner Nähe an der Wand lehnt. Seit dem frühen Morgen haben sie das Training in der Akademie verfolgt. Unter ihren wachsamen Augen haben die Schüler sich in allen erdenklichen Disziplinen gemessen. Seit dem Tod von Eric in den 73. Hungerspielen hat die Akademie weitere Schüler verloren, sodass sie nur noch 13 Kinder zählen. Der Großteil von ihnen ist noch weit entfernt von der Volljährigkeit. Wie zu erwarten seufzt Amber nur. „Es wäre ein großes Wunder, wenn sich außer Cordelia jemand meldet. Aber Cordelia, auf sie würde ich wetten. Sie wird es Riven gleichtun wollen. Was bedeutet, dass wir immerhin einen weiblichen Tribut haben werden.“ Sie wirft Finnick einen Blick zu. „Besser eine Freiwillige als keine Freiwillige?“ Sein Blick bleibt auf die angehenden Tribute geheftet, die sich jetzt für die nächste Disziplin bereit machen. Ihr unschuldiges Lachen erfüllt die umfunktionierte Lagerhalle, die Distrikt vier seit unzähligen Jahren als Akademie dient. „Ich denke auch, dass Cordelia gesetzt ist. Zumindest etwas, womit wir arbeiten können. Auch wenn die Welt wahrlich nicht noch mehr von Rivens Art braucht.“ Jetzt ist es an ihm zu seufzen. Unterdessen bewaffnen die Schüler sich mit Dreizacken, dem Markenzeichen ihres Distrikts. Spätestens seit Finnicks eigenem Sieg mit dem goldenen Dreizack. Im Prinzip ist er nicht einmal übermäßig praktisch, mehr Show als tatsächliche Waffe. Die meisten Tribute verstehen sich besser auf den Speer und manchmal auch auf das Schwert, so wie Riven. Sie trainieren zwar alle Waffen in der Akademie, doch die jahrelange Erfahrung aus dem Umgang mit Speeren beim Fischen in flachem Gewässer prägt jedes Kind hier. Während die Schüler sich mit ihren Waffen warm machen kommt die Trainerin zu Amber und Finnick herüber. Wie Amber hat sie glatte schwarze Haare, doch ihre sind zu einem hüftlangen Zopf zusammen gefasst. Sie war nie Teil der Hungerspiele, aber sie ist trotzdem trainiert, wie die gespannten Muskeln unter ihrer dunklen Haut verraten. Aus Erfahrung weiß Finnick, dass Lana beinahe mit jeder Waffe im Arsenal der Akademie umgehen kann. Um ein Haar wäre auch sie einst ein Tribut gewesen. Das Schicksal scheint allerdings andere Pläne mit ihr zu haben und so leitet sie seit dem Tod Ophelias die Akademie. „Und ihr Beiden, was sagt ihr zu meinen Schülern?“ Sie lehnt sich locker über das Geländer, das die Zuschauertribüne von der Halle abgrenzt. „Jemand mit dem richtigen Kampfesgeist dabei?“ Finnick schenkt ihr ein trauriges Lächeln. „Ich glaube du weißt ebenso gut wie wir, wer sich freiwillig melden wird. Von der richtigen Motivation kann ich zwar nicht sprechen, aber sie hat Talent mit den Waffen, das kann man nicht von der Hand weisen.“ Lana wirft einen Blick über die Schulter zu Cordelia. „Wenn du mich fragst ist Cordelia noch nicht so weit. Aber nachdem Riven es vorgemacht hat wird sie es ihrer Freundin gleichtun wollen. Sie hat es noch nicht offen gesagt, aber ja, sie wird sich freiwillig melden. Es ist ihre letzte Chance auf die Spiele.“ Ihr Blick wandert zurück, zu Amber. „Ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Sie will ihrer Freundin nur beweisen, dass sie genauso gut ist.“ Beide Frauen starren einander einen Moment lang unbewegt an. Ambers Blick wird düster. „Wir können es ihr nicht verbieten“, erwidert sie schließlich resigniert. „Als Freiwillige wird sie immerhin Sponsoren sicher haben. Damit können wir arbeiten, das gibt ihr eine Chance. Das ist mehr, als die meisten anderen haben werden.“ „Ich will doch hoffen, dass meine Schülerin die besten Chancen hat“, sagt Lana, „immerhin ist das hier mein Lebenswerk, ihnen die Chance zu geben, die ich nie haben konnte.“ „Die Spiele sind mehr als nur die Fähigkeit eine Waffe zu benutzen“, hält Amber tonlos dagegen, ein Argument, das ihr so schnell über die Lippen kommt, dass Finnick glaubt sie hätte diese Unterhaltung schon öfter mit Lana gehabt. Anders als er ist Amber teils wöchentlich in der Akademie um mit den Schülern zu trainieren. Sie kennt Lana besser als er. Er hält sich lieber fern von der Akademie und schaut nur ab und an vorbei, um zu sehen was für Tribute die Mentoren erwarten – sofern es denn Freiwillige gibt. Für ihn ist diese alte Lagerhalle ein Ort, den er nur allzu gerne in die Vergangenheit verbannen würde. In eine Zeit als er sich hungrig und einsam durch Distrikt vier geschlagen hat, als er verletzlich gewesen ist. Eine Zeit die ihn glauben ließ, dass alles besser würde, wenn er sich in der Arena bewies. Wer kann schon sagen wo er ohne die Akademie geendet wäre. Insofern hat er Ophelia einiges zu verdanken. Seine Gedanken werden unterbrochen, als sich die Eingangstür ein Stück öffnet. Herein schlüpft Annie, in bequemer Hose und weitem Hemd. Hinter ihr fällt ein Streifen gleißenden Sonnenlichts in die Halle, der einen wunderschönen Frühsommertag verspricht. Aber die Tür schließt sich hinter ihr und es wird wieder schummrig. Ihr Blick gleitet suchend durch die Halle, ehe sie eilig zu ihnen herüber huscht, unbemerkt von den trainierenden Schülern. Annie trägt den Geruch von Ozean, Blumenerde und Sonne mit sich, als sie auf ihn zu läuft. Wie eine frische Brise, die nach Glück riecht. Finnick kann nicht anders als sie kurz zu umarmen um dieses Gefühl in sich aufzunehmen. Er ist dankbar, dass sie gekommen ist. Die Akademie ist kein Ort für sie, aber sie bemüht sich wirklich ihrer neuen Aufgabe gerecht zu werden. Im Meergrün ihrer Augen kann er gut versteckte Nervosität erkennen. „Danke, dass du gekommen bist“, sagt er leise. Sie lächelt. „Es hat etwas gedauert, bis ich meinen Mut gefunden habe. Ich hatte schon befürchtet ich hätte ihn verloren, doch wundersamer Weise konnte ich noch einen Rest ungenutzten Mut entdecken.“ „Das freut mich. Warst du heute schon bei deinem Schiff?“ Er weiß, dass die Arbeit an ihrem alten Schiff sie beflügelt. Wann immer sie mit ihrer ehemaligen Klassenkameradin das Schiff auf Vordermann bringt nimmt auch ihre geistige Gesundheit zu. Bisher war er nicht wieder auf dem Schiff, das ist eine Sache zwischen ihr und ihrer Freundin. Ihm reicht es das Strahlen auf ihrem Gesicht zu sehen, wenn sie von ihren Fortschritten erzählt. Sie nickt. „Survy und ich haben heute morgen die letzten Arbeiten erledigt, jetzt ist alles bereit für die erste große Ausfahrt.“ Ihre Augen funkeln, als sie weiter spricht. „Und ich habe vom obersten Friedenswächter sogar die Auslaufgenehmigung bekommen. Naja, eigentlich habe ich das Isla zu verdanken, aber trotzdem.“ „Und was ist mit der Angst vor dem Meer?“ Er erinnert sich nur zu gut daran wie das Wasser sie an die todbringende Flut aus ihren Hungerspielen denken lässt. Aber Annie lächelt nur noch breiter. „Das ist kein kleines Ruderboot, das jederzeit kentern könnte, sondern das Schiff auf dem ich quasi aufgewachsen bin. Es ist schwer Angst zu haben, wenn man sich sicher und geborgen fühlt.“ Sie macht eine kurze Pause. „Außerdem habe ich immer das Gefühl, dass mein Vater über mich wacht, wenn ich bei dem Schiff bin.“ Finnicks Herz schlägt schneller. Die Aussicht auf einen Ausflug über das schimmernde Meer verlockt ihn. Am liebsten würde er sofort mit Annie losziehen. Stattdessen reißt er sich zusammen. „Dann klingt das nach einem tollen Plan für heute Nachmittag, wenn das Training vorbei ist.“ Lana und Amber schauen beide fort von ihnen, als wollen sie nicht stören. Annies Augen schweifen ebenfalls in Richtung der trainierenden Schüler. „Ich hatte irgendwie erwartet, dass es mehr wären“, bemerkt sie. „Früher einmal“, kommt es von Amber. „Vor zehn Jahren sah es hier noch anders aus. Aber jetzt ist es längst nicht mehr so beliebt ein Tribut zu werden.“ Als sie Annies nachdenklichen Blick bemerkt schenkt sie ihr ein kleines Lächeln. „Vielleicht ist es ganz gut, wenn nicht mehr jedes Kind glaubt ein Held in den Spielen werden zu können.“ Doch Annie schüttelt langsam den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen kann. Wenn es keine Freiwilligen mehr gibt, dann müssen wieder kleine Kinder in die Arena, die keinerlei Ausbildung haben. Die Schüler hier haben wenigstens eine Chance.“ „Mein Reden“, brummt Lana zustimmend. Sie wendet sich zu Annie und schenkt ihr ein kurzes Lächeln. „Schön dich mal kennen zu lernen, Annie. Ich bin Lana, die Trainerin der Akademie.“ Dem Blick in Annies Augen nach zu urteilen ist sie von der Freundlichkeit in Lanas Stimme überrascht. Sie sieht zwar nicht so finster aus wie Amber, aber vermutlich hat Annie trotzdem eine gewisse Strenge erwartet. „Freut mich auch, Lana“, antwortet Annie. „Vermutlich werden wir uns jetzt öfter begegnen.“ „Aber Mags geht es doch besser, oder nicht?“, fragt Lana mit echter Besorgnis. „Besser ist nicht gleich gut“, mischt Amber sich ein. „Sie muss alles wieder lernen. Seit dem Schlaganfall ist nichts mehr wie vorher. Momentan redet sie noch wie ein kleines Kind und wer weiß, wie viel sie wieder erlernen kann.“ Sie seufzt. „Ich sag es nicht gerne, aber Mags hat ihre Schuldigkeit getan. Selbst wenn sie wieder gesund wird, sie war lange genug Mentorin. Wir haben ja noch Riven, für die Zukunft.“ Damit scheint Lana sich zufrieden zu geben. In diesem Moment rutscht hinter ihnen scheppernd ein Dreizack über den Boden, seinem Träger aus der Hand geschlagen. Annie zuckt unwillkürlich zusammen. Ohne sie berühren zu müssen spürt Finnick die Anspannung, die sie durchfährt. Anstatt in Panik zu verfallen atmet sie mit geschlossenen Augen ein und aus. „Gibt es denn Kandidaten für die nächsten Spiele?“, fragt sie schließlich, ohne sich etwas anmerken zu lassen. „Ja, ein Mädchen.“ Finnick deutet in Richtung Cordelia, die sich gleich gegen zwei Gegner behauptet. „Siebzehn Jahre, eine Freundin von Riven. Ihre letzte Chance für die Spiele.“ Einen Moment schauen sie dem Kampf zwischen Cordelia und ihren Gegnern schweigend zu. Mit wenigen Schlägen entwaffnet sie erst den einen, dann den anderen. Erinnerungen an seine Spiele werden in Finnick wach, als er mit derselben Technik die Karrieros ausstach. Mühelos hat sein Dreizack sie alle durchbohrt. Stolz ist er nicht darauf. Es war notwendig um sein Leben zu retten, aber es wäre ihm lieber, wenn andere nicht lernen müssten es ihm gleichzutun. Annies Blick ruht wachsam auf ihm. Wenn sie stark sein kann, dann kann er das auch. Er streicht ihr kurz über den Handrücken und gemeinsam wenden sie sich wieder dem Übungskampf zu. Ihre Hände wandern zu dem Geländer und umklammern es, bis ihre Knöchel weiß hervor treten. Über ihre Lippen jedoch kommt kein Laut. Suchend blickt Cordelia sich im Ring nach ihrem nächsten Gegner um und erblickt Edy, der gerade erst ein jüngeres Mädchen von sich schubst, den Dreizack auf ihrer Brust. Wenn das hier die Arena wäre müsste er ihr nun den Todesstoß versetzen, doch im letzten Moment verlässt ihn die Energie und er deutet ihn nur halbherzig an. Diesen Fehler, so bemerkt Finnick, hat Cordelia vorhin nicht begangen. Um ihre Entschlossenheit werden sie sich also nicht sorgen müssen. Die Kontrahenten wenden sich erneut einander zu. Ein kurzer, aber heftiger Schlagabtausch folgt. Edy zögert den entscheidenden Augenblick zu lange, sodass es Cordelia gelingt ihm die Beine wegzutreten. Binnen Sekunden steht sie über ihm, die Spitzen des Dreizacks an seinem Hals. „Zwei zu Null für mich“, sagt sie. Leises Keuchen erfüllt die Halle. Alle außer Cordelia sind besiegt und sitzen außer Atem auf dem Boden, wo sie gefallen sind. Lana löst sich von der Zuschauertribüne. Laut klatschend applaudiert sie der Siegerin. „Hervorragende Arbeit, Cordelia.“ Sie wirft einen prüfenden Blick über die Schulter. Ihr Blick trifft Finnicks und er ahnt, was als nächstes kommt. „Aber einen Gegner hast du noch nicht geschlagen.“ Cordelia blickt mit großen Augen in Richtung Zuschauertribüne. Sie scheint ganz vergessen zu haben, dass sie Zuschauer haben. Entschlossen wirbelt sie den Dreizack in ihrer Hand herum und tritt einige Schritte von Edy fort. Finnick blickt Annie und Amber entschuldigend an. Er sieht die Furcht in Annie aufwallen, selbst wenn es nur ein Übungskampf ist. „Keine Sorge, ihm passiert schon nichts“, murmelt Amber, sodass nur sie drei es hören können, „die Waffen sind ja nicht einmal scharf.“ Trotzdem rutscht sie näher an Annie heran, eine kleine Geste der Unterstützung. An Finnick gewandt setzt sie hinzu: „Mach sie fertig.“ Ein seltenes Grinsen umspielt ihre Mundwinkel. Ebenfalls grinsend schwingt Finnick sich über das Geländer. Lana wirft ihm eine der Trainingswaffen zu. Leichtfertig fängt er sie mit einer Hand. Anders als sein goldener Dreizack aus der Arena ist es nur eine grob gearbeitete Waffe, mit stumpfen Spitzen. Da die Akademie eigentlich illegal ist, sind alle Waffen entweder selbst hergestellt oder aber alt und unschädlich gemacht. In der Arena warten natürlich nur die feinsten Waffen auf die Tribute. Schaden kann es nicht, mit einer schlechteren Waffe zu beginnen, denn mit etwas Übung lassen sich mit den wirklich guten Waffen nur noch bessere Ergebnisse erzielen. Probeweise lässt er den Dreizack rotieren. Der Schwerpunkt ist nicht optimal, doch es wird reichen. Grimmig dreinblickend steht Cordelia ihm gegenüber. Sie ist deutlich kleiner und schmaler als er, was ihr einen Bonus in Geschwindigkeit geben wird. Siegeswillen zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, als Finnick sich in Angriffsposition bringt. Ohne Vorwarnung stürmt sie auf ihn zu. Adrenalin schießt durch seine Adern. Alle anderen Gedanken werden vertrieben. Jetzt gibt es nur noch ihn, das kalte Metall des Dreizack in seiner Hand und die Gegnerin. Im Kampf konnte er sich schon immer verlieren. Sobald es einmal begonnen hat gibt es nur noch den trommelnden Herzschlag in seiner Brust und den Willen zu überleben. Auch wenn das hier nicht die Arena ist, so treibt der Gedanke ihn an. Flink duckt er sich unter ihrem ersten Schlag hindurch. Sie ist gut, wirklich gut. Aber alle ihrer Techniken sind abgeschaut aus seinen Kämpfen in den Hungerspielen. Bewegungen die ihm in Fleisch und Blut übergegangen sind erkennt er sofort wieder. Binnen Sekundenbruchteilen weiß er, dass die nächste Attacke ihren Rücken ungeschützt lassen wird. Er lässt sie einen Schritt auf sich zukommen, ehe er sich unter ihrem Arm durchrollt. In letzter Sekunde gelingt es ihr herumzuwirbeln und den Schlag auf ihren Rücken zu blocken. Das Klirren der Waffen, die aufeinander prallen, zieht bis in seine Zähne. Mit einem Grinsen löst Cordelia sich aus dem Block. Taxierend umrunden sie einander. Finnick springt auf sie zu, um sie unter Druck zu setzen. Erneut gelingt es ihr zu blocken. Weitere Schläge hageln auf sie ein. Langsam aber sicher wird ihr Atem schwer. Die Anstrengung der vorhergehenden Kämpfe zehrt an ihr. Ermüdung flackert in ihren Augen. Er kennt diesen Blick aus den Spielen. Ist dieser Zustand erst einmal erreicht kann der Kampf sehr schnell vorbei sein. Um sie weiter an den Rand zu bringen weicht er ihr wieder rollend aus. Tänzelnd beschreibt er einen Kreis um sie, jederzeit bereit zuzuschlagen. Da bietet sich ihm eine Öffnung in ihrer Verteidigung. Blitzschnell springt er vor, schlägt auf ihre ungeschützte Seite zu. Sie versucht abzuwehren, doch dadurch gelingt es Finnick nur ihr den Dreizack aus der Hand zu reißen. Überraschung flackert auf, doch sie währt nicht lange. Mit blanken Händen versucht sie nach seiner Waffe zu greifen, sie ihm zu entreißen. Hart stößt er den stumpfen Dreizack zu, sodass Cordelia zu Boden stürzt. Sein Dreizack kommt Zentimeter von ihrer Brust entfernt zur Ruhe. Das Blut rauscht noch in seinen Ohren, als der den lauten Applaus hört. So schnell wie der Rausch begonnen hat ist er auch verflogen. Beinahe macht es ihm Angst, wie leichtfertig er alles um sich herum vergessen hat, kaum, dass der Kampf begonnen hat. Selbst wenn bald zehn Jahre zwischen ihm und den Hungerspielen liegen, so steckt der Karriero noch immer in ihm. Er zieht den Dreizack von Cordelias Brust fort und hält ihr stattdessen eine Hand hin. Sie scheint über ihre Niederlage enttäuscht und gleichzeitig wütend zu sein, aber sie ergreift seine Hand trotzdem. „Wirklich gute Form“, muss er anerkennen. Da hellt sich ihre Miene auf und sie schenkt ihm ein dankbares Lächeln. „Danke“, bringt sie atemlos hervor. Lana kommt nun gemeinsam mit Annie und Amber herüber. „Danke Finnick, für den ausgezeichneten Kampf. Ein gutes Beispiel dafür, was passiert wenn man sich auf ein bestimmtes Bewegungsmuster verlässt. Wenn die Mentoren eurer Gegner schlau sind, dann werden sie ihren Tributen genau eure Schwächen zeigen können. Ihr müsst bereit sein jederzeit, mit jeder Waffe, völlig unerwartet zuschlagen zu können!“ Die Schüler formieren sich in einem Halbkreis um ihre Trainerin. Leise schiebt Finnick den Dreizack zu den anderen in ein Regal, ehe er sich wieder zu Annie stellt. Sie schaut ihn mit einem nachdenklichen Blick an. „Nun, wie ihr bemerkt habt, hatten wir heute wieder hohen Besuch beim Training. Nach Trexler und Floogs letzte Woche wollten auch unsere übrigen Mentoren sich ein Bild von euch machen. Die Ernte für die 74. Hungerspiele steht kurz bevor und wir müssen jetzt festlegen, wer sich freiwillig meldet. Ich denke wir haben nun einen guten Eindruck bekommen wie weit euer Training gediehen ist.“ Erwartungsvolles Schweigen legt sich über die Halle. Lana wendet sich an die drei Mentoren. „Also, welcher meiner Schüler hat das Zeug ein Tribut zu werden?“ Amber nimmt Finnick die Aufgabe ab, indem sie einen Schritt vortritt. „Ich denke wir haben genug gesehen um sagen zu können, das eigentlich keiner von euch so weit ist. Die meisten von euch sind zu jung. Wenn ihr nicht mindestens sechzehn seid, dann könnt ihr es gleich vergessen. Was nicht heißt, dass ich nicht vielversprechende Talente gesehen habe. Aber schmeißt euer Leben nicht gleich weg, nur weil ihr glaubt ihr wisst worauf ihr euch einlasst. Denn für einen von beiden wird es immer ein Ticket ohne Rückfahrschein sein.“ Die Erinnerung an den letzten gefallenen Tribut scheint den Kindern noch in den Knochen zu stecken, denn die meisten von ihnen werden weiß im Gesicht, selbst Cordelia. „Nichtsdestotrotz müssen die Spiele weitergehen, ob jemand alt genug ist oder nicht.“ Amber hält kurz inne, scheint als müsse sie ihre Worte sortieren. „Wenn ich jemanden auswählen müsste“, und sie betont das letzte Wort besonders, „dann wäre es Cordelia von den Mädchen.“ Eine leichte Röte kriecht in die Wangen des angesprochenen Mädchens. „Leider kann nicht mal ich einen Jungen auswählen, da ihr alle zu jung, zu wenig trainiert seid“, schließt Amber. Lana dankt ihr und übernimmt wieder das Wort. „Also stelle ich euch jetzt die entscheidende Frage: Will sich jemand freiwillig melden?“ Einige der Jüngeren blicken neugierig in die Runde, wohingegen die Älteren peinlich berührt auf ihre Schuhspitzen starren. Selbst Cordelia scheint sich einen Moment unsicher zu sein. Nur ein winziges Zögern, doch der Augenblick macht sie menschlicher. Schließlich strafft sie ihre Schultern und tritt einen Schritt vor. „Ich nehme die Auswahl an und melde mich freiwillig.“ Ihre Mitschüler schauen sie allesamt an, manche bewundernd, andere hingegen traurig. Als der Erste anfängt zu klatschen steigen sie alle mit ein, auch Finnick. Obwohl es bis zu den Hungerspielen noch dauert ist Cordelias Schicksal schon besiegelt. Gemeinsam verlassen die Mentoren anschließend die düstere Lagerhalle. Draußen scheint die Sonne von einem azurblauen Himmel herab und der Wind treibt eine leichte Brise vom Meer herüber. Finnick sieht das Wasser verheißungsvoll in der Ferne aufblitzen. Sehnsucht überkommt ihn. Er kann nicht länger warten, will jetzt sofort los, hinaus auf die Wellen. Zu lange schon ist er in Distrikt vier gefangen. Als er sich zu Annie umdreht sieht er denselben Wunsch in ihren Augen. „Ab zum Schiff, was?“, fragt Amber sie beide belustigt. Scheinbar ist ihr Plan offensichtlich. Sie lacht leise, den Blick Richtung Horizont gewendet. „Beim nächsten Mal müsst ihr mich mitnehmen. Passt auf euch auf – und mögen die Wellen euch gewogen sein.“ „Natürlich, Amber. Du bist auf der Peppersheep jederzeit willkommen“, dankt Annie ihr. Mit einem Winken verabschiedet Amber sich in Richtung des Dorfs der Sieger. Finnick und Annie wenden sich in die andere Richtung, zum Hafen. Es ist bereits Nachmittag und der Distrikt füllt sich langsam mit Leben, als die Schule zu Ende ist. Fischer bringen die ersten Fänge in den Hafen und die Fabriken füllen sich für die Abendschicht. In all dem Trubel fallen die beiden Sieger nicht weiter auf. Vor wenigen Tagen erst sind neue Siegerpakete aus dem Kapitol verteilt worden. Dank der kräftigenden Rationen herrscht eine fröhliche Stimmung allerorts. Selbst die Ärmsten haben genug zu essen. Vor zehn Jahren gab es im Distrikt bestimmt doppelt so viele Straßenkinder, überlegt Finnick. Dank stetig steigender Fangquoten und den vielen Annehmlichkeiten, die durch die Sieger in den Distrikt kamen, geht es ihnen nun bald so gut wie in Distrikt zwei. Als sie den Hafen erreichen kann Finnick schon von weitem die Peppersheep, Annies altes Familienschiff, ausfindig machen. Frisch lackiert glänzt der Rumpf in der Sonne. Das alte, mottenzerfressene Behelfssegel ist durch ein neues ersetzt worden. Es sticht aus der Menge der alten Kähne, an denen der Zahn der Zeit nagt, deutlich hervor. Sein eigenes Boot ist längst nicht so groß, aber er musste damit auch nie eine ganze Familie ernähren. Er hat es sich mehr als Zeitvertreib nach seinem Sieg gekauft. Im Übrigen ist er ein miserabler Hochseefischer. „Na, was sagst du?“, fragt Annie stolz als sie vor dem Schiff halt machen. „Alles die Arbeit von Survy und mir!“ Ehrfürchtig betrachtet Finnick das alte Schiff, das nun wie neu scheint. Für drei Jahre hatte sich niemand darum gekümmert, doch nun erstrahlt der grüne Rumpf in aller Pracht. „Endlich etwas sinnvolles, was ich mit meinem Preisgeld anfangen konnte“, erzählt Annie. „Die Farben habe ich im Kapitol abmischen lassen, extra langlebig und farbintensiv.“ Die Lettern, die das Wort Peppersheep bilden, sind in einem prächtigen Gold gehalten – das einzige Zugeständnis an den Luxus, den Annie sich nun leisten kann. Beeindruckt nickt Finnick. „Es ist wirklich schön geworden. Deinem Vater hätte es sicherlich gefallen.“ „Das glaube ich auch. Heute morgen habe ich von ihm geträumt und er hat mir gesagt, dass er stolz auf mich ist.“ Verstohlen wischt Annie sich über die Augen, behält aber ihre Fassung. „Ich bin froh, dass Mags das Schiff gerettet hat. Jetzt kann ich mich endlich wieder selber um es kümmern.“ Sie streicht über den Bug, ehe sie die kleine Holzplanke erklimmt, die als Einstieg auf das Boot dient. „Also dann, bereit für eine Rundreise mit Kapitänin Cresta durch den schönsten Teil von Distrikt vier, Erster Maat Odair?“ Finnick lacht. „Aye-aye, meine Kapitänin!“ „Dann hol mal die Taue ein!“ Wenig später verblasst Distrikt vier hinter ihnen, als sie die Sicherheitskontrolle im Hafen passiert haben. Der kleine Schiffsmotor tuckert eifrig. Finnick sitzt direkt an der Bugspitze, seine langen Beine über die Bordkante geschwungen. Gischt spritzt ihm ins Gesicht. So fühlt er sich frei. Annie ist am Steuerrad. Wie sie so dasteht, den Wind in ihren Haaren, die Augen fest auf den Horizont gerichtet, sieht sie aus wie eine Göttin. Sie brauchen nicht miteinander reden um zu wissen, dass sie beide das Gefühl der rollenden Wellen genießen. Eine ganze Weile fahren sie schweigend hinaus auf das weite Stück des Meeres, das zu Distrikt vier gehört. In der Ferne können sie andere Boote ausmachen, kleine Fischer die eifrig am Arbeiten sind. Sie sind so weit weg, dass sie nicht mehr sind als Schemen. Auf dem Meer kann man sich wirklich alleine fühlen. Einzig die Wachtürme am Ende der Bucht halten die Erinnerung wach, dass niemand von ihnen frei ist. Im Abstand von 100 Metern riegeln die Bollwerke aus Beton und Metall ihr Stück Ozean von dem Rest des unendlichen Blau ab. Unsichtbar unter den Wellen verbergen sich Ketten aus Seemienen, die jede Flucht unmöglich machen. Annie schaltet den Motor ab und Stille umfängt sie. Nur das leise Plätschern der Wellen, die am Schiffsrumpf lecken, bleibt. Sie setzt sich neben ihn, den Blick auf das ferne Land gerichtet. „Hier“, sie schiebt ihm ein kleines Paket zu, „Isla hat sogar an Proviant für uns gedacht.“ Eingeschlagen in das Wachspapier liegen einige Stücke geräucherten Lachs auf Islas selbstgebackenem Brot. Grollend meldet Finnicks Magen sich zu Wort. Seit dem frühen Morgen hat er nichts mehr gegessen. Kichernd beißt Annie in ihr eigenes Brot. Es schmeckt wirklich ausgezeichnet. Selber ist er zwar ein passabler Koch, doch mit Isla kann er nicht mithalten. „Also, was machen wir nun, da wir zumindest einen unserer Tribute kennen“, fragt Annie ihn zwischen zwei Bissen. Er hat beinahe schon vergessen, dass er bis eben den Tag damit verbracht hat Kindern zuzusehen, die sich gegenseitig töten wollen. Das hat das Meer so an sich, es reißt einen fort aus der Düsternis des Alltags. „Wir überlegen uns eine Strategie wie wir am meisten Sponsoren sammeln können. Sprechen ein- zweimal mit dem Tribut um mehr von ihr zu erfahren. Floogs Aufgabe ist es, unauffällig Informationen an Roan weiterzugeben, damit er weiß, für wen er Kleider designen muss. Amber und Trexler werden noch ein paar Mal in die Akademie gehen und beim Training ein besonderes Augenmerk auf sie richten, ihr einige Sachen beibringen, soweit sie können ohne aufzufallen. Früher… haben Mags und ich immer gemeinsam überlegt was die Tribute in den Interviews erzählen sollen.“ „Hmm.“ Geistesabwesend wirft Annie einige Brotkrumen hinaus auf das Wasser. Kreischend stürzen sich zwei Möwen herab. „Und was werde ich tun?“ Finnick beobachtet wie die Möwen sich lautstark um die Krümel streiten. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Du musst nichts tun, wir kriegen das alleine hin.“ Er spürt ihren kritischen Blick auf sich, sieht jedoch weiter zu den großen Vögeln hinüber. „Ich möchte aber helfen. Wenn wir dieses Spiel schon spielen müssen, dann will ich nicht untätig dabei sitzen und den Horror einfach nur ertragen.“ Die Richtung, die dieses Gespräch eingeschlagen hat gefällt ihm nicht. Am liebsten würde er sie immer noch vor den Spielen beschützen. Doch Annie hat ihm eindeutig klar gemacht, dass sie ihn diesen Kampf nicht für sich ausfechten lässt. Lieber gibt sie Snow seinen Willen, als dass sie Finnick um ihre Sicherheit betteln lässt. Seit dem Ende der Siegestour haben sie das Thema nicht mehr angesprochen, vor allem weil er immer wieder davon ablenkt. Vermutlich versteht er ihre Beweggründe tief in sich drinnen, aber er schiebt das Wissen immer wieder von sich. Sie sollte es nicht akzeptieren wollen. „Fin“, flüstert sie und ergreift seine Hand. Ihre Finger winden sich zwischen die Seinen. „Sieh mich an“, fordert sie mit sanftem Nachdruck. Widerwillig blickt er in ihr Gesicht voller Sommersprossen. „Ich weiß, dass es nicht einfach wird. Ich weiß, dass ich Albträume haben werde. Ich werde nachts nicht schlafen können und manchmal werde ich vergessen wo ich bin, wer ich bin.“ Sie holt tief Luft. „Ein Teil von mir wird immer verrückt bleiben. Aber der normale Teil in mir weiß, dass ich trotzdem helfen kann. Einen Unterschied machen kann. Mags hat mir geholfen, nicht weil sie mir nützliche Kampftechniken beigebracht hat, sondern weil sie einfach für mich da war, als niemand sonst es war. Sie hat einfach nur meine Hand gehalten und mich daran erinnert, dass ich in der Arena nicht alleine sein werde, sondern dass die Mentoren in Gedanken immer bei mir sein werden.“ Das Meer scheint sich in ihren Augen zu spiegeln, als sie weiter spricht. „Ich glaube, das kann auch ich tun. Wenigstens etwas, um diese Welt erträglicher zu machen. Dein Talent ist der Kampf, das habe ich heute erst wieder gesehen, aber dann lass mich das Meine dazu tun um unseren Tributen zu helfen.“ Nicht zum ersten Mal in seinem Leben fragt Finnick sich, ob Annie nicht so viel weiser ist, als er selbst. Mit der freien Hand streicht er über ihre Wange. „Kapitänin Cresta, es ist wirklich bewundernswert wie Sie selbst im Sturm Kurs halten können.“ Der folgende Kuss ist zart und salzig wie das Meer. Wieder ernst blickt er sie an. „Tut mir leid, dass ich dir nicht zuhören wollte bei der Siegestour. Ich…“, nachdenklich seufzend blickt er auf ihre ineinander verschlungenen Hände und realisiert erst jetzt den vollen Umfang seiner Ängste, „ich habe nur so Angst vor dem, was Snow dir alles antun könnte, wenn du erst einmal im Kapitol bist, in seiner Reichweite.“ Zögerlich blickt er ihr wieder in ihre Augen, die immer so voller Liebe sind. „Angst, dass er dich brechen will um mir das Beste in meinem Leben zu nehmen. Für ihn sind wir nicht mehr als Figuren auf einem Schachbrett, es würde ihm nichts ausmachen dir etwas antun um mich leiden zu sehen.“ Ohne, dass er es bemerkt hat rollt plötzlich eine Träne über seine Wange. Annie lehnt sich vor und küsst sie fort. „Snow ist ein Arschloch“, wispert sie. „Aber ich bin auch nicht so leicht kleinzukriegen. Mag sein, dass ich halb verrückt bin, aber eben nur halb. Er hat es also nicht geschafft mich zu brechen.“ Sie lächelt schief. Unwillig muss Finnick doch ein wenig lachen. Wie Johanna es einmal sagte - Snow hat sie wirklich ordentlich kaputt gemacht, wenn sie sich darüber freuen nur zur Hälfte verrückt zu sein. „Ich vergesse wirklich immer, wie stark du bist.“ Er zieht Annie fest an sich und gibt ihr einen Kuss auf das Haar. Den Rest des Tages verbringen sie weit draußen auf dem Meer, eng beieinander und weit weg von ihren Sorgen. Erst als die Sonne sich tief rot färbt kehren sie in den Distrikt zurück, ein paar kleine Fische im Gepäck. Die warme Erinnerung an diesen Tag und viel mehr noch Annie – wie sie das Schiff steuert, ihr Haar im Wind wehend und ein Lachen auf den Lippen - bewahrt Finnick in seinem Herzen, bis zu dem Tag der Ernte. Der Erntetag ist wie immer ein heißer Sommertag, an dem die Hitze sich noch unerträglicher anfühlt als ohnehin schon. Unpassend zu dem prächtigen Sommerwetter entspricht die Stimmung im Distrikt jedoch eher der eines regnerischen Herbsttags. Bereits am Morgen treffen die Mentoren sich mit Cece im Rathaus. Draußen wird die Bühne aufgebaut, während sie drinnen die letzten Details durchgehen. Für diese Ernte hat Cece sich in ein Limetten-grünes Ensemble gekleidet, nur ihre hellorangen Korkenzieherlocken sind unverändert. Sie ist aufgeregt, plappert die ganze Zeit davon, dass sie es gar nicht erwarten kann ihre neue ‚Heldin‘ endlich kennenzulernen. Noch bevor sie Cordelia überhaupt je gesehen hat ist sie schon überzeugt davon, dass sie es in sich hat Siegerin zu werden. Niemand wagt es ihren Enthusiasmus zu bremsen, doch den Mienen seiner Leidensgenossen nach würde jeder von ihnen ihr nur zu gerne den Mund verbieten. Da ist es beinahe schon eine Erleichterung, als sie endlich auf die Bühne gebeten werden, damit die Ernte beginnen kann. Auch Riven und Mags stoßen zu ihnen, letztere noch wackelig auf den Beinen und gestützt von zwei Friedenswächtern. Finnick bietet ihr mit einem Lächeln seinen Arm an und sie stützt sich dankbar auf ihn. Er ist froh, dass sie dieses Jahr nicht dabei sein muss. Mags hat sich einen ruhigen Sommer in jedem Fall verdient. Isla wird auf sie aufpassen, das weiß er. Trotzdem hasst er es, dass sie nun ohne Mags Weisheiten auskommen müssen. Nach fast einem ganzen Leben voller Hungerspiele hat niemand so viel Erfahrung wie sie. Als würde sie seine dunklen Gedanken spüren tätschelt sie ihm liebevoll den Handrücken. Etwas unverständliches kommt aus ihrem Mund, doch er muss gar nicht verstehen was sie sagt, um zu wissen was sie ihm sagen möchte. Das alles wieder gut wird, wenn sie nur dafür kämpfen. Wie in jedem Jahr hält der Bürgermeister eine ermüdende Rede darüber, warum ihr Distrikt die Strafe durch die Hungerspiele verdient hat. Von den dunklen Tagen ist die Rede, obwohl sich kaum noch einer an diese erinnert. Finnick glaubt, dass die Tage in denen sie leben die wahren dunklen Tage sind. Der Krieg muss schlimm gewesen sein, doch der jährliche Tod von 23 Kindern und Jugendlichen ist genauso barbarisch. Aber wie alle anderen macht er gute Miene zum Spiel. Lächelnd beklatscht er Cece, als diese auf die Bühne stolziert um die Namen zu ziehen. Vor lauter Anspannung scheint die Luft zu knistern. Die meisten dort unten wissen nicht, dass sich ein Mädchen freiwillig melden wird. Sie glauben, dass es vielleicht in diesem Jahr sie selber treffen wird. Und ein Junge wird es dieses Jahr werden, der seiner Familie entrissen wird. Er kann nur hoffen, dass es nicht wieder ein Zwölfjähriger wird. Je jünger sie sind, desto schlimmer ist es, nur ihren Sarg nach Hause bringen zu können. „Ladies first!“ verkündet Cece freudestrahlend. Höflicher Applaus brandet auf. Sie versenkt ihre Hand mit den krallengleichen Fingernägeln in die Glaskugel, wackelt ein bisschen mit den Fingern um die Spannung anzuheizen, und schnappt sich dann einen Zettel. „Der weibliche Tribut aus Distrikt vier für die 74. Hungerspiele wird – Erissa Worth!“ Ihre Worte verklingen in der Stille, die sich über den Festplatz gesenkt hat. Die Kameras suchen ein Gesicht in der Menge – und da finden sie es, eine blasse Fünfzehnjährige die fassungslos auf Cece starrt. Cece strahlt sie an, kostet diesen Moment regelrecht aus. Sie weiß, was gleich kommen wird. Wenn Cordelia sich freiwillig meldet dann soll es aufsehen erregend werden, die Blicke der Sponsoren im Kapitol auf sich ziehen. Noch besser würde es ihr wohl gefallen, wäre das gezogene Mädchen noch jünger. Unten auf dem Platz hingegen erlebt Erissa Worth wohl gerade die schlimmsten Minuten ihres Lebens. Mit zittrigen Knien geht sie einige Schritte vorwärts Richtung Bühne, wo Cece die Hand nach ihr ausstreckt. „Einen riesigen Applaus bitte für unseren weiblichen Tribut“, fordert sie. Es dauert einen Moment bis die Zuschauer aus ihrer Starre aufwachen. Einer fängt zögerlich an und plötzlich applaudieren alle für das unglückliche Kind. Von Cordelia ist nichts zu sehen. Finnicks Augen suchen die Reihen nach ihr ab, doch er kann sie zwischen den vielen Jugendlichen nicht entdecken. Was, wenn sie es sich anders überlegt hat? Schließlich gibt es keine Verpflichtung für sie, sich wirklich zu melden. Vor seinem inneren Auge stürzt ihr über die letzten Wochen sorgsam aufgebautes Kartenhaus schon in sich zusammen. Erissa Worth scheint gerade all ihren Mut zusammen nehmen zu wollen um die Bühne zu erklimmen, als doch noch Bewegung in die Reihen kommt. Entschlossen schreitet Cordelia zwischen den Leuten hervor. Alle Augen schießen zu ihr, auch die flehenden von Erissa. Cordelia läuft direkt auf sie und die Bühne zu. Kurz vor ihnen macht sie Stopp. Sie steht aufrecht, das Kinn empor gereckt. Kaum merklich zittert ihre Unterlippe als sie ruft: „Ich melde mich freiwillig!“ Ein weiteres Mal senkt sich Stille über den Platz. Cece lässt den Moment wirken, ehe sie aufgeregt ruft: „Sieht so aus, als würde jemand anderes gerne deinen Platz einnehmen, Erissa!“ Ein lauter Schrei der Freude entweicht dem Mädchen und sie wirft sich Cordelia ungestüm an den Hals. Verdutzt stolpert diese ein paar Schritte rückwärts, als das Mädchen sie innig umarmt. „Ich überlasse ihr meinen Platz!“ platzt es aus der Fünfzehnjährigen heraus. Bevor noch jemand etwas sagen kann lässt sie von Cordelia ab und rennt über den Platz, an der Absperrung vorbei in Richtung ihrer Eltern. Nun ist es an Cordelia mit wackeligen Schritten die Bühne zu erklimmen. Sie ist eindeutig nervös. Dennoch bemüht sie sich zu lächeln. Mit dem Mikrofon in der Hand tritt Cece zu ihr. „Meine Liebe, was für eine schöne Überraschung! Verrate uns doch wie du heißt und wie alt du bist.“ „Ich bin Cordelia Tidemore, Siebzehn Jahre.“ „Ach, wunderbar“, quiekt Cece freudig, „sag, warum hast du dich freiwillig für Erissa gemeldet?“ Mithilfe der Mentoren hatte sie sich einen eleganten Satz für diese Frage überlegt. Wie bei jedem Freiwilligen vor ihr, scheint ihr Kopf nun allerdings leer gefegt zu sein. Die wohlüberlegten Worte sind zwangsläufig Geschichte, als sie dennoch zu sprechen beginnt. „Natürlich will ich Ruhm für meinen Distrikt erringen. Ich will dem Kapitol zeigen, was Distrikt vier so alles drauf hat – Nicht nur Distrikt eins kann aufeinanderfolgende Sieger haben.“ Immerhin ordentlich, darauf werden sie aufbauen können. „Schön gesagt, meine Liebe. In der Tat, Distrikt vier ist nicht zu unterschätzen! Dann bitte einen riesigen Applaus für Cordelia, unseren freiwilligen Tribut!“ Distrikt vier respektiert seine freiwilligen Tribute, daher bekommt Cordelia einen ordentlichen Jubel. Dank der Unterstützung ihrer Leute scheint sie ein wenig aufzutauen und winkt in die Menge. „Es ist Zeit für die Jungen“, verkündet Cece. Getragen von dem Hochgefühl in der Menge, nun da sie eine Freiwillige haben, versenkt Cece erneut ihre Hand. „Der männliche Tribut aus Distrikt vier für die 74. Hungerspiele ist – Varian Steed!“ Erneut suchen die Kameras die Menge ab. Finnicks Herz zieht sich zusammen als sie auf einen schmächtigen Jungen halten, der ein viel zu großes Hemd trägt. Unmöglich, dass er älter als zwölf ist. Sein blondes Haar ist beinahe durchscheinend in der Sonne. Ein Blick zu Annie sagt Finnick, dass sie ebenso schockiert ist. Ein Zwölfjähriger in der Arena, das ist als würde sich alles wiederholen. Mitfühlend beobachtet sie wie der kleine Junge sich zwischen den Leuten hervor schiebt und zögerlich in Richtung Bühne geht. Seine Schritte sind langsam, er scheint förmlich darauf zu warten, dass jemand hervorspringt um auch ihn zu erlösen. Nur, dass es niemanden gibt. Als er auf der Bühne steht merkt auch er, dass keiner mehr kommen wird. Cece bittet erneut um Applaus, der dieses Mal deutlich weniger enthusiastisch ausfällt. Wo eben noch ausgelassene Stimmung herrschte kippt die Laune nun wieder. Gebannt starrt die Menge auf den Jungen neben der kräftigen Cordelia, eine unfaire Kombination. Langsam aber sicher füllen die Augen des Kindes sich mit Tränen. Ein Blick aus hellgrauen Augen trifft Finnick, erfüllt von Angst. Wenn er könnte, er würde sich freiwillig melden für den Kleinen. „Auch wenn sich noch keiner gemeldet hat, gibt es vielleicht einen Freiwilligen?“ fragt Cece trotzdem noch einmal nach, in dem Versuch die Stimmung zu heben. Das Rauschen des Windes ist die Antwort. Betretene Blicke derer, die die Ernte überstanden haben. Selbst wenn es ein Zwölfjähriger ist möchte niemand seinen Hals riskieren. „Verdammt!“ erschallt es plötzlich aus einer der hinteren Reihen, „Ich melde mich freiwillig!“ Köpfe schnellen herum. Wütend stapft ein Junge nach vorne, die Hände zu Fäusten geballt. Er stellt sich vor die Bühne und ruft noch einmal. „Ich melde mich freiwillig!“ Die rotblonden Locken sind unverkennbar. Es ist Edy aus der Akademie. Finnicks Herz sinkt noch tiefer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)