Meeressturm von Coronet ================================================================================ Kapitel 3: Eiseskälte --------------------- Mags hatte einen Schlaganfall. Die Worte hallen dröhnend in meinen Gedanken wieder. Ich fühle mich als hätte ich meinen Körper verlassen, seltsam leicht und kalt. Bestimmt schlägt mein Herz nicht mehr. Habe ich jetzt auch einen Anfall? Werde ich ebenfalls sterben? Ich sehe wie Amber sich umdreht, Finnick am Arm gepackt. Sie sagt etwas doch ihre Worte erreichen mich nicht. Eine Hand schließt sich um mein Handgelenk und ich werde vorwärts gezogen. Ungelenk stolpere ich über meine eigenen Füße. Das warme Gefühl welches mich bis eben noch erfüllt hat fließt aus meiner Brust durch meine Arme in die Fingerspitzen und verlässt mich. Es ist als wäre ich in Eiswasser getaucht. Aus dem Nichts taucht eine Erinnerung auf. Ich bin acht Jahre alt und das erste Mal bei schlechtem Wetter mit meinem Vater zur See. Es ist Herbst und ein gewaltiger Sturm zieht schnell herauf. Unser kleines Boot schwankt auf den Wellen die immer größer werden. Ich klammere mich mit eisigen Fingern fest an den Mast in der Überzeugung, dass ich sterben werde. Mein Vater kämpft noch mit dem Steuer als eine Welle sich über dem Boot auftürmt und uns mit einem Donnern unter sich begräbt. Eisiges Wasser drängt von allen Seiten auf mich ein. Jegliches Gefühl für meinen Körper verschwindet. Ich weiß nicht mehr wo oben und unten ist. Sind meine Arme noch um den Mast geschlungen? Ich kann es nicht sagen. Alles was ich fühle ist Eiseskälte und Todesangst die meine Gedanken lähmt. Plötzlich wird unser Boot aus dem Wellental empor geschleudert und wir reiten auf einer gewaltigen Wellenkrone. Meine Arme sind tatsächlich noch um den Mast geschlungen auch wenn ich nicht mehr spüre wie ich mich festhalte. Ehe ich mich versehe rasen wir bereits wieder herab. Eine neue Woge eisigen Wassers begräbt uns. Mein Denken ist ausgeschaltet. Die Wange an den Mast gepresst, die Augen weit aufgerissen ergebe ich mich der Macht des Meeres. Knarzend reitet unser Boot die Wellen, stürzt in die tiefsten Täler nur um dann wieder empor zu steigen. Mir erscheint es wie ein Wunder, doch plötzlich sehe ich einen Landstreifen vor uns der sich immer weiter nähert. Distrikt vier erhebt sich vor uns. Je näher wir dem Land kommen desto kleiner werden die Wellen. Trotzdem schaffe ich es erst wieder meine Arme von dem Mast zu lösen als wir in den Hafen eingelaufen sind und mein Vater schützend seine Arme um mich schlingt. Das Gefühl das jetzt meinen Körper durchströmt ist ein ähnliches. Ich fühle mich als würde Welle um Welle auf mich einstürzen. Blindlinks stolpere ich hinter Finnick und Amber her über breite Kopfsteinpflaster-Straßen. Erst als sich das Krankenhaus, ein flaches Gebäude aus hellgelbem Beton, vor uns erhebt erkenne ich wo wir hingehen. Vor dem Eingang sind bunt blühende Büsche eingegraben, doch auch sie können nicht über den tristen Eindruck hinweg täuschen. Das Krankenhaus ist ein böser Ort. Ich weiß, dass in den weißen Fluren mit dem stechenden Desinfektionsmittelgeruch nur noch mehr längst vergrabene Erinnerungen ruhen. Und schlimmer noch, Visionen von dem was ich nie erlebt habe. Schon sehe ich mich am Krankenbett meines Vaters stehen, sein Gesicht so weiß wie die Laken und der Atem flach. Mir gegenüber steht Präsident Snow, die Hände wie zum Gebet gefaltet. In seinem makellosen weißen Anzug sieht er aus wie ein zu fein angezogener Arzt. Seine Schlangenaugen richten sich auf mich. Ein Kribbeln gleitet meine Wirbelsäule herab. „Papa“, flüstere ich hilflos. Meine Hand sucht seine Hand, doch sie ist kalt wie das Eiswasser vor so vielen Jahren. Der Anblick des Krankenhauses verschwimmt langsam. Amber hält nicht inne um auf uns zu warten, doch Finnick dreht sich besorgt zu mir um. Ich sehe die Angst in seinem Blick. Diesmal kann auch er mir keinen Trost spenden realisiere ich. Er ist genau so hilflos wie ich. Seine Hand gleitet wieder in meine, obwohl wir uns mitten in Distrikt vier befinden wo uns jeder sehen kann. Aber unter diesen Umständen ist es wahrscheinlich in Ordnung. Gemeinsam betreten wir den Empfangsraum des Krankenhauses. Gerüche von Leid und Krankheit drängen auf mich ein. Am liebsten würde ich mich übergeben, doch zum Glück gehorcht mir mein Körper auch in dieser Hinsicht nicht. Amber ist vor uns und bereits an der Warteschlange am Informationsschalter vorbei gestürmt. Sie herrscht die diensthabende Krankenschwester an ihr zu sagen wo man Mags hingebracht habe. Diese will ihr zunächst keine Auskunft geben, doch da baut Amber sich zu voller Größe vor ihr auf, ein bedrohliches Funkeln in den Augen. „Ich bin eine Siegerin der Hungerspiele, also werden sie mir besser sagen wo Mags Flanagan ist!“ Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Tresen zwischen ihr und der Krankenschwester. Diese schrumpft sichtlich zusammen und spuckt hastig eine Zimmernummer aus. Amber stürmt in Richtung eines Flures davon, wir hintendrein. Die anwesenden Leute treten hastig zur Seite und betrachten unseren kleinen Zug mit großen Augen. Am Ende des Flures stößt Amber eine Tür zu einem kleinen Zimmer auf und erschreckt damit einen Krankenpfleger der sich über das einzige Bett im Raum beugt. Kaum hat sie den Raum betreten fällt der harsche Gang von ihr ab. Fast schon zögerlich tritt sie auf das Bett zu. „Wie geht es ihr?“, stellt sie die Frage die uns alle beschäftigt. Der Krankenpfleger erholt sich schnell von seinem Schreck und macht formvollendet eine Notiz auf dem Klemmbrett in seiner Hand. „Zunächst einmal muss ich sie um Ruhe bitten“, antwortet er harsch, „wir werden sehen müssen wie viel Schaden das Gehirn genommen hat. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch nichts zu ihren Überlebenschancen sagen. Sie ist bereits eine alte Dame.“ Finster funkelt Amber ihn an. „Sie ist nicht irgendeine alte Frau! Sie ist die älteste Siegerin unseres Distrikts. Man könnte meinen Sie haben sie schon abgeschrieben.“ Sie verschränkt die Arme demonstrativ vor der Brust. „Ich hoffe wir können uns darauf verlassen, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun werden?“ Der Mann sieht aus als wäre er zutiefst in seiner Ehre gekränkt worden. Mit steifen Gesten schiebt er sich das Klemmbrett unter den Arm und richtet seinen Kragen. „Natürlich werden wir alles tun um unseren Eid zu erfüllen.“ Mit diesen Worten geht er zur Tür hinaus und zieht diese hinter sich zu. In diesem Moment lösen sich Floogs und Trexler aus dem Schatten neben Mags Bett und treten an Ambers Seite. Floogs legt beruhigend eine Hand auf ihre Schulter. „Sei nicht so hart zu ihnen, Amber. Sie tun ihr Bestes.“ Ein Schatten huscht über ihr Gesicht. „Manchmal ist das Beste nicht genug“, entgegnet sie, doch ihre Stimme hat den Schneid verloren. „Mags is ne Kämpf‘rin“, kommt es von Trexler, der sich ebenso unwohl zu fühlen scheint wie ich. Der hünenhafte Mann spricht nie viel, doch jetzt blickt er Amber fast schon herausfordernd an als er weiter spricht, „sie is zäher als wir. Sie gib‘ nich auf bevor ihre Mission erledigt is. Is nich ihre Art.“ „Ich weiß“, sagt Amber, „aber ich traue denen nicht.“ Sie zeigt mit dem Daumen Richtung Tür. Ich komme mir verloren vor zwischen all diesen Menschen die Mags schon so lange kennen. Es könnte deutlicher nicht sein, dass Mags für jeden von ihnen eine Menge bedeutet. Ich hingegen kenne sie doch erst seit drei Jahren. Aber sie hat auch mein Leben gerettet… Finnick löst sich von mir um gemeinsam mit den anderen an Mags Bett zu treten. Ich erhasche nur einen kleinen Blick auf Mags die bleich zwischen den Laken liegt. Hastig wende ich den Blick ab. Mir wird wieder schlecht. Wacklig gehe ich zu einem Stuhl an der Wand gegenüber des Krankenbetts und lasse mich sinken. Es gibt nichts was ich tun könnte. Wenn, dann war Mags immer die Stärkere, selbst im hohen Alter noch. Auch wenn jetzt nichts mehr daran erinnert war sie die erste freiwillige Siegerin und wusste sich immer zu wehren. Ich dagegen habe immer ihre Hilfe gebraucht. Meine Hände wandern zu den Ohren um das Piepen eines Überwachungsgeräts auszublenden. Fest presse ich die Hände an die Seiten meines Schädels. Für gewöhnlich sind es die Erinnerungen die ich aus meinem Kopf vertreiben muss, doch dieses Mal ist es die Realität die ich nicht ertragen kann. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. Als ich aufblicke sehe ich Floogs der mich mitfühlend mustert. Er bedeutet mir eine Hand von den Ohren zu nehmen. Nur widerstrebend komme ich dem nach. „Ich weiß, dass du auch Angst hast. Wir alle haben Angst.“ Er kniet sich zu mir herunter. Sein Ausdruck ist immer so gutmütig, dass es schwer vorzustellen ist, dass er je die Hungerspiele gewonnen hat. „Mags ist für alle von uns so etwas wie eine Ersatzmutter.“ Ermunternd nickt er mir zu. „Wegen uns musst du dich nicht zurücknehmen. Ich weiß, dass sie dir ebenso viel bedeutet wie uns anderen. Sie hat jedem Einzelnen von uns das Leben gerettet.“ Ich blicke von ihm zu den übrigen Mentoren um Mags Bett herum. „Ich weiß nicht ob ich das schaffe“, sage ich ehrlich, „alles an diesem Ort erinnert mich daran wie sie mir meine Familie genommen haben. Wie meine Mutter hier gestorben ist. Was kann ich alleine schon für Mags tun?“ Meine Stimme bricht. „Du vergisst, dass du da nicht alleine durch musst, Annie.“ Floogs reicht mir seine Hand. „Gemeinsam können wir Mags Kraft geben wenn wir einfach an ihrer Seite sind. Komm mit mir.“ Er zieht mich auf die Beine und gemeinsam treten wir an das Bett von Mags. Auf der einen Seite kniet Finnick, ihre Hand fest umfasst. Er ist leichenblass und sein abwesender Blick scheint in die Vergangenheit gerichtet. Vermutlich muss er an alles denken was Mags je für ihn getan hat. Mir fällt ein, dass ich nicht viel über die Beziehung der zwei weiß. Ich bedauere es nie gefragt zu haben. Trexler steht stumm am Fußende des Bettes und Amber sitzt mit gebeugtem Rücken zu uns. Ungewohnt zärtlich streichelt sie Mags runzligen Handrücken. Mags sieht winzig aus zwischen den ausgewaschenen Laken. Sie sah immer so fröhlich aus, das Gesicht voller Lachfältchen. Doch jetzt sieht sie einfach nur alt aus. Ihr Lächeln ist verschwunden und ich habe Angst es nie wieder zu sehen. Ein dicker Verband ist um ihren Kopf gewickelt. Immerhin war heute Nacht jemand zur Stelle, so dass sie schnell behandelt werden konnte. Ich lasse mich auf das Fußende hinter Finnick sinken. Amber wirft mir über die Schulter einen kurzen Blick zu. Ihre Augen sind glasig, doch als sie spricht ist ihre Stimme fest. „Vergiss nicht, wir sind eine Familie. Wir halten zusammen.“ Trexler brummt zustimmend. Ein kleines hoffnungsfrohes Funkeln breitet sich in meiner Mitte aus. Wir sind eine Familie. Es fühlt sich ein Stück weit an wie damals, als mein Vater mich nach dem Sturm in die Arme schloss. Und auch wenn Amber mir wieder den Rücken zuwendet fühle ich mich ihr näher als zuvor. Obwohl wir alle so unterschiedlich sind bringt Mags uns selbst jetzt enger zusammen. In der Mitte meiner ehemaligen Mentoren fühle ich mich gleich weniger schlecht. Zumindest tauchen gerade keine ungebetenen Erinnerungen auf und mein Magen rebelliert nur noch leicht. Eine Weile sitzen wir stumm um Mags herum, gemeinsam aber doch jeder in eigene Gedanken versunken. Ich muss daran denken wie Mags mir vor meinen Spielen die Angst nahm. Wie sie mir gut zugeredet hatte obwohl meine Chancen denkbar schlecht waren. Dann war sie wieder für mich da als es endlich vorbei war. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich bisher nicht einmal Mentor in den Hungerspielen werden musste. Das Kapitol hatte versucht mich zurück dahin zu bringen. Sie wollten Mags in „Rente“ schicken, da sie schon so viele Jahre ihren Dienst als Mentorin verrichtet hatte. Ihren Platz sollte ich einnehmen. Sogar einen Orden wollten sie ihr verleihen in Anerkennung ihrer Tätigkeit. Doch sie weigerte sich das Angebot anzunehmen. Wenn ich ehrlich bin ist es mir schleierhaft wie die anderen Mentoren es verhindert haben, dass ich mich ihnen anschließen muss. Es müsste schon sehr viel Glück dabei sein damit das Kapitol mich einfach vergisst. Ich hoffe inständig, dass Mags wieder aufwachen wird, denn mir wird klar, dass ich mich nie richtig bei ihr bedankt habe. Für alles.   In den kommenden Wochen verbringen wir Sieger viel Zeit im Krankenhaus. Mags erwacht zum Glück wieder, doch der Schaden ist groß. Sie kann sich kaum bewegen denn Arme und Beine sind gelähmt. Sprechen kann sie auch nicht mehr. Wenn wir sie besuchen schläft sie oft oder blickt uns bloß stumm an. Vor allem Finnick und Amber weichen kaum von ihrer Seite. Abwechselnd schlafen sie im Krankenhaus um immer an ihrer Seite zu sein. Die Ärzte operieren Mags noch zwei Mal ehe sie sich sicher sind, dass die Blutgerinnsel beseitigt sind. Im Kapitol haben sie wahrscheinlich eine viel einfachere und sichere Methode um derartige Erkrankungen zu heilen, wenn ich daran denke wie einfach sie meine Wunden nach der Arena geheilt haben. Doch niemand bietet an Mags dort zu behandeln. Stattdessen müssen wir es ertragen, dass Mags nach all dem nur noch ein Schatten ihrer Selbst ist. Aber mit einem hatte Trexler recht: Sie ist eine Kämpferin. Ihre Mission scheint noch nicht erfüllt. Ihre Fortschritte sind klein, aber wenn man den Ärzten Glauben schenken darf ist sie auf einem guten Weg. Ich ertrage es immer noch nur schwer im Krankenhaus zu sein, doch ich muss glücklicherweise nicht alleine hingehen. Meist begleiten mich gleich mehrere der anderen Sieger und auch Isla kommt oft mit. Selbst wenn sie keine Siegerin ist, so ist sie doch ein Teil unserer verqueren kleinen Familie. Nur Riven, unsere neue Siegerin, lässt sich nicht wirklich blicken. Einmal erscheint sie für kurze Zeit ohne mit jemandem zu sprechen, doch dann ist sie wieder verschwunden. Die anderen kommen überein, dass wir sie vorerst in Ruhe lassen. Im Gegensatz zu uns hat sie noch ihre Familie die bei ihr im Siegerdorf lebt. Eine Mutter, einen Vater, zwei ältere Geschwister. Sie kennen sie besser und können ihr hoffentlich eine gute Stütze sein. Isla schaut zwischendurch manchmal bei ihnen vorbei. Tatsächlich scheint es Riven soweit gut zu gehen, zumindest erzählt Isla, dass sie sich bereits auf ihre Siegestour vorbereitet und überlegt welches Hobby sie aufnehmen will. Wir Sieger müssen ja alle ein individuelles Hobby haben, dass wir im Kapitol präsentieren sollen. Nach meinem Sieg bekam auch ich diese Aufforderung, also habe ich halbherzig versucht Cece mit meinen Blumenflechtkünsten zu beeindrucken. Das hat immerhin ausgereicht um sie mir künftig vom Hals zu halten. Alle paar Monate kommen sie aus dem Kapitol und wollen ein paar neue Kunstwerke sehen, die ich ihnen meist auch liefern kann. Es ist eine gute Therapie aus bunten Blumen und feinen Bändern Kränze zu binden. Früher habe ich dies immer mit den wild wachsenden Blumen von den Salzwiesen getan, doch heute bekomme ich ganze Wagenladungen an feinsten Zuchtblumen direkt aus dem Kapitol geliefert, ebenso wie seidene Bänder und allerlei dekorativen Plastikkitsch. Bei jeder Lieferung sind auch ein paar schneeweiße Rosen dabei. Direkt aus Snows Zuchtgärten. Ich schmeiße sie jedes Mal ins Meer. Bis zur jährlichen Siegertour und damit verbundene Präsentationen ist jedoch noch viel Zeit. Wir konzentrieren uns lieber ganz auf Mags. Zunächst muss sie wieder die Grundlagen wie zum Beispiel schlucken lernen. Es gibt längst nicht genug Ärzte im Krankenhaus, deshalb helfen wir und erarbeiten ein Trainingsprogramm für Mags. Viel zu tun haben wir als Sieger ja ohnehin nicht. Wir mögen keine Experten sein, doch langsam kommt das Leben zurück in Mags. Sie lächelt uns an, nickt wenn wir ihr etwas erzählen und bekommt wieder etwas Farbe. Doch noch darf sie das Krankenhaus nicht verlassen, denn sie muss immer noch rund um die Uhr Medikamente einnehmen. Derweil rückt in Distrikt vier der Herbst vor. Die See wird rauer und immer wieder werden wir von Regenschauern überrascht. Ich mag den Herbst nicht sonderlich, wenn die Tage kürzer werden und es draußen nur noch dunkel ist. In diesen Tagen ist die Überfahrt nach Emerald Isle zu gefährlich. Seit Mags ihren Schlaganfall hatte sind Finnick und ich nicht mehr dort gewesen. Ich vermisse die Abgeschiedenheit auf der Insel. Aber selbstverständlich ist Mags jetzt wichtiger.   Der Herbst ist bereits weit fortgeschritten als ich eines Tages gemeinsam mit Finnick und Isla bei Mags bin. Mittlerweile ist sie zurück in ihrem Haus im Dorf der Sieger. Wir haben ein Bett in ihrem Wohnzimmer eingerichtet wo wir sie gut umsorgen können. Alle paar Tage schaut ein Arzt aus dem Kapitol nach ihr, doch abgesehen davon sind wir jetzt ganz alleine für sie verantwortlich. Regen peitscht gegen die Fensterscheibe. Ab und an zuckt ein Blitz über den Himmel. Ich sitze an Mags Bett und mache Fingerübungen mit ihr während Isla vor dem Kamin sitzt und für die Kinder im Waisenhaus strickt. Jetzt wo es kälter wird brauchen die Kinder dort alle warme Schals. Von Trexlers Geld lässt Isla sich feine Wolle direkt aus Distrikt 8 importieren die in wunderschönen Farben eingefärbt ist. Ihr jetziger Schal, gelb-weiß gestreift, hängt bereits bis auf den Boden herab. Finnick hat sich am Vormittag um Mags gekümmert und klappert jetzt in der angrenzenden Küche mit den Töpfen. Es reicht schon wunderbar nach gebratenem Fisch. Ich höre, dass Mags Magen knurrt. Lächelnd sage ich: „Riecht ganz schön lecker was Finnick uns da kocht, oder?“ Mags nickt und schenkt mir zur Bestätigung ein Lächeln. Zum Glück hat sie das Schlucken recht schnell wieder erlernt, nur Füttern müssen wir sie immer noch. Das Klappern von Islas Stricknadeln verstummt als Finnick den Raum betritt, einen Teller für jeden von uns balancierend. Er reicht Isla und mir jeweils einen, ehe er sich mit dem letzten an Mags wendet. „Dein Lieblingsessen, Mags, Kabeljau mit Rosmarinkartoffeln und Bohnen.“ Er lächelt zufrieden und lässt sich auf die andere Seite von Mags Bett fallen. „Alles direkt aus dem Kapitol, bis auf den Fisch. Den habe ich heute morgen selber gefangen, mit einem deiner Haken.“ Ich bin froh, dass Finnick heute morgen fischen war, als das Meer noch ruhiger war. Wann immer er einen Moment Ruhe braucht zieht er los um fischen zu gehen. Damit ist er der einzige von uns Siegern. Manchmal geht er nur mit einem Netz und Speer bewaffnet los um auf die klassische Art zu fischen, seltener fährt er mit einem Boot raus, dass er sich von seinem Siegergeld gekauft hat. Ich überlasse ihm das Fischen gerne, denn jeder von uns braucht auch einmal Zeit alleine. Sorgfältig zerteilt er das Stück Fisch für Mags in mundgerechte Bissen, genauso wie die Kartoffeln und Bohnen. Am Anfang war es ein wenig gewöhnungsbedürftig Mags füttern zu müssen wie ein kleines Kind. Immerhin war es bis jetzt eher so, dass sie mir eine Mentorin war und sich um mich gekümmert hat. Aber so können wir Mags jetzt wo sie uns braucht zumindest etwas davon zurück geben. Finnick sieht müde aus, doch er lässt sich Mags gegenüber nichts anmerken. In diesem Moment schlägt urplötzlich die Tür laut krachend auf. Zu unserer aller Verwunderung steht Riven im Flur. Regenwasser läuft von ihrer Jacke herab und bildet Pfützen auf dem Boden. „Hätte ich es mir doch denken können, natürlich seid ihr hier“, sagt sie als sie tropfend das Wohnzimmer betritt. „Ich wurde losgeschickt um Bescheid zu sagen, dass die Eskorte aus dem Kapitol da ist“, führt sie an Finnick gewandt fort, „sie wollen euch jetzt gleich sehen. Sie warten in Floogs Haus.“ Mich und Isla ignoriert sie, ebenso wie Mags die sie mit krauser Stirn mustert. Finnick springt fluchend auf, Mags Essen noch in der Hand. „Heute schon? Verdammt, das habe ich ganz vergessen. Verfluchte Siegertour!“ Riven grinst säuerlich. „Nicht nur du sollst kommen, sie auch“, sagt sie und deutet auf mich. Ihr Blick trifft meinen. Ist das etwa Neid? Ich lasse die Gabel mit Essen sinken die ich gerade zum Mund führen wollte. „Warum ich?“, frage ich irritiert. Ich bin kein Teil von Rivens Mentorenteam. Dementsprechend habe ich auf ihrer Siegestour nichts zu suchen. Isla sieht ebenfalls beunruhigt aus. Sie stellt den Teller mit Essen neben sich ab. „Wirklich, das weißt du nicht?“, erwidert Riven in einem ätzenden Tonfall, „Natürlich weil ein Platz frei geworden ist. Die arme Mags können sie ja wohl kaum auf die Bühne stellen, also bist du ihr Ersatz.“ Etwas regt sich in meiner Brust. Mags Finger neben mir zucken und ich ergreife ihre Hand. Wir tauschen einen kurzen Blick. Ihre Augen so grau wie die stürmische See scheinen mich zu ermahnen ruhig zu bleiben. Isla erhebt sich elegant und geht zu Riven. „Ist Trex schon da? Wenn nicht sei doch bitte so gut und hole ihn. So wie ich ihn kenne hat er sich bei dem Mistwetter wieder in seinem Atelier eingeschlossen.“ Sie lächelt Riven freundlich an, doch diese will scheinbar nicht so recht gehen. „Ihr solltet euch besser nicht verspäten“, ermahnt sie uns unnötig harsch. Sie dreht sich auf dem Absatz um und lässt die Tür hinter sich zuschlagen. Kaum ist sie weg dreht Isla sich mit einem Aufseufzen um. „Nun, Manieren sind nicht Rivens Stärke.“ Sie wirft erst Finnick und dann mir einen langen Blick zu. „Ihr beiden schafft das, oder? Ich glaube nicht, dass ich zu eurer Versammlung eingeladen bin.“ Wir sehen einander über Mags hinweg an. Schaffe ich das? Ich atme tief ein und aus. Es ist nur eine Siegertour. Wie schlimm kann es schon werden? Jeden Tag ein großes Bankett mit den Siegern der anderen Distrikte. Dieses Mal keine Familien von Tributen die ich kannte. Sorge zeichnet sich in Finnicks Gesicht ab. „Ich schaffe das schon“, sage ich, mehr zu mir selbst als zu ihnen. „Es ist nur die Tour, nicht die Spiele.“ Wehmütig blickt Isla mich an. „Richtig, es sind nicht die Spiele.“ Sie umarmt mich und Finnick zum Abschied jeweils kurz. Mir ist als würde sie mich fester drücken als sonst. Ich beuge mich zu Mags hinunter und drücke kurz zum Abschied ihre Hände. Finnick gibt ihr einen Kuss auf die Stirn, dann treten wir hinaus in den strömenden Regen. Für einen Moment bleiben wir stehen, die Gesichter zum tiefgrauen Himmel gerichtet. Wasser läuft mir über das Gesicht und ich schließe die Augen kurz. Als ich sie wieder öffne sehe ich Finnick vor mir stehen, eine Hand nach mir ausgestreckt. „Wir sollten sie nicht warten lassen.“   Kaum, dass wir Floogs Haus betreten haben, kann ich bereits das Gelächter und Geschnatter unserer Eskorte hören. Aufgeregt plappern sie durcheinander. Floogs bescheidenes Wohnzimmer ist nicht wieder zu erkennen. Überall sind schimmernde Kleidersäcke verteilt. Auf allen Tischen stehen Make-Up-Koffer und weiteres Zubehör des Stylingteams. Mitten drin ist unser Team und umschwirrt Amber als auch Floogs wie ein Schwarm Bienen. Vivette ist die erste die uns erspäht. Aufgeregt kreischt sie. „Oh Finnick! Und du auch, Annie! Es ist ja so schön euch zu sehen!“ Mit weit ausgebreiteten Armen kommt sie auf uns zu. Sie zieht uns beide gleichzeitig in eine Umarmung und damit in ihre Parfümwolke. Beides nimmt mir den Atem. Finnick drückt sie noch ein schmatzendes Küsschen auf die Wange. Sie hatte schon immer eine Schwäche für ihn. „Ach wie hübsch ihr beiden ausseht! Mit euch dürften wir nicht so viele Sorgen haben! Aber wann haben wir schon je Sorgen mit dir gehabt, Finnick.“ Sie kichert während ihre Augen über seinen Körper gleiten. Er übergeht ihre Anmerkung mit einem charmanten Lächeln. Trexler und Riven kommen hinter uns herein, was Vivette von uns weglockt um über „ihre“ jüngste Siegerin zu schwärmen. Von allen Seiten werden wir wortreich begrüßt. Diverse bunte Perücken nehmen mir die Sicht und ich verliere Finnick aus den Augen. Als endlich alle mit mir fertig sind lande ich neben Amber, die sich eben so unwohl zu fühlen scheint wie ich. Wir tauschen eine kurze Grimasse. Zwischen all dem Glamour des Kapitols fühlen wir uns beide verloren. „Ihr Lieben, es ist so schön euch wiederzusehen!“, erhebt sich Ceces Stimme über den Tumult. „Ich weiß, dass ihr alle schrecklich aufgeregt seid wegen der Siegertour, aber wir haben heute ein straffes Programm. Schließlich müssen wir euch alle eingekleidet bekommen bevor der Tag um ist. Und da unser Zug leider eine Panne hatte sind wir erst spät angekommen. Also husch, husch, an die Arbeit!“ Sie klatscht energisch in die Hände. Eine kleine Frau in einem dramatisch irisierendem Cape kommt auf mich zu getrippelt. Selbst unter all den stetig wechselnden bunten Perücken und Kleidern würde ich sie immer wieder erkennen, meinen kleinen Kolibri aus dem Vorbereitungsteam. Trotz ihrer hohen Schuhe ist sie immer noch einen Kopf kleiner als ich. Ihren wahren Namen konnte ich mir nie merken, also ist sie einfach Kolibrichen für mich, wegen ihrer Größe und flatterhaften Art. „Lange ist es her, nicht wahr Annie?“, fragt sie freudestrahlend. Sie zieht eine ganze Kleiderstange hinter sich her. „Heute bin ich allein deine Stylistin. Ganz wie in alten Zeiten“, fährt sie fort, „als ich hörte, dass sie dich anstelle von Mags mitnehmen wollen, da habe ich mir sofort dich als meine Siegerin gewünscht.“ Ich kann nicht anders, ich muss ein wenig lächeln. Kolibrichen war schon immer eine gute Seele. Ihre Anwesenheit nimmt mir einen Teil meiner Nervosität. Ganz im Gegensatz zu Roan, dem verantwortlichen Designer. Einem aalglatten Mittfünfziger dessen angebliche Verehrung für Distrikt vier so weit geht, dass er sich Kiemen hat operieren lassen. Zum Glück scheint er sich ausschließlich für Finnick zu interessieren. Ich bemitleide ihn ein wenig, aber vermutlich kommt er ohnehin besser mit dem Mann aus als ich. Kolibrichen und ich suchen uns einen abgeschiedenen Raum und landen so im Studierzimmer. Es ist lange her, dass ich für einen richtigen Auftritt zurecht gemacht werden musste. Solange ich in Distrikt vier bleibe interessiert sich niemand groß für mein Äußeres. Da ich nicht mit ins Kapitol zu den Spielen fahren habe ich diesen Trubel zuletzt erlebt als wir zu einer Party in Snows Villa eingeladen waren. Die Party führte zu einer Panikattacke und endete schließlich mit mir in einem der Teiche auf seinem Anwesen. Gerüchten zufolge hatte ich in meiner Panik einen wertvollen Koi zerquetscht. Seitdem bin ich von den öffentlichen Veranstaltungen offiziell entschuldigt – wegen meiner instabilen Verfassung. Mir ist es recht. Zwischen den hohen Bücherregalen lässt Kolibrichen mich Kleid um Kleid anprobieren. Legere Alltagskleider in gedeckten Farben, aufregende Abendkleider besetzt mit Perlen und elegante Cocktailkleider aus edlen Stoffen. Die eleganten Stoffe fühlen sich ungewohnt an und mindestens die Hälfte aller Kleider sagt mir überhaupt nicht zu, zu wenig Stoff, zu aufreizend, zu wenig ich. Jedem Kleid liegt ein Paar hoher Schuhe bei. Erinnerungen an Finnick der in den Glitzerschuhen von Vivette durch das Apartment von Distrikt vier im Trainingscenter stolziert tauchen vor meinem inneren Auge auf. Wie damals muss ich auch jetzt wieder lachen. All die Übung von damals um mich souverän in hohen Schuhen laufen zu lassen scheint verschwendet, da ich bereits bei den ersten Schritten wieder umknicke. Kolibrichen sieht mich pikiert an. „Oh du Arme. Du kannst ja überhaupt nicht mehr laufen!“ Das Grinsen kann auch sie sich nicht verkneifen. „Ich fürchte da musst du wieder etwas üben. Finnick war dir ja zum Glück ein guter Lehrer.“ Sie zwinkert mir zu. „Ist ja aber auch kein Wunder wenn man dich jahrelang in Ruhe gelassen hat und jetzt auf einmal wieder ins Rampenlicht bringt.“ Tatsächlich klingt sie ein wenig entrüstet ob der Dreistigkeit des Kapitols mich unvorbereitet mit auf die Siegertour zu nehmen. „Wenigstens bist du schön wie eh und je“, sagt Kolibrichen herzlich zu mir, wohl in dem Glauben, dass sie mich dadurch aufmuntern kann. „Die Leute werden dich lieben. Mach dir da keine Sorgen!“ „Danke, Kolibrichen.“ Ihrem Namen alle Ehre machend umschwirrt Kolibrichen mich und steckt Änderungen ab. Dabei plappert sie unentwegt darüber wie schockierend Mags Schlaganfall für sie war und dass alle in unserem Team sich große Sorgen gemacht haben. Ich erzähle nur ein wenig davon wie wir Mags helfen sich zu erholen, denn die meiste Zeit lässt sie mich ohnehin nicht zu Wort kommen. Nachdem ich alle Kleider anprobiert habe lässt sie mich noch meine Favoriten auswählen. Ich nehme das Angebot dankend an, denn ich habe wenig Lust in einem schwarzen Samtkleid mit einem Schlitz bis hoch zur Hüfte im Kapitol auftauchen zu müssen. Kolibrichen beklagt zwar, dass ich doch so sexy in dem Kleid ausgesehen habe, doch dann vermerkt sie meine Auswahl. Zurück im Flur begrüßt uns ein durchdringender Blumengeruch. „Ah, da sind auch schon deine Blumen angekommen!“, zwitschert Kolibrichen begeistert. Sie dankt einem Avox in roter Dienstkleidung der einen prächtigen Blumenkorb vor sich herträgt. „Wir dachten uns, dass die Siegestour eine exzellente Gelegenheit ist einmal mehr dein Talent hervorzuheben“, geheimnistuerisch senkt sie die Stimme, „du weißt schon, um das Interesse des Publikums wieder zu entfachen. Man hat dich so lange kaum im Fernsehen gesehen, die Leute werden etwas geboten bekommen wollen. Je mehr Interesse an dir, desto mehr Sponsoren für Distrikt vier.“ Sie lächelt mir verschwörerisch zu. „Sponsoren?“, platze ich verwirrt heraus. „Na klar, Sponsoren für die Arena. Wir wollen doch, dass noch mehr Tribute siegreich sind!“ Der Avox stellt den Blumenkorb neben uns auf einem Beistelltisch ab. Zwischen Blumen aus allen Distrikten des Landes stecken auch dieses Mal wieder ein paar sorgfältig ausgewählte weiße Rosen. Nur liegt jetzt auch ein Brief mit dem roten Siegel des Präsidenten in ihrer Mitte. Unwohl schlinge ich meine Arme um den Bauch. Das ist neu. Die Fröhlichkeit auf Kolibrichen Gesicht passt nicht zu der Kälte die in meine Glieder kriecht. „Was hat das mit mir zu tun?“, frage ich tonlos. Kolibrichen sieht mich mit einiger Verwirrung an. „Alles, Liebes“, sie drückt meine Schultern, „das wird dein großer Auftritt als Mentorin sein!“ Ich habe es geahnt. Die Siegestour ist nicht alles. Übelkeit steigt rasant in mir auf. Zitternd presse ich eine Hand auf den Mund. Sie wollen, dass ich Mags endgültig ersetze. „Oh nein mein Liebes, ist dir nicht gut?“, fragt Kolibrichen besorgt. So naiv. „Ich…“, fange ich an, doch ich finde keine Worte, also schüttle ich nur den Kopf. „Ich weiß, dir steht eine große Aufgabe bevor“, sagt sie beschwichtigend, „aber ich wette Präsident Snow hat dir alles wichtige in seinem Brief erklärt, damit du dich vorbereiten kannst. Und wir sind ja auch alle noch da um dir zur Seite zu stehen.“ Sie tätschelt meine Hand. „Am Besten du liest den Brief gleich.“ Mit spitzen Fingern nehme ich den schweren Pergamentumschlag entgegen den sie mir reicht. Der schwere Geruch von Rosen steigt von ihm auf, unnatürlich und erstickend. Ich breche das Siegel auseinander. In dem Umschlag ist nur eine einzige Seite Briefpapier. Die Worte tanzen vor meinen Augen. Ich muss mich anstrengen um sie lesen zu können. „Annie?“, höre ich eine fragende Stimme die von weit her zu kommen scheint. „Annie!“ Als ich den Blick von dem Brief hebe treffen meine Augen Pon, der neben dem Blumenkorb steht. Er trägt einen feinen mitternachtsblauen Anzug, eine einzige weiße Rose in seinem Knopfloch. Sein blonder Lockenschopf strahlt im Licht der Lampen wie ein Heiligenschein. „Pon!“, bricht es erstaunt aus mir hervor. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. „Gut siehst du aus.“ Nur wage fühle ich, dass mir der Brief den ich eben gelesen habe aus den Fingern gleitet und zu Boden fällt. Ich kann mich nicht erinnern von wem er ist und was drinnen steht, doch das scheint in diesem Moment auch nicht weiter wichtig. Nicht, wenn Pon mich so frech angrinst. Mit ausgebreiteten Armen dreht er sich einmal um sich selbst um mir sein Outfit zu präsentieren. „Richtig erwachsen“, sage ich anerkennend. Und tatsächlich kommt er mir älter vor – aber natürlich ist er das. Es ist schließlich die Siegestour. Was denke ich nur? „Cece sagt ich bringe alle Herzen zum Schmelzen“, entgegnet er fröhlich. Lachend wuschle ich ihm durch die Locken. „Da bin ich mir sicher, unser Team hast du ja bereits um den kleinen Finger gewickelt.“ Einen Moment betrachtet er den gewaltigen Korb mit Blumen neben uns, dann wirft er mir einen schalkhaften Blick zu. „Weißt du was wir tun sollten, jetzt wo wir fertig sind mit der Anprobe?“ Verwundert schüttle ich den Kopf. „Wir sollten uns an den Hafen schleichen um unsere Familien zu besuchen. Ihre Schiffe sind bestimmt schon eingelaufen. Mal sehen was meine Eltern zu meinem neuen Anzug sagen.“ Lachend greift er nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Seine Hand in meiner ist klein und warm. Und so zerbrechlich. Ich fühle einen Stich in meinem Herzen, doch der Schmerz geht vorüber als wir nach draußen, in die strahlende Herbstsonne, treten. „Die Sonne scheint“, flüstere ich zu mir selbst, ohne zu wissen warum ich so verwundert bin. Mir ist als müsste es eigentlich regnen. „Wirklich gutes Wetter zum Fischen!“, ruft Pon als hätte er mich gehört. Wir laufen über die hell gepflasterten Straßen in Richtung Meer. Schon aus der Ferne höre ich das Rauschen der ungestümen Herbstwellen. Freude erfasst mich. Ich möchte unbedingt meinem Vater mein neues Kleid zeigen. Es ist von einem zarten hellblau, ein wunderbarer Kontrast zu Pons dunklem Anzug. Glitzernd fängt der Stoff das Sonnenlicht ein. Bestimmt wird es meiner Familie gefallen. Im Hafen sind bereits viele Fischer zurück von ihrer Tour. Wir werden von allen Seiten freudig begrüßt. Pon lächelt und winkt nach links und rechts, ganz wie ein Profi. Aber er hat ja auch von den Besten gelernt. Zielstrebig läuft er zu dem Liegeplatz mit dem kleinen Bootshaus meiner Familie. Tatsächlich liegt die Peppersheep schon vor Anker. Ihr frisch lackierter roter Rumpf glänzt in der Sonne. Ich kann meinen Vater sehen der gerade das Segel einholt. „Hallo Mr. Cresta!“, ruft Pon ihm zu. Er winkt herab zu uns, doch der Wind trägt die Worte von seinen Lippen fort ehe sie uns erreichen können. Ich winke ihm zurück und drehe mich dann extra für ihn einmal um mich selbst um ihm das neue Kleid in aller Pracht zu präsentieren. Wie eine Welle im Sonnenlicht bauscht sich der Stoff um mich auf. Anerkennendes Pfeifen und Klatschen ertönt vom Hafen her. Die Siegestour wird ein großes Ereignis, das kann ich spüren. Jeder wird zum großen Auftakt vor dem Rathaus kommen wollen. Vorsichtig lässt Pon meine Hand los. „Ich muss weiter, meine Familie suchen.“ Er zieht mich in eine Abschiedsumarmung. Der Schmerz in meiner Brust kommt zurück und ich drücke ihn fester an mich. „Versprich mir, dass du mich nicht alleine lässt“, flüstere ich in einem Anfall von Furcht. Er fühlt sich so klein an in meinen Armen. Zerbrechlich. „Ich bin für immer bei dir“, antwortet er leise. Als er den Steg zurück zum Hafen geht fühle ich wie der Wind auffrischt. Dunkle Wolken treiben über den Himmel. Pons Gestalt verliert sich in der Ferne und mit ihm verschwindet auch der letzte Rest Wärme. Er ist immer bei mir, doch nur in Gedanken. Selbst wenn er wollte könnte er mich nicht verlassen denn es sind allein meine Erinnerungen die ihn am Leben erhalten. Oder wie Finnick sagen würde: Dies ist nicht die Wirklichkeit. Alleine stehe ich auf dem regennassen Steg vor den Bootshäusern. Das Einzige was aus meiner Wahnvorstellung real ist, ist das heruntergekommene Fischerboot neben mir. Wind und Wasser haben sichtlich an der Peppersheep genagt, doch sie liegt nach wie vor an ihrem Platz neben dem windschiefen Bootshaus. Ich habe das Schiff nicht mehr wiedergesehen seit ich einst zu der Ernte für die 70. Hungerspiele aufgebrochen bin. Bis auf die Spuren der Zeit sieht es immer noch so aus wie in meiner Erinnerung. Meine Füße führen mich die schmale Holzplanke hinauf auf das Deck. Das blanke Holz knarrt unter meinen Schritten. Geistesabwesend lasse ich die Hand über die Reling gleiten. Es war nie viel, doch immerhin war das Schiff unser. Mein Vater und meine Mutter hatten sich das Schiff hart erarbeitet. Eines Tages hätten mein Bruder und ich es erben sollen. Ich weiß nicht wem ich dafür danken kann, dass die Peppersheep noch immer an ihrem alten Platz liegt. Wer hat den Platz in all den Jahren bezahlt? Zu meiner Scham habe ich das Schiff völlig vergessen, genauso wie ich fast meine Familie verdrängt hätte. Ich setze mich auf meinen alten Lieblingsplatz, gleich vorne am Bug. Meine Familie ist vielleicht nicht mehr da, doch hier fühle ich ihr Andenken so stark wie nie zuvor. Das Gesicht dem Himmel zugewandt strömen die Worte und Gedanken auf einmal aus mir heraus. „Papa, was soll ich nur tun? Sie wollen – Präsident Snow will, dass ich zurück zu den Spielen gehe, als Mentorin. Ich soll Kindern beim Sterben helfen!“ Ich weiß nicht ob es Tränen oder doch nur der Regen ist der meine Wangen herab läuft. „Ich kann das nicht, Papa. Ich habe doch kaum meine eigenen Spiele überlebt! Manchmal… manchmal stehe ich morgens auf und weiß kaum noch wer ich bin. Es gibt Tage… da wünschte ich mir ich wäre bei euch. Tot. Denn das Leben hier, das ist manchmal schlimmer als der Tod. Was soll ich nur tun, Papa?“ Ganz klein rolle ich mich zusammen, die Arme um die Knie geschlungen. Das Boot hebt sich leicht im Wellengang, ein beruhigendes Gefühl in einer Welt voller Chaos. Ich vermisse meine Familie so sehr, dass es schmerzt. Fast ist mir als könnte jeden Moment mein Vater eine warme Decke um meine Schultern legen und fragen „Welchen Träumen hängst du diesmal hinterher?“, wie er es so oft tat wenn ich bis spät abends am Bug saß. „Ich träume nur noch von Freiheit“, flüstere ich in den Wind hinein. Und trotzdem weiß ich, dass Snow seinen Willen bekommen wird. In das Gefühl von Hilflosigkeit mischt sich ein kleiner Funke Zorn. Mags Schicksal ist dem Kapitol völlig gleichgültig. Für sie ist es nur eine aufregende Chance mich weiter zu quälen. Was haben sie sonst davon mich in zurück in die Öffentlichkeit zu zerren? Die Spiele haben mir doch schon alles genommen. Aber dann muss ich an Finnick denken. Auch wenn Snow es eventuell nicht weiß, doch solange er die Macht über mich hat, hat er auch Finnick in der Hand. Er könnte es aber schon längst wissen, zischt eine Stimme des Zweifels in mir. Das könnte seine Rache sein, weil du ihn dem Kapitol weggenommen hast. Vielleicht geht es gar nicht um mich, sondern um Finnick. Nur weiß ich nicht warum Finnick diese Rache verdient hätte. Er ist der Liebling des Kapitols. Was könnte er getan haben, dass Snow uns dies antut? Nein, das bilde ich mir ein. Snow braucht keinen Grund um ein schrecklicher Sadist zu sein, das hat er schon in der Vergangenheit bewiesen. Vermutlich ist es ihm auch egal wie sehr es mich quält, Hauptsache er bekommt eine gute Show zu den Hungerspielen. Meine Gedanken beginnen sich im Kreis zu drehen, doch ich kann mich der Spirale nicht entziehen. Ich sitze da, den Blick unverwandt auf das graue Meer gerichtet und lasse mich in den Gedanken an Vergangenes und nie gewordenes ertrinken. Ob nur ein paar Minuten oder Stunden vergehen kann ich nicht sagen. Alles was zählt ist, dass ich meiner Familie nahe bin. Der Himmel ist immer noch undurchdringlich grau als die Planken hinter mir knarren. Müde hebe ich den Kopf, in der Erwartung Finnick oder einen der Mentoren zu sehen. Doch auf dem Deck steht eine zierliche blonde Frau. Zumindest glaube ich das, denn sie ist so dick in wärmende Wollkleidung und die typischen Wachshosen eines Fischers gekleidet, dass ich sie kaum erkennen kann. Unter einer dicken Mütze gucken jedenfalls blonde Locken und ein bleiches Gesicht hervor. „Annie?“, fragt sie zaghaft, jedoch ohne näher zu kommen. „Bist du es wirklich?“ Ihre grauen Augen sind weit aufgerissen. Verwirrt mustere ich sie. Woher kennt sie mich? Im gleichen Atemzug erinnere ich mich – natürlich kennt man mich. Ich bin schließlich die berühmteste Verrückte in ganz Distrikt vier. Als Antwort zucke ich nur mit den Schultern. Ich habe keine große Lust mit einer Fremden zu reden. Zu meiner Überraschung lächelt die Frau jedoch nur und kommt ein paar Schritte näher. „Ich wusste doch, dass du eines Tages wieder her kommen würdest!“ Ein begeistertes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht und plötzlich sehe ich ein jüngeres Mädchen vor mir, die mich anlächelt, mir erzählt, dass sie in der Schule ein Fest geben werden wenn ich die Hungerspiele gewinne. „Survy…“, rufe ich überrascht aus. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, doch jetzt sehe ich eindeutig die Spuren des fröhlichen Mädchens mit dem ich zur Schule gegangen bin in dem müden, dreckigen Gesicht der Fischerin. Offensichtlich bin ich nicht die Einzige die sich verändert hat. „Oh Annie, es ist so lange her.“ Traurig lächelt sie mich an. Ich will erst aufspringen und zu ihr laufen, doch dann bringe ich es nicht über mich. Stattdessen frage ich platt: „Was machst du hier?“ Etwas verlegen kratzt sie sich am Hinterkopf. „Nun, ich sehe hier ab und an nach dem Rechten. Mags hat mir das Geld gegeben um den Unterhalt für das Schiff weiter zu bezahlen und… ja ich hab ab und an mal geguckt ob alles noch in Ordnung ist. Falls du wiederkommen solltest.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Und jetzt bist du ja tatsächlich zurück gekommen.“ „Das hast du für mich getan?“, frage ich verblüfft. „W-warum?“ Betreten blickt Survy auf ihre Fußspitzen. „Na weil ich dir irgendwie helfen wollte. Wegen der ganzen Sache mit den Spielen und deiner Familie… ich dachte du würdest gerne ein Andenken an sie behalten. Davids Familie wollte mit der Sache nichts mehr zu tun haben.“ Vorsichtig blickt sie mich an. „Aber das fand ich falsch. Das Schiff war euer Leben, also hab ich drauf aufgepasst.“ Ich finde keine Worte die ausdrücken könnten was ich gerade empfinde. Während ich das Schiff völlig vergessen habe hat Survy anscheinend jahrelang auf es aufgepasst. Für mich. Anscheinend sehe ich wirklich geschockt aus, denn Survy hebt hastig die Arme und sagt abwehrend: „Es tut mir leid! Ich wollte nicht… ich dachte nur es könnte helfen.“ Immer noch sprachlos stehe ich einfach auf und schließe sie fest in die Arme. Es ist lange her, dass ich jemand anderen als Finnick oder Isla umarmt habe. Selbst Mags habe ich nicht oft umarmt. Doch in diesem Moment fühlt es sich richtig an. Kurz zögert Survy, dann schließt auch sie ihre Arme um mich. Fast augenblicklich fangen wir beide an zu schluchzen. „Danke“, flüstere ich leise. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)