Transformation von SimonStardust ================================================================================ Prolog: -------- Am helllichten Tage verschwinden keine Menschen. Zumindest hatte Sanji das bisher angenommen. Hunde vielleicht, möglicherweise auch Kinder, aber Erwachsene? Lächerlich. Abwartend blinzelte er ins tiefstehende Sonnenlicht, während er auf die gegenüberliegende Straßenseite starrte, um auf gar keinen Fall das Umschalten der Fußgängerampel zu verpassen. Seine Gedanken kreisten dabei um völlig profane Dinge wie den heißen Sex, den er vergangene Nacht noch gehabt hatte, seinen bevorstehenden Arbeitstag in Jeff‘s Bar oder auch, dass er seiner Schwester versprochen hatte, sie am Wochenende ins Kino auszuführen. Sie beide mochten Actionfilme mit Romantik und wenn er rechtzeitig reservierte, bekamen sie vielleicht noch Plätze für die Premiere des neusten Streifens mit der umwerfenden Boa Hancock als Hauptdarstellerin. Grünes Licht leuchtete ihm durch den Feierabendverkehr entgegen. Jetzt musste er sich beeilen. Diese Ampel hatte die verdammte Angewohnheit, zu vergessen, dass Menschen keine Flügel besaßen. „Entschuldigen Sie bitte!“ Bevor Sanji auch nur einen Fuß auf die Fahrbahn gesetzt hatte, wurde er am Arm berührt. Er wandte sich um und blickte in das flehende Gesicht einer südländischen Schönheit. Sie trug ein gepunktetes, weißes Sommerkleid und eine einzelne Rose im dunklen Haar. „Entschuldigen Sie“, wiederholte sie. „Können Sie mir vielleicht helfen?“ Sanji war der Letzte, der großen, braunen Augen eine Bitte abschlagen konnte. Er setzte sein charmantestes Lächeln auf, dann antwortete er: „Aber selbstverständlich, Madame. Worum geht es denn? Sanji ist mein Name übrigens.“ „Violet“, stellte sie sich vor, dann deutete sie auf eine schäbige Häuserzeile einige Meter weiter. „Mein Hund ist dort hineingelaufen und kommt nicht wieder, wenn ich nach ihm rufe. Ich habe Angst, dass ihm etwas passiert sein könnte.“ Es bedurfte keiner weiteren Erklärung mehr – die Gasse, die sie meinte, war eindeutig zu düster und zu verdreckt, als dass sich eine Lady dort hineinwagte. Oder überhaupt hineinwagen sollte. „Seien Sie ganz unbesorgt, ich kümmere mich darum“, versprach er, während er ihr im Gehen sachte eine Hand auf den Rücken legte. Er wollte ihr Sicherheit vermitteln, so wie er es stets zu tun pflegte, sobald er auf eine Frau mit Problemen traf. Denn wenn es nach ihm ging, dann war das als Mann seine höchste Pflicht. Bei der Gasse angelangt ließ er von Violet ab und spähte in das staubige Dämmerlicht hinein. Zu beiden Seiten türmten sich Müll und Gerümpel, seit Jahren vergessene Container rosteten in trauriger Gruppenlethargie vor sich hin und am hintersten Ende konnte er vor einem hohen Eisentor einen Lieferwagen ausmachen. Wer diesen dort geparkt hatte, musste erstaunliches Fingerspitzengefühl an den Tag gelegt haben. Oder aber – was wahrscheinlicher war – man hatte die Gasse um das Fahrzeug herum erbaut. „Weit kann er nicht gekommen sein“, meinte Sanji und fuhr sich nachdenklich durchs Nackenhaar, „aber Versteckmöglichkeiten gibt es viele. Wie heißt er denn?“ „Hierro Lágrima.“ „Ein Hund von Abstammung also? Mit echtem Stammbaum?“ „Ja. Ein Malteser. Er ist preisgekrönt. Bitte, wir müssen ihn unbedingt wiederfinden.“ Sanji drückte noch einmal ermutigend Violets Schulter, dann wagte er sich in die schmale Hölle aus Schmutz hinein, von der er bislang keine Ahnung gehabt hatte, dass sie nicht unweit von seinem Arbeitsweg existierte. „Hierro!“, rief er. „Hierro, wo bist du? Frauchen macht sich Sorgen! Na, komm!“ Sein suchender Blick schweifte über blinde, zerbrochene Kellerfenster. Keines sah danach aus, als wäre kürzlich ein Hund hineingefallen, und auch am Grunde von vergitterten Lüftungsschächten regte sich nichts. Eine beruhigende Feststellung, um ehrlich zu sein. „Hierro! Komm, sei ein Braver! Komm!“ Aufmerksam näherte sich Sanji dem Lieferwagen, umrundete ihn einmal, spähte darunter und wandte sich schließlich dem Eisentor zu. Die Abstände zwischen den einzelnen Stäben waren groß genug für ein Schoßhündchen, das sich auf der Jagd nach einer Ratte oder Ähnlichem unbedingt hindurchzwängen wollte. „Was ist mit dem Tor?“, rief Sanji Violet zu. „Kann er auf die andere Seite gerannt sein?“ „Warten Sie! Ich glaube, ich habe da eben etwas gehört!“ Aufgeregten Schrittes wagte sich Violet in die Gasse hinein und blieb dann mit dem Klackern von Absätzen vor einem Haufen aus Rohren und Kartonagen stehen. Schon wollte sie sich daneben niederknien, doch Sanji konnte das unmöglich geschehen lassen. Von einem Moment zum nächsten war er bei ihr und hielt sie galant von der – wie er fand – unwürdigen Bewegung ab. „Lassen Sie mich das machen. Ihr schönes Kleid wird dabei doch ganz schmutzig“, lächelte er sie an. „Und treten Sie etwas zurück. Das könnte eventuell gefährlich werden, sollte eines dieser Rohre ins Rollen geraten.“ Violet tat wie geheißen. So oder so war es für sie nun an der Zeit, die Bühne zu räumen. Selbst wenn im Hinblick auf Sanjis unverfälscht zuvorkommende Art der Hauch eines schlechten Gewissens in ihr aufkam. Sanji selbst zückte sein Smartphone, dann beugte er sich hinab, um in dessen Lichtkegel jedes Rohr einzeln zu inspizieren. Vielleicht hatte Hierro tatsächlich eine Ratte verfolgt und machte sich nun versteckt vor neugierigen Augen über seine Beute her. Dass der kleine Hund stecken geblieben war, schloss Sanji jedenfalls aus. Komm schon, du Scheißtöle, zeig dich! Ich hab nicht den ganzen Abend Zeit, in Kisten rumzuwühlen! Meine Schicht fängt bald an! Ja, manchmal hasste Sanji sich dafür, dass er zu schönen Frauen nicht nein sagen konnte. Er war ganz einfach zu weichherzig und schon oft hatten seine Kollegen ihn damit aufgezogen, dass es ihm eines Tages zum Verhängnis werden würde. Wie Recht sie doch behielten. Ein heftiger, betäubender Schmerz am Hinterkopf nahm Sanji den Fokus. Das Handy entglitt seinem Griff, dann brach schlagartig die Dunkelheit über ihn herein. Für einen Gedanken blieb ihm keine Zeit mehr. Sonst hätte er in diesem furchtbaren Moment wohl begriffen, dass es kein Hund war, der heute verschwunden war, sondern er. Am helllichten Tage. Kapitel 1 --------- Kid   Eine geschlagene halbe Stunde irrte ich nun schon umher und suchte nach dem richtigen Raum. Wer auch immer dieses Universitätsgelände entworfen hatte, hatte entweder geschielt oder gekifft und gehörte ungespitzt in den Erdboden gerammt. „Hörsaal 5, ganz leicht zu finden. Sie müssen nur zwanzig Treppen hoch, dreimal rückwärts um das Südgebäude hüpfen und Gedichte dabei aufsagen“, murrte ich in mich hinein und verfluchte die Trulla aus dem Büro aufs Wüsteste. „Leicht zu finden – am Arsch!“ Ich erreichte eine schwere, zweiflügelige Tür, hinter der der Laie allenfalls ein Virenlabor vermuten würde und keine Studenten, dann warf ich einen Blick auf die daneben angebrachte Plakette. Hörsaal 5. Offenbar war ich am Ende meiner Odyssee angelangt. Kurz schloss ich die Augen und atmete einige Male tief durch. Ich musste mich beruhigen. Unangebrachte Aggressionen schadeten dem Berufsstand und beeinträchtigen das logisch rationale Denken. Oft genug hatte man mir das während meiner Ausbildung eingetrichtert und nachdem ich deswegen beinahe meine Abschlussprüfung vermasselt hatte, war ich umsichtiger geworden. Zumeist jedenfalls. Ich klopfte an, dann ging ich hinein, ohne eine Antwort abzuwarten. Dem drögen Gemurmel nach zu urteilen hatte man mich nämlich überhaupt nicht gehört. Das erste, was mir von einer überdimensionalen Leinwand herab entgegenleuchtete, war der Querschnitt eines männlichen Geschlechtsorgans. Heilige Scheiße, sowas lernen die hier? Ich war darin geschult worden, mich von kuriosen Situationen nicht irritieren zu lassen, doch ganz glückte es mir diesmal nicht. Was vielleicht mit daran lag, dass ich für meine heutige Schicht meine Tablette weggelassen hatte und nun empfänglicher war für alles, das auch nur ansatzweise mit Sex zu tun hatte. Wahrscheinlich hatte ich mir unter dem Stichwort „Medizinstudium“ aber auch etwas mehr Spritzen und Blut vorgestellt. Meine Wangen waren zwar wärmer als sonst, aber ich selbst schnell wieder der Alte. Mit gewichtigen Schritten stieg ich die breiten Stufen zur Rechten des Saals hinab und behielt währenddessen die versammelte Studentenschar im Auge. Nicht einer von ihnen machte Anstalten, aufspringen und abhauen zu wollen. Gut für sie. „Kommissar Eustass von der Kriminalpolizei“, stellte ich mich unten beim Dozenten angekommen vor und hielt ihm meinen Dienstausweis unter die Nase. „Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Law Trafalgar. Laut Zeugenaussagen soll er sich donnerstags um diese Zeit regelmäßig hier aufhalten.“ Der Dozent sah mich durch seine Uhubrille hindurch verwirrt an, machte den Mund auf und wieder zu und wandte sich zu guter Letzt an die zur Hälfte besetzten Reihen vor sich. „Tra… falgar…?“, stammelte er mit einem hilflosen Blick auf die Studenten. Der hatte mit Sicherheit ungefähr genauso viel Ahnung davon wie alle anderen Dozenten auch, wer genau in ihren Vorlesungen saß – nämlich gar keine. „Ich bin das.“ Ein schlanker, schwarzhaariger Mann am Rand der dritten Reihe erhob sich. Er schien einfach nur abzuwarten, denn weder seine Stimme noch sein Gesichtsausdruck ließen irgendeine Gefühlsregung erkennen. „Ich möchte gerne mit Ihnen unter vier Augen sprechen“, sagte ich und nickte Richtung Ausgang. „Nach Ihnen. Und nehmen Sie Ihren Ausweis mit.“ Wir verließen begleitet vom Getuschel der anderen Studenten den Hörsaal und die ganze Zeit über bohrte sich mein Blick in seinen Nacken. Verdächtig wirkte er nicht gerade. Er trug ein einfaches, schwarzes Sweatshirt, dessen Ärmel er an den Unterarmen hochgekrempelt hatte, elegante Lederschuhe und eine Jeans. Wobei diese Jeans wahrscheinlich das engste Modell der Welt war und ich auf einmal nicht mehr nur aus Sicherheitsgründen froh darüber, hinter ihm zu gehen. Draußen angekommen verbannte ich jeden unanständigen Gedanken aus meinem Gehirn, dann dirigierte ich Trafalgar in eine abgelegene Ecke des Gebäudetraktes. „Ausweis“, schnarrte ich und bekam daraufhin wortlos das Plastikkärtchen entgegengehalten. Ich nahm es an mich und begann, die Person auf dem Foto mit der Person direkt vor mir zu vergleichen. Da blas mir doch einer das Hirn weg! Ist der heiß! Sein dunkles Haar war durcheinander wie das Klischee es von einem Studenten verlangte, die Koteletten vom Foto in ihrer Realversion bereits auf dem Weg zum Backenbart und der dazugehörige Kinnbart das alles entscheidende Detail. Gemeinsam mit jeweils zwei Ohrringen auf jeder Seite und markanten Tätowierungen, die sich über Hände und Arme zogen, fügte sich sein gesamtes Erscheinungsbild perfekt in mein Beuteschema ein. Die Daten auf dem Ausweis sagten mir, dass er exakt 1,91m groß war und somit immer noch ganze vierzehn Zentimeter kleiner als ich. (Ja, ich war ein Riese. Was mir aber den Vorteil von garantierter Einschüchterung verschaffte.) Seinem Teint nach zu schließen kam er nicht oft an die Sonne, schien aber dennoch genug Zeit für sportliche Betätigung zu finden, da sich sehnige Muskeln unter seinem Oberteil abzeichneten. Blaugraue Augen, von denen ich nicht wusste, ob sie geschminkt oder einfach nur endlos übermüdet waren, starrten mich mit einem Ausdruck an, den ich als Langeweile identifizieren konnte. Nun gut, ich brauchte mittlerweile eine halbe Ewigkeit für den Abgleich. „Es ist schon etwas älter, ich weiß“, sagte er. „Was?“, entgegnete ich irritiert. „Das Foto. Der Ausweis läuft bald ab.“ „Ach so, das. Nein, es ist alles in Ordnung.“ Ich zwang mich zurück zur Professionalität. „Sie sind also Herr Law Trafalgar, 26 Jahre alt, wohnhaft in Frevancestraße 7, Neustadt. Ist das richtig?“ „Ja.“ Ich gab ihm seinen Ausweis zurück, dann kam ich zu meinem eigentlichen Anliegen. „Sie werden verdächtigt, etwas mit dem Verschwinden von Herrn Sanji Vinsmoke zu tun zu haben. Mehreren Augenzeugen zufolge haben Sie heute gegen zwei Uhr morgens gemeinsam mit ihm Jeff‘s Bar verlassen.“ „Er ist verschwunden?“ Zu meinem Leidwesen klang die Verwunderung in Trafalgars Stimme echt. Selbst wenn seine Mimik sich kaum veränderte. „Allerdings. Sie sind der letzte, mit dem er gesehen wurde.“ „Und jetzt glauben alle, ich hätte ihn entführt und umgebracht. Verstehe.“ Er wich meinem Blick nicht einen Moment aus, während er das sagte. Angst hatte er also offenbar keine, doch die kühle Gelassenheit seiner Worte machte ihn mindestens genauso verdächtig. Psychopathen legten mitunter ein vergleichbares Verhalten an den Tag. „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, Herr Eustass“, fuhr er fort, die Hände in den Hosentaschen versenkt (wie zum Teufel passten die da rein?) und unablässig meinen Blickkontakt herausfordernd. „Um zehn Minuten nach vier war ich zu Hause, auch wenn das wahrscheinlich keiner bezeugen kann. Heute morgen bin ich um elf aufgestanden und habe meiner Mutter beim Einkaufen geholfen. Danach habe ich gelernt und bin seit achtzehn Uhr wieder an der Uni unterwegs. Das mit Sanji tut mir natürlich leid; er ist ein netter Kerl, sehr zuvorkommend. Ich hoffe, Sie finden ihn bald. Kann ich dann wieder zu meiner Vorlesung?“ Während er redete, hatten sich meine Augen zu Schlitzen verengt. Versteckt hinter gespielter Sachlichkeit war dieser Typ unverschämt dreist und das ging mir gegen den Strich. „Angenommen, ich glaube Ihnen auch nur ein Wort“, schnaubte ich, „dann bleiben immer noch zwei Stunden von zwei bis vier, für die Sie keine schöne Geschichte parat haben. Was haben Sie und Herr Vinsmoke während dieser Zeit getrieben?“ Noch mitten im Satz wurde mir klar, wie zweideutig dieser klang. Zur Hitze der Wut gesellte sich eine andere und ich konnte nicht verhindern, dass mein Kopf auf Tablettenentzug mir imaginäre Bilder von gedimmtem Licht, schweißnassen Körpern und vor allem schlanken, tätowierten Fingern bescherte. Verdammter Dreck! Kid, konzentrier dich! Das ist eine Befragung und kein Date! Ich war bereits mit Smile erotischen Abenteuern alles andere als abgeneigt, ohne jedoch wurde der Drang nach Sex und besonders Nähe mit jeder verstreichenden Stunde immer lästiger. Der einzige Grund, warum ich das Medikament für meine Schichten ab und zu aussetzte, war die Schärfung der Sinne, die damit einherging. Ich war dann für einige Zeit – Dank dieser ansonsten nichtsnutzigen Erbkrankheit – ein menschlicher Spürhund. Allerdings ein ziemlich notgeiler. Trafalgar legte den Kopf schief und ich glaubte, das Zucken eines Mundwinkels zu erkennen. „Getrieben ist genau das richtige Wort“, sagte er weiterhin vollkommen sachlich und machte mir somit klar, dass ich mit meiner frivolen Annahme richtig gelegen hatte. „Wir hatten Sex. Einen One-Night-Stand. Wenn Sie seine Wohnung durchsuchen, finden Sie in einem der Mülleimer vielleicht sogar das benutzte Kondom.“ Er war mir mit dem Oberkörper kaum merklich näher gekommen. Jedoch reichte es aus, um einen Hauch verführerisch herben Geruchs in meine Richtung zu treiben. Schlagartig verstand ich. Trafalgar war nicht nur dreist, er war sogar dreister als dreist und flirtete mit mir. Die Frage war nur, ob er es tat, um mich abzulenken, oder ob er es ernst meinte. „Selbst wenn“, erwiderte ich und erlaubte mir ein höhnisches Grinsen, „dann werde ich immer noch herausfinden müssen, ob die DNS-Spuren daran wirklich von Ihnen stammen.“ „Das ist richtig.“ Nichts weiter. Er war nicht auf die Vorlage eingegangen, die ich ihm so großzügig dargeboten hatte. War sein Interesse an mir ebenso geschauspielert wie der Rest oder einfach nur eine Einbildung meines Smile-losen Gehirns? „Aber Sie müssen auch zugeben, dass ich überhaupt kein Tatmotiv habe“, sagte er. „Vielleicht kenne ich es auch nur nicht“, knirschte ich und musste mir dennoch im Stillen eingestehen, dass er Recht hatte. Zumal das Zeitfenster von vier bis neunzehn Uhr, als uns der Anruf des Barbesitzers Jeff erreicht hatte, groß genug war, um Herrn Vinsmoke anderweitig etwas zustoßen zu lassen. Hatte ihn zwischendurch wirklich niemand mehr gesehen? Sauer, weil ich hier nicht weiterkam und Trafalgar anscheinend doch nichts von mir wollte, packte ich aus dem Nichts heraus seinen Arm und zog seine Hand näher zu mir. Dass er daraufhin empört die Stirn in Falten legte, war mir egal. Ich inspizierte lediglich die stilisierte Tätowierung eines Virus auf seinem Handrücken und das Wort „DEATH“, welches sich Buchstabe für Buchstabe über seine Finger zog. Mitglied einer bekannten Bande war er meines Erachtens nach nicht, dennoch fragte ich: „Das ist heutzutage erlaubt als Arzt? Sieht aus wie Knasttattoos.“ „Als Chirurg trage ich die meiste Zeit Handschuhe. Lassen Sie das meine Sorge sein“, erwiderte er und ich stellte zufrieden fest, dass seine Stimme einen gereizten Unterton angenommen hatte. „Außerdem stehen diese dummen Jugendsünden wohl kaum in Verbindung mit Sanjis Verschwinden. Ich würde wirklich gerne die Vorlesung weiterhören, wenn das alles war.“ Faktisch gesehen reichte die Beweislage nicht für eine Untersuchungshaft aus. Trafalgar war nicht vorbestraft, hatte keine polizeiliche Akte und alle drei Zeugen, die ihn mit Herrn Vinsmoke hatten verschwinden sehen und offenbar auch beide Männer besser kannten, waren vehement der Meinung gewesen, dass er zwar etwas mysteriös und kalt, aber ein durchweg guter Mensch war. Nur das nicht bestätigte Alibi sprach gegen ihn. Ohne weitere Erklärung ließ ich seine Hand los und hielt mir gleich darauf mein Handy ans Ohr. „Tashigi?“, plärrte ich hinein, kaum hatte sich meine Kollegin von der Zentrale gemeldet. „Du musst ein Alibi für mich überprüfen. Frevancestraße 7, Haushalt Trafalgar. Frag nach, ob irgendwer Herrn Law Trafalgar um vier oder wenigstens elf Uhr zu Hause gesehen hat. Danke, bis gleich.“ Ich steckte das Telefon wieder weg, dann entdeckte ich, dass man mich mit unbegeisterten Blicken aufspießte. „Ernsthaft?“, schnaubte Trafalgar und verschränkte die Arme. „Ja, ernsthaft. Ich mache keine halben Sachen“, entgegnete ich, verschränkte ebenfalls die Arme und lehnte mich auf den Rückruf wartend gegen die Wand. Dabei ließ ich Trafalgar nicht einen Moment aus den Augen. „Bleiben Sie ruhig. Sollte die Geschichte stimmen, die Sie mir erzählt haben, dauert es keine zehn Minuten und Sie können zurück in den Hörsaal.“ „Du.“ „Was?“ „Ich biete Ihnen hiermit das Du an.“ „Meinetwegen. Ich heiße Kid.“ Stille trat ein, nur durchbrochen von Gemurmel aus diversen angrenzenden Räumen und dem Surren einer verirrten Fliege. Ich musterte Trafalgar – nein, Law – erneut von oben bis unten und stellte fest, dass seine Tätowierungen symmetrisch waren. Auch auf beiden Unterarmen prangten stilisierte Viren. Ob er noch mehr von der Sorte hatte? Zugegeben, die Vorstellung, dies auf zweisam vertraute Art herauszufinden, gefiel mir immer besser. Besonders, da er mich ebenso eindringlich musterte. „Was genau lernt ihr da eigentlich? Sah ja spannend aus“, versuchte ich mein Glück erneut und hob vielsagend eine Braue. Ich weigerte mich, zu akzeptieren, dass ich mir dieses gewisse Etwas zwischen uns nur einbildete. „Urologie“, antwortete Law mit einem Seufzen, kam näher und lehnte sich zu mir an die Wand. Dann warf er mir einen Seitenblick zu und fügte mit gedämpfter Stimme an: „Kannst gerne eine Kostprobe haben, wenn du willst.“ Mein Grinsen zog sich von Ohr zu Ohr. Ich hatte eben doch richtig gelegen und die Aussicht darauf, dass sich meine unerhörten Fantasien schon bald bewahrheiten würden, brachte mein Blut in vorfreudige Wallung. Bevor ich allerdings eine Antwort geben konnte, klingelte das Handy in meiner Jackentasche. Sofort wurde meine Miene wieder ernst. Jetzt würde sich zeigen, wie ich weiterhin mit Law zu verfahren hatte. Ich nahm den Anruf entgegen, dann sprudelte Tashigis dauernervöse Stimme auch schon los. „Kid? Kannst du mich hören?“ „Laut und deutlich. Hast du was rausgefunden?“ „Es hat eine Weile gedauert, weil es zwei Haushalte Trafalgar unter der Adresse gibt, aber ich konnte eine gewisse Frau Lamy Trafalgar erreichen.“ „Lamy…?“, wiederholte ich und schielte dabei zu Law hinüber. „Meine Schwester“, meinte er knapp. „Ja, sie sagte, sie sei die Schwester von Herrn Law Trafalgar“, bestätigte Tashigi auch sogleich. „Sie konnte mir zu elf Uhr nichts Genaueres sagen, weil sie zu dem Zeitpunkt bereits arbeiten war, aber sie hat zumindest bestätigt, dass sie ihren Bruder um ungefähr vier Uhr heimkommen gehört hat. Sie musste um diese Zeit die Katze rauslassen.“ Womit Law vorläufig aus dem Schneider war. Sehr zu meiner Zufriedenheit, ehrlich gesagt. „Danke, das reicht“, sagte ich und wollte schon auflegen, doch Tashigi hielt mich zurück. „Kid, warte!“ „Was denn noch?“ Kurze Stille, dann: „Smoker hat es echt getan!“ Ich wusste sofort, wovon sie sprach. Dieses Thema beschäftigte uns beide schon seit Tagen. „Echt jetzt? Zu geil!“ „Ja, er hat einfach seinen Namen eingravieren lassen. Ich hab das genau gesehen, als er vorhin am Revier ankam. Er meinte, es wäre ihm völlig egal, ob die P30 eine Dienstwaffe ist oder nicht.“ „Cool, bei Gelegenheit muss ich mir das ansehen“, grinste ich in das Telefon hinein. „Bin gleich fertig hier. Bevor ich mich mit Shanks treffe, komm ich kurz bei euch vorbei. Liegt auf dem Weg.“ Ich beendete das Gespräch, dann sah ich Law vielversprechend an. „Hast du ein Glück, dass du eine Schwester hast, die mitten in der Nacht Katzen nach draußen lässt. Du kannst gehen und dir deine Vorlesung über Schwänze weiter anhören.“ Nur kurz stand ihm die Überraschung ins Gesicht geschrieben, machte aber gleich darauf wieder Platz für die übliche kühle Miene. „Das werde ich“, erwiderte er und gab seine Position neben mir auf. Bildete ich mir das ein, oder klang er enttäuscht? „Dann mal noch viel Erfolg bei den Ermittlungen. Ich hoffe, ich konnte wenigstens irgendwie behilflich sein.“ Er drehte sich um und ging mit leisen, federnden Schritten von dannen. Sein einladender Duft blieb noch einen Moment und ich ließ es mir nicht nehmen, vernebelt davon den Anblick seiner schlanken Silhouette zu genießen. Ehe ich den Mund aufmachte und ihm hinterherrief: „Ich kann dir meine Nummer geben, falls dir noch etwas zu dem Fall einfällt!“ Abrupt blieb er stehen, wandte sich nach mir um und schickte einen Blick in meine Richtung, der mir einen angenehmen Schauer den Rücken hinabjagte. „Ich habe bereits alles gesagt, was ich weiß.“ „Zu schade“, entgegnete ich amüsiert. Wohl nahm er es mir übel, dass ich sein Interesse an mir gerade ebenso wenig erwidert hatte wie er zuvor das meine an ihm. Er würde doch wegen einem kleinen, schmutzigen Spielchen nicht gleich aufgeben, oder? „Dann vielleicht für einen Termin?“, schlug ich mit gespielter Unschuld vor. „Was für ein Termin?“ Jetzt stand er eindeutig auf dem Schlauch. „Für diese Urologie-Sache“, grinste ich. „Mir war so, als hättest du mir da vorhin ein Angebot gemacht.“ „Oh, das.“ Ich konnte erkennen, wie sich sein Mund zum gefährlichsten Lächeln der Welt verzog. „Mach schnell, bevor ich es mir anders überlege.“   Triumphierend verließ ich das Universitätsgebäude. Wirkliche Fortschritte den Fall Vinsmoke betreffend hatte ich natürlich nicht gemacht, dafür aber den wohl unwiderstehlichsten Kerl an der Angel, der mir je begegnet war. Er war eisig und nicht leicht zu durchschauen; das komplette Gegenstück zu einem cholerischen Hitzkopf wie mir. Und doch befanden wir uns auf einer Wellenlänge. Irgendetwas war an ihm, das mich anzog wie Scheiße Fliegen, und ich würde herausfinden, was es war. Nichtsnutzige Sonne! Es ist halb neun vorbei und die ist immer noch da. Sommer ist lästig. Ich durchforstete meine Jackentaschen nach einer Sonnenbrille und setzte diese auf. Kein Smile bedeutete rückschließend auch erhöhte Lichtempfindlichkeit. Einer der Gründe, warum ich die Nachtschichten bevorzugte und meinem Partner Shanks, der eher der „Palmen, Strand und Sonne-Mensch“ war, damit gehörig auf den Geist ging. Apropos Shanks: Ob der wohl mehr Erfolg hat als ich? Es war seine beschissene Idee gewesen, dass wir uns aufteilten und ich Law befragte, während er den langen Fahrtweg zu Herrn Vinsmokes Familie auf sich nahm, die irgendein Bonzenanwesen außerhalb der Stadt besaß. Später wollte er sich mit mir bei der Wohnung des Vermissten treffen. Als ob das nicht Vorrang gehabt hätte. Aber was soll‘s? Er ist der Ältere von uns beiden und hat ja so viel mehr Erfahrung. Muss er dann eben auf seine Kappe nehmen, wenn es deswegen Ärger gibt. Und es gab oft Ärger, denn Shanks war alles andere als ein Vorzeigepolizist und hatte seine ganz eigene, ziemlich laxe Vorstellung von Recht und Ordnung. Ich erreichte mein Motorrad, atmete noch einmal tief durch, um eventuellem Wutrasen vorzubeugen (klappte sowieso nie) und setzte dann meinen Helm auf. Dadurch, dass Shanks für seinen Alleingang locker eine Stunde brauchen würde, hatte er mir zu einer willkommenen Pause verholfen. Welche ich nun auch gebührend in Anspruch nahm, als ich mit knatterndem Auspuff das Universitätsgelände verließ, mein Ziel die Polizeiwache Neustadts. Wenn Smoker sich gerade dort aufhielt, dann auch dessen Partner Zorro, mit dem ich seit der Ausbildung befreundet war. Nach meinem Abenteuer mit dem Medizinstudenten konnte ein kleiner Wortwechsel nicht schaden und sollte die Schlafmütze wirklich gar keine Zeit für mich haben, konnten Tashigi und ich zur Not immer noch über Smokers Pistole fachsimpeln. Kapitel 2 --------- Reiju   Schon seit Jahrzehnten war Familie Vinsmoke Spitzenreiter auf dem Gebiet der Waffenproduktion. Unter dem Namen Germa 66 hatte sie sich ein Imperium erbaut, welches unverzichtbar war für Regierungen und Streitkräfte aus aller Welt. Immer auf der Suche nach den neusten Technologien und auf stetes Wachstum bedacht räumte sie Konkurrenz unbarmherzig aus dem Weg; sei es durch Bestechung, Erpressung oder bloßes Aufkaufen. Gegner und Kritiker gab es natürlich viele, doch was wog schon das Wort von Aktivisten gegen das Geld unzähliger Käufer? Solange nicht die gesamte Menschheit lernte, Konflikte auf friedliche Weise zu lösen, und solange die Herrschenden dieser Welt abhängig waren von Germa 66, solange würde das Unternehmen auch bestehen. Auf einem sanft abfallenden Hügel, umgeben von lichten Buchenwäldern und beschaulichen Wiesen, erhob sich das Vinsmoke-Anwesen. Der Garten war großzügig angelegt und um diese Zeit im Juni erstrahlte er von der späten Abendsonne beleuchtet in flammender Pracht. Es war warm und vom Pool her drang Gelächter durch die Blumenrabatten und Formschnitte, gefolgt von lautem Platschen. Drei der vier Vinsmoke-Söhne lebten nach wie vor in Saus und Braus unter einem Dach mit ihrem Vater und ließen es sich nicht nehmen, nach einem anstrengenden Arbeitstag als angehende Geschäftsmänner der Dekadenz zu frönen. Ein schäbiger, weinroter Chevrolet Malibu mit Neustädter Kennzeichen bahnte sich soeben den Weg die verschwenderisch erbaute Serpentinenstraße hinauf. Zwischendurch hustete und spuckte er zwar ein paar Male, doch treu wie er war, erreichte er schließlich das Tor des Anwesens. Sofort war Wachpersonal zur Stelle und gab nach einer kurzen Diskussion das Anliegen des Besuchs per Fernsprechanlage an den Hausherrn weiter. Nahezu lautlos schoben sich daraufhin die Torflügel zu beiden Seiten auf und das Auto setzte sich mit einem Hüpfer erneut in Bewegung. Als der unerwartete Gast hereingebeten wurde, stand Reiju Vinsmoke gerade in der Lounge an der Hausbar. Eigentlich wollte sie nur eine Runde Drinks für sich und ihre Brüder mixen und anschließend ihren Platz auf einem Liegestuhl am Pool wieder beziehen, um Das Arroganz-Prinzip weiterzulesen. Die sich nähernden Stimmen ihres Vaters und des Fremden jedoch ließen sie hellhörig werden. „...sag ich doch nicht nein zu einem kleinen Gläschen!“ „Wenn Sie sich sicher sind? Hier entlang bitte.“ Die Tür wurde geöffnet und herein kam – gefolgt von der breitschultrigen Figur Jajji Vinsmokes – ein schlecht rasierter Mann Anfang 40 mit rotem, strähnigem Haar. Er trug ein schlampig zugeknöpftes, weißes Hemd und eine geblümte Caprihose, die wie geradewegs aus den Siebzigern entlaufen wirkte. Den starken Kontrast dazu bildeten einerseits die Waffe an seinem Gürtel und andererseits drei Narben, die sich fast senkrecht über sein linkes Auge zogen. „Wirklich schick haben Sie sich hier eingerichtet, Herr Vinsmoke!“, frohlockte er auch sogleich, während er sich beeindruckt umsah. „Da braucht man gar nicht mehr in den Urlaub zu fliegen, was?“ Es war eindeutig, dass er niedrigere Standards gewöhnt war, und sympathisch war er Reiju auch nicht. Was also wollte er hier? Und noch viel wichtiger: Weshalb hatte ihr Vater ihn in die Lounge eingeladen? „Aber wo bleiben denn meine Manieren?“ Jetzt hatte er Reiju entdeckt und ging geradewegs auf sie zu, um ihre Hand für einen Kuss an sich zu ziehen. „Mein Name ist Shanks. Und Sie müssen die bezaubernde Ehefrau Vinsmoke sein.“ Nicht hektisch, aber bestimmt entzog Reiju ihm die Hand, bevor sie sie ihm erneut hinhielt. Für einen Handschlag diesmal. „Tochter“, sagte sie nüchtern. „Willkommen in unserem bescheidenen Heim. Ich heiße Reiju und wenn Sie nichts Wichtiges mit mir zu besprechen haben, dann möchte ich Sie bitten, sich wieder an meinen Vater zu wenden.“ Shanks wurde nicht einmal rot, als er begriff, in welches Fettnäpfchen er gerade getreten war. Er lachte nur und begann wild Reijus Hand zu schütteln. „Oho! Aber selbstverständlich! Natürlich!“ Er wandte sich nach Jajji um, der sich bereits auf einem mit grauem Samt bezogenen Sofa niedergelassen hatte. „Eine wirklich erstklassige Tochter haben Sie da! Und so bildschön!“ Reiju wusste, dass sie eine gewisse Wirkung auf Männer hatte. Das blieb ganz einfach nicht aus, wenn man wie sie stets auf ein gepflegtes Äußeres bedacht und zudem mit ebenso üppigen Lippen wie auch Brüsten gesegnet war. Nicht besser machte es wahrscheinlich der Umstand, dass ihre einzige Kleidung im Moment ein verspielter Bikini mit einem Hausmantel aus schwarzem Chiffon darüber war. Dazu kam ihr von einem Reif zurückgehaltenes, pinkes Haar, das mysteriös ihr rechtes Auge verdeckte und die Angewohnheit hatte, sich wie eine exotische Blume in Gedächtnisse einzubrennen. All jene lechzenden Dummköpfe, die sich von ihrem Aussehen blenden ließen, spielten allerdings ein verlorenes Spiel mit ihr. Aus Prinzip ging sie nicht auf Avancen ein und beherrschte das knallharte Pokerface einer Geschäftsfrau. Immerhin war auch sie eine Vinsmoke mit einem Ruf, den es zu bewahren galt. „Danke für die Komplimente“, sagte sie kalt. Wenigstens hatte der Trottel aufgehört, ihr die Hand zu zerquetschen. „Ich weiß, dass ich eine erstklassige Tochter habe“, kam es da prahlerisch von Jajji. „Ich bin auch sehr stolz auf sie. Erst vor einem Monat hat sie die Geschäftsleitung von Werk 3 übernommen. Sie macht ihre Sache gut und steht mir in kaum etwas nach. Wahre Perfektion.“ „Also, wenn Sie das daran messen wollen...“ Shanks schien nicht ganz einverstanden damit, wie Wertschätzung im Hause Vinsmoke gehandhabt wurde. Reiju hingegen reagierte mit einem kleinen Lächeln und einem „Danke, Papa“, dann griff sie nach einer Limette, um diese aufzuschneiden. „Aber sind Sie nicht aus einem ganz anderen Grund hier, Shanks?“ Jajji wies einladend auf das Sofa schräg rechts von sich. „Nehmen Sie Platz und dann erzählen Sie bitte, was genau einen Kriminalbeamten wie Sie hierher führt.“ Es war nach außen hin nicht sichtbar, doch das Wort „Kriminalbeamter“ ließ in Reijus Kopf die Alarmglocken schrillen. Sie befestigte einzelne Limettenscheiben an Glasrändern und hatte dennoch aus dem Augenwinkel im Blick, wie Shanks sich nun zu ihrem Vater gesellte. Die Methoden von Germa 66 waren nicht immer das, was man als rechtskonform bezeichnete, und genau aus diesem Grund vertraute sie dem Eindringling von Sekunde zu Sekunde weniger. Ihre einzige Hoffnung war, dass ihr Vater, der völlig gelassen blieb, die Situation unter Kontrolle hatte. „Reiju, wenn du so freundlich wärst und uns zwei Gläser und eine Flasche Gin bringen könntest?“ Die Formulierung war präzise gewählt und nicht das, was Reiju zu hören gehofft hatte. Nur ein oder zwei andere Satzteile und es wäre für sie die versteckte Aufforderung gewesen, das Glas für den Gast mit Gift zu präparieren. „Sofort, Papa.“ Sie platzierte das Gewünschte auf einem Tablett und umrundete die Bar, um es vor Jajji auf dem Kaffeetisch abzustellen. Danach zog sie sich wieder zurück. Nicht jedoch ohne Shanks einen warnenden Blick zukommen zu lassen. Sollte er sich auch nur den kleinsten Fehltritt erlauben, so hatte sie das Küchenmesser in Griffweite. Gönnerhaft lächelnd schenkte Jajji Shanks und sich ein und bot dabei mit seiner massigen Gestalt einen durchaus imposanten Anblick, den man in der Geschäftswelt zu respektieren gelernt hatte. Markenzeichen war dabei nicht nur seine ausladende, blonde Haarmähne und der Schnauzbart, auf den ein jeder Musketier stolz gewesen wäre, sondern auch die an einem Ende merkwürdig gekringelten Augenbrauen, welche er an jedes seiner Kinder vererbt hatte. „Bitteschön. Ein edler Tropfen aus eigenem Wacholderanbau.“ Er reichte Shanks das Glas, der anerkennend nickte, einen Schluck davon nahm und noch viel anerkennender nickte. „Das nenn ich mir einen Schnaps! Den würde ich sofort flaschenweise kaufen!“ „Nachher sehr gerne. Wenn Sie nun...“ „Richtig! Meine Arbeit!“ Schlagartig verschwand das vergnügte Lachen aus Shanks’ Gesicht und wich einer zutiefst ernsten Miene, die weder Jajji noch Reiju an dem Polizisten erwartet hatten. Er stellte das Glas nieder, verschränkte die Finger beider Hände ineinander und sagte schließlich mit belegter Stimme: „Es tut mir sehr Leid, Herr Vinsmoke, Ihnen mitteilen zu müssen, dass seit heute Nacht um zwei Uhr ihr Sohn Sanji als vermisst gilt.“ Bis hierhin hatte Reiju unter Anspannung das Geschehen verfolgt, jederzeit bereit zu handeln, sollte es zur Auseinandersetzung kommen. Die so unerwartete Nachricht aber traf sie an einer in diesem Moment völlig ungeschützten Stelle, die sie dem Erfolg zuliebe stets wegzusperren pflegte, und beinahe hätte sie mit der Sodaflasche in ihren Händen ein Glas umgestoßen. Beinahe. „Noch vermisster als für gewöhnlich? Ist das alles?“ Jajjis Stimme schallte unbarmherzig durch den Raum, gab Reiju klar zu erkennen, dass sie Haltung bewahren musste, und löste bei Shanks Verwirrung aus. „Als für gewöhnlich?“, wiederholte er. „Wie darf ich das verstehen? Ist der Junge… dauerverloren gegangen, oder wie?“ „Vor Jahren meinte der Nichtsnutz, er müsse nach Frankreich auswandern, um Koch zu werden.“ In Jajjis Blick lag reine Verachtung. „Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Und es ist mir auch egal.“ Jetzt glich Shanks einem Mensch gewordenen Fragezeichen. „Er… wohnt aber doch nicht weit weg von hier in Neustadt?“ „Tut er das, ja? Wie schon gesagt: Ist mir egal.“ Jajji nahm einen Schluck vom Gin und sah Shanks mit Nachdruck an. Dieser starrte noch einen Augenblick entgeistert ins Leere, sammelte sich aber dann und hakte nach: „Also hat niemand hier in letzter Zeit Kontakt zu ihm gehabt, ist das richtig?“ „Niemand, nein.“ Eigentlich hätte diese schnelle und bestimmte Antwort genügen müssen. Zumindest wäre es Reiju lieb gewesen. Kriminalbeamte jedoch waren gewiss nicht von gestern und somit Shanks’ Blick, der zu ihr herüberwanderte, ein Übel, mit dem sie gerechnet hatte. „Was ist mit Ihnen, Reiju? Haben Sie Kontakt zu Ihrem Bruder?“ Fakt war, dass sie sehr wohl Kontakt zu Sanji hatte. Genauer gesagt hatte sie ihn nie abgebrochen. Sie hatte alles miterlebt: Die fortwährenden Demütigungen zu Hause und sein Verzweifeln am väterlichen Drill, sein Verschwinden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, den Kampf um Ausbildungsplatz, Miete und die gesamte Existenz in einem fremden Land und letztendlich auch, wie er wieder zurückgekehrt war. Sie hatte ihm sogar geholfen, indem sie ihm einen ordentlichen Job in einer Bar vermittelt hatte. Alles hinter dem Rücken ihrer restlichen Familie. „Nein“, antwortete sie kopfschüttelnd und stellte der Reihe nach die angerichteten Mojitos auf ein zweites Tablett. Dann blickte sie direkt in Shanks’ wachsame Augen. „Niemand hier hat Kontakt zu Sanji.“ „Tja, das ist dann wohl… sehr schade.“ Shanks zog eine bedauernde Grimasse und kratzte sich am Kopf. Wahrscheinlich hatte Reiju soeben den ganz richtigen Eindruck noch verstärkt, dass Sanji in diesem Haushalt ein Tabuthema war. Sollte ihr Recht sein. Solange sie nur nicht zugeben musste, wie viel er ihr bedeutete, und damit bei ihrem Vater in Ungnade fiel. Sie nahm das Tablett, balancierte es auf einer Hand und meinte dann: „Ich bin wieder draußen beim Pool, wenn es genehm ist. Außer, es gibt noch etwas, das Sie mich fragen möchten, Shanks.“ „Das gibt es in der Tat.“ Fast wäre Reiju das Herz in die Hose gerutscht, doch Shanks, der sich erhoben und schnell den Gin geleert hatte, nahm nun einzig die Drinks in Augenschein. „Das ist ganz schön viel Alkohol für eine junge Frau alleine. Also gehe ich entweder der Annahme, dass ich eingeladen bin, oder hinterm Haus steigt eine Poolparty.“ „Oh, Sie meinen die Mojitos. Die sind für meine Brüder.“ „Noch mehr Brüder?“ Schwer beeindruckt hob Shanks die Brauen und wandte sich Jajji zu. „Da waren Sie aber ganz schön fleißig, mein Guter! Wäre es in Ordnung, wenn ich Ihre Söhne auch noch befrage? Nur der Vollständigkeit halber.“ „Nur zu“, nickte Jajji. „Reiju, wenn du unserem Gast bitte den Weg zeigen würdest?“ „Kommen Sie mit.“ Ein aufgesetztes Lächeln verbarg ihre wahren Gedanken und Gefühle, während sie Shanks durch die Hintertür auf die mediterran gestaltete Terrasse hinausführte. Abgesehen von einer Sitzgruppe, wo sie ihr Tablett abstellte, einem Grill und einem von Palmen gesäumten Säulengang befand sich hier ebenfalls der sanft abfallende Einstieg des mit Natursteinplatten gefliesten Pools, der weiter hinten an Tiefe gewann und zum ausladenden Schwimmteich wurde. „Hey, Reiju!“ „Bist du endlich fertig? Hat voll lange gedauert!“ „Wer ist denn der Spacko da?“ Drei Gestalten kamen nähergeschwommen, eine anmaßender als die vorherige. Geschwister suchte man sich eben nicht aus. „Entschuldigen Sie bitte das Verhalten meiner Brüder.“ Eine abgenutzte Floskel, die Reijus Mund nur der Höflichkeit wegen verließ. Wenn es nach ihr ging, hatten sich die vier unverschämten Männer allesamt untereinander verdient. Bestätigt wurde sie in dieser Annahme zusätzlich, da Shanks lachend abwinkte. „Ach was! Das sind doch drei ordentliche Burschen. Denen werde ich die Ohren schon noch langziehen, sollte Bedarf bestehen.“ Einen nach dem anderen spuckte das Wasser die „ordentlichen Burschen“ nun aus und offenbarte somit, dass jeder von ihnen nicht nur knalliges Haar in jeweils einer anderen Farbe hatte, sondern auch exakt dazu passende Badehosen. Entfernt erinnerten sie an ein gewisses Enten-Trio aus diesen allseits bekannten Comics. Reiju gab ihr Bestes, beide Parteien untereinander bekannt zu machen. „Ichiji.“ Rote Haare, rote Hose und ein überhebliches Lächeln. „Niji.“ Blaue Haare, blaue Hose und ein breites Feixen. „Yonji.“ Grüne Haare, grüne Hose und ein verschlagenes Grinsen. „Und das hier ist Shanks von der Kriminalpolizei. Er möchte euch ein paar Fragen bezüglich Sanji stellen.“ Sofortiges Gelächter ertönte und obwohl sie es erahnt hatte, fühlte Reiju einen Stich in ihrer Brust. Umso schlimmer, dass sie, um den Schein zu wahren, ein ähnlich bedauerndes Kichern von sich geben musste. „Die können Sie gerne stellen!“, krakeelte Niji an Shanks gewandt. „Wird nur nicht so viel zu beantworten geben!“, fügte Yonji an, der sich an der Schulter seines Bruders festhalten musste, um vor Lachen nicht umzufallen. „Amüsiert euch“, schaltete sich Reiju dazwischen. Sie hatte ihr Buch aufgehoben und zog den Mantel enger um sich. „Ich gehe auf mein Zimmer. Allmählich wird mir hier draußen doch etwas kalt. Shanks, wenn Sie möchten, können Sie meinen Drink haben.“ Nach einem Cocktail war ihr nun wirklich nicht mehr zu Mute. „Wow! Dankeschön! Sehr zuvorkommend!“ Sogleich grabschte er sich ein Glas vom Tablett und prostete Reiju zu. Diese setzte noch ein letztes, freundliches Lächeln auf, dann drehte sie sich um und verließ die Terrasse, bevor ihre aufsteigende Wut am Ende doch noch überhand nahm.   Oben in ihrem Zimmer angelangt schloss Reiju leise die Tür, legte das Buch auf den Schreibtisch und sank langsam auf der Bettkante nieder. Ihre Hände zitterten und sie versuchte dies zu kaschieren, indem sie ihre Finger immer wieder in ihre von halbtransparentem Stoff verdeckten Oberschenkel grub. Selbst jetzt noch, da sie alleine war, gestand sie sich keine Gefühlsregung zu. Eine solche wäre nur hinderlich bei jeglichem Unternehmen. Und unternehmen musste sie etwas. Sie konnte sich nicht auf einen heruntergekommenen Polizisten verlassen, der sich lieber gemeinsam mit ihren Brüdern betrank als wirklich an seinem Fall zu arbeiten. Mit mehr Schwung als beabsichtigt stand sie auf und fischte ihr iPhone vom Nachtkästchen. Schnell hatte sie Sanjis Nummer gewählt und wartete mit bange pochendem Herzen auf eine Reaktion. Es tutete einmal. Zweimal. Dreimal. … Reiju hörte auf zu zählen und begann stattdessen unruhig in ihrem Zimmer auf und ab zu gehen. Sanji musste einfach an sein Handy gehen. Er musste! Sie hatten sich doch vor zwei Tagen noch für dieses Wochenende zu einem gemeinsamen Abend mit Kino und selbstgemachtem Essen verabredet! Endlich erklang das Geräusch eines angenommenen Anrufs. „Sanji! Verdammt, was bin ich froh, dass ich dich erreiche! Die Polizei war gerade hier und...“ „...sprechen Sie bitte nach dem Signalton.“ Es war die verdammte Mailbox. „Sanji, bitte!“ Sie wollte nicht glauben, dass dieser Shanks wirklich Recht behalten sollte, und drückte rabiat auf Wahlwiederholung. Ihre Augen brannten und sie hatte das Gefühl, als müsse sie sich jeden Moment übergeben. Schon oft hatte sie sich um ihren kleinen Bruder Sorgen gemacht, nicht jedoch in diesem Ausmaß. „Leider ist der angerufene Teilnehmer gerade nicht erreichbar. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen wollen...“ Reiju legte auf und rief wieder an. Es konnte einfach nicht wahr sein. Bestimmt hatte Sanji sein Handy nur verlegt oder irgendwo vergessen. Warum aber dann liefen ihr heiße Tränen die Wangen hinab? Und warum konnte sie sich nicht länger auf den Beinen halten, sondern sackte kraftlos an ihrem Schreibtisch zusammen? „Leider ist der angerufene Teilnehmer...“ Erneut abgewürgt, erneut angerufen. Immer und immer wieder, während eine ihr unbekannte Panik schleichend von ihr Besitz ergriff und sich eiskalt an ihren Nacken klammerte. Unzählige absurde und grausame Szenarien schossen ihr durch den Kopf. Wieso Sanji? Wo war er? War es ein Unfall gewesen oder gab es Schuldige? Hatte man ihn niedergeschlagen? Ertränkt? Gevierteilt? An Fleischerhaken zum Ausbluten aufgehängt, um eine nicht existierende, finstere Gottheit zu besänftigen? „Leider ist der...“ Mit einem undefinierbaren Zischen warf Reiju das Telefon vor sich auf den Tisch und begrub ihr Gesicht in den Händen. Sie wusste nicht, wie lange sie hier schon so saß und langsam versiegten auch ihre letzten Tränen. Sie hatte einfach keine Kraft mehr, um weiterzuweinen. Sanji war das einzige an Herzenswärme, das es in ihrem Leben noch gab, seit ihre Mutter kurz nach der Geburt der Vierlinge erkrankt und wenige Jahre später schließlich gestorben war. Er hatte ihr immer wieder Kraft gegeben und sie aufgemuntert, wenn die Karriere unnötige Skrupellosigkeit von ihr abverlangt hatte oder sie einfach erschöpft gewesen war vom Umgang mit dem Rest der Familie. Nun aber war er unerreichbar. Fort. Vermisst, wenn sie der Polizei tatsächlich Glauben schenken konnte. Wobei da aber grundlegend etwas keinen Sinn ergab. Selbst wenn sie sich aberhunderte von schrecklichen Tathergängen ausmalte – wer hätte diese denn ausführen sollen? Sanji war flink und hatte einen schwarzen Gurt im Kickboxen. Gegen einen dahergelaufenen Kleinkriminellen hätte er sich auf jeden Fall zu behaupten gewusst. Außerdem war er beliebt und hatte dort, wo er arbeitete, viele Freunde gefunden. Niemals hatte er auch nur irgendjemanden erwähnt, der ihn hasste oder mit dem es ernstzunehmende Probleme gab. Kurzum: Feinde hatte er keine. Oder vielleicht doch? War die Familie Vinsmoke nicht sein größter und auch offensichtlichster Feind? Plötzlich saß Reiju kerzengerade in ihrem Stuhl und ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab. So sehr sie es auch wollte, sie konnte beim besten Willen nicht ausschließen, dass ihr eigener Vater oder noch viel wahrscheinlicher ihre dummen Brüder mit Sanjis Verschwinden zu tun hatten. Zu oft fiel das Wort „Nichtsnutz“ mit ihm im Zusammenhang. Sollte sich nun in einer der vielen Waffenfabriken ein Weg gefunden haben, wie er sehr wohl von Nutzen sein konnte… Nein, der Satz war zu scheußlich, um ihn weiterzudenken. Abrupt stand Reiju auf. Sie brauchte Beweise. Ihr Problem dabei war nur, dass sie zwar sehr wohl wusste, wo und wie diese zu finden waren, doch ein Eindringen in das Privatbüro ihres Vaters wäre erstens ein riesiger Vertrauensbruch und zweitens etwas, das ausgeklügelter Planung bedurfte. Heute nicht. Nein, das geht unmöglich. Nicht, solange er im Haus ist. Was aber ist mit morgen? Ist er da nicht eingeladen bei diesem… wie hieß er noch gleich? Irgendetwas mit „Don“…? Die zarte Melodie von Edvard Griegs Morgenstimmung, die aus den Lautsprechern ihres iPhones tönte, riss sie aus ihren Gedanken. Es war der Klingelton, den sie für Sanji eingestellt hatte. Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie sich um Punkt 22 Uhr verzweifelter auf ein Telefon gestürzt. Kapitel 3 --------- Zorro   Auf Laborergebnisse warten war noch nie meine Lieblingsbeschäftigung gewesen. Vor allem deswegen nicht, weil man die Zeit dazu nutzen konnte, im Zweifinger-Suchsystem mit immer tiefer sinkendem Energiepegel einen Zwischenbericht zu tippen. Ich hasste diesen Leistungsabfall, konnte mich aber genauso wenig dagegen wehren. Noch dazu verschwammen die mühselig zusammengeschusterten Sätze immer wieder vor meinen Augen. Kid hatte während der Vorlesungen an der Polizeiakademie regelmäßig behauptet, meine Legasthenie werde eines Tages der Grund sein, weshalb ich freiwillig den Dienst quittierte. Ja, das dachte der sich wohl so! Niemals! Stur fügte ich weiterhin wohl durchdachte Kommata in meinen kurzen Text ein, rieb mir dann aber mit dem Handballen die Schläfe und lehnte mich in meinem Bürostuhl zurück. Warum war das anstrengender als fünf Stunden Gewichte stemmen? Und warum gab es hier auf der Wache keinen Technikfirlefanz, der Sprache in Geschriebenes umwandelte? Ich musste wirklich kurz meine Augen ausruhen. Nur für fünf Minuten. Oder zehn. „Aufstehen, stramm stehen, Alter! Hier wird nicht gepennt!“ Kids schnarrende Stimme und seine Faust, die auf die Tischplatte donnerte, rissen mich aus einem wohlig warmen Dämmerdunkel. Mit ihm als Freund brauchte man keine Feinde mehr. Zerknirscht kratzte ich mich am Kopf und spähte ihn durch zusammengekniffene Augen hindurch an. „Kann ja nicht jeder Nachteule sein.“ „Es ist draußen noch nicht mal dunkel?“ Er hob eine Braue, als wäre ich der Seltsame von uns beiden und nicht er, dann setzte er seinen energiegeladenen Weg zum Schreibtisch nebenan fort. Mit einem zentnerschweren Geräusch landete seine Motorradjacke auf der Computertastatur und er selber auf seinem Stuhl, in welchem er die Beine weit von sich streckte und mich dann mit hinter der feuerroten Stachelfrisur verschränkten Händen ansah. „Was ist?“, brummte ich. „Ich bin doch wach.“ „Wieso schreibst du schon wieder Berichte? Ich dachte, ihr wärt durch mit dem Silverfox-Fall.“ „Die illegalen Straßenrennen?“ Ich nickte. „Die Verantwortlichen sitzen alle hinter Schloss und Riegel. Hat lange genug gedauert. Nein, wir sind schon an was Neuem dran. Müssen aber gerade auf das Labor warten.“ „Tote?“ Kid griff unter seinen Schreibtisch und zog eine der Wasserflaschen hervor, die er dort zu bunkern pflegte. „Ein Radfahrer“, bestätigte ich, während ich verständnislos dabei zusah, wie er sich ohne Mühe den ganzen Liter in den Schlund kippte. „Ein Förster hat ihn im Wald gefunden. Er scheint von der Straße abgekommen und eine steile Böschung hinuntergerutscht zu sein. Wir sind uns nicht ganz sicher, aber… Kid, noch eine Flasche?“ Eigentlich sollte ich mich an den Anblick mittlerweile gewöhnt haben, doch nach wie vor konnte ich mir nicht vorstellen, dass so viel Wasser im Bauch praktisch oder überhaupt gesund war. „Wie oft noch?“, fauchte Kid, der wie immer gereizt auf dieses Thema reagierte. „Ich bin krank! Mein Stoffwechsel funktioniert völlig anders als deiner!“ Womit er auch schon einen zusätzlichen halben Liter in einem Zug ausleerte. Oft hatte er mir bereits zu erklären versucht, was genau es mit seiner Krankheit auf sich hatte. Es war irgendetwas Vererbtes mit einem Namen, den ich mir nicht merken konnte, und laut Kid wohl auch so selten, dass es weltweit nur eine Hand voll Konzerne gab, die Medikamente dagegen herstellte. Diese Medikamente allerdings musste er sein Leben lang nehmen und bewahrten ihn ausschließlich vor den schlimmsten Auswirkungen, die unter anderem Geschwürbildung und Ähnliches beinhalteten. Einzelheiten hatte ich schon wieder vergessen. Ich wusste nur, dass er Wasser saufen konnte wie ein Kamel, ganz im Gegensatz dazu scheinbar nie dringend aufs Klo musste und außerdem eine ganze Palette an Lebensmittelunverträglichkeiten hatte. In Fastfoodläden beispielsweise bestellte er sich jedes Mal Pommes ohne alles und schon nach dem kleinsten Tropfen Alkohol konnte man ihn im Krankenhaus einliefern. Meiner Meinung nach war er eine arme Sau, aber da er offenbar nichts anderes kannte, juckte ihn das wenig. Dass man ihn trotz einer Stoffwechselkrankheit, die noch dazu die regelmäßige Einnahme von Tabletten voraussetzte, zur Polizeiausbildung zugelassen hatte, war ein Zeugnis von seinen übrigen Fähigkeiten. Eigentlich war beides ein Ausschlusskriterium und ich hatte mir damals eingebildet, dass ich bereits Stuss gehabt hatte mit meiner Legasthenie und der ausgeprägten Rechts-Links-Schwäche. „Also, wie war das jetzt?“, hakte er ungeduldig nach und knickte währenddessen Metallteile vom Flaschendeckel ab. „Wobei seid du und dein Alter euch nicht sicher?“ Meine Stirn legte sich in Falten. Kid hatte das absichtlich so formuliert. Er war der einzige hier, dem ich anvertraut hatte, dass Kommissar Whitehunter nicht nur mein Partner, sondern auch mein Erzeuger war. Sobald wir unter uns waren und seine Laune gerade wieder mies, rieb mir Kid dieses Wissen gerne unter die Nase. Ich entschied mich dazu, es diesmal zu ignorieren. „Es könnte ein Unfall mit Fahrerflucht gewesen sein. Das Fahrrad sah dementsprechend ramponiert aus. Genaueres wissen wir, sobald die Laborergebnisse da sind.“ „Und jetzt hat Smoker dich dazu verdonnert, einen Zwischenbericht zu schreiben. Richtig?“ Ich gab nur ein Brummen von mir und wandte den Blick ab. Niemanden sonst nahm mein Erzeuger so sehr in die Mangel wie mich. Wahrscheinlich hasste er mich einfach. Doch ich hatte meinen Stolz und würde mit Sicherheit keinen neuen Partner beantragen. Mich vor ihm beweisen zu wollen, war eines meiner höchsten Ziele, und nirgends ließe sich das besser umsetzen als auf der Arbeit. Unser Gespräch hatte einen Nullpunkt erreicht und Kid reagierte so höflich er konnte darauf, indem er sich mit noch intensiverem Interesse dem Flaschendeckel widmete. Ein Anblick, den ich nach reiflicher Überlegung unglaublich nervtötend fand. „Was ist mit dir?“, wollte ich ihn daher ablenken. „Wo hast du Shanks gelassen?“ „Der ist wahrscheinlich einen hinter die Binde kippen. Wo sonst?“ Kid ließ sich nicht ablenken und sah mich nicht einmal an, während er sprach. „Vermisstenfall. Irgendsoein blonder Barkeeper mit bescheuerten Augenbrauen. Ach, Scheiße!“ Er hatte erfolgreich eines der Metallteile in der Wasserflasche versenkt. Mir hingegen hatte es soeben den Boden unter den Füßen weggerissen. „Was hast du gerade gesagt?“ „Mir ist das behinderte Ding da reingefallen!“ „Das meine ich nicht! Das davor!“ Überrascht hob Kid den Kopf und starrte mich an. Eventuell war ich zu laut geworden. „Wir suchen einen Barkeeper“, wiederholte er argwöhnisch. „Blond mit Pony vor dem rechten Auge. Hat einen Busfahrerbart und Kringelaugenbrauen. Sanji Vinsmoke. Kennst du den etwa?“ Mein Magen zog sich zusammen. „Kennen ist übertrieben. Manchmal gehe ich in Jeff’s Bar einen trinken und er arbeitet da und...“ Hitze stieg in mir auf und ich bemerkte, dass ich mich gerade in etwas hineinmanövrierte, das eindeutig zu viel verriet. Schnell rettete ich mich, indem ich wütend wurde. „Er ist ein affiger Möchtegern-Casanova! Ein zweitklassiger Kneipenkoch! Trägt den Weibern den Arsch hinterher und hüpft jede Nacht mit einem anderen ins Bett! Geschieht dem ganz Recht, dass er weg ist!“ So. Das musste mal gesagt werden. Zuerst hob Kid die eine Braue, dann hob er die andere. Sein Grinsen, welches dabei immer breiter wurde, behagte mir nicht. „Du stehst auf ihn.“ Mitten ins Schwarze. Kids Gespür für solche Dinge befand sich auf einem Nerven zersägenden Level. „Tu ich nicht!“, wehrte ich ab, aber vergebens. „Er hat also jede Nacht einen anderen. Interessant.“ Seine Miene war nachdenklich geworden. „Kennst du dann auch einen gewissen Law Trafalgar?“ „Nie gehört!“, blaffte ich mit vorgeschobenem Unterkiefer. Ich wollte nichts wissen über die unzähligen Eskapaden dieses Flittchens von einem Koch und noch viel weniger wollte ich zugeben, dass ich tatsächlich schon länger ein Auge auf ihn geworfen hatte. Bevor ich von seiner flatterhaften Natur erfahren hatte, wohlgemerkt. Es war nicht so, dass es mir peinlich gewesen wäre, vor Kid zuzugeben, dass ich auf einen Mann stand. Immerhin nagelte der selber alles, was bei drei nicht auf dem Baum war. Nein, viel peinlicher war die Tatsache, dass es sich um diesen Sanji handelte, bei dem die Chance auf etwas Festes bei ungefähr minus Null lag. „Schade.“ Endlich schraubte Kid die Flasche zu und stellte sie weg. „Er war der letzte, mit dem man Sanji gesehen hat. Ich hab ihn vorhin befragt. Sie hatten wohl tatsächlich Sex.“ Ich will das nicht hören, Kid! Ich ballte die Fäuste und mein Blick wurde zu einem bitterbösen Stieren, schließlich schnaubte ich: „Warum hast du ihn dann nicht hierher gebracht?“ „Hey, immer langsam! Ich kann nicht einfach wahllos Leute festnehmen.“ Er hob beide Hände zu einem theatralischen Schulterzucken. „Er hatte ein Alibi. Außerdem ist da was an ihm. Er hat nichts damit zu tun, das spüre ich.“ „Du hast deine Medizin nicht genommen“, stellte ich mit Grabesmiene fest und verschränkte die Arme. Mittlerweile kannten wir uns schon zu lange, als dass er diese leichte Nuance Veränderung in seiner Persönlichkeit vor mir verstecken konnte. Außerdem war auch ich nicht umsonst bei der Kriminalpolizei. „Und wennschon? Ist das jetzt wichtig?“ „Du lässt einen potentiellen Täter einfach laufen, weil du ihn flachlegen willst! Ich glaube schon, dass das wichtig ist!“ „Ich kann ohne dieses beschissene Smile nach wie vor ganz normal rational denken!“ Im Gegensatz zu mir war er nicht nur wütend, sondern fuchsteufelswild. „Ich bin dann nicht plötzlich geistig behindert oder was auch immer ihr euch da zusammenspinnt!“ „Dann denk aber auch rational nach! Der Kneipenkoch ist verschwunden, nachdem er mit diesem Typen zusammen war! Was, wenn du der nächste bist?“ „Selten so ne Scheiße gehört!“ Kid schnellte hoch und warf dabei den Stuhl um. Völlig unbeeindruckt davon sah ich ihm weiter in die funkelnden Augen. Dieses Gehabe zog vielleicht bei Verdächtigen oder den Würstchen von der Spurensicherung, aber ganz gewiss nicht bei mir. Nach ungefähr zehn Sekunden des gegenseitigen Totstarrens drehte Kid sich schwungvoll um und stiefelte von dannen. „Bis später!“, raunzte er und hob eine Hand zum Abschied. „Mach dir keinen Kopf, ich bring dir dein Blondchen schon wieder!“ Er knallte die Tür des Büros hinter sich zu, schnauzte irgendjemanden am Gang an – wahrscheinlich Tashigi, diese dämliche Trine – und ließ mich mit einem eindeutig schlechteren Gefühl zurück als es mir der Bericht beschert hatte. Ein tiefer, langer Atemzug entwich meiner Brust und ich schloss die Augen. Kid ohne seine Tabletten war… anders. Immer noch derselbe und keineswegs unfähiger, da gab ich ihm Recht. Doch er wurde empfindlicher, launenhafter und vor allem animalischer. Er selbst bezeichnete sich in diesem Zustand gerne als menschlichen Spürhund und das traf es auch. Auf die Zutat genau konnte er alleine am Geruch erkennen, was ich als letzte Mahlzeit zu mir genommen hatte, ohne mir dafür überhaupt nahe kommen zu müssen. Das normale Tageslicht blendete ihn selbst bei bedecktem Himmel und er behauptete steif und fest, dass er die Wasserleitungen in den Wänden hören könne und ihn das wahnsinnig mache. Für Ermittlungen waren diese Fähigkeiten natürlich nützlich, aber leider gingen sie einher mit strengem Schwefelgeruch, sobald er ins Schwitzen geriet, und dem verhängnisvollen Drang, sich mehr oder weniger schwanzgesteuert den nächstbesten Kerl anzulachen. Anscheinend machte er dabei auch nicht Halt vor Verdächtigen. So weit war es noch nie. Kid, bitte tu nichts, wofür ich dich zu deinem eigenen Besten anschwärzen muss. Dass er einfach seine Medizin nicht nahm, war ihm selbstverständlich von ganz oben verboten worden. Nur war das einem Kid eben völlig egal und Shanks drückte wie immer beide Augen zu. Der einzige, der sonst noch von dem routinemäßigen Regelbruch wusste, war ich und bisher hatte ich nach der Devise gelebt, dass man einen Kumpel nicht verpetzte. Was aber sollte ich tun, falls Kid in Schwierigkeiten mit diesem Trafalgar-Typen geriet? Schweigen schien mir nicht die beste Lösung zu sein. Schon alleine der Gedanke an den möglichen Entführer löste in mir zornige Anspannung aus. Ich presste mahlend die Zähne aufeinander und starrte in meinen Bildschirm hinein, als wäre dieser für alles verantwortlich. Zu spät, Zorro. Du hast dir verdammt nochmal zu lange Zeit gelassen. Das war ein Schmerz, mit dem ich mich nun abfinden musste. Der Barkeeper mit den geschickten Fingern und dem freundlichen Lächeln war verschwunden, ohne jemals von meinem Interesse an ihm erfahren zu haben. Schuld daran war allerdings er. Er hatte sich ja unbedingt über meine grünen Haare auslassen müssen und war bei der Retourkutsche seine dummen Augenbrauen betreffend gleich an die Decke gegangen. Wer hätte da noch Lust gehabt, nach einem Date zu fragen? Richtig. Niemand. Pah! Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst! Kann mich eh nicht leiden, dieser neunmal kluge Hampelmann! Jedes einzelne unserer wenigen Aufeinandertreffen hatte sein Ende in einem kurzen, aber heftigen Streit gefunden, dessen Auslöser völlig banale Dinge wie ein beinahe verschüttetes Bier, eine schlecht sitzende Krawatte und ein Zusammenstoß in der Eingangstür gewesen waren. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, was ich mir basierend darauf weiterhin erhofft hatte, doch immer wieder war ich mit in Jeff’s Bar gekommen, sobald mich mein alter Schulfreund Ruffy dorthin zum Feiern eingeladen hatte. Immer wieder hatte ich verhalten aus einer Ecke heraus den blonden Barkeeper angestarrt. Immer wieder hatte ich mit ansehen müssen, wie er mit jemand anderem nach Hause verschwand, aber nicht mit mir. Ich hasste ihn dafür. Und dennoch… Ich seufzte auf und kramte mein Smartphone aus der Schreibtischschublade. Was nützte es schon, wenn ich mir Gedanken machte? Taten zählten mehr als Worte und auf Kids Verbissenheit war Verlass. Er würde Sanji wiederfinden. Auf die eine oder andere Weise. Um mich von dem seltsam leeren Gefühl in mir abzulenken, brach ich meine mir selbst auferlegte Regel, Privates und Beruf strikt voneinander zu trennen, und öffnete WhatsApp. Auch das war die Schuld dieses blöden, verloren gegangenen Kneipenkochs – jetzt brachte er mich sogar schon dazu, meine Disziplin zu vernachlässigen, nur damit ich nicht an ihn denken musste! Mich traf der Schlag, als ich ganz oben in meiner Kontaktliste Ruffys Namen entdeckte. „38 neue Nachrichten? Ist das sein Ernst?“ Genervt öffnete ich den Chat. Es würde Jahre dauern, bis ich das alles gelesen hatte.   (19:02) Ruffy: Kommst du mit zu Jeff? :D (19:12) Ruffy: Hallo, Zorro?? (19:13) Ruffy: Oh, du hast bestimmt Schicht. ._. (19:13) Ruffy: Dann morgen. (19:49) Ruffy: OMG!!! (19:49) Ruffy: Shanks war gerade hier!! (19:49) Ruffy: Und der komische Stachelkopf!! (19:50) Ruffy: SANJI IST WEG!!!!! DDD: (19:50) Ruffy: DU BIST DOCH AUCH BEI DER POLIZEI!! (19:50) Ruffy: DU MAGST IHN!! (19:50) Ruffy: DU MUSST IHN SUCHEN!! (20:06) Ruffy: Trabert schreibt mir nicht zurück! D: (20:06) Ruffy: Dabei ist er doch mit Sanji nach Hause! (20:11) Ruffy: Zorro! (20:11) Ruffy: Zorro, mach dein blödes Handy an! (20:12) Ruffy: Z (20:12) Ruffy: O (20:12) Ruffy: R (20:12) Ruffy: R (20:12) Ruffy: O (20:12) Ruffy: ! (20:23) Ruffy: Wir machen uns alle Sorgen! (20:23) Ruffy: Keiner kann Sanji erreichen! (20:27) Ruffy: Trabert kann auch keiner erreichen. (20:27) Ruffy: Aber der hat in der Uni immer das Handy aus. ¬_¬ (20:28) Ruffy: Kennst du Trabert überhaupt schon? (20:28) Ruffy: Der Stachelkopf ist zu ihm gefahren. (20:35) Ruffy: HALLO, ZORRO! (20:35) Ruffy: SANJI IST WEG! (20:35) Ruffy: HAT SHANKS DIR DAS SCHON GESAGT!? (20:52) Ruffy: Wir müssen Plakate basteln, sagt Nami. (20:53) Ruffy: Wir haben alles abgesprochen. (20:53) Ruffy: Wir basteln die bei Lysop daheim. (20:54) Ruffy: Morgen früh hängen wir sie gleich überall auf! (20:54) Ruffy: Wir finden Sanji bestimmt wieder!! :D (21:08) Ruffy: Zorro, bist du traurig? ._. (21:11) Ruffy: Du musst nicht traurig sein. (21:11) Ruffy: Wir finden Sanji ganz sicher!   Es war, als hätte man mich im Zeitraffer durch die psychische Mangel gedreht. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals so viele Dinge so rasch hintereinander gefühlt zu haben. Übrig blieb allerdings nur dieselbe Angenervtheit, mit der ich auch zu lesen begonnen hatte. Was für übertriebenen Schwachsinn unterstellte Ruffy mir da bitte? Ich war doch nicht traurig wegen dem Koch! Ich tippte eine knappe Antwort und es überraschte mich nicht im Geringsten, dass Ruffy gleich darauf zurückschrieb.   (21:17) Ich: Weiß ich alles schon. (21:18) Ich: Ist nicht mein Fall. (21:18) Ruffy: ZORRO!! (21:18) Ruffy: Jeff hat uns ein Foto von Sanji gegeben! (21:18) Ich: Shanks und Kid kümmern sich darum. (21:18) Ruffy: Das können wir für die Plakate vergrößern!! :D (21:19) Ruffy: Ja! Shanks war hier bei Jeff! (21:19) Ruffy: Er wollte was trinken, aber das fand der Stachelkopf kacke! XD (21:19) Ich: Ruffy. (21:19) Ruffy: Kommst du morgen früh zur Uni?? (21:19) Ruffy: Da treffen wir uns, um die Plakate aufzuhängen! (21:20) Ruffy: Was ist? (21:20) Ich: Tu nichts Dummes. (21:20) Ich: Such nicht selber nach dem Koch. (21:20) Ruffy: Das haben die anderen auch alle gesagt... (21:20) Ruffy: Ich bin doch nicht dumm. (21:20) Ruffy: Wieso glauben das alle immer und schimpfen mit mir? :( (21:21) Ich: Morgen früh muss ich schlafen. (21:21) Ich: Für die nächste Schicht. (21:21) Ruffy: Oh. Ach ja. :( (21:21) Ich: Wer ist außerdem Trabert? (21:22) Ruffy: Ein guter Kumpel aus der Uni! Er ist voll witzig! XD (21:22) Ich: Meinst du Trafalgar? (21:22) Ruffy: Ja! Er hat gesagt, er kann nicht kacken!! XDXDXD (21:22) Ich: Trau dem nicht. (21:23) Ich: Was? (21:23) Ich: Das ist dämlich. (21:23) Ruffy: Doch, doch! Der ist oke! Dem können wir vertrauen! :D (21:24) Ruffy: XDXDXD (21:24) Ruffy: Witze müssen dämlich sein! Sonst sind sie nicht lustig!! (21:24): Ich: Er ist ein Verdächtiger. (21:25) Ruffy: Ach, Zorro. :,) (21:25) Ruffy: Sanji taucht sicher wieder auf. (21:25) Ruffy: Du musst dir keine Sorgen machen. :)   Eine Ader an meiner Stirn begann bedenklich zu pulsieren und mein Daumen legte sich wie von selbst auf die Schaltfläche, mit der man eine Sprachnachricht aufnehmen konnte. Was zu weit ging, ging zu weit. „Ruffy, wenn du nicht sofort aufhörst mit dem Mist“, brüllte ich in das Handy hinein, „dann hau ich dir eine runter, wenn wir uns das nächste Mal sehen! Ich bin nicht traurig wegen diesem Saftmixer! Und ich mach mir auch ganz bestimmt keine…!“ Meine Stimme erstarb und ich glotzte die Bürotür an, die soeben energisch aufgestoßen worden war. Direkt gegenüber von mir stand mein Erzeuger und es war schwer zu sagen, ob sein Gesichtsausdruck der geistreichere war oder meiner. Schneller wieder gefasst hatte sich natürlich er. „Hören Sie auf zu telefonieren, Lorenor!“ Auch er trennte strikt Privates und Beruf voneinander, weswegen wir uns beide während der Schichten stets beim Nachnamen nannten. „Die Laborergebnisse sind da.“ Mit wenigen Schritten war er bei mir angelangt und klatschte einen Bogen bedrucktes Papier auf den Schreibtisch. Ich währenddessen hatte dummerweise den Finger vom Handybildschirm genommen, eine falsche Schaltfläche berührt und damit die unfertige Sprachnachricht an Ruffy verschickt. So bedrohlich wie ich sie geplant hatte, klang sie jetzt wohl kaum. Im nächsten Moment war ich jedoch bereits wieder im Arbeitsmodus und ließ das Telefon in meiner Hosentasche verschwinden. Es gab Wichtigeres zu tun als Ruffy zur Schnecke zu machen. Ich zog den Laborbericht in meine Reichweite, studierte ihn eingehend unter den strengen Blicken meines Zigarre rauchenden Erzeugers und stellte schließlich fest: „Das hilft uns nicht wirklich weiter.“ „Korrekt.“ Er paffte mit ewig eingefrorenem Gesicht Rauchschwaden aus dem Mundwinkel und machte auf diese Weise seinem Spitznamen alle Ehre. „Weiße und blaue Lackspuren eines fremden Fahrzeugs am Fahrradlenker. Dass das ein Unfall war, war von vornherein nicht zu übersehen.“ Eine versteckte Rüge, da ich ihm zuvor am Tatort seine Erfahrung abgesprochen und zu zweifeln gewagt hatte. Was konnte ich schon dafür, wenn es in der Ausbildung fortwährend geheißen hatte, man solle nie anhand von Annahmen alleine ermitteln? „Da draußen gibt es wahrscheinlich Millionen von Autos mit dieser Art Lack“, brummte ich unbegeistert, um wenigstens irgendwie Kompetenz zu beweisen. „Zwei Farben deuten zwar auf einen Lieferwagen oder Ähnliches hin, aber wir können nicht alle weiß-blauen Lieferwägen der Stadt kontrollieren. Dazu fehlt uns Zeit und Personal.“ „Zumal alle Indizien für ein Überholmanöver sprechen und das Fahrzeug in diesem Fall stadtauswärts unterwegs gewesen wäre. Der oder die Täter könnten längst über alle Berge sein.“ Er sammelte den Zettel wieder ein und bedachte mich mit etwas, das einem entschuldigenden Blick ziemlich nahe kam. „Wir warten noch die Ergebnisse der Obduktion ab. Danach können wir der bedauernswerten Familie einen Besuch abstatten und die Ermittlungen einstellen.“ Aus irgendeinem Grund überkam mich ein plötzliches Frösteln. Hatte ich mir für einen Moment eingebildet, Shanks könne dieselbe Entscheidung treffen und den Koch einem unbekannten Schicksal überlassen? Hör auf! Er hat Kid auf Entzug dabei. Wenn jemand einen Vermissten finden kann, dann der. Zumindest hoffte ich das. Kapitel 4 --------- Kid   Als ich an der Wohnung des Vermissten ankam, war meine Wut auf Zorro verflogen und das Spurensicherungsteam bereits vor Ort. Von Shanks hingegen fehlte jede Spur, doch darüber wunderte ich mich gar nicht erst. Früher oder später tauchte der schon auf. Außer vielleicht, wenn er besoffen in den Graben gefahren war mit seiner Schrottlaube. „n’Abend zusammen!“ Ich stieg über das Absperrband vor der Eingangstür hinweg und lief auch sogleich Corby über den Weg. Mit seinem dämlichen Haarschnitt erinnerte er mich immer ein wenig an einen rosaroten, bebrillten Champignon. „Wie sieht es aus? Schon irgendwelche bahnbrechenden Erkenntnisse gewonnen?“ „Oh. Hallo, Kid.“ Er begrüßte mich, indem er peinlich vor mir salutierte, dann zählte er auf: „Einpersonenhaushalt, keine Einbruchsspuren, keine Anzeichen für einen Kampf oder sonstige Gewalt, die Haustürschlüssel sind unauffindbar und alles in allem sieht es sehr danach aus, als hätte Herr Vinsmoke seine Wohnung aus freien Stücken verlassen. Außerdem glauben wir, dass er schwul ist.“ Wie und wozu auch immer sie Letzteres herausgefunden hatten – allmählich war mir das auch klar. „War ein benutztes Kondom in irgendeinem der Mülleimer?“, fragte ich beiläufig, während ich mich in dem schmalen, aber penibel aufgeräumten Flur umsah. Wenn sich mir schon die Gelegenheit dazu bot, dann wollte ich auch ganz sicher gehen, dass Law die Wahrheit gesagt hatte. Nur, damit Zorro nachher die Klappe hielt und mich nicht mehr behandelte, als wäre ich geistig minderbemittelt. „Ein, öh… ein Kon...“ Corby lief im selben Farbton wie seine Haare an, dann wandte er sich ab und rief in einen der offenstehenden Räume hinüber: „Helmeppo, kannst du die Mülleimer nach einem benutzten Kondom durchsuchen?“ Ein genervtes Stöhnen ertönte. „Danke!“ Jetzt so rot, dass sich die Haare mit seiner Gesichtsfarbe bissen, sah er wieder zu mir auf. „Wozu überhaupt?“ „Willst du nicht wissen.“ Ich winkte ab und ließ ihn am Eingang stehen, um mir ein Bild von der restlichen Wohnung zu machen. Gerade stand mir nicht der Sinn danach, kleine, unschuldige Jungs zu verderben. Da draußen die Dämmerung allmählich Einzug hielt und sich bisher noch niemand zuständig dafür gefühlt hatte, Lichter anzuschalten, wagte ich es und nahm meine Sonnenbrille ab. Kurz musste ich mich mit heftigem Blinzeln an den Helligkeitsunterschied gewöhnen, doch es war auszuhalten. Meine letzte Tablette hatte ich vor vierzehn Stunden zu mir genommen und allmählich geriet ich in jenen praktischen Zustand, in dem sich zwar meine Sinne langsam zu schärfen begannen, aber die zwangsläufig daraus resultierende sensorische Überlastung noch meilenweit entfernt war. Ich betrat die erstaunlich geräumige Küche und ließ meinen Blick über die sorgfältig gepflegten Gerätschaften, einen kleinen Esstisch mit Aschenbecher und einen energisch blinkend seine Betriebsbereitschaft kundtuenden Feuermelder schweifen. Nichts hier war verdächtig. Von Grünzeug auf dem Fensterbrett bis hin zum Ticken der Wanduhr offenbarte sich ausschließlich Gewöhnlichkeit. Wie von Corby bereits angekündigt. Der Raum nebenan fungierte als Speisekammer und Wäschezimmer in einem. Staub wirbelte in groben Körnern durch das gedämpfte Abendlicht, begleitet vom intensiven Geruch eines Meeresbrise-Weichspülers und dem Gemecker von Corby, der am anderen Ende der Wohnung Helmeppo zur Arbeit anzutreiben versuchte. Ein Regal voller Akten und ein Schreibtisch, auf dem ein Computer stand, hatte man ebenfalls in das Zimmer gequetscht. Möglicherweise aus Platzmangel. Ein feines, elektronisches Summen lag in der Luft und gleich mehrere Lämpchen glühten mich in wütendem Rot an. Da hatte wohl jemand die schlechte Angewohnheit, nur auf Standby zu schalten. Abgestandener Rauch mit einer süßlichen Kopfnote erwartete mich im Wohnzimmer, welches an der Stirnseite des Flurs anschloss und gesäumt war von einer unerträglichen Menge an Fenstern. Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und verließ mich hauptsächlich auf meine restlichen Sinne. Da war das Brummen eines Fernsehers – ebenfalls auf Standby – Geraschel von einem auf Papier herumkrabbelnden Insekt und der Straßenverkehr, dessen Lärm bis hier hinauf in den dritten Stock tönte. Wer bitte zog freiwillig mitten an eine Kreuzung? Hinzu kam die penetrante Erkenntnis, dass Sanji Vinsmoke wohl Kettenraucher war, und weiterhin diese künstliche Süße, deren Ursprung ich nicht ausmachen konnte. Das Badezimmer hatte kein einziges Fenster und war somit eine Wohltat für meine Augen. Die Tür hinter mir fast vollständig zugezogen betrachtete ich in der nicht annähernd konturlosen Dunkelheit säuberlich aufgereihte Pflegeprodukte, eine Tube Zahnpasta der Marke Duvaldent am Waschbeckenrand und noch nicht vollständig getrocknete Wasserspritzer in der Dusche. Es war nicht zu übersehen, dass sich hier jemand für seine Schicht ordentlich herausgeputzt hatte. Eine interessante Fülle an Gerüchen schien ebenfalls in der Luft zu hängen, doch dieses süßliche Etwas legte sich wie ein Schleier über den gesamten Rest und machte mir eine genaue Zuordnung unmöglich. Als ich mich abschließend zu Corby und Helmeppo ins Schlafzimmer gesellte, fiel nicht nur irgendwo im Treppenhaus eine Tür ins Schloss, sondern ich wurde auch geradewegs ertränkt in – wie es schien – klebrig süßem Wassermelonen-Sorbet. Es war hier kühler als in den restlichen Räumen und der vorherrschende Geruch nicht unangenehm. Also, eben genauso unangenehm wie künstliche Gerüche es eben waren. Seine Heftigkeit hingegen vernebelte mich so sehr, dass ich für einen Moment glaubte, nicht einmal mehr klar sehen zu können. „Kid, wir haben tatsächlich ein Kondom gefunden!“ Freudestrahlend präsentierte Corby mir das zugeknotete Ding, indem er es mir mit zwei behandschuhten Fingern entgegenhielt. Schnurstracks war ich an ihm vorbei und packte seinen langen, dürren Kollegen mit dem blonden Pferdeschwanz und dem verdrießlichsten Gesicht der Welt bei der Schulter. „Raus!“ In seiner Nähe war der sich durch die Wohnung ziehende, süße Geruch wie alles verschluckender Staubsaugerlärm. „Kau deinen Scheißkaugummi woanders!“ „Aber...“ Er beendete seinen begonnenen Satz nicht, sondern ließ sich wie der Schlaffi, der er war, zum Absperrband am Eingang bugsieren. „Kid! Jetzt sei doch nicht gleich so grob!“, plärrte Corby und wuselte uns aufgeregt fuchtelnd hinterher. „Willst du dir nicht lieber das Kondom ansehen?“ „Nein! Nicht jetzt! Wenn der mich ablenkt, kann ich nicht arbeiten!“ „Ich kann den Kaugummi auch wegwerfen...“ „Hey, Kinder!“ Eine vierte Stimme unterbrach uns, wir hielten in der Bewegung inne und unsere Köpfe wandten sich wie auf Kommando der Treppe zu. Herauf kam – heiter grinsend und die Ruhe weg – Shanks. „Macht doch mal ein bisschen leiser. Ab zwanzig Uhr gilt Zimmerlautstärke. Das hier ist immerhin ein Mehrfamilienhaus.“ Mir entwich ein Schnauben. Zu dem künstlichen Wassermelonenaroma hatte mir ganz gewiss kein Alkoholgestank gefehlt und im Gegensatz zu Helmeppo wusste Shanks eigentlich, dass er mir damit meine Arbeit unnötig erschwerte. Zumindest hatte ich bereits mehrmals lautstark versucht, das in seinen verkaterten Schädel zu hämmern. Er kam näher und musterte uns interessiert, wie wir uns zu dritt im Eingang drängten. „Kid, du musst Helmeppo schon loslassen, wenn du willst, dass er draußen wartet.“ Seine halb belustigte, halb väterliche Tonlage ließ meinen Blutdruck in unermessliche Höhen schnellen. Am liebsten hätte ich daraufhin die Schulter unter meiner Hand zerquetscht, bis es krachte, doch ich begnügte mich damit, Helmeppo unsanft von mir zu stoßen. „Hey! Ich… ähm…“ Weiterhin auf seinem Kaugummi herumschmatzend fing er sich nach einigen Schritten, dann zog er eine unmotivierte Grimasse. „Ich warte unten. Kommst du, Corby?“ „Gleich! Ich muss doch noch…!“ „Das nenne ich mir löblich, Kleiner!“, unterbrach ihn Shanks, der das Kondom entdeckt hatte, und haute ihm lachend auf den Rücken. „Mit Verhütung sollte man früh anfangen! Sonst setzt man lauter vaterlose Kinder in die Welt und ertrinkt in den Unterhaltskosten!“ „Das ist nicht von mir!“, quiekte Corby und wurde tatsächlich schon wieder rot. Wie alt war der bitte? „Das ist ein Beweisstück!“, fauchte ich Shanks an. „Geh nen Meter bei Seite, du stinkst nach Schnaps!“ „Stinken ist nun wirklich übertrieben nach ein, zwei Gläschen. Der Hausherr Vinsmoke hat eine eigene Brennerei. Da habe ich mir natürlich ein paar Flaschen geleistet; waren nicht billig. Eine echt hübsche Tochter hat er außerdem…“ Ich durchbohrte ihn mit einem bitterbösen Blick. „Okay, okay, ich geh ja schon.“ Er zog sich einige Schritte in den Flur zurück, dann hakte er unsicher nach: „Du tust jetzt aber nicht das, was ich denke, dass du gleich tun wirst?“ Ohne ein weiteres Wort griff ich nach Corbys Handgelenk, um das Kondom in unmittelbare Reichweite vor mein Gesicht zu ziehen. Corby selber kapierte natürlich nichts, sondern beschwerte sich nur, dass ich nicht so fest zupacken solle, doch davon ließ ich mich nicht beirren. Ich schloss die Augen, dann sog ich konzentriert durch die Nase Luft ein. „Komm schon, Kid! Pfui, aus! Abgetrennte Körperteile und verschimmelte Sanitäranlagen sind ja irgendwo noch in Ordnung. Aber das – das ist eklig!“ „Schnauze!“ Shanks hatte überhaupt keine Ahnung davon, wie viele Dinge ihren Ekelfaktor verloren, sobald man tief in jede einzelne Geruchsebene eindrang. Außerdem war es ja nicht gerade so, als würde ich das Kondom ablecken. Das erste, was sich mir scharf und unnatürlich aufdrängte, war das Gummi. Offenbar bevorzugte hier jemand die synthetische Variante. Hinzu kam ebenso künstlich das reichlich undefinierbar einparfümierte Gleitmittel, von dem ich nur erahnen konnte, dass es wohl möglichst erfrischend riechen sollte. Darunter hingegen offenbarte sich mir das eigentlich Interessante: Eiweiß, Salz und ein vielschichtiges Gewirr an Hormonen und Pheromonen, welches zu entschlüsseln nun meine Aufgabe war. „Law Trafalgar schließe ich bis auf Weiteres als Täter aus.“ Er hatte die Wahrheit gesagt. Sein verführerisch herber Geruch verdrehte mir sogar in dieser Form den Kopf und beinahe hätte ich ein angetanes Schmatzen von mir gegeben. Rechtzeitig erinnerte ich mich allerdings daran, dass ich nicht alleine in Vinsmokes Wohnung herumstand. Atemzug für Atemzug bahnte ich mir einen Weg durch mich frech umspielende Duftschwaden, kämpfte mit der unweigerlich in mir aufsteigenden Lust und entdeckte schließlich etwas, das für meinen Körper zwar weit weniger aufregend, aber den Fall betreffend ein Lottogewinn war. Sanji Vinsmoke… ganz schwach nur. Salzig kühl und trotzdem zurückhaltend. Eine Spur Schärfe ist da auch… „Kann mir bitte irgendwer erklären, was hier passiert?“ Auf Corbys verwirrte Worte hin öffnete ich die Augen und sah ihn mit Nachdruck an. „Nein.“ Ich ließ seine Hand los. „Und denk nicht einmal daran, irgendwem davon zu erzählen. Verstanden?“ „Ver-verstanden!“ Er reagierte mit einem erneuten Salut, ich hingegen wandte mich Shanks zu. „Ich hab alles, was ich brauche. Schnelle Lagebesprechung?“ „Familie Vinsmoke scheint Sanji regelrecht zu hassen und die Bande zu ihm gekappt zu haben“, begann er sofort und bewies damit, dass zur rechten Zeit eben doch Verlass auf ihn war. „Sie dachten sogar, er befände sich im Ausland. Allerdings traue ich der Tochter nicht; die hat mir eindeutig etwas verschwiegen. Ob sie das verdächtig macht, kann ich dir zum jetzigen Zeitpunkt aber nicht sagen. Selber?“ „Trafalgar hat nen geilen Arsch und ein lupenreines Alibi. Er und Vinsmoke hatten einen One-Night-Stand, danach ist er heimgegangen und hier in der Wohnung gibt es keinen einzigen Hinweis auf eine Entführung. Nach allem, was ich herausgefunden habe, halte ich es für am wahrscheinlichsten, dass Vinsmoke etwas auf dem Arbeitsweg zugestoßen ist.“ „Dann gehen wir?“ Ich nickte und setzte meine Sonnenbrille wieder auf. Draußen war es mir doch noch eine Spur zu hell. „Hallo?“, rief Corby, den wir kommentarlos im Eingang stehen ließen. „Was soll ich denn jetzt mit dem Kondom machen?“ „DNS-Analyse!“ Ich war mir dessen bewusst, dass meine Methoden erstens keinerlei Aussagekraft als Beweis besaßen und zweitens verboten waren. „Sonst glaubt mir wieder keiner!“ Wir verließen das Gebäude, dann standen wir direkt an der vielbefahrenen Kreuzung, wo ein gelangweilter Helmeppo vor dem schlecht geparkten Polizeiwagen auf und ab schlurfte. Ich blinzelte in den sich langsam violett färbenden Abend hinein, kramte in meiner Hosentasche herum und gab währenddessen ein Minimum an Anweisungen. „Shanks, du hältst mindestens zwei Meter Abstand, wenn du mir gleich folgst. Helmeppo, dich und Corby brauchen wir heute sicher noch; haltet euch bereit.“ Zustimmung von beiden Seiten erfolgte, woraufhin ich den unsäglichen Stadtlärm mit Ohrstöpseln aus meinem Kopf verbannte und erneut die Augen schloss. Jeder überflüssige Reiz musste ausgeblendet werden, damit ich meine Konzentration voll und ganz auf das Netzwerk aus Gerüchen lenken konnte, welches sich wie eine zweite Realität durch die Straßen zog. Nachdem ich mir oben in der Wohnung eine ganze Geruchskartei über Vinsmoke angelegt hatte, wusste ich nun genau, wonach ich suchte. Mit ein wenig Glück wurde ich zwischen abertausenden von chemischen Fußabdrücken fündig und konnte seinen Weg zur Arbeit rekonstruieren. Zigarettenrauch, Meeresbrise, Duvaldent, salzig scharfe Kühle… Sanji Vinsmoke… wohin bist du verschwunden? Ob meine Art, eine Fährte aufzunehmen, wirklich der eines Hundes nahe kam, wusste ich natürlich nicht. Fakt war einzig, dass es funktionierte. Trotz der unvorstellbaren Anstrengungen, die es mich kostete, aus einem Sumpf aus Abgasen, Fastfood-Fett und Deodorants den einen Hauch des Gesuchten herauszufiltern. So knapp vor dem Hauseingang stieß ich verständlicherweise auf gleich mehrere von Vinsmoke hinterlassene Spuren. Die einen waren älter, die anderen so frisch, dass sie womöglich noch vom heutigen Tage stammten. Ich folgte ihnen ein Stück, bemerkte aber schnell, dass sie sich direkt an der Ecke des Gebäudekomplexes aufteilten und jeweils über eine andere Straße führten. Kurz hielt ich inne und schloss wieder die Augen. Rechts von mir war die Fährte schmäler und unregelmäßiger. Links hingegen wirkte sie breit ausgetreten wie ein oft genutzter Pfad. Ein Blick in beide Richtungen lieferte mir die nötige Zusatzinformation, dass sich rechts ein Supermarkt befand und man sich links auf die Fußgängerzone zubewegte, wo wir vor zwei Stunden noch in Jeff’s Bar Zeugenaussagen aufgenommen hatten. Meines Erachtens nach rochen die Spuren in diese Richtung minimal aktueller als die anderen. Zielstrebig überquerte ich die Fahrbahn und tat mein Bestes, Vinsmokes Fährte in den sich überlagernden Geruchsschichten des Straßenverkehrs nicht zu verlieren. Immer wieder blieb ich dabei an Ecken stehen, musste mit geschlossenen Augen feinjustieren oder kniete mich zweimal sogar hin, um dem Boden näher zu sein. Es fühlte sich an, als suche man in einem Ameisenhaufen nach dem einzigen Exemplar mit kürzeren Fühlern. An der letzten befahrenen Straße vor der Fußgängerzone schließlich stieß ich auf etwas, das mir einen unerwarteten Adrenalinkick verpasste: Vinsmoke hatte seinen Arbeitsweg verlassen. Und er war nicht länger alleine. Neben seiner unverkennbaren Fährte war eine zweite aufgetaucht; die einer Frau. Meine Schritte wurden schneller und mein Fokus schärfer. Die vor wenigen Stunden hinterlassene Duftspur war nicht länger schwer zu erkennen, sondern stach so klar und deutlich hervor, dass ich sie beinahe zu sehen glaubte. Sie verlief schnurgeradeaus den Bürgersteig entlang, erreichte eine schmale, unscheinbare Seitengasse und bog tatsächlich in diese ab. Müllcontainer, Dreck und ein Eisentor am anderen Ende waren alles, was mein heftig atmendes Selbst erwartete, als ich direkt vor der Einfahrt zum Stehen kam. Ich pulte die Stöpsel aus meinen Ohren, dann sah ich mich ungeduldig nach Shanks um. Er war mir wie abgemacht mit großem Abstand gefolgt und schlenderte nun ungläubig die Brauen hochziehend auf mich zu. „Da drin?“ „Zu hundert Prozent.“ Auch er wagte einen Blick in die Gasse hinein, dann kommentierte er: „Na, ich kann mir schönere Entführungsorte vorstellen. Wälder zum Beispiel sind wenigstens in freier Natur.“ „Vinsmoke war mit einer Frau hier“, beugte ich weiterem Blödsinn vor. „Nicht zum Vögeln, versteht sich. Ihre Spur führt nur...“, ich ging auf einen Stapel Rohre zu, „...bis hierhin. Vinsmoke dagegen kann ich nahezu überall riechen. Außerdem noch zwei andere Typen.“ Aufgeregt pulsierte das Blut durch meine Adern. Der Zustand, in dem ich mich gerade befand, hielt zwar nie lange an, doch machte er das Fährtenlesen zum Kinderspiel. Nichts – nicht einmal Shanks’ Schnapsfahne – konnte mich von meiner Beute abbringen und bereits einigen Flüchtigen hatte ich damit gehörig Angst eingejagt. Auf der Suche nach weiteren Anhaltspunkten durchstreifte ich die Gasse. Warum war Vinsmoke hier einmal im Kreis gelaufen? Wieso tauchten die Fährten der beiden unbekannten Männer wie aus dem Nichts knapp vor dem Tor auf? Und was hatte es so Besonderes mit dem Haufen Rohre auf sich, dass sich dort alle vorhandenen Spuren trafen? „Sag mal, Kid, als was würdest du das hier bezeichnen?“ Shanks stand ausgiebig einen Container betrachtend da und hatte nachdenklich Daumen und Zeigefinger an sein Kinn gelegt. Ich kam näher und warf einen Blick auf die Stelle, die er meinte. „So sieht das aus, wenn einer bescheuert genug ist, zu glauben, er könne ein Auto in eine enge Seitenstraße wie diese hier quetschen“, war mein ganzer Kommentar dazu. Die Schleifspuren, die Metall auf Metall hinterließ, erkannte ich mittlerweile im Schlaf. „Dasselbe dachte ich auch gerade. Die Frage ist nur, wie lange sieht der Container schon so aus?“ „Ruf Corby und Helmeppo hierher; das herauszufinden wäre deren Job.“ „Schon dabei.“ Grinsend zückte Shanks sein Funkgerät. „Und du tu mir den Gefallen und stell dich ein wenig abseits, wenn du schon so schwitzen musst.“ Er wedelte mit der freien Hand vor seiner Nase herum und augenblicklich durchfuhr mich die Wut wie ein gleißender Blitz. Konnte ich etwas dafür, dass die Adrenalinschübe mit vermehrter Schweißproduktion einhergingen? Nein. Konnte ich etwas dafür, dass mein Körper ohne Smile ein ganzes Waffenarsenal an Schwefelverbindungen herstellte, sobald ich schwitzte? Auch nein! Ich presste die Zähne aufeinander und versenkte die Hände in den Hosentaschen, um mich selber vor einer Dummheit zu bewahren. Seinen Weg nach draußen fand mein Zorn trotzdem, als ich mich schwungvoll von Shanks abwandte und der nächstbesten auf dem Boden herumliegenden Dose einen Tritt verpasste. Sie flog im hohen Bogen davon, bruchlandete in einem Kartonstapel und riss diesen erbarmungslos um. Sollte sie doch! Als würde ich stinken! Pah! Die haben doch alle keine Ahnung! Schmollend trollte ich mich zu den Kartons hinüber. Klar war mir dabei natürlich, dass es sehr wohl die anderen waren, die eine Ahnung hatten, und nicht ich. Während ich nämlich den scharfen Geruch von Alkohol in seinen reineren Formen zum Abgewöhnen fand, regte sich bei mir absolut nichts, sobald es um Schwefelverbindungen ging. Ich nahm sie wahr – das schon – doch sie störten mich nicht. Meist war sogar das Gegenteil der Fall und wahrscheinlich hätte man mich zur Entspannung in eine Wanne voll fauler Eier legen können. Immerhin aß ich die Dinger auch. Zum Entsetzen meiner Mitbewohner zwar, aber in noch keinem einzigen Fall mit Nachwirkungen. Was soll’s, Kid? Ob mit oder ohne Tabletten – du bist seltsam und wirst es auch bleiben. Sieh das endlich ein. Meine Kindheit hatte ich in einem Waisenhaus verbracht, weswegen ich nicht einmal wusste, wem ich die wie ein Fluch auf mir lastende Erkrankung zu verdanken hatte. Freunde waren damals rares Gut für mich gewesen, denn Smile vermochte nicht schon immer den heftigen Geruch zu neutralisieren, den mein Körper produzierte. Zunächst hatte man mich dafür drangsaliert und ausgelacht, später dann gemieden und gefürchtet, da ich noch nie der Typ gewesen war, der Ersteres auf sich sitzen ließ. Narben hatte das Ganze dennoch hinterlassen. Deswegen auch meine so heftige Reaktion auf Shanks’ verhältnismäßig höflich formulierte Bitte. Ein plötzlich aufleuchtender Lichtschein irgendwo zwischen den Kartons riss mich aus meinen trüben Gedanken. Hatte da nicht etwas vibriert? Mit einem Fuß schob ich die nächstbeste Kiste bei Seite, dann noch eine. Die dritte knickte ein, brachte die darüber liegende ins Rutschen und veranstaltete mit hohlem Gerumpel noch mehr Chaos. „Hey, lass den Tatort ganz!“, rief Shanks mir zu, der damit beschäftigt war, unserem Spurensicherungsteam eine genaue Wegbeschreibung durchzugeben. Ich ging nicht darauf ein, sondern starrte das an, was mir soeben vor die Schuhe gefallen war. „Shanks!“ Manchmal gelangen einem eben doch Glücksgriffe. „Wir haben hier ein Handy!“   Es war viertel vor zehn, als wir zur Wache zurückkehrten. Corby und Helmeppo verschwanden sofort mit dem üblichen Gewusel und Geschleppe in den Laborräumen, das sorgfältig eingetütete Smartphone fand seinen Weg zu Bartolomeo, unserem Technikspezialisten, und Shanks und ich machten den Pausenraum unsicher. Klar hätten wir auch fleißig wie Zorro jeder einen Zwischenbericht schreiben können, aber eine Kleinigkeit zwischen die Zähne war nach so viel Anstrengung die klügere Option. „Also, um alles noch einmal knapp zusammenzufassen“, zählte Shanks auf, der auf dem Sofa lümmelte und einen doppelten Cheeseburger in sich hineinstopfte. „Sanji hatte Sex mit dem Typen, den du flachlegen gehst, sobald sich die erste Gelegenheit dazu bietet, ist dann nicht zu seiner nächsten Arbeitsschicht erschienen, sondern stattdessen mit einer unbekannten Frau in eine Seitengasse verschwunden, und ab dem Zeitpunkt fehlt jede Spur von ihm. Richtig?“ „Da waren noch die zwei anderen Kerle.“ Mit dem offenen Fenster im Rücken, an welches man mich zum Auslüften verbannt hatte, machte ich mich halb verhungert über mein Hühnchen her. „Sie könnten Vinsmoke niedergeschlagen haben.“ „Und dann haben sie sich alle vier in Luft aufgelöst?“ „Warten wir die Laborergebnisse ab. Wenn die Spuren am Container nicht von einem an der Tat beteiligten Fahrzeug stammen, fress ich nen Besen.“ Shanks zuckte die Schultern. „Das ist ja alles schön und gut, aber weißt du, was uns nach wie vor fehlt? Ein Motiv.“ „Vielleicht müssen wir größer denken.“ Ich massierte mir eine Schläfe, da sich – ausgelöst durch die auch nach der Fährtensuche nicht nachlassende Reizüberflutung – Kopfschmerzen anbahnten. „So viele von Vinsmokes Bekannten wie möglich ausfindig machen und befragen. Wenn er wirklich ein solches Flittchen ist wie Zorro behauptet, kann ich mir nicht vorstellen, dass es niemanden gibt, der schlecht auf ihn zu sprechen ist.“ „Zorro kennt ihn?“ „Flüchtig“, nickte ich und behielt den pikantesten Teil für mich. Gewisse Dinge tat selbst ich nicht und dazu gehörte ausplaudern, auf wen der beste Kumpel stand. „Und ich glaube, er hat irgendwann mal erwähnt, dass er auch diesen Typen mit dem Strohhut kennt, den wir in Jeff’s Bar getroffen haben. Geht wohl öfters feiern mit dem.“ Daraufhin lachte Shanks lauthals auf. „Ruffy kennt jeder! Eigentlich wäre er der ideale Kandidat für dein Vorhaben, noch mehr Bekannte von Sanji aufzutreiben. Oh, hallo, Smoker.“ Die Tür hatte sich aufgetan und Kommissar Whitehunter kam zielstrebig wie eh und je herein, um die Kaffeemaschine in Beschlag zu nehmen. Er warf uns nur einen kurzen Blick aus seinen wachsamen, dunklen Augen zu, dann brummte er „Abend“ und beließ es dabei. Im Gegensatz zu Shanks war Zorros Vater genau das, was man als Vorzeigepolizist bezeichnen konnte: Pünktlich, methodisch und kompromisslos. Sein kurzes, frühzeitig ergrautes Haar war dynamisch zurechtgetrimmt und sein Körper durchtrainiert von unzähligen Einsätzen, welche jedoch auch anderweitig Spuren auf ihm hinterlassen hatten wie beispielsweise eine Narbe, die sich über die rechte Stirnseite bis zum Augenwinkel zog. Selten sah man ihn ohne Zigarre im Mund und den Dickschädel, den ich bereits von seinem Sohn kannte, hatte er auch. „Wie geht’s, wie steht’s denn so?“, laberte Shanks ihn sogleich voll und schien unsere vorangegangene Konversation vergessen zu haben. Auch gut. Ich hielt meinen Mund, stopfte Hühnerfleisch in mich hinein und versuchte einen Blick auf Smokers Pistolengriff zu erhaschen, während die beiden Veteranen abgelenkt waren. Was sich nur leider aus diesem Winkel heraus als gar nicht so einfach entpuppte. Ein Tisch blockierte meine direkte Sichtlinie. Bevor ich mich dazu entschließen konnte, meinen Strafplatz am Fenster einfach aufzugeben, meldete sich allerdings mein Handy zu Wort. Dem Geräusch nach zu schließen wegen einer WhatsApp-Nachricht. Ich wischte meine fettigen Finger am scheußlich grau gemusterten Vorhang ab, dann zog ich das Telefon aus der Hosentasche. Ein einziger prüfender Blick genügte und mein breites Grinsen kehrte zurück.   (21:52) Law: Wie sieht es jetzt aus mit einem Termin? Am Wochenende hätte ich Zeit.   Als ich die Antwort tippte, flog mein Daumen geradezu über die Tasten. Wenn er einen Patienten wollte, dann sollte er ihn haben. Einen Patienten, wie er noch keinen zuvor erlebt hatte. Kapitel 5 --------- Law   Immer noch wusste ich nicht, was mich geritten hatte, nachdem ich dem Hünen von Polizist aus der Vorlesung gefolgt war. Brav sein, ruhig bleiben, anstandslos kooperieren – gemeinhin war bekannt, dass man dem Gesetz mit dieser Taktik am wenigsten Angriffsfläche bot. Law Trafalgar allerdings hielt sich für clever und hatte mit erschreckender Selbstverständlichkeit den Kommissar, der nicht wirklich nach einem aussah, in einen Flirt verwickelt. In einen ernst gemeinten, wohlgemerkt. Und erfolgreich gewesen war ich damit auch noch. Seit meiner Rückkehr in den Hörsaal starrte ich geistesabwesend auf meine Notizen, versuchte mich auf die Worte des Dozenten zu konzentrieren und hatte genau genommen nur Chaos im Kopf. Der heutige Abend meinte es einfach nicht gut mit mir. Erst dieser verhängnisvolle Kurs im Ultraschalllabor, dann ein rothaariger Riese, der mich auf mehr als nur einer Ebene durcheinander gebracht hatte, und Sanji war auch noch verschwunden. „Psst, Law.“ Shachi, einer meiner Mitstudenten, mit dem ich öfter an Gruppenprojekten arbeitete, gab es einfach nicht auf, mich nach dem Grund für die polizeiliche Befragung zu löchern. „Was meinst du denn mit nicht so wichtig? Die Polizei holt einen doch nicht wegen etwas Unwichtigem aus einer Vorlesung.“ Ich seufzte auf und unterdrückte ein Augenrollen. „Es hat nichts mit mir direkt zu tun. Die brauchten nur meine Zeugenaussage. Wie bereits erwähnt: Nicht so wichtig.“ „Aber…“ „Sei still, ich will zuhören.“ Es ging niemanden etwas an, dass ich diesem Eustass als Verdächtiger gegenübergestanden war. Der unverschämt glückliche Zufall hatte es schließlich so gewollt und meine Weste schneller rein gewaschen, als ich „Sanji“ sagen konnte. Kein Grund also, nachträglich die Pferde scheu zu machen. Nur meiner Schwester und unserer Katze war ich jetzt einiges schuldig. Verbissen starrte ich die große Leinwand an, auf der wie immer irgendeine Powerpoint-Präsentation zur Schau gestellt wurde. Es war wichtig, dass ich das dargebotene Wissen wie ein Schwamm in mir aufsaugte, es war wichtig, dass ich mir zu allem eigene Gedanken und Aufzeichnungen machte, und es war wichtig, dass ich mit vollster Konzentration dabei war. War ich aber nicht. Noch nie zuvor hatte man einen meiner Sexpartner wenige Stunden, nachdem ich ihn verlassen hatte, bei der Polizei als vermisst gemeldet. Es beunruhigte mich und ich ertappte mich dabei, wie ich nervös mit meinem Kugelschreiber herumspielte. Unablässig ging ich die vergangene Nacht in Gedanken noch einmal durch. Gab es nicht irgendetwas, das ich übersehen hatte? Hätte ich vielleicht verhindern können, was auch immer Sanji zugestoßen war?   „Dich hat Ruffy aber auch das erste Mal hierher geschleppt. Wie heißt du?“ „Law. Ich nehm noch einen Kaffee. Schwarz, ohne Zucker.“ „Sofort. Geht aufs Haus.“ „Was verschafft mir die Ehre?“ „Wenn mir jemand gefällt, dann kann ich erstaunlich spendabel sein. Sanji ist mein Name übrigens.“ „Verstehe… Vielleicht bleibe ich doch noch etwas länger.“ „Du wolltest schon gehen?“ „Ich bin nicht so der Typ für Feierlichkeiten.“ „Woher dann der plötzliche Sinneswandel?“ „Die Aussicht ist gerade… um einiges attraktiver geworden.“ „Oh, merci. Dabei habe ich noch gar nicht richtig angefangen.“   Unsere erste Konversation an jenem Abend und auch unsere erste Konversation überhaupt. Nichts an dieser Szene an der Bar kam mir verdächtig vor, aber wahrscheinlich war ich nicht dazu in der Lage, dies wirklich beurteilen zu können. Mein Fokus war einzig und ausschließlich bei mir gewesen und meine melancholischen Gedanken bei dem bevorstehenden Ultraschalllabor am nächsten Tag, auf das ich aus privatesten Gründen absolut keine Lust hatte. Sanji war lediglich willkommene Ablenkung für mich gewesen und ich hatte sie mit Handkuss angenommen.   „Entschuldige, dass es so lange gedauert hat; ich musste noch ein Problem beim Kassenabschluss aus der Welt schaffen.“ „Ich habe Zeit. Morgen muss ich erst nachmittags zur Uni.“ „Zu dir oder zu mir?“ „Zu dir. Ich wohne zu weit weg.“ … „Uni? Was studierst du?“ „Medizin.“ „Ein Arzt also. Wow, ich war noch nie mit einem Arzt im Bett.“ „Das sagen sie alle…“   Der Weg zu Sanjis Wohnung war ein langatmiger an einer der Hauptstraßen entlang gewesen. Fortwährend hatte ich mir Sorgen, Probleme und andere Belanglosigkeiten anhören dürfen, die mich nicht im Geringsten interessierten. Sanji war von der gesprächigen Sorte und hatte zu meinem Leidwesen nur die üblichen Smalltalk-Themen auf Lager, weshalb ich nicht verwundert darüber war, dass auch in dieser Erinnerung der Fixpunkt bei mir lag. Nichts war mir in der Dunkelheit aufgefallen. Noch viel weniger hatte ich darauf geachtet, wer uns zu so später Stunde entgegenkam. Einzig der Verdruss über das sinnlose Gequassel und mein immer verzweifelt werdender Gedanke, dass ich doch eigentlich nur ficken wolle, waren allgegenwärtig. Wahrscheinlich hätte ein ganzes Heer uns verfolgen können und ich hätte es nicht bemerkt.   „Du willst schon gehen?“ „Über Nacht bleiben ist nicht mein Ding.“ „Angst, ich könne Gefühle für dich entwickeln? Brauchst du nicht haben. Einmalige Sache ist einmalige Sache.“ „Mag sein. Danke. Aber ich lehne ab.“ „Wirklich?“ „Wirklich.“ … „Tja, dann ist wohl nichts zu machen. Warte, ich komm noch mit zur Tür.“   Wir hatten ganz annehmbaren, für meinen Geschmack jedoch zu perfekten Sex gehabt. Sanji hatte sich bereitwillig ohne wenn und aber meinem Willen gefügt, ich war als aktiver Part wenigstens für einen kurzen Moment in der Lage gewesen, mich fallen lassen zu können, und im Anschluss hatten wir uns noch eine Zigarette geteilt. Nichts Besonderes also. Reine Befriedigung tief in mir sitzender Triebe. Wobei sich mir die Frage aufdrängte, was gewesen wäre, hätte ich mich zum Bleiben entschieden. Wäre Sanji dann vielleicht nie verschwunden? War der Teil in mir, der es nicht auf bedeutungsvollen Körperkontakt ankommen lassen wollte, Schuld an allem? Nein. Das ist dumm. Sanji hat seine Tür hinter dir abgeschlossen. Es wird ihn wohl kaum jemand aus seiner eigenen Wohnung gestohlen haben. Zumindest hielt ich das für ganz und gar absurd. Wahrscheinlicher erschien es mir, dass es heute irgendwann tagsüber geschehen war, und in diesem Fall kam ich weder als Zeuge weiterhin in Frage, noch hätte sich durch eine Übernachtung etwas daran geändert. Das applaudierende Trommeln unzähliger Knöchel auf Hörsaaltischen riss mich aus meinen privaten Ermittlungen und ich stellte missmutig fest, dass ich nicht nur das Ende der Vorlesung, sondern auch über eine volle Stunde Stoff verpasst hatte. Und wofür? Für die glorreiche Erkenntnis, dass ich Sanji nicht helfen konnte und ich als Detektiv schon längst an meiner eigenen Egozentrik gescheitert wäre. „Law, hast du vielleicht Lust auf einen Spieleabend?“, meldete sich Shachi wieder zu Wort, während ich meine Sachen zusammenpackte. „Penguin hat doch erst neulich diesen Automechaniker kennen gelernt und der wohnt in einer WG. Die haben uns eingeladen. Wird sicher voll lustig.“ „Danke, nein.“ Nach allem, was heute passiert war, wollte ich einfach nur nach Hause. „Meine Vorlesungen fangen morgen um zehn an. Ich will ausgeschlafen sein. Aber euch viel Spaß.“ Damit ließ ich ihn stehen und entschwand noch möglichst vor all den anderen Studenten in die Dämmerung hinaus.   Das Universitätsgelände war weitläufig und grenzte mit den letzten, im Bauhausstil errichteten Verwaltungsgebäuden an den Stadtwald. Grüppchen von Jugendlichen fläzten auf Sitzbänken und Rasenflächen, genossen mit der ein oder anderen Flasche Bier den lauen Abend und waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass niemand mir Beachtung schenkte, wie ich den Kiesweg entlang auf den Wald zuschritt. Einer der sich zwischen alten Buchen hindurchschlängelnden Pfade war seit Jahren meine treue Abkürzung nach Hause in die Vorstadt hinüber. So mancher hielt mich deswegen zwar für verrückt, aber ich zog einen halbstündigen Fußmarsch der Fahrt im stickigen, überbesetzten Stadtbus definitiv vor. Keine fünf Minuten dauerte es und ich hatte die Zivilisation mitsamt Bewohnern hinter mir gelassen. Es war still und dunkel, ein leises Rauschen ging durch das Blätterdach und irgendwo erklang der Ruf einer Eule. In dieser Ruhe fiel die Last des Tages von mir ab und noch nie war mir in den Sinn gekommen, ich müsse mich zwischen den behütend ihre Äste aufspannenden Bäumen vor irgendetwas fürchten. Heute jedoch war mir zugegebenermaßen ein wenig mulmig zu Mute. Der Wald selbst stellte dabei das geringste Problem dar, denn immerhin wusste ich seine Gefahren einzuschätzen. Nachdem ich allerdings von Sanjis Verschwinden erfahren hatte, drängte sich mir die Vorstellung, dass ein verrückter Serienmörder hier sein Unwesen trieb, mehr auf als mir lieb war. Selbst wenn ich wusste, dass rein statistisch die Wahrscheinlichkeit überwog, im Wald von einem Baum erschlagen anstatt entführt und umgebracht zu werden. Um mich abzulenken, kramte ich mein Smartphone aus der Umhängetasche hervor. Ich schaltete es an und wurde augenblicklich von einer Unmenge an eintrudelnden Nachrichten erschlagen. Die meisten davon kurze Sätze in Großbuchstaben, die Ruffy mir über einen Zeitraum von mehreren Stunden hinweg geschickt hatte, wie ich mit einem genervten Seufzen feststellte. Der hyperaktive Sportstudent wohnte nicht nur mit seinen beiden Brüdern bei meinen Eltern in der Dachwohnung zur Untermiete, sondern bestand auch steif und fest darauf, dass wir unbedingt Freunde sein mussten. Ich ließ ihn in dem Glauben, mied ihn aber, so gut ich konnte. Er war mir ganz einfach zu anstrengend. Schnell hatte ich den einseitigen Chat überflogen und als einzige neue Information für mich herausgefiltert, dass man von mir erwartete, an einer Plakataufhängeaktion teilzunehmen. Vermisstenplakate? Wirklich? Funktioniert das überhaupt? Die meisten Leute laufen doch nur blind daran vorbei. Ich lehnte höflich ab, versicherte Ruffy, dass ich nichts über Sanjis weiteren Verbleib wusste und mahnte ihn, die Suche auf jeden Fall der Polizei zu überlassen. Alle daraufhin erscheinenden Antworten ignorierte ich. Wenn man selber nicht aufhörte, gingen Konversationen mit Ruffy bis ins Unendliche. Nachdem das Lästigste erledigt war, scrollte ich durch die restlichen Chats und konnte nicht umhin, ein schiefes Schmunzeln zuzulassen. Hier hatte einer von Ruffys Freunden versucht, mich zu erreichen, dort sorgten sich meine Mutter und meine Schwester um mein Wohl. Hätte ich gewusst, was dieser One-Night-Stand nach sich ziehen würde – ich hätte Sanji am gestrigen Abend gemieden wie die Pest. Schnell hatte ich beschwichtigt, wer es zu beschwichtigt werden wert war, sendete nach Hause außerdem die Anmerkung, dass ich mich bereits auf dem Weg befand, und hielt dann inne. Mein Blick war auf die Telefonnummer gefallen, die man mir mit spürbarer Genugtuung auf der Handinnenfläche hinterlassen hatte. Kommissar Kid Eustass tauchte vor meinem inneren Auge auf und jetzt, da ich völlig alleine war, spürte ich bei dem Gedanken an ihn Hitze in meine Wangen kriechen. Er war wie ich. Daran bestand überhaupt kein Zweifel, denn ich hatte sie gesehen; seine Ohren. Anstatt die viel zu spitze, schwungvoll Richtung Kopf gebogene Oberkante unter Haarsträhnen zu verstecken wie ich es tat, hatte er sie offen zur Schau gestellt. Noch zusätzlich unterstrichen davon, dass er seine wilde Frisur mit einem zum Band zusammengerollten Tuch im Zaum hielt. Vielleicht war es das gewesen, was mich zu meinem Flirt bewegt hatte: Das unterbewusste Verlangen nach dem Austausch mit einem Gleichgesinnten und die Angst, ich könne diese Begegnung ungenutzt lassen. Möglicherweise aber hatte der stechende Blick zweier orangeroter Augen ebenfalls seinen Teil dazu beigetragen und wahrscheinlich traf die unleugbare Spannung zwischen uns die meiste Schuld. So oder so war Kid in jeglicher Hinsicht zu interessant für mich, um ihn nicht sofort anzuschreiben. Ein selbstzufriedenes Lächeln, in welches manch einer Sadismus vom Feinsten hineininterpretiert hätte, machte sich auf meinem Gesicht breit, als ich nach kaum einer Minute eine Antwort erhielt.   (21:53) Kid: Samstagnachmittag um fünf. Ich hol dich ab. Weiß ja, wo du wohnst~ (21:53) Ich: Ganz schön anmaßend, das nicht als Frage zu formulieren. (21:54) Kid: Sagt der, der nichtmal hallo schreiben kann. >:D (21:54) Ich: Wusste nicht, dass dir höfliche Umgangsformen so wichtig sind. (21:54) Ich: Aber ja, Samstag um fünf geht klar. (21:55) Kid: Weiß auch schon nen geilen Ort für die Untersuchung. ;) (21:55) Ich: Seit wann sucht der Patient das Sprechzimmer aus? (21:55) Kid: Glaub mir, nen Patienten wie mich hast du noch nie erlebt~ (21:56) Ich: Und du einen Arzt wie mich auch noch nie. (21:56) Kid: Ist das eine Drohung? >:D (21:56) Ich: Ja. :) (21:56) Kid: Ich liebe Drohungen. >:P (21:56) Kid: Muss aufhören. Die Arbeit ruft. (21:57) Ich: Viel Erfolg.   Er war ungemein schlagfertig und ich konnte nicht leugnen, dass mich unsere Konversation in eine kurzzeitige Hochstimmung versetzt hatte, gegen die der Sex mit Sanji nicht im Geringsten ankam. Die Fähigkeit, sich mit mir auf einem Level unterhalten zu können, ein gewisser Widerstand und das Spiel um Dominanz waren für mich die größten Anreize, um mehr über eine Person erfahren zu wollen. Wobei ich zugeben musste, dass Kid rein oberflächlich betrachtet zudem auch noch auf eine verruchte Art und Weise verdammt heiß aussah. Das fing bei den breiten Schultern und dem durchtrainierten Körper an, setzte sich fort bei Motorradkleidung aus schwarzem Leder, welche ich eher einem Punk denn einem Polizisten zugeordnet hätte, und endete mit feuerroten Haaren, aus irgendeinem Grund inexistenten Augenbrauen und einer markanten Nase, die aussah, als habe er sie sich mindestens einmal gebrochen. Hinzu kam die ungewöhnliche Farbe seiner Augen und ein breites, selbstgefälliges Grinsen. Der typische Badboy eben. Law, was bist du? Sechzehn Jahre alt, pseudoerwachsen und weiblich? Ich schmunzelte in mich hinein, während ich einigen tiefhängenden Zweigen auswich. Zur Rettung meines angekratzten Egos konnte ich als stärkstes Argument immer noch vorbringen, dass ich das erste Mal in meinem Leben jemanden getroffen hatte, der sich mit derselben Krankheit wie ich herumschlagen musste. Zu solch einer Bekanntschaft sagte man nicht nein. Grundsätzlich nicht. Und wenn man dann auch noch Sex mit ihr haben konnte, war das mehr wert als ein Lottogewinn.   Noch bevor ich unsere Haustür gänzlich geöffnet hatte, ertönte ein erleichtertes „Law!“ und im nächsten Moment wurde ich von meiner Schwester beinahe über den Haufen gerannt. „Lamy, es ist alles in Ordnung mit mir.“ Mit einem überforderten Lächeln tätschelte ich ihren Rücken, während sie mich zerquetschte. „Das mit der Polizei ist so weit geklärt. Ich…“ „...kann froh sein, dass meine Schwester gehört hat, wie ich von einem kleinen Abenteuer heimgekommen bin?“ Frech grinsend sah sie zu mir auf. Jetzt, da ich in Person vor ihr stand, gehörten Sorgen um mich der Vergangenheit an, und man konnte mich getrost wieder necken. „Danke, Lamy“, erwiderte ich ehrlicherweise. „Und danke auch an Bepo. Hätte nicht gedacht, dass ein fetter, nerviger Kater mir mal den Arsch rettet.“ Wir lachten beide auf, dann ließ Lamy mich endlich los. „Verschwinde bloß nicht gleich wieder in deinen Keller; Mama hat Forellen gebacken.“ Gleichbedeutend mit: „Unsere Eltern haben sich auch Sorgen gemacht. Bitte zeig allen, dass du noch am Leben bist.“ Ich versteh schon. Natürlich folgte ich ihr in die Parterrewohnung hinein. Immerhin gehörte meine Familie zu der ausgewählten Elite, die mir wirklich etwas bedeutete, und außerdem war Fisch mein Lieblingsgericht. In der Küche wurde ich sofort von meiner Mutter in die Arme geschlossen und meinem ebenfalls auf das Essen wartenden Vater musste ich versichern, dass ich wirklich nichts angestellt hatte und nach wie vor der brave Sohnemann war. Anschließend saßen wir zu viert um den Esstisch, redeten, aßen und lachten und gaben das perfekte Bild einer glücklichen Durchschnittsfamilie ab. Ich kam stark nach unserem Vater und Lamy mit ihren beiden braunen Zöpfen und den dunklen Augen nach unserer Mutter. Sie war Arzthelferin in einer Tierklinik, ich studierte Chirurgie und unser Vater war als Forscher bei Don Quichotte Pharma angestellt, während unsere Mutter im Pflegedienst arbeitete. Medizin war seit Generationen das Fachgebiet der Familie Trafalgar und ich konnte zurückblicken auf eine lange Linie an erfolgreichen Ärzten und Entdeckern als Vorfahren. Wobei man mir allerdings niemals das Gefühl gegeben hatte, ich müsse diesem Ruf unbedingt gerecht werden. Unsere Eltern hielten von Druckmacherei nicht viel und so konnte man durchaus behaupten, dass wir nicht nur den Anschein einer glücklichen Familie erweckten, sondern schlicht und ergreifend eine waren. Durchschnittlich allerdings… hörte spätestens bei mir auf. „Entschuldige bitte, Law.“ Meine Mutter sah bestürzt den Teller an, den ich bis auf den letzten Rest fein säuberlich leer gegessen hatte. „Hätte ich gewusst, dass du zum Essen vorbeikommst, hätte ich mehr Fisch und weniger Soße dazu gemacht.“ „Schon in Ordnung. Ich bin satt. Außerdem hab ich bei mir unten noch Reste von gestern. Aber danke, Mama.“ Soßenbinder zählte zu den Nahrungsmitteln, von denen mir selbst nach geringem Verzehr speiübel wurde. Auch Getreide jeder Art, Industriezucker und Alkohol bekamen mir nicht. Schimmel hingegen vertrug ich selbst in den wüstesten Formen und mit Sicherheit hatte ich auch schon mehr als einmal abgelaufenes Fleisch zu mir genommen. Ohne jegliche Probleme. Ob es Kid genauso ging? Und erntete er ähnlich scheele Blicke dafür? Wieder stieg die Wärme in meine Wangen. Es war peinlich, wie sehr mich das Aufeinandertreffen mit dem Kriminalbeamten beschäftigte. Gut, dass mein Vater mich an noch viel Peinlicheres erinnerte. „Wie war das Ultraschalllabor heute eigentlich, Law? Gestorben bist du daran ja nicht, wie ich sehe.“ „Papa!“, rügte ihn Lamy und auch meine Mutter zog ein missbilligendes Gesicht. „Gestorben nicht, nein“, sagte ich mit einem tonlosen Seufzen. Jetzt, da es vorbei war, konnte ich die erniedrigende Erfahrung in jene Schublade meines Gehirns verbannen, auf der stand: „Traumata. Bitte nicht vergessen, sondern zu Anlässen wie Familienfeiern, ersten Dates und Vorstellungsgesprächen unbedingt wieder hervorholen.“ „So schlimm?“, hakte mein Vater nach und bewies damit, dass er doch kein Idiot ohne Einfühlungsvermögen war. „Ich werd darüber hinwegkommen.“ Mir war nicht danach, ins Detail zu gehen. Immerhin wusste ein jeder hier am Tisch über meine Besonderheit Bescheid und konnte sich somit vorstellen, was mir widerfahren war. „Außerdem muss ich morgen früh aufstehen und sollte jetzt besser ins Bett.“ „Du gehst schon?“ „Sicher, dass du nicht darüber reden möchtest?“ Ich erhob mich mit einem schwachen Lächeln und schüttelte den Kopf. „Es ist in Ordnung. Danke für das Essen, Mama. Und gute Nacht.“ Wahrscheinlich wäre es ihnen lieber gewesen, ich hätte mich ein wenig mehr geöffnet, doch ich wollte nicht. Dass ich mich als Vorzeigeobjekt des Jahrzehnts hatte benutzen lassen, war meine eigene Schuld. Ich hätte mich schließlich auch weigern können. Was tut man nicht alles für die Forschung… Erfüllt von einer seltsam nostalgischen Melancholie machte ich mich auf den Weg ins Untergeschoss und betrat meine eigene bescheidene Wohnung. Sie war nichts Besonderes. Die Möbel stammten zum Teil aus meinem ehemaligen Zimmer, zum Teil von meinen Eltern und Bekannten. Nichts passte wirklich zusammen, doch immerhin hatte ich es geschafft, dem Ganzen eine persönliche Note zu verleihen. Hier war endlich Platz für meine endlosen Sammlungen an Büchern, alten Münzen, Comics und Actionfiguren in Originalverpackung. Ohne Zwischenstopp schlich ich ins Bad, warf noch im Gehen meine Klamotten von mir und stellte mich unter die Dusche. Das heiße Wasser prasselte wohltuend auf mich nieder und vermochte dennoch nicht die Bilder des heutigen Ultraschalllabors aus meinem Kopf zu verdrängen. Wir hatten in Zweierteams jeweils an einem Ultraschallgerät gearbeitet und uns gegenseitig untersucht. Mein Partner war dabei Penguin gewesen. Seine zurückhaltende Art, so hatte ich geglaubt, werde mich davor bewahren, irgendwie in den Mittelpunkt zu geraten. Dumm nur, dass in dem Augenblick, als ich den Patienten gespielt hatte, die Dozentin an unserer Station vorbeigekommen war. Voller Begeisterung hatte sie sofort die restlichen 28 Studenten auf den Plan gerufen, damit sie alle einen Blick auf das unbrauchbare Chaos an Organen in meinem Bauchraum werfen konnten. Alkanthiolurie. Meine Diagnose seit ich denken konnte und in meinem speziellen Fall nicht einmal vererbt, sondern eine vom Schicksal als Partygag veranlasste Spontanmutation. Wobei ich bisher nicht realisiert hatte, dass ich mich innerlich wirklich so sehr von anderen Menschen unterschied. Heute jedoch hatte ich es selbst gesehen. Der Magen war das einzige meiner Verdauungsorgane mit halbwegs korrekter Lage und Form. Daneben und darunter schlossen sich scheinbar unwillkürlich aneinandergereiht Leber, Bauchspeicheldrüse und Galle an und waren alle drei nicht einmal annähernd wiederzuerkennen. Dazu kamen zwei weitere Gebilde ohne Namen und mit unklarer Funktion. Mein Darm war kurz und zudem sinnlos, da er an keines der anderen Verdauungsorgane anschloss. Es war der Brüller auf jeder Feier mit gekippter Stimmung, wenn man verlauten ließ, dass man noch nie in seinem Leben auch nur einen Stuhlgang hatte. Den restlichen Platz in meinem Bauch nahm ein einziges, mit Flüssigkeit gefülltes Organ ein, von dem die Wissenschaft behauptete, es handle sich um die Blase. Warum dann im Leistenbereich weitere paarige Organe daran anschlossen und eine Verbindung zum Magen bestand, wurde in keinem einzigen Fachbuch auch nur im Ansatz erwähnt. Stumm starrte ich auf meinen Bauch hinab, berührte ihn voller Zweifel und fuhr dann fort, mich zu waschen. Wieso bin ich nicht längst tot? Können einfache Tabletten ein solch kaputtes System wirklich am Leben erhalten? Mein Vater wusste mit Sicherheit mehr darüber. Er arbeitete immerhin genau dort, wo Smile hergestellt wurde. Leider aber unterlag er absoluter Schweigepflicht, was seine Forschungen anbelangte, und seine einzige Antwort auf Fragen war stets, dass ich mich für mehr Informationen selbst Don Quichotte Pharma anschließen müsse. Was ich im übrigen auch vorhatte nach meinem Studium. Ich wollte den Weg der Organtransplantation gehen, um Leuten wie mir zu einem Leben ohne Medikamente zu verhelfen. Nach dem heutigen Tag erschien mir mein Vorhaben allerdings als geradezu utopisch. Es grenzte ja bereits an einem Wunder, dass Smile half. Nicht mehr nur verwirrt, sondern auch noch niedergeschlagen schlurfte ich aus der Dusche und trocknete mich ab. Vielleicht brauchte ich Schlaf. Vielleicht konnte ich die ganze Sache morgen klarer betrachten. Mein Bett wartete bereits auf mich, als ich mich ausgelaugt und müde hineinfallen ließ. Eigentlich war es für zwei Leute konzipiert und die Menge der Kissen und Decken, die es beherbergte, wahrscheinlich sogar für fünf. Doch ich brauchte es genau so. Ich musste mir ein riesiges Nest bauen und dann bevorzugt nackt darin schlafen. Etwas in mir fand nämlich nur dann zur Ruhe. So rollte ich mich zwischen meinen vielen Decken zusammen, schloss die Augen und musste auf einmal wieder an Kid denken. Brauchte er auch ein Nest? Konnte er auch zwei Liter am Stück trinken? Hatte er als Kind ebenfalls unter der Bloßstellung gelitten, weil die Medikamente damals den widerlichen Geruch von Schweiß und ganz besonders Urin nicht zu neutralisieren vermochten? War auch er heute noch das Gespött aller Bekannter, weil er einen üblen Geruch nicht als solchen identifizieren konnte? Und nahm er womöglich dieselben weiß-blau verpackten Tabletten wie ich? Fragen über Fragen, die mich letzten Endes mit einem Lächeln einschlafen ließen. Kapitel 6 --------- Kid   Gerne hätte ich mir noch eine Weile länger mit Law provozierende Nachrichten hin und her geschickt, doch ein übergeschnappter Idiot mit knallgrüner Hahnenkammfrisur machte das zunichte, als er in den Gemeinschaftsraum platzte. „Shanks! Da! Ich hab… die Person gefunden… die du meintest!“ Bartolomeo – ein riesiger Kerl mit Septumring und Tätowierung unterm Auge wohlgemerkt – fuchtelte nach Luft schnappend mit dem zuvor gefundenen Handy vor Shanks herum, als wäre er Fangirl auf einem Boyband-Konzert. „Sie hat genau… 37-mal angerufen!“ „Sieh einer an!“ Ein strahlendes Lächeln machte sich auf Shanks’ Gesicht breit. „Ganz schön gewitzt, die Kleine. Aber nicht mit mir; ich wusste ja, dass sie mir etwas verschweigt.“ Er nahm das Handy entgegen und legte es unter Bartolomeos triumphierenden und Smokers halbwegs interessierten Blicken in die Mitte des Sofatisches. Ich verdrückte eilig die letzten Reste Hühnerfleisch, wischte mich noch einmal in den Vorhang und trat dann einfach ein paar Schritte näher an die anderen heran. Dass eventuell noch eine Schwefelfahne an mir haftete, war mir gerade scheißegal. Ich hatte nicht nur die Befugnis, sondern sogar die verdammte Aufgabe, Shanks bei seinem Vorhaben über die Schulter zu glotzen. „Kid!“ Bartolomeo hatte mich entdeckt und wie jedes Mal krepierte er vor Begeisterung beinahe. „Du bist ja auch da!“ „Unkraut vergeht nicht, Barty.“ Handschlag, Faust, Schulter, Teufelshörner – unsere spezielle Begrüßung saß. „Der Champignon und der Lahmarsch waren gerade noch bei mir! Haben mir alles erzählt!“, plapperte Barty drauflos. „Wie du den Tatort und das Handy gefunden hast! Der Wahnsinn!“ Bei ihm gab es nur zwei Modi: Entweder vergötterte er etwas oder er fand es abgrundtief scheiße. Entweder las er einem mit Dackelblick jeden Wunsch von den Lippen oder er wurde zur bissigen Bulldogge, die vor nichts und niemandem Respekt hatte. Man konnte ihn durchaus als anstrengend bezeichnen, doch da er zu meinen Bekannten noch aus Waisenhauszeiten gehörte, nahm ich seine seltsamen Anwandlungen zumeist hin. „Jungs, seid leise!“ Shanks tippte gut gelaunt auf Vinsmokes Handy herum. „Ich werde jetzt einen Anruf tätigen.“ „A-aber natürlich!“, stammelte Barty und kniete im nächsten Moment auch schon direkt vor dem Sofatisch am Boden, um das Geschehen mit glitzernden Augen zu verfolgen. Er war wirklich nicht ganz dicht. Wobei ich Shanks hinsichtlich ihm Kompetenz zusprechen musste, da er derjenige gewesen war, der meinen alten Freund zuerst als Hacker aufgegriffen und ihn dann zur Festanstellung als IT-Spezialist überredet hatte. Irgendwie hatte er es geschafft, über Nacht vom Scheißbullen zum angebeteten Idol zu werden. Was eine Glanzleistung war. Wenn Barty sich nämlich einmal zu etwas eine Meinung gebildet hatte, änderte er diese für gewöhnlich auch nicht mehr. Mit verschränkten Armen auf eine Stuhllehne gestützt sah ich nun dabei zu, wie Shanks das Handy traktierte und gleich darauf ein lautes Tuten erklang. Keiner im Raum gab mehr einen Mucks von sich. Alle Augenpaare waren auf das Smartphone gerichtet und die unausgesprochene Frage allgegenwärtig, ob wir auf diese Weise tatsächlich an für uns relevante Informationen kamen. Nur drei Freitöne später wurde der Anruf entgegengenommen. „Sanji!“ Eine verzweifelte Frauenstimme meldete sich zu Wort. Woraufhin Shanks um einiges ernster als zuvor entgegnete: „Nein, tut mir leid, Frau Vinsmoke. Hier spricht Shanks von der Kriminalpolizei. Ein paar meiner Kollegen sind per Lautsprecher ebenfalls anwesend.“ Entsetzte Stille am anderen Ende der Leitung. „Bitte legen Sie nicht auf, wenn Ihnen das Wohlergehen Ihres Bruders etwas bedeutet. Ich möchte mich gerne mit Ihnen unterhalten.“ Wieder Stille. Schließlich: „Meinetwegen.“ „Vielen Dank für Ihre Kooperation, Reiju“, lächelte Shanks. „Bitte wären Sie so freundlich, mir zuallererst zu erklären, weshalb Sie mir vorhin verschweigen mussten, dass Sie sehr wohl Kontakt zu Sanji haben?“ „Das lag nicht an Ihnen“, kam die prompte Antwort und ich hatte den Eindruck, trotz der Besorgnis auch eine gewisse Professionalität in Reijus Stimme wahrzunehmen. „Sehen Sie: Meine Familie hält Sanji für einen...“, sie schluckte, „...einen Taugenichts. Jegliche offen gezeigte Sympathie für ihn könnte mich Ansehen und Arbeitsplatz kosten.“ „Aber Sorgen machen Sie sich schon um ihn?“ „Sonst hätte ich nicht versucht, ihn zu erreichen. Wieso fragen Sie das? Und woher haben Sie überhaupt sein Handy?“ „Sie setzen Ihre Prioritäten sehr eigenartig, Reiju“, sprach Shanks das an, was wohl einem jeden hier durch den Kopf ging. (Ja, sogar bei Smoker war ich mir da relativ sicher.) „Wenn das mein Bruder wäre, der da verschwunden ist, wären Job und was die Leute von mir denken das Letzte, worum ich mir Sorgen machen würde. Und was den Fundort des Telefons angeht, so seien sie unbesorgt – wir haben alles im Umkreis gründlich nach Spuren und Hinweisen abgesucht und arbeiten an der Auswertung.“ Hehe, das war’s, Shanks. Nach der Ansage geht die doch in die Luft. „Ich wäre Sanji keine große Hilfe, sollte ich selbst in eine problematische Situation geraten“, widerlegte sie meine Gedanken mit kühler, sachlicher Gefasstheit. Sofort wurde mir klar, dass dies nicht das erste unangenehme Gespräch war, das sie führte. Ich hatte mir ihre Professionalität zuvor also nicht eingebildet. „Und glauben Sie mir: Meinem Vater zu offenbaren, dass ich ihn all die Jahre über angelogen habe, was meine Beziehung zu Sanji betrifft, wäre eine problematische Situation.“ „Tatsächlich? Doch nicht so unschuldig, Ihr liebster Herr Vater, wie er zu sein vorgegeben hat?“ Reiju schien zu zögern, antwortete aber dennoch. „Ganz ehrlich, Shanks: Ich weiß es nicht. So weit ich informiert bin, hatte er tatsächlich keine Ahnung, dass Sanji längst von seinem Auslandsaufenthalt zurück ist. Für einen potentiellen Täter oder Mittäter halte ich ihn trotzdem. Auch meine Brüder würde ich nicht ausschließen. Meine Familie nutzt mitunter eher... unorthodoxe Wege, Geschäfte abzuwickeln oder Probleme aus der Welt zu schaffen. Wieso also nicht auch das Problem Sanji?“ Weiterhin derselbe unterkühlte Tonfall, den auch Law benutzt hatte. Wo zum Teufel kam diese Art Mensch her? Aus Alaska? Vom Sonnenbaden in der Tiefkühltruhe? „Einen Moment bitte.“ Shanks zog die Burger-Pappschachtel in seine Reichweite, dann begann er mit einem Kugelschreiber Notizen daraufzuschmieren. Natürlich war das nicht einmal halb so professionell wie Reiju, aber ehrlich gesagt hätte ich dasselbe getan, solange es seinen Zweck erfüllte. „Sie beschuldigen also so ohne Weiteres Ihre gesamte Familie, nur weil diese schlecht auf Sanji zu sprechen ist? Obwohl Sie selber – insofern das stimmt – die einzige sind, die ihn in letzter Zeit kontaktiert hat? Ich hoffe, Sie wissen, wonach das klingt.“ „Sie müssen mir bitte glauben!“ Endlich war ein Hauch der Verzweiflung zurück, mit der sie uns ganz zu Anfang begrüßt hatte. Ewig konnte also auch ein Alaska-Tiefkühlmensch nicht an sich halten und irgendwie bereitete mir das Genugtuung. Zumindest machte es Reiju um eine ganze Ecke vertrauenswürdiger. „Sanji bedeutet so viel für mich! Ich würde ihm niemals etwas zu Leide tun! Sehen Sie sich unseren Chatverlauf an. Bitte! Sie haben mein vollstes Einverständnis dafür. Sie werden dort nichts weiter vorfinden, als völlig normale Konversationen zwischen Geschwistern. Keine versteckten Botschaften, nichts zwischen den Zeilen, gar nichts. Er wollte… er wollte mich am Wochenende ins Kino… einladen…“ Ihre Stimme erstarb. Bildete ich mir das ein oder hatte sie soeben ein Schluchzen unterdrückt? „Ich werde mir den Chatverlauf ansehen!“ Völlig unerwartet war Barty aufgesprungen, hatte seinen Kopf beinahe gegen den von Shanks gerammt und brüllte nun von wer-weiß-welchen Dämonen gebissen in das Handy hinein. „Mach dir keine Sorgen, Reiju! Shanks und Kid finden deinen Bruder! Wir glauben dir!“ „Tun wir das?“ Hilflos warf Shanks mir einen Blick zu, doch ich zuckte nur grinsend die Schultern. Er war so etwas wie ein Guru für Barty, dann konnte er sich gefälligst auch alleine um ihn kümmern. Und zwar schnell. Seine Lautstärke bohrte sich wie kleine, fiese Uhrmacherschrauben in mein schmerzendes Gehirn. „Ähm, Barto… wenn du bitte…“ „Oh nein! Verzeihung! Natürlich!“ Shanks brauchte ihn nicht einmal wegschieben, so sehr war Barty ihm hörig. Hellauf entsetzt über sich selbst machte er einen Satz rückwärts und ich wunderte mich ehrlich gesagt, dass er nicht gleich rot vor Scham unter dem Tisch verschwand. „Reiju, sind Sie noch da?“ An Shanks lag es jetzt, die Situation geradezubiegen. „Bin ich.“ „Gut, dann… haben Sie sicher meinen Kollegen Bartolomeo soeben gehört. Selbst wenn sein Entschluss sehr spontan und ganz und gar ohne Absprache erfolgte“, er warf Barty einen tadelnden Blick zu, „so schließe ich mich diesem dennoch an.“ Was? „Falls Sie für heute zwischen siebzehn und achtzehn Uhr ein Alibi vorweisen können.“ Ich entspannte mich wieder. Bisweilen war Shanks kompetenter als er aussah. Und selber, Kid? Wie war das mit Law? Das war nicht gerade ein ausreichendes Alibi, das er abgeliefert hat, und du hast es trotzdem durchgehen lassen. Alles wegen ein paar Pheromonen und schönen Worten. Mit finsterem Blick presste ich mir einen Handballen gegen die pochende Schläfe. Meine innere Stimme, die mich so schonungslos aufzog, hatte natürlich recht. Dieses eine Mal mochte ich vielleicht richtig gelegen haben mit meinem Vertrauen in einen heißen Typen – immerhin hatte ich Laws Geruch am Tatort nicht wahrgenommen und auch zeitlich war seine Beteiligung an der Tat eher unwahrscheinlich – doch eine Taktik-to-go war das sicher nicht. „Zwischen fünf und sechs war ich noch auf der Arbeit“, hörte ich Reiju sagen. „Einige meiner Kollegen können das zu hundert Prozent bestätigen. Ich kann Ihnen eine Liste mit deren Telefonnummern zukommen lassen.“ „Das klingt doch vielversprechend. Schicken Sie die Nummern einfach auf dieses Handy hier, dann kann sich Bartolomeo darum kümmern.“ Ziemlich eindeutige Blicke trafen den hochroten Barty. Er hatte seine Hilfe in dem Fall angeboten, jetzt musste er auch helfen. „Ich hoffe, Ihre Unschuld lässt sich beweisen, Reiju, denn Sie sind eine kluge Frau. Ich mag Sie.“ „Vielen Dank, aber warten Sie bitte. Legen Sie noch nicht auf.“ Verwundert hielt Shanks inne. Tatsächlich hatte er bereits einen Finger gezückt, um innerhalb der nächsten zwei Sätze den Touchscreen zu bedienen. Krass, Alter! Kann die Frau hellsehen? „Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen wollen?“, hakte Shanks nach. „Sie glauben mir nicht wirklich, dass mein Vater oder meine Brüder mit Sanjis Verschwinden zu tun haben. Versuchen Sie nicht zu leugnen; ich weiß das.“ Offensichtlich konnte sie nicht nur hellsehen, sondern auch Gedanken lesen. „Geben Sie mir Zeit bis morgen Abend. Ich bin eventuell dazu in der Lage, handfeste Beweise zu besorgen.“ Ich sah, wie sich Shanks’ Stirn in Falten legte. Angehörige, die versuchten, sich in Ermittlungen einzubringen, waren natürlich keine Seltenheit, aber auch lästig. Mit ihnen kam eine unbekannte Variable ins Spiel, von der man nicht wusste, ob sie in naher Zukunft selbst zum Opfer oder sogar Täter mutierte. Zivilisten waren nicht dazu ausgebildet, Kriminalfälle zu lösen, und dass es viele dennoch versuchten, war uns meist mehr ein Hindernis denn Hilfe. Smoker, welcher der Situation bis jetzt ruhig beigewohnt hatte, stellte mit Nachdruck seine Kaffeetasse ab, dann kam er ohne jegliche Vorwarnung auf die Sofagruppe zu. Er tauschte einen kurzen Blick mit Shanks, den ich nicht zu deuten wusste, und beugte sich anschließend hinab zu dem Handy, beide Hände auf die Tischplatte gestützt. „Hier spricht Kommissar Whitehunter. Hören Sie mich, Frau Vinsmoke?“ Die verblüffte Pause, die sich Reiju leistete, war kaum als solche zu erkennen, bevor sie mit rein geschäftlicher Stimmlage bejahte. Smoker nickte mürrisch, steckte sich eine neue Zigarre in den Mund und fuhr, während er sie anzündete, fort: „Unternehmen Sie nichts auf eigene Faust. Begeben Sie sich nicht in Gefahr.“ „Aber…“ „Überlassen Sie die Ermittlungen uns.“ Rauchschwaden, die zwischen seinen Lippen hervorkrochen, unterstrichen das Gesagte auf eine Weise, wie ich sie aus alten Gangsterstreifen kannte. „Wenn Sie der Meinung sind, dass sich im Haus Ihres Vaters Beweise vorfinden lassen, beantragen wir einen Durchsuchungsbefehl.“ „Was? Nein, ich…“ „Dann gibt es gar keine Beweise?“ Diesmal war die Pause eine längere. Hatten wir es also doch mit einer falschen Schlange zu tun, die die Wahrheit verdrehte und ihre Spielchen mit uns und ihrer Familie spielte? Oder trug ganz einfach nur die schroffe Sonderbehandlung von Smoker Früchte? „Ich bin mir nicht sicher“, war alles, was Reiju matt klingend von sich gab. Offenbar wusste sie einzuschätzen, wann sie verloren hatte. „Gut. Dann sprechen wir uns wieder, wenn Sie sich sicher sind. Eine gute Nacht noch.“ Er beendete das Telefonat – unbarmherzig und ohne zu zögern – dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf. Shanks beäugte ihn vom Sofa her, kratzte sich am Bart und beanstandete schließlich: „Ganz ehrlich, Smoker, musste das sein? Ich halte die Kleine eigentlich für unschuldig. Kein Grund…“ „Was für ein dreckiger Arschmove war das denn?“ Barty schaltete sich mit vor der Brust verschränkten Armen und zutiefst abfälliger Miene ein. Daraufhin wandte Smoker ihm nur den Kopf zu, doch wenn er geglaubt hatte, seine einschüchternde Art werde auch diesmal die Situation regeln, hatte er sich geschnitten. Anstatt zurückzuweichen, ging Barty schnurstracks auf ihn zu, hielt dem stechenden Blick stand und blaffte: „Hältst dich auch für den Supercop hier, eh? Reiju so scheiße zu behandeln war voll unnötig, Mann!“ Geil, kostenloses Idiotentheater! Wo sind die Kartoffelchips? Schief grinsend sah ich zu, wie Smoker tatsächlich die Worte zu fehlen schienen, und hielt es nicht für nötig, mich vom Fleck zu rühren. Stattdessen ließ ich den Stuhl unter meinen Armen ein wenig auf den hinteren Beinen wippen und ergötzte mich an dem bizarr anmutenden Schauspiel. Der Riese aus der IT-Abteilung erklärte unserem Spitzenermittler, wie er seinen Job zu machen habe. Gewagt dämlich, aber meine vollste Hochachtung hatte er. „Was mischste dich außerdem da ein? Das ist der Fall von Shanks und Kid!“ Wieder kam keine Antwort von Smoker. Dafür aber eine Reaktion. Er bückte sich nach dem unschuldig daliegenden Smartphone, dann drückte er es Barty an die Brust. „Mach du deine Arbeit, Junge, und lass mir die meine.“ Da war unterdrückte Wut in der Stimme, das bildete ich mir nicht ein. „Du kannst Frau Vinsmoke ja trösten, wenn es dir dann besser geht.“ Was daraufhin folgte, lag bei Barty zwar an der Tagesordnung, war aber so surreal, dass man es mit eigenen Augen gesehen haben musste, um es zu glauben. Sein Gesicht – vor einer Sekunde noch der Inbegriff der Verachtung – lief scharlachrot an, seine große Klappe verstummte und mit meiner empfindlichen Nase konnte ich sogar wahrnehmen, wie nervöser Schweiß bei ihm ausbrach. Sein Blick war geradezu an das Handy geklebt, das er zwischen zitternden Fingern hielt, und langsam hörte man, wie sich ein aufgeregt quietschendes Einatmen anbahnte. „Sofort!“, brach es eine halbe Oktave höher als gewöhnlich aus ihm hervor. „Schon unterwegs!“ Er machte kehrt und rannte aus dem Raum, das Handy mit beiden Händen umklammert wie etwas Heiliges. „Reiju, ich werde…!“ Das übergeschnappte Gesäusel ging in ein merkwürdiges Japsen über, als er auf dem Weg zur Tür hinaus beinahe Zorro überrannte, der mit einigen Zetteln in entgegengesetzte Richtung unterwegs war. „’Tschuldige, Zorro! Wichtige Mission!“ Er ließ ihn nach kurzem Körperteilchaos auf der Türschwelle stehen, dann war er samt Feuereifer auch schon verschwunden. Zorro sah ihm mit düsterem Blick hinterher, brummte etwas in sich hinein, das nicht einmal ein richtiges Wort war, und beehrte uns schließlich mit seiner Anwesenheit im Aufenthaltsraum. „Kommissar Whitehunter?“ „Was gibt es, Lorenor?“ Ich verdrehte die Augen. Die übertriebene Förmlichkeit zwischen Vater und Sohn ging mir schon seit meinem ersten Tag hier gewaltig auf den Sack. Was auch immer zwischen den beiden vorgefallen war, das ihre Stimmung untereinander konstant auf den Nullpunkt setzte – irgendwann musste über diese Sache doch Gras wachsen, oder? „Das Labor hat die hier gerade durchgefaxt. Da stimmt was nicht. Die sind überhaupt nicht für unseren Fall.“ Smoker bekam die Papiere unter die Nase gehalten, die er daraufhin genauer in Augenschein nahm, und ich ließ es endlich bleiben, mit dem Stuhl zu wackeln, richtete mich auf und streckte mich. So wie alles verlaufen war, hätte ich getrost weiter mit Law schreiben können. Wirklich gefragt war mein Typ ja nicht gewesen. „Shanks, Kid, kommt her und seht euch das an.“ Na, wenigstens jetzt brauchte man mich. Kurz wechselte ich Blicke mit Shanks, der bis soeben seine Burgerschachtel-Notizen verfeinert hatte, dann zuckten wir alle beide die Schultern und gingen zu Smoker hinüber, welcher scharf wie ein Wachhund die Zettel beäugte. „Die sind für uns“, stellte Shanks ganz richtig fest. „Das ist die Analyse von den Spuren am Container“, fügte ich an und überflog rasch die Zeilen. „Weißer und blauer Lackabrieb, wahrscheinlich von einem Fahrzeug. Hab ich ja gleich gewusst, dass da einer beim Ausparken geschielt hat.“ „Lieferwagen?“, mutmaßte Shanks, der nachdenklich an seiner Unterlippe zog. „Ziemlich sicher. Mit irgendetwas müssen sie Vinsmoke ja verschleppt haben.“ Außerdem erklärt das, wie zwei Männer einfach aus dem Nichts auftauchen können. „Gute Arbeit, Lorenor. Sie wissen, was das bedeutet?“ Smoker paffte ein paar stickige Rauchwolken, denen ich gekonnt auswich. Aber Moment mal, wieso lobte er Zorro? Der hatte doch bloß die Zettel angeschleppt. „Bringen Sie unsere Kollegen auf den neusten Stand.“ „Wir ermitteln gerade in einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Das Opfer ist ein Fahrradfahrer, noch am Tatort seinen Verletzungen erlegen“, zählte Zorro auf. „Am Fahrradlenker ließen sich Lackspuren in denselben Farben sicherstellen. Deswegen hat das Labor die Ergebnisse auch an uns geschickt, nehme ich an. Die müssen das verwechselt haben.“ Ein allgemeines Schweigen trat ein und nebst dem Geräusch einer Klospülung drei Räume weiter waren unsere Gedankengänge deutlich hörbar. „Der Lack… hat nicht zufällig auch die exakt selbe Zusammensetzung und das exakt selbe Alter?“, bohrte Shanks nach. „Diesen Lieferwagen zu finden, hat soeben allerhöchste Priorität erhalten“, stimmte Smoker zu. „Wir müssen die Suche im entsprechenden Gebiet die Landstraße entlang und in der Umgebung ausweiten. Außerdem benachbarte Reviere kontaktieren.“ „Vielleicht ist das auch gar nicht nötig.“ Ein Geistesblitz durchzuckte mich und ich begann fieberhaft in den Untiefen einer meiner Hosentaschen herumzukramen. „In welcher Richtung liegt der Unfallort?“ „Nordwestlich von Neustadt, die Straße am Steinbach entlang.“ „Da, wo mitten im Wald ein Industriegebiet ist, richtig?“ Unter aller Augen klatschte ich eine flache, etwas zerdrückte Arzneischachtel auf den Tisch. „Hey, das ist ja das Zeug, das du immer nimmst, damit du nicht so stinkst!“ Shanks’ Miene hellte sich begeistert auf. „Wurde aber auch Zeit. Ich setz mich nachher sonst sicher nicht mit dir in ein Auto. Schon gar nicht in meins.“ „Ich nehm das erst morgen früh um sieben wieder! Ich muss den Rhythmus beibehalten!“, blaffte ich. „Nein, seht euch den Hersteller an.“ Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann bewies auch Zorro seinen Scharfsinn. „Don Quichotte Pharma. Mit weiß-blauem Logo. Sagst du nicht immer, die haben eins ihrer Werke ganz in der Nähe? Ist das da draußen beim Steinbach?“ „Jep. Genau das. Entweder hat jemand einen Firmenwagen entführt, um Vinsmoke zu entführen, oder der Täter arbeitet dort.“ „Und er hat einen echt miserablen Fahrstil“, gluckste Shanks. „Ich sag Tashigi Bescheid, dass sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt bei dem Werk anrufen und nachfragen soll, ob denen ein Lieferwagen fehlt. Heute haben die sicher alle schon Feierabend. Mann, sind die zu beneiden.“ „Ich würde an deiner Stelle persönlich dort vorbeifahren und mir nicht zu viele Hoffnungen machen“, hielt Smoker ihn auf. „Nur, weil Don Quichotte Pharma zufällig das passende Farbschema nutzt und in der Nähe liegt, sind alles, was wir haben, trotzdem bloß Mutmaßungen. Es gibt viele Firmen, auf die man dasselbe Raster anwenden könnte.“ „Eben weil es nur Mutmaßungen sind, fahre ich nicht gleich persönlich vorbei. Das ist verschwendete Zeit.“ „Leute am Telefon können lügen, Shanks. Ich überzeuge mich gerne selbst vor Ort von der Sachlage.“ Echt jetzt? Streiten die? Die wievielte Runde Affenzirkus ist das heute schon? „Na, da bin ich ja froh, dass das nach wie vor mein Fall ist!“, lachte Shanks und klopfte Smoker kräftig auf die Schulter, „Ich bin dann mal…“ „Sagt wer?“ „Was?“ Sowohl Zorro als auch ich waren ganz allmählich wie nebenbei ein Paar Schritte zurückgewichen. Die beiden alten Böcke gerieten zwar nicht oft aneinander, aber wenn, dann wollte man ihnen auch nicht unbedingt im Weg stehen. „Wer sagt, dass das dein Fall ist?“, knurrte Smoker gerade. „Ich? Kid?“ Shanks zuckte die Schultern, „Der Chef vielleicht?“ „Da bin ich gespannt.“ Mit zwei Schritten war Smoker bei der Tür und hatte sie weit aufgerissen. „Nach dir, Shanks.“ „Wenn du meinst, dass das wirklich nötig ist…“ Erst verschwand der eine, dann der andere. Und mit ihnen auch meine gute Laune. „Sind die jetzt echt zum Chef gegangen?“ „Sieht so aus“, schnaubte Zorro mit verschränkten Armen. „Idioten. Jede Minute zählt und die halten sich mit Kleinigkeiten auf.“ „Bockmist!“ Ich trat den in Reichweite stehenden Mülleimer um. „Jedes Mal, wenn dieser versoffene Sack beim Chef landet, bin ich danach meinen Fall los! Komm mit!“ Grob stopfte ich meine Tabletten zurück in die Tasche, packte Zorro am Arm und schleifte ihn hinaus in den Gang bis vor das Büro des Hauptkommissars. Außen an der Tür hing eine angestaubte Silberplakette, die stolz den Namen „Garp D. Monkey“ verkündete, und von drinnen war angeregtes Stimmengewirr zu vernehmen. Dank meines Supergehörs verstand ich allerdings jedes Wort und was ich da hörte, gefiel mir ganz und gar nicht. „Alter, ich sags dir!“, fauchte ich und ließ mich auf die Wartebank direkt gegenüber vom Büro fallen. „Wenn dieser Saufkopf das wieder in den Sand setzt, dann sorge ich dafür, dass ich für den Rest unserer Schicht klatschnass geschwitzt bin!“ Kapitel 7 --------- Zorro   Da Kid vorm Chefbüro saß, schwieg und im wahrsten Sinne des Wortes stinksauer war, tat ich es ihm einfach gleich. Mit dem Unterschied allerdings, dass meine Wut nach und nach abflaute (und ich natürlich auch nicht den Geruch von altem Knoblauch verströmte). Sollte sich Shanks da drinnen gerade wirklich einmal wieder um Kopf und Kragen reden, bedeutete das, dass mein Erzeuger und ich den Fall übernehmen würden und ich somit höchstpersönlich nach Sanji, dem Kneipenkoch, suchen konnte. Warum überhaupt hab ich ihn als Koch abgespeichert? Er ist doch Barkeeper. Hatten die wenigen Male, die ich ihn beobachtet hatte, wie er direkt an der Bar Snacks zubereitete und servierte, einen solch bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen? Bevor ein einzelner Gedanke an die schlanken, geschickten Finger mir Wärme ins Gesicht treiben konnte, öffnete sich die Bürotür, und nahezu gleichzeitig schnellten Kid und ich in die Höhe. „...aber klar, Chef! Nein, kommt nicht wieder vor!“ Mit dem üblichen lauten Lachen, das bis hin zum drohenden Weltuntergang alles bedeuten konnte, verließ Shanks den Raum. „Ach, und schöne Grüße von Ruffy übrigens! Den hab ich vorhin getroffen!“ Hinter ihm kam mein Erzeuger zum Vorschein, doch von seinem Gesicht war der Ausgang der Absprache ebenfalls nicht abzulesen. „Oh, ist ja nett von euch, dass ihr zwei hier schon auf uns wartet.“ Langsam wurde Shanks’ Dauergrinsen verdächtig. „Aber für Kid und mich heißt es jetzt ab ins Büro und Berichte tippen. Smoker und Zorro übernehmen den Fall.“ Ein dumpfes Scheppern ertönte. Kid war ohne ein Wort davongerauscht und hatte im Vorbeigehen einen ganzen Stapel Einwegbecher am Wasserspender umgerissen. Wahrscheinlich mit Absicht. „Hey! Räum das wieder auf! Wo willst du hin?“ Verwirrt wandte sich Shanks mir zu. „Was hat er denn?“ „Ich glaube, er geht ein paar Runden joggen“, antwortete ich vielsagend. „Joggen? Aber wieso denn…? Oh nein.“ Zugegeben, es war schon lustig, wie Shanks die gute Laune vom Gesicht fiel wie Putz von der Wand. Noch lustiger war es, als ihm wohl dämmerte, womit er sich nachher ein Büro teilen musste, und er zur Prävention des Super-GAUs Kid hinterherrannte. „Halt! Bleib stehen! Bitte lass das! Können wir nicht nochmal darüber reden…?“ Amüsiert sah ich ihnen nach, bis ein Brummen neben mir ertönte. „Er hat uns den Fall freiwillig überlassen. Meinte, sein Auto müsse vor der nächsten langen Strecke dringend in die Werkstatt und dass Sie Ihren Freund bestimmt gerne selber suchen möchten, Lorenor.“ Kid, ich hau dir eine rein! „Er ist nicht mein Freund!“, erwiderte ich. Zu laut und zu schnell allerdings. Wenn ich so weitermachte, wusste bis morgen früh die gesamte Abteilung, dass ich auf den Koch stand. Inklusive Tashigi. Das durfte nicht passieren! „Ist er nicht?“ Die Art und Weise, wie mein Erzeuger diese Worte betonte, erinnerte mich siedend heiß daran, dass die meisten Leute bei dem Wort „Freund“ normalerweise an einen freundschaftlichen Freund dachten und ich mich vielleicht doch noch aus der Affäre ziehen konnte. Allem Anschein nach hatte Kid sich doch nicht verplappert. „Wir kennen uns nur“, erklärte ich rasch. „Flüchtig. Vom Sehen her. Hab höchstens ein paar Worte mit ihm gewechselt. Ruffy kennt ihn besser.“ Ja, doch, ich fand mich glaubwürdig. „Verstehe.“ Mein Erzeuger schien tatsächlich nichts weiter zu vermuten und paffte ein paar nachdenkliche Rauchwolken. „Dann lassen Sie uns aufbrechen, Lorenor. Die Zeit drängt.“ „Wir warten nicht bis morgen früh, wenn jemand da ist, den wir befragen können?“ Ich ging neben ihm her in dieselbe Richtung, in die schon Kid und Shanks verschwunden waren, und vermied es währenddessen, auf die quer über den Boden verteilten Pappbecher zu treten. Ein scharfer Seitenblick machte mir klar, dass ich soeben wieder einmal meine Unerfahrenheit bewiesen hatte. „Es schadet nicht, sich im Vorfeld umzusehen, so weit es die Zustände zulassen. Wenn wir bereits wissen, was uns erwartet, können wir bei einer offiziellen Besichtigung feststellen, ob man versucht, uns etwas zu verheimlichen.“ „Klingt plausibel.“ „Außerdem haben wir ein Tatmotiv, über das wir nur mutmaßen können. Wir müssen zügig arbeiten, um zu verhindern, dass der Fall publik wird und die Öffentlichkeit falsche Schlüsse zieht.“ Für einen Moment war mir unklar, was er meinte. Doch das legte sich, als mir einfiel, wie die Zeitung im Fall von zwanzig entlaufenen Rindern von Sabotage geschrieben hatte, obwohl wir ausschließlich angegeben hatten, dass die Ursache für den defekten Weidezaun nicht bekannt war. Was ein Journalist aus den Stichwörtern „Entführung“ und „Pharmakonzern“ basteln würde, lag auf der Hand. „Aber können wir illegale Menschenversuche wirklich vollkommen ausschließen?“, murmelte ich mit belegter Stimme, während wir das Revier verließen. „Das nicht.“ Irgendwo am Ende des Häuserblocks hörte man Shanks bettelnd und jammernd Kid hinterherkeuchen. Mein Erzeuger hatte dafür nur einen kurzen Blick übrig, dann fuhr er fort: „Hätte es jede beliebige Person sein können – was für Menschenversuche anzunehmen ist – dann wäre der betriebene Aufwand zu hoch. Warum jemanden mitten in der Stadt nahe der Fußgängerzone entführen, wenn man es auch auf einem abgelegenen Waldweg hätte tun können?“ „Nahe der Fußgängerzone? Wirklich?“ Entweder ein sehr gewagtes und dreistes Unterfangen, oder ein schlichtweg dummes. „Ich erkläre Ihnen alle weiteren Einzelheiten auf der Fahrt, Lorenor. Steigen Sie ein.“ Wir waren bei einem silbergrauen, am Straßenrand geparkten SUV angelangt. Ich gehorchte ohne Umschweife und keine Minute später waren wir auch schon unterwegs.   „Sie glauben also, dass die Täter es auf den Ko… Vinsmoke persönlich abgesehen hatten?“ Die von nachtschwarzen Bäumen eingekesselte Landstraße rollte Meter für Meter unter uns dahin, nur so weit einsehbar wie die Scheinwerfer reichten. Zwei einen Spalt breit geöffnete Fenster sorgten für angenehme Kühle und vor allem dafür, dass dichter Zigarrenrauch uns nicht die Sicht vernebelte, während ich in alles für den Fall Notwendige eingeweiht wurde, worüber mein Erzeuger zuvor im Chefbüro in Kenntnis gesetzt worden war. „Wenn nicht, dann haben wir es mit Anfängern zu tun oder sie waren sich sehr sicher, in dieser Seitengasse nicht entdeckt zu werden.“ „Der Fahrstil spricht für Ersteres“, zählte ich auf. „Und auch, dass Kid Vinsmokes Handy so ohne Weiteres unbeschädigt finden konnte.“ Mein Erzeuger schnaubte verächtlich. Was hatte ich jetzt wieder nicht bedacht? „Dieses Mutmaßen führt zu nichts, Lorenor. Selbst Anfänger hätten es auf Herrn Vinsmoke persönlich abgesehen haben können. Das eine schließt das andere nicht aus.“ „Aber Sie haben doch gerade selber gesagt…!“ „Ich weiß, was ich gesagt habe, aber überlegen Sie doch mal! Jedes weitere Mutmaßen führt uns zu abertausenden von Möglichkeiten. Ohne Zeugen, Beweise oder Verdächtige hat keine davon Gewicht. Bleiben Sie bei den Tatsachen, Lorenor.“ Diesmal schnaubte ich, allerdings vor Ungeduld. „Ob es ein persönliches Motiv gibt, wird erst interessant, sollten wir eine Verbindung zwischen Don Quichotte Pharma und einem der Vinsmokes finden. Richtig?“, knurrte ich brav. Ich hasste es, wenn mein Erzeuger mir das Gefühl gab, nach wie vor nicht mit der Ausbildung fertig zu sein. „Sehr gut. Und weiter?“ „Schlampiges Vorgehen deutet nicht automatisch auf einen Anfänger hin. Es gibt auch Täter, die gefunden werden wollen, oder solche, die Unerfahrenheit vortäuschen. Wir müssen auf der Hut sein.“ „Und noch weiter?“ „Unser Hauptanhaltspunkt ist der Lieferwagen. Wenn wir ihn nicht ausfindig machen können“, ich wurde leiser und langsamer, „dann haben wir ein Problem.“ „Problem ist untertrieben, Lorenor.“ Mein Erzeuger bog scharf auf einen Waldweg ab, so dass ich gegen die Autotür gedrückt wurde. „Der Chef will den Fall einstellen, wenn wir hier nicht weiterkommen.“ „Was?“ Mein Herz schien stehen zu bleiben, meine Stimme war lauter als nötig. Wir arbeiteten noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden an dem Fall. Welche Gründe gab es, ihn jetzt schon für so hoffnungslos zu deklarieren? „Sollten auch Tashigi und Bartolomeo mit ihren Nachforschungen nicht vorankommen, haben wir nichts mehr, woran wir anknüpfen können.“ Mit trockenem Mund und stocksteif starrte ich meinen Erzeuger an, wie er bleischwere Rauchschwaden ausstieß. „Glauben Sie ja nicht, dass ich das gutheiße. Sicherlich werde ich diesen Fall nicht ungelöst zu den Akten legen.“ Mit dem Rumpeln über Schotter und Wurzeln hinweg fuhren wir tiefer in den Wald hinein, während ich das soeben Gehörte verarbeitete und sich meine Stirn dabei in immer mehr fest entschlossene Falten legte. Das Wohlergehen des Kochs stand auf dem Spiel, doch wenigstens konnte ich mir sicher sein, dass mein Erzeuger nichts unversucht lassen würde. So gern er mich daran erinnerte, dass er der Erfahrenere von uns beiden war, genauso ungern gab er sich nämlich auch geschlagen, solange er nur ausreichend Erfolgschancen sah. Und wenn er Erfolgschancen sah, dann gab es auch welche. „Dieses Mutmaßen führt sowieso zu nichts“, lächelte ich grimmig. „Wir müssen uns auf die Lösung des Falls konzentrieren und nicht darauf, unter welchen Umständen er nicht mehr zu lösen ist.“ „Gut gesprochen, Lorenor. Wir sind da.“ Der Motor erstarb und ich konnte nicht unweit von der Sackgasse, in der wir parkten, mehrere gleichmäßig verteilte Lichter erkennen. Sie säumten ein düster hinter den Bäumen daliegendes Etwas, das sich bei genauerer Betrachtung als eine Fabrikhalle oder ein ähnlich zweckmäßiges Gebäude entpuppte. „Das Tor zum Gelände befindet sich genau dort.“ Ein Finger deutete auf den am hellsten erleuchteten Punkt und tatsächlich hatte man mit einem meterhohen Metallzaun dafür gesorgt, den Betrieb für Unbefugte unzugänglich zu machen. „Wir sollten es meiden. Wer so eindeutig keinen Besuch wünscht, beschäftigt mit Sicherheit auch einen Wachdienst.“ Zwar fragte ich mich, wie er es geschafft hatte, so zielgenau zu einem Ort zu fahren, von dem aus wir ungesehen operieren konnten, doch ich nickte nur. Ich hatte keine Lust, mir zum wiederholten Male anhören zu müssen, dass ich angeblich keine Navigationssysteme bedienen konnte. Wir stiegen aus und sogleich empfing mich die Nachtluft mit einer erfrischenden Kühle, wie man sie in der Stadt vergeblich suchte. Eigentlich gar keine so schlechte Arbeitsumgebung, wenn man einmal davon absah, dass wir uns durch hüfthohe Sträucher und stachlige Ranken schlagen mussten, um den Zaun fernab des Tors zu erreichen. „Überwachungskameras“, brummte ich mit einem Blick auf eine der hoch aufragenden Laternen, an der eine unverkennbare Vorrichtung angebracht war. „Das sollte uns nicht stören“, erwiderte mein Erzeuger. „Wir befinden uns außerhalb des Grundstücks und sehen uns nur um. Das alleine ist nicht verboten. Sollte der Wachdienst auf uns aufmerksam werden, suchen wir nach einem entlaufenen Hund.“ Gut zu wissen. Durch seltsam muffig und blumig zugleich riechende Stauden hindurch bahnten wir uns unseren Weg am Zaun entlang. Deutlich war zu erkennen, dass hier seit Jahrzehnten niemand einen Fuß hingesetzt hatte, und nach kaum fünf Minuten war ich mir bereits sicher, alles von Dreck bis hin zu Ungeziefer in meiner Unterwäsche vorzufinden, sobald ich mich nach meiner Schicht unter die Dusche stellte. Innerhalb des Zauns regte sich nichts. Zwar konnten wir im Lichtschein weiterer Laternen hier und da tatsächlich Wachpersonal erkennen, doch dieses hielt sich ausschließlich im Bereich von Eingängen und Durchfahrten auf und schien von uns keine Notiz zu nehmen. Obwohl wir mehr als nur einmal die mannshohen Stängel niederreißen mussten, an Ranken hängen blieben oder Bekanntschaft mit einem Meer aus Brennnesseln machten. Was für eine sinnlose Idee – einmal um das Gelände zu schleichen. Man sieht fast gar nichts, weil die hier an dieser Seite entlang alles mit Bunkern zugebaut haben, und so riesig wie das ist, brauchen wir außerdem Jahre, bis wir fertig sind. Missmutig kratzte ich mich an zerstochenen Fingerknöcheln, aber spähte weiterhin aufmerksam durch das Eisengitter. Wenn wir uns schon auf wenig Erfolg versprechender Mission befanden, wollte wenigstens ich derjenige sein, der trotzdem eine wichtige Entdeckung machte. Endlich, nachdem wir eine erste Grundstücksecke umrundet hatten, kam etwas in Sichtweite, das für unsere Ermittlungen relevant war: Ein Parkplatz. Er schmiegte sich der Länge nach an das bedrohlich gegen den Nachthimmel aufragende Fabrikgebäude und war groß genug, um mehr als fünfhundert Fahrzeuge zu beherbergen. Mehrere Reihen von Lieferwägen parkten dort in stummer Übereinkunft, als wären sie eine fügsam schlafende Herde, doch aus dieser Entfernung wirkte ein jeder einzelne von ihnen wie der Wolf im Schafspelz. Dutzende von blauen Logos auf weiß blitzten in spärlichen Lichtkegeln zu uns herüber, verrieten uns jedoch nicht, ob eines von ihnen heute bereits zweimal hatte Federn lassen müssen. „Ein paar der Lieferwägen scheinen zu fehlen“, stellte ich mit prüfendem Blick auf ungleichmäßig die Reihen unterbrechende Lücken fest. „Eventuell ist es den Mitarbeitern gestattet, damit nach Hause zu fahren. Ob wirklich einer abhanden gekommen ist, werden wir herausfinden, wenn wir morgen früh den Fabrikleiter befragen.“ Abschätzend betrachtete mein Erzeuger den noch vor uns liegenden Zaun, der sich ohne Ende in Sicht irgendwo in hell erleuchteter Dunkelheit und Nesselgewirr verlor. „Wir müssen näher heran, wenn wir Lackschäden feststellen wollen. Vielleicht gibt es einen Notausgang.“ Nun eindeutig Gesetzwidriges im Schilde schlichen wir weiter durch das Gestrüpp. Regeln waren wichtig – ohne jede Frage – doch Erfolg war wichtiger. Darin waren wir uns unabgesprochen einig. Nach nur wenigen Metern wurden wir tatsächlich fündig. Kein Notausgang zwar, aber eine schlecht verarbeitete Stelle im Zaun, an der sich zwei Gitter leicht versetzt übereinanderschoben und somit eine seitlich passierbare Lücke bildeten. Wir zwängten uns einer nach dem anderen hindurch, dann standen wir ungeschützt auf bloßem Asphalt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man uns entdeckte, und somit höchste Eile geboten. Stumm bedeutete mir mein Erzeuger, dass ich mich um die eine Seite des Parkplatzes kümmern solle, während er die andere übernahm. Sofort tauchte ich ab hinter den nächstbesten Lieferwagen und kam in gebückter Haltung meiner Pflicht nach. Mein Atem ging dabei ruhig und gleichmäßig, selbst wenn ich deutlich meinen Herzschlag wahrnahm. Ich funktionierte überdurchschnittlich gut unter Stress und das war der Hauptgrund, warum Dozenten und Ausbilder allesamt mit Hängen und Würgen durchgeboxt hatten, dass ich meinen Abschluss schaffte. Eines nach dem anderen unterzog ich nun die blauen Logos zu beiden Seiten der Lieferwägen einer kurzen, aber eindringlichen Prüfung. Ich suchte nach Kratzern, Dellen oder abblätterndem Lack und hatte mir dabei vorgenommen, erstens schneller als mein Erzeuger zu sein und zweitens auch derjenige, der fündig wurde. Immerhin wollte ich den Koch so bald wie möglich aus seiner vermutlich misslichen Lage befreien und obendrein beweisen, dass ich mehr war als nur ein blutiger Anfänger. Kurz kam mir dabei der Gedanke, dass Kid mit seinen Spürhundsinnen mit Sicherheit schon längst hätte sagen können, ob sich das Suchen überhaupt lohnte, doch er war nicht hier. Das hier war meine Aufgabe. Enttäuschenderweise musste ich feststellen, dass sich die Lieferwägen von Don Quichotte Pharma allesamt in einem Topzustand befanden. Nicht einmal Rostflecken an der Stoßstange oder Schäden durch Rollsplitt konnte ich entdecken. Zum Teil schob ich das zwar auf die vorherrschenden Lichtverhältnisse, aber dennoch war klar und deutlich zu erkennen, dass die Firma viel in ihr Auftreten investierte. Am Ende der letzten Parkplatzreihe wartete bereits mein Erzeuger im Halbschatten eines der Fahrzeuge auf mich. Ein Anblick, bei dem ich stur die Zähne aufeinanderbiss. Ich hatte mich doch extra beeilt. „Negativ“, berichtete ich kaum bei ihm angekommen. „Und nach allem, was ich gesehen habe, steht unser gesuchter Wagen bestimmt längst in der Werkstatt. Das heißt, falls er überhaupt existiert.“ „Sie müssen es ja wissen, Lorenor. Nachdem Sie die erste Reihe zweimal abgesucht haben.“ Seine Worte waren wie ein Schlag in den Magen. Allerdings nicht von der schmerzenden Sorte, sondern von der provozierenden. „Ich hab nicht…!“ „Seien Sie gottverdammt nochmal leise!“, zischte er, packte mich am Arm und riss mich mit sich in eine kniende Position. Dann sah er mich mit stechendem Blick an und die darin mitschwingende Enttäuschung traf mich härter als gewollt. „Sie haben Ausreden nicht nötig, Lorenor! Stehen Sie gefälligst zu Ihrer Orientierungslosigkeit und unternehmen Sie etwas dagegen!“ Der hatte leicht reden! „Ach ja?“, blaffte ich zurück und vergaß in meiner plötzlichen Rage die aufgesetzte Sachlichkeit zwischen uns. „Wegen dir? Damit ich nicht weiterhin der Schandfleck in deinem Leben bin? Darum geht es dir doch, oder? An mir liegt dir überhaupt nichts!“ Ich wusste, dass ich zu weit gegangen war. Das erkannte ich alleine daran schon, wie das wütende Gesicht vor mir zur eisernen Maske wurde. Doch es war mir egal; ich hatte genug davon, ständig behandelt zu werden, als könne ich nicht für mich selber denken. Schon öffnete ich den Mund, um noch eine ganze Reihe weiterer ungesagter Dinge loszuwerden, als ein gebellter Befehl die Nachtluft zerriss. „He! Sie da! Bleiben Sie, wo Sie sind, und stehen Sie mit erhobenen Händen ganz langsam auf!“ „Das hat noch ein Nachspiel, Bursche!“, schnaubte mein Erzeuger, dann bedeutete er mir mit einem Kopfnicken, dass wir zu tun hatten, was die Stimme verlangte. Beide gehorchten wir und als ich mich vollkommen gefasst nach dem Fremden umdrehte, erkannte ich die Uniform des Wachdienstes und auch ein modern aussehendes Sturmgewehr, dessen Lauf auf uns gerichtet war. Sowohl Kid als auch Tashigi hätten mir jetzt einen detaillierten Vortrag über die genaue Art und Benutzung der Waffe halten können, inklusive Lizenz und wahrscheinlich auch noch Seriennummer. Mich hingegen interessierte nur eines: Nicht davon getroffen zu werden. „Kommissare Whitehunter und Lorenor von der Kriminalpolizei“, stellte uns mein Erzeuger ganz nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ vor. „Wenn Sie unsere Taschen durchsuchen, finden Sie Dienstmarken sowie -ausweise.“ „Nicht nötig! Was wollen Sie hier? Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?“ Unser Gegenüber machte keine Anstalten, die Waffe sinken zu lassen, und ich konnte es ihm nicht verübeln. Immerhin war genau das sein Job. Selbst wenn ich es merkwürdig fand, dass ein Pharmakonzern solch schwer bewaffnetes Wachpersonal beauftragte. Was stellten die hinter diesen hohen Mauern außer Kids Tabletten noch her? Biochemische Kampfstoffe? Oder wurden dort tödliche Krankheitserreger erforscht? „Wir suchen nach einem Hund.“ Mein Erzeuger tat sein Bestes, um unseren Vorwand glaubwürdig zu verkaufen. „Ein preisgekrönter… Malteser. Er ist mehrere tausend Euro wert und wurde zuletzt in diesem Waldabschnitt gesichtet.“ „Ich habe keinen Hund gesehen!“, knurrte die Wache. „Wie heißt er denn? Vielleicht kann ich ja beim Suchen behilflich sein!“ Ganz eindeutig hegte er nicht einmal im Traum die Absicht, uns zu helfen. Seine Frage diente einem anderen Zweck. „Oh, wie er heißt…“ Ganz offensichtlich zählten Hundenamen zu den Dingen, die mein Erzeuger nicht spontan parat hatte. „Oh, also… irgendetwas mit O…“ „Onigiri!“, griff ich helfend ein. Ich konnte nicht zulassen, dass unser Täuschungsmanöver aufflog. „Schwachsinniger Name für einen Hund! Raus da mit euch ins Licht, damit ich euch besser im Auge behalten kann!“ Letztendlich war es einerlei, ob uns die Wache glaubte oder nicht. Das Ende vom Lied blieb dasselbe: Unter grimmigen Blicken und mit der Warnung, uns nicht wieder blicken zu lassen, wurden wir zum Eingangstor bugsiert und hochkant hinausgeworfen. Ohne ein Wort zu sagen oder auf mich zu warten, steckte sich mein Erzeuger eine neue Zigarre an, dann schlug er energischen Schrittes den Weg zurück zum Auto ein. Ich trottete hinterher und wusste, dass ich mich auf eine Standpauke gefasst machen konnte. Schuld daran, dass man uns entdeckt hatte, war schließlich ich. Das war mir bewusst und ich würde es auch nicht abstreiten. Eine bleierne Stille empfing mich, als ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm und die Tür zuzog. Ich wagte keinen Blick zur Seite und starrte stur geradeaus zwischen den finster aufragenden Bäumen hindurch. Man konnte bequem die Straße beobachten, die zum Eingangstor des Fabrikgeländes führte, wie ich feststellte. Zufall oder Absicht? „Wir müssen reden, Zorro.“ Ich war mir unsicher, was mich härter schlucken ließ: Die Tatsache, dass er vollkommen ruhig blieb oder dass er mich beim Namen nannte. „Das müssen wir wohl.“ Ich versuchte, gleichgültig zu bleiben. Dem Mann, der mich als Fehler betrachtete, keine Angriffsfläche zu bieten. „Ich entschuldige mich für mein Verhalten vorhin. Meine Reaktion war unangebracht.“ Ein zustimmendes Brummen ertönte. Danach kehrte die Stille zurück. War das etwa schon alles gewesen? Hatte er nur einmal mehr hören wollen, dass ich mich brav fügte? „Was denkst du, wieso ich nicht schon längst einen neuen Partner beantragt habe?“, fragte er plötzlich und ich spürte, wie sich daraufhin mein Unterkiefer unwillkürlich vorschob. „Weil sich sonst niemand finden würde, der so dumm ist wie ich und unter deiner Knute arbeiten will?“, schlug ich vor und verschränkte gereizt die Arme vor der Brust. „Weil ich nicht so perfekt bin, wie du es gerne hättest, und glaubst, nach Jahren, in denen du dich nicht um mich geschert hast, mit meiner Erziehung anfangen zu können?“ „Aha.“ Das war alles, was er sagte, und langsam dämmerte mir, dass dieses Gespräch zu nichts führen würde. Wie auch? Die meterhohe Mauer zwischen uns ließ sich nicht mit ein paar Worten einreißen. Ich war als Kind einer blutjungen Mutter aufgewachsen, die völlig überfordert von der Verantwortung Zuflucht bei ihrem japanischen Onkel gesucht hatte. Ein tragischer Haushaltsunfall beendete vorzeitig ihr Leben und erweckte in mir den Beschluss, eines Tages meinen Vater finden zu wollen. Den Rest der Familie, die nie existiert hatte. Vor nicht ganz vier Jahren dann war ich als aufgeregter Sechzehnjähriger auf der Türschwelle eines gewissen Volker Whitehunters aufgetaucht. Ich hatte gehofft, Vertrautheit zu finden. Oder wenigstens eine Erklärung dafür, warum er nie für meine Mutter und mich dagewesen war. Doch alles, was der mir so ähnlich sehende Mann für mich bereithielt, waren Enttäuschung und Wut. Ich war nur ein Fehler für ihn, den er mit gerade einmal fünfzehn Jahren begangen hatte – ein Schandfleck, von dem niemand erfahren durfte. Er wollte mich nicht in seinem Leben. Unser zweites Aufeinandertreffen ereignete sich wenig später, als er mir als Ausbilder bei der Polizei zugeteilt wurde. Wir nahmen es beide als unglückliche Schicksalsfügung hin, arrangierten uns lieber miteinander anstatt die unrühmliche Wahrheit preiszugeben und begruben unseren Konflikt tief unter Schichten aus Arbeitswut und Sachlichkeit. Seit meiner bestandenen Prüfung hatten diese Schichten jedoch Risse bekommen. Immer deutlicher wurde mir bewusst, dass mein Erzeuger sich weiterhin für meinen Mentor hielt, der mich maßregeln und berichtigen konnte, wie es ihm beliebte, und der mich weiterhin nicht für voll nahm. Eventuell hatte er auch nie beabsichtigt, mich jemals für voll zu nehmen. Die Ausbilderrolle war nur die perfekte Tarnung für seine Verachtung mir gegenüber gewesen. „Die Nacht ist lang. Du wirst viel Zeit haben, über deine Sicht der Dinge noch einmal nachzudenken.“ Mit diesen wenigen Worten bevormundete er mich erneut. Ganz gewiss brauchte ich darüber nicht noch einmal nachzudenken! „Ich werde jetzt eine Weile schlafen und du behältst die Straße und das Tor im Auge. Weck mich in ein paar Stunden.“ Tatsächlich hörte ich, wie er sich mit dem Rascheln von Kleidung bequemer zurechtsetze. Wie erwartet war unser groß angepriesenes Gespräch weder besonders lang noch besonders effektiv gewesen. War aber wahrscheinlich besser so. „Wir bleiben hier bis morgen früh, wenn man uns offiziell empfangen kann?“, hakte ich nach und wagte dabei endlich wieder einen Blick zu meinem Erzeuger hinüber. Er hatte den Sitz weit nach hinten gekippt und sich mit seiner Jacke zugedeckt. „Sehr richtig.“ Er schloss die Augen. „Wir wollen immerhin deinen Freund finden.“ Diesmal war die Betonung von „Freund“ eine andere und ich mehr als nur froh darüber, dass gerade niemand meine feuerroten Wangen sehen konnte.   „Guten Morgen, die Herren Kriminalbeamten. Sehr erfreut, Sie hier in meiner Fabrik und in meinem Büro willkommen heißen zu dürfen. Flamingo ist mein Name. Don Quichotte de Flamingo. Was führt Sie hierher?“ Der lange, dürre Mann mit der Designersonnenbrille schüttelte zuerst die Hand meines Erzeugers, danach die meine, und schenkte uns dabei ein breites Lächeln. Sein Name war offensichtlich Programm, da er mit Hakennase und rosarotem, modischem Anzug tatsächlich wie ein zu groß geratener Stelzvogel wirkte. Sein blondes Haar mit den Geheimratsecken trug er kurz und an den Fingern mehrere protzige Ringe. „Guten Morgen, Herr Don Quichotte“, begann mein Erzeuger, wurde aber unterbrochen. „Oh, warum so förmlich? Sie dürfen mich gerne Flamingo nennen.“ „Danke, möchte ich aber nicht.“ Eine Braue hinter der Sonnenbrille schnellte nach oben und ich warf meinem Erzeuger daraufhin einen prüfenden Seitenblick zu. Dass er bisweilen ein schroffes Verhalten an den Tag legte, war kein Geheimnis, doch etwas derart Abweisendes tat er für gewöhnlich nur, wenn er jemanden vom ersten Moment an verdächtig fand. Und zugegeben: Seine Augen hinter tiefschwarzen Brillengläsern zu verstecken, war alles andere als Vertrauen erweckend. Es war besser, auf der Hut zu bleiben, was den aalglatten Fabrikbesitzer anging. „Nun denn.“ Don Quichotte hatte sich kommentarlos von seiner Sonderbehandlung erholt und lächelte einfach weiter. „Was kann ich für Sie tun?“ „Wir sind auf der Suche nach Herrn Sanji Vinsmoke. Er wird seit gestern Nachmittag vermisst. Kennen Sie ihn?“ „Vinsmoke ist ein sehr bekannter Name und Germa 66 ein langjähriger Geschäftspartner“, kam die prompte Antwort und ich glaubte, das Lächeln noch schmallippiger werden zu sehen. „Sanji dürfte demnach einer von Jajjis Söhnen sein, doch fürchte ich, dass ich ihm noch nie leibhaftig begegnet bin.“ „Sie kooperieren mit der Waffenindustrie?“ „Wenn Medizin und Abwehrsysteme eines gemeinsam haben, dann ist es die Forschung“, beantwortete Don Quichotte die sehr berechtigte Frage. „Wir sind Forschungspartner.“ Bei diesen Worten stellten sich meine Nackenhaare auf. Wie abwegig waren illegale Menschenversuche nun tatsächlich? „Ich verstehe“, brummte mein Erzeuger. „Dann wissen Sie nichts weiter über Sanji? Ihr Geschäftspartner hat ihn Ihnen gegenüber nicht zufällig irgendwann einmal erwähnt?“ „Nicht, dass ich mich erinnern könnte.“ „Er hat auch nicht abfällig über ihn gesprochen?“ „Wirklich, glauben Sie mir: Unsere Gespräche thematisieren höchst selten Familienangelegenheiten. Ich kann die Namen seiner Sprösslinge nicht einmal auseinanderhalten.“ Don Quichotte erhob sich von seinem sündhaft teuer aussehenden Bürostuhl mit Lederbezug, dann umrundete er den Schreibtisch und deutete feierlich auf die Tür. „Nach Ihnen. Wenn wir uns schon so gut unterhalten, möchte ich Ihnen eine kleine Führung durch die Fabrik anbieten. Was sagen Sie dazu?“ Mein Erzeuger und ich tauschten rasche Blicke und kamen zur stummen Übereinkunft, dass wir nichts ablehnen sollten, was uns potentiell Informationen liefern konnte. Weshalb wir beide nickten und mit einem einstimmigen „Sehr gerne“ einwilligten. Wir traten hinaus auf einen der hohen, fensterlosen Gänge, dann folgten wir Don Quichotte, während dieser fragte: „Haben Ihre Kollegen, die sich heute Nacht unbefugten Zutritt zu diesem Gelände verschafft haben, den vermissten Hund eigentlich gefunden?“ Neuigkeiten machten hier wohl schnell die Runde. „Nein. Leider“, spielte mein Erzeuger tapfer seine Rolle. „Er ist ebenso unauffindbar wie Sanji Vinsmoke.“ Daraufhin erlaubte sich Don Quichotte ein seltsam verhaltenes, aber ebenso irres Lachen. „Und beide glauben Sie hier finden zu können? Auf dem Parkplatz?“ Er war nicht dumm. Er wusste, dass es keinen Hund gab und wir die nächtlichen Eindringlinge waren. „Sagen Sie, waren meine Firmenwägen die Besichtigung wenigstens wert?“ „Wir stellen hier die Fragen“, knurrte mein Erzeuger. Ob Don Quichotte nun schuldig war oder nicht – beliebt machte er sich gerade bei keinem von uns. „Ah, wir sind da.“ Er führte uns durch eine Glastür auf einen industriellen Galeriebalkon hinaus und überging dabei einfach, dass dies hier nach wie vor eine Befragung war. „Seht sie Euch an. Wundervoll, nicht wahr?“ Wir blickten hinab auf eine riesige Halle voller Maschinen, Fabrikarbeiter und Förderbänder. Die Luft war erfüllt von konstantem Summen und Klackern und einem Geruch, der an Chlorwasser erinnerte. Niemals zuvor hatte ich etwas Vergleichbares gesehen und fast wurde mir schwindelig bei dem Anblick des emsig arbeitenden, futuristisch anmutenden Ameisenhaufens. „In den großen Behältern dort hinten werden Zutaten zusammengemischt, in den kleineren daneben einzelne Wirkstoffe synthetisiert“, erklärte Don Quichotte und wies mit der Hand auf die jeweils angesprochenen Sektoren. „Dort in der Mitte sehen Sie, wie abertausende von Tabletten und Kapseln hergestellt und schließlich hier vorne verpackt und verladen werden; bereit, Tag für Tag Leben zu retten. Das Wohlergehen von Menschen mit seltenen, zumeist noch unerforschten Krankheiten liegt mir besonders am Herzen, müssen Sie wissen. Rund um die Uhr beschäftigen wir Forscher in unseren Laboren, auf der Suche nach noch unbekannten Heilverfahren. Ich möchte denen Hoffnung schenken, die selbst nach neustem Stand keine haben. Ich möchte einst zum Sterben Verdammten ihr Lächeln zurückgeben.“ „Deswegen Smile?“, wagte ich zu fragen und wusste nicht, ob ich angewidert sein sollte. Es ärgerte mich, dass eine zwielichtig wirkende Gestalt wie Don Quichotte unter seinem schmierigen Äußeren ein scheinbar großes Herz voller Güte trug. Denn wenn er tatsächlich nichts mit unserem Fall zu tun hatte, bedeutete das, dass ich mich von Vorurteilen hatte leiten lassen. „Unter anderem.“ Er wandte sich zu meinem Erzeuger und mir um. „Aber das war sicherlich nicht die Frage, die Sie mir stellen wollten. Oder doch, die Herren?“ „Wir haben Grund zur Annahme, dass ein Lieferwagen in die Entführung involviert ist“, fand mein Erzeuger seine Sprache wieder. „Selbiger tötete bei einem Unfall auf der Landstraße wenige Kilometer von hier entfernt einen Radfahrer und hinterließ an beiden Tatorten weiße und blaue Lackspuren.“ Bei dieser Beschreibung zuckte erneut eine von Don Quichottes Brauen nach oben. „Ich denke, Sie ahnen bereits, worauf ich hinaus will.“ „In der Tat. Doch… fündig sind Sie heute Nacht am Parkplatz nicht geworden, nehme ich an.“ „Nein“, gab mein Erzeuger zerknirscht zu. Dass wir erwischt worden waren, schien ihm mehr zuzusetzen als mir, obwohl es doch meine Schuld gewesen war. „Beunruhigend.“ Don Quichotte zog nach kurzer Bedenkzeit ein weißes Luxushandy aus seiner Hosentasche und tätigte ohne jede Erklärung einen Anruf. „Monet, zwei Herren von der Polizei sind hier. Könntest du bitte überprüfen, ob uns ein Lieferwagen entwendet oder mit Lackschäden in die Werkstatt gebracht wurde? Das hat oberste Priorität. Ein Menschenleben steht eventuell auf dem Spiel. Danke.“ Er ließ das Handy wieder verschwinden, sah uns abschätzend an und meinte schließlich: „Wenn Sie wünschen, kann ich meiner Sekretärin die Anweisung geben, sämtliche Papiere die Lieferwägen betreffend für Sie zur polizeilichen Überprüfung herauszusuchen.“ „Nicht nötig vorerst“, winkte mein Erzeuger ab. „Erzählen Sie mir lieber, was Sie gestern zwischen fünf und sechs getan haben.“ „Ich war in meinem Büro wie immer werktags. Bezeugen können das mehrere Mitarbeiter und auch meine Sekretärin.“ Er trat vom Galeriegeländer weg. „Folgen Sie mir. Ich gewähre Ihnen einen Einblick in unsere Forschungslabore.“ Wieder tauschten mein Erzeuger und ich Blicke. Ob Don Quichotte schuldig war oder nicht, eines stand jedenfalls fest: Er war transparent, hatte ein leicht nachweisbares Alibi und obendrein nur den Hauch eines Tatmotivs. Einer wie er würde sich außerdem niemals selber die Finger schmutzig machen. Die direkten Täter waren allenfalls Teil der Belegschaft. „Halten Sie es für möglich, dass einer Ihrer Mitarbeiter die Tat begangen hat?“, befragte ihn mein Erzeuger daher weiter, während wir mehrere Treppen nach unten stiegen. „Ich bitte Sie, Herr Whitehunter!“ Don Quichotte lachte auf. „Ich beschäftige weit über Eintausend Angestellte! Ich weiß nicht mehr als Sie, doch wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine Liste meiner Mitarbeiter zur Verfügung stellen und Sie befragen einen jeden einzelnen von ihnen.“ Ich spürte einen kurzen Seitenblick meines Erzeugers, dann: „Dieses Angebot nehmen wir gerne an.“ Hitze schoss in meine Wangen. Für wen genau nahm er die vielen Überstunden auf sich? Für sein Ego? Für den Koch? Für mich etwa? Wie eigentlich hatte er erraten, dass ich mich anderweitig für den Koch interessierte? Und warum tat er nicht endlich, wovor mir seit der gestrigen Autoübernachtung graute, und äußerte sich negativ dazu? „Sehr wohl. Dann werde ich noch einmal eine kurze Rücksprache mit Monet halten. Entschuldigen Sie bitte.“ Don Quichotte führte uns telefonierend in einen nahezu fensterlosen Teil der Fabrik. Die Gänge waren schmal und von Leuchtstoffröhren erhellt, der Geruch scharf und chemisch. Immer wieder durchschritten wir Sicherheitstüren, immer wieder passierten wir die gefühlt selben drei Abzweigungen und die ganze Zeit über sträubten sich ohne ersichtlichen Grund meine Nackenhaare. Mein Instinkt wollte mir weismachen, dass Gefahr im Verzug war, doch mein Kopf hielt vehement dagegen. Basierend auf dem, was wir herausgefunden hatten, gab es keine Gefahr. Sowohl die Fabrik als auch ihr Besitzer waren harmlos. „Ich habe alles für Sie geregelt“, sagte dieser soeben. „Nachher übergebe ich Sie in die Obhut meiner Sekretärin. Sie leitet alles für Ihre Befragungen in die Wege und Sie können sich auch die Lieferwägen noch einmal genauer ansehen.“ „Vielen Dank, Herr Don Quichotte“, nickte mein Erzeuger, doch allmählich begriff ich, weshalb mein Instinkt mich zu warnen versuchte. Ein solch hohes Maß an Zuvorkommenheit war unnatürlich. Selbst bei Leuten, die sich letztendlich als unschuldig herausstellten, trafen wir nicht selten auf Widerstand und Argwohn. Ein völlig normales Abwehrverhalten, das diesem Mann entweder zu fehlen schien oder von ihm gekonnt überspielt wurde. „Sie wissen hoffentlich, dass Sie sich verdächtig machen, indem Sie sich so auffällig kooperativ verhalten.“ Auf meine Worte hin blieben sie beide stehen – sowohl mein Erzeuger als auch Don Quichotte – und blickten mich direkt an. Was genau in diesem Moment in ihren Köpfen vor sich ging, war schwer zu sagen, doch erfreut schien keiner von ihnen. Ich hielt dem stand und fuhr ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen fort: „Es wirkt, als wären Sie auf unser Auftauchen vorbereitet gewesen, Sie überlassen nichts dem Zufall und spielen uns Transparenz vor, indem Sie uns einen für uns eigentlich völlig irrelevanten Einblick in die Produktionsvorgänge geben. Erklären Sie das.“ Stille trat ein. Daran, dass mein Erzeuger die Augen schloss und sich im Hintergrund hielt, erkannte ich allerdings seine Bereitschaft, mich gewähren zu lassen. „Herr Lorenor.“ Don Quichotte kam mir mit dem Gesicht näher als mir lieb war und funkelte mich mit pechschwarzen Brillengläsern an. „Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht Sie in der Rolle des Bad Cop erwartet. Interessante Taktik.“ Er richtete sich wieder auf. „Während ich Ihnen zweifelsohne Recht geben muss, dass mein Verhalten von einigen Individuen als verdächtig aufgefasst werden könnte, so möchte ich Ihnen eines jedoch nahe legen: Sollte ich eines Verbrechens beschuldigt werden und dies an die Öffentlichkeit geraten, was glauben Sie, welches Licht das dann auf mein Unternehmen wirft?“ „Je nachdem wie unschuldig Sie tatsächlich sind: Ein der Wahrheit entsprechendes.“ „Ich möchte meinen Ruf wahren und das wissen Sie auch“, ging er nicht weiter auf meine Anschuldigung ein. „Aber wie man es auch anstellt, man macht es falsch, nicht wahr? Für Sie wäre ich auch verdächtig gewesen, wenn ich Ihnen ausschließlich mitgeteilt hätte, dass Sie hier Ihre Zeit verschwenden.“ „Lenken Sie nicht vom Thema ab!“, blaffte ich, doch mein Erzeuger berührte mich am Arm und bedeutete mir mit einem Blick, dass er ab hier wieder übernehmen würde. „Einstweilen sehen wir uns aufgrund unzureichender Beweislage gezwungen, Ihnen zu glauben, Herr Don Quichotte. Was mein Partner soeben sagte, können wir dennoch nicht ignorieren. Sie täten gut daran, uns weiterhin keinen Grund zu geben, der uns an Ihrer Unschuld zweifeln lässt.“ „Ich verstehe.“ Er versteckte es gut, doch gemeinsam schienen wir Don Quichotte den Wind aus den Segeln genommen zu haben. „Möchten Sie die Labore trotzdem besichtigen?“ „Nein“, beschloss mein Erzeuger kurzerhand. „Wir würden lieber mit der Befragung der Angestellten beginnen, wenn es keine Umstände macht.“ In diesem Moment kam ein in einen bodenlangen Kittel gekleideter Mann um die Ecke. Offensichtlich war er einer der hier beschäftigten Wissenschaftler und stärkte mein Vertrauen in Don Quichotte Pharma nicht unbedingt. Hauptsächlich lag das an dem irren Blick aus stechend gelben Augen, aber auch an der verworrenen, schwarzen Haarmähne und einer Stimme, die wie ein ungeöltes Fahrrad klang, als er mit viel zu breitem Grinsen ausrief: „Guten Morgen, Chef! Guten Morgen, die Herren! Was treibt Sie so früh schon hierher? Die Arbeit hat noch gar nicht ordentlich begonnen.“ Er lachte laut und das Fahrrad bekam einen grässlich staubsaugerartigen Rückwärtsschluckauf. „Guten Morgen, Dr. Crown“, begrüßte ihn Don Quichotte, der sich an dem nahezu wahnsinnigen Auftreten seines Mitarbeiters nicht zu stören schien. „Wie geht Ihr Superserum-Projekt voran? Haben Sie mit der Testphase bereits begonnen? Das hier sind übrigens Herr Whitehunter und Herr Lorenor von der Kriminalpolizei. Sie sind auf der Suche nach einem Herrn Sanji Vinsmoke, der seit gestern vermisst wird. Wissen Sie darüber etwas, Dr. Crown?“ „Von der Polizei also…“ Der Wissenschaftler kam näher, sich die Hände reibend und katzbuckelnd, und beäugte meinen Erzeuger und mich von allen Seiten, als wären wir zum Tauschhandel dargebotene Ware. „Sehr erfreut, wirklich sehr erfreut! Nur leider ist mir ein Herr Vinsmoke ganz und gar unbekannt. Ich hoffe, Sie finden ihn bald.“ Völlig unpassend lachte er erneut auf, dann wandte er sich Don Quichotte zu. „Das Superserum steht bereit, die Testperson wartet schon auf mich. Heute schreiben wir Geschichte!“ Das abermals erklingende Gelächter fuhr mir durch Mark und Bein und ich verengte die Augen zu Schlitzen. Entweder war dieser Dr. Crown hochgradig verdächtig oder wir waren geradewegs in einer Irrenanstalt gelandet. „Was ist Superserum?“, fragte ich voller Argwohn. Wenn hier irgendjemand versuchte, unser Urteilsvermögen so zu trüben, dass wir schlussendlich einen echten Indiz nicht mehr von einem verrückten Tick unterscheiden konnten, so leistete er ganze Arbeit. „Eines unserer vielen Projekte“, antwortete Don Quichotte eifrig. „Ein Stoff zur oralen Einnahme, der bei unzähligen Blutkrankheiten Einsatz finden soll. Bisher ungetestet, aber das soll sich heute ändern.“ „Ganz genau!“, lachte Dr. Crown und spätestens jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich ihn ausschließlich nervtötend fand. „Lassen Sie mich bitte vorbei! Ich muss unbedingt mit den Tests beginnen!“ Er zwängte sich flink wie ein Wiesel zwischen uns hindurch, wandte sich für ein letztes, von einem dummen Winken unterstütztes Grinsen noch einmal um und entschwand schließlich in einen der angrenzenden Räume. Kurz musste ich verarbeiten, was ich soeben beobachtet hatte, und eigentlich fühlte ich mich verdammt nach einem Feierabendbier. Don Quichotte erinnerte mich nur leider an etwas. „Nachdem Sie einen meiner treusten Forscher kennen lernen durften, möchten Sie nun mit den Befragungen beginnen? Ich führe Sie gleich zum Büro meiner Sekretärin.“ Zum wiederholten Male an diesem Morgen tauschten mein Erzeuger und ich Blicke. Wir würden diese Überstunden durchführen. Komme, was da wolle. Die Aussicht, auf noch mehr schräge Vögel zu treffen, war jedoch alles andere als erbaulich. Kapitel 8 --------- Sanji   Ich schlug die Augen auf und starrte an eine mir vollkommen unbekannte, mit Lochplatten verkleidete Decke. Ein dumpfer Schmerz pulsierte in meinem Hinterkopf und der Geruch, der mir beißend in die Nase kroch, erinnerte an das Desinfektionsmittel aus Arztpraxen. Panik stieg in meiner Brust auf, denn eines war sicher: Ich befand mich nicht in meinem Bett und schon gar nicht in meiner Wohnung. War ich nicht außerdem auf dem Weg in die Arbeit gewesen? Wie spät war es? Hektisch strampelte ich mich von der dünnen Entschuldigung einer Bettdecke frei, verhedderte mich dabei jedoch nur noch mehr darin und krachte schließlich auf blanken Laminatboden. Obwohl ich gerade erst aufgewacht war, hatte die Müdigkeit einem heftigen Herzklopfen schneller Platz gemacht, als ich „Hierro“ rufen konnte, und ich krabbelte stolpernd auf die Füße. Stocksteif stand ich da, spürte kalten Schweiß auf meiner Stirn und wagte kaum zu schlucken. In meiner einem Filmriss gleichenden Verwirrung begriff ich eines verdammt gut: Das hier war kein Zimmer in einem Krankenhaus. Vielmehr glich es mit vier kahlen Wänden, offener Toilette und schwerer Stahltür einer Gefängniszelle. Einer von diesen ganz schlimmen, die man in den amerikanischen Krimis immer zu Gesicht bekam. Es hatte keinen Zweck, das war mir tief in meinem Innersten bewusst, dennoch war ich mit zwei Schritten bei der Tür und rüttelte am Knauf. Nichts. Abgeschlossen. Selbstverständlich. „Scheißdreck, elender!“ Ich holte zum Tritt aus. „Ich muss scheißverdammt nochmal in meine Scheißarbeit, ihr dreckigen…!“ Der Rest ging in einem hässlichen Schmerzensschrei unter, als ich unliebsam damit konfrontiert wurde, dass ich barfuß war und die Stahltür hielt, was sie versprach. Ich knickte seitlich ein, sackte zu Boden und befühlte instinktiv meine brennenden Fußknochen. Gebrochen schien nichts zu sein, doch das war nur ein schwacher Trost. Besonders angesichts der Tatsache, dass ich mit bloßem Hintern auf dem kalten Boden saß und demnach nicht mehr trug als einen dieser dämlichen Patientenkittel. Kaum hatte ich diese Realisation sacken lassen, durchfuhr mich auch schon neuerliche Panik und ich riss mir den spärlichen Stoff vom Leib, als hinge mein Leben davon ab. Fieberhaft untersuchte ich jeden Zentimeter Haut nach Nähten oder Einstichstellen. Von illegalem Organhandel hatte man immerhin gehört und gegenwärtig erschien mir das als einzig vernünftige Erklärung sowohl für meinen Zustand als auch für meinen Verbleib. Außer einem Zugang am linken Handgelenk und einer saftigen Beule am Hinterkopf konnte ich keine weiteren Schäden an meinem Körper verzeichnen, machte mir aber dennoch keine Illusionen: Was nicht war, konnte immer noch werden. Würde es werden. Denn ein Entrinnen gab es nicht. „Zur Hölle nochmal!“ Meine Angst wurde zu Wut und ich schnellte in die Höhe. „Das könnt ihr nicht mit mir machen! Lasst mich raus, ihr Scheißkerle! Ich hab Freunde! Die werden auf jeden Fall nach mir suchen, da könnt ihr Gift drauf nehmen!“ Wie ein Wilder hämmerte ich abwechselnd mit den Fäusten auf die Tür ein und rüttelte am Knauf, während ich mich immer weiter in Rage schrie. Dann warf ich mich mehrere Male mit vollem Körpereinsatz gegen das nicht nachgeben wollende Metall. Solange ich nur etwas zu tun hatte, blieb auch das in mir lauernde Gefühl von Machtlosigkeit stumm. Irgendwann aber verließen mich meine Kräfte, ich sackte an der völlig unbehelligten Tür hinab und wickelte mich zitternd in den Kittel. Mein Blick war nach innen gekehrt und die Stimmen in mir laut und wirr. Wie ist das passiert? Wie bin ich hierher gekommen? Was ist mit dem Hund... und Violet? Jetzt, da der erste Schock überwunden und meine zornige Energie versiegt war, begann sich Stück für Stück das Erlebte noch einmal vor mir abzuspielen. Ein Film – ganz klar und deutlich – der harmlos begann, an Spannung aufbaute und ein ebenso jähes wie auch brutales Ende fand. Ich war niedergeschlagen worden. Hinterrücks und am helllichten Tage, als wäre alles säuberlich bis ins letzte Detail geplant gewesen. Am Ende hatte es sogar nie einen Hund gegeben und sowohl der in die Gasse gequetschte Lieferwagen als auch Violet selber gehörten zu dem mutmaßlichen Ring von Organhändlern. Reingelegt und ausgenutzt! Nicht einmal mehr Frauen in Not kann man trauen! Wohin soll das bitte führen? Zerknirscht musste ich mir eingestehen, dass meine Arbeitskollegen nun endlich Recht behalten hatten: Meine Hilfsbereitschaft Frauen gegenüber – die in meinen Augen ausschließlich schätzens- und schützenswerte Wesen waren – hatte mich geradewegs hinein ins Verderben geführt. Ich fühlte mich wie der letzte Depp, naiv und verraten. Apropos Arbeit: Die suchen doch hoffentlich wirklich nach mir. Und wenn die nicht, dann Ruffy. Oder wenigstens Reiju. Fast entkam mir ein ersticktes Schluchzen, als meine Gedanken zu meiner Schwester wanderten. Ich war nicht mehr für sie da. Dabei hatte ich ihr doch einen Kinobesuch und selbstgekochtes Abendessen versprochen. Was war ich für ein Bruder, dass ich ihr immer wieder neue Gründe gab, sich Sorgen um mich machen zu müssen? Warum nur war ich Violet über den Weg gelaufen? Warum ausgerechnet ich? „Fuck“, entwich es mir leise. Tränen tropften von meinen Wangen auf den Boden und ich spürte mit einem Zittern eine neuerliche Welle der Gefühle in mir aufsteigen. Ich musste hier raus. Koste es, was es wolle – ich musste hier raus! „FUUUCK!“ Mit dem Schrei eines in die Enge getriebenen Tieres sprang ich auf, dann attackierte ich von Neuem die Tür. Jede einzelne Faser und jeder einzelne Muskel meines Körpers brannte und meine Stimmbänder waren dem Zerbersten nahe. Ich war ein freier Mensch! Niemand hatte das verdammte Recht, mich einfach einzusperren! So tobte ich noch eine ganze Weile, bis ich schließlich schwitzend und keuchend nachgeben musste. Bis auf einige wenige Kratzer und winzige Dellen konnte ich der Tür nichts anhaben und wahrscheinlich war es sowieso klüger, meine Kräfte aufzusparen für den Fall, dass jemand hereinkam. Kampflos würde ich meine Organe ganz bestimmt nicht hergeben und wenn ich den Überraschungsmoment für mich nutzte, war vielleicht sogar an eine Flucht zu denken. Kühlen Kopf bewahren und im richtigen Moment handeln sollte hier die Schlüssel zum Erfolg sein. Unnötig verausgabt trollte ich mich zu der Liege hinüber, auf der ich erwacht war. Dort kauerte ich mich zusammen und wartete. Ich konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit seit meiner Entführung vergangen war, doch wagte ich anzunehmen, dass es sich um kaum mehr als drei, allenfalls fünf Stunden handelte. Demzufolge wäre später Abend. Arbeiteten Organhändler um diese Zeit oder machten sie um Punkt sechs Schluss, fuhren heim zu Frau und Kindern und warteten voller Genugtuung darauf, dass ihre Schandtaten in den Achtuhrnachrichten thematisiert wurden? Eine gefühlte Ewigkeit verbrachte ich in angespannter Haltung, bereit, beim kleinsten Geräusch Position direkt neben der Tür zu beziehen. Doch es geschah einfach nichts. Gar nichts. Es schien, als wäre ich vollkommen alleine in dieser aus vier weißen Wänden bestehenden Welt. Dass ich irgendwann einnickte und zur Seite rutschte, bemerkte ich nicht.   Mein nächstes Erwachen war weitaus schlimmer als das erste, falls das überhaupt möglich war. Im einen Moment hatte ich noch zwischen weicher Watte aus dem Traumland geschwebt, im nächsten wurde ich auch schon von vier groben Händen in die Höhe gezerrt. Es war kalt und mein Kopf rutschte mir blutleer auf die Brust. Links, rechts, oben und unten – das alles besaß für mich keine Bedeutung und es war mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich wusste nur eines: Dieses Gefühl von vollkommener Hilflosigkeit gefiel mir nicht. Schwankend bugsierte man mich aus dem Raum ins Helle. Meine Muskeln gehorchten mir kaum, ebenso wie meine Kampf-oder-Flucht-Reaktion unter knochentiefer Lethargie begraben schien. Mir blieb nichts anderes übrig, als widerstandslos mitzugehen. Drogen. Sie haben dir irgendetwas gespritzt. Oder es war die Luft in der Zelle. So musste es sein, da mir der Gedanke daran höchstens den Hauch eines ängstlichen Herzflatterns entlockte. Ich lief geradewegs in meinen Tod und konnte dabei keinen Finger krumm machen. „Ich…“ Die Worte purzelten aus meinem Mund wie Schneeflocken vom Himmel. „Willnich… Meine… Lunge…“ „Hach, ist der gesprächig! Das hatten wir schon lange nicht mehr“, ertönte es links von mir. Die Stimme klang amüsiert und genau genommen nach einem dieser niedlichen Jungs, die mich mit hochrotem Gesicht nach einem Date fragten. „Nicht wahr, Lao?“ „Das bedeutet, dass die Wirkung nachlässt.“ Die andere Stimme war nicht mehr als ein Knarzen. „Halt ihn gut fest.“ Wurde ich wirklich gerade von einem Opa und einem Rotzlöffel abgeführt? Wie erbärmlich war ich, dass ich mich nicht einfach losreißen und die beiden mit wenigen gezielten Tritten überwältigen konnte? „...bärm...lich...“, entwich es mir, während ich versuchte, meine Muskeln unter Kontrolle zu bringen. Ich zuckte und stolperte, doch mehr wurde aus meinem Widerstand nicht. „Tihi, lass das, Hübscher“, kicherte der Junge und ich spürte, wie ich von beiden Seiten härter und kontrollierter gepackt wurde. „Du hast die ganze Nacht Beruhigungsmittel eingeatmet. Ohne uns kommst du keine zwei Schritte weit.“ Also doch Drogen. Gab es wirklich keine Chance, das Unumgängliche zu umgehen? Die verschwommenen Konturen einer Türschwelle blitzen durch mein Sichtfeld, dann war da eine zweite Liege – schmäler und funktionaler als die erste – auf die man mich nun zu zerren versuchte. „Du bist schwerer als du aussiehst, Hübscher“, ächzte der Junge und das war der Moment, in dem mich ein Geistesblitz durchzuckte. Ich konnte mich kaum rühren, aber mich fallen lassen wie ein nasser Sack, das ging sehr wohl. „Hey, spinnst du?“ Ich war auf dem Boden gelandet und sehr zufrieden mit mir. Wenn schon eine Flucht undenkbar war, dann wollte ich den beiden Scheißkerlen ihre Arbeit wenigstens so unangenehm wie möglich machen. Schon im nächsten Moment durchzuckte mich ein heftiger Schmerz, als sich ein spitzer Schuh in meinen ungeschützten Rücken bohrte. „Du widerliche…!“ Ein zweiter Tritt folgte. „…kleine…!“ Und ein dritter. „…Laborratte!“ Tränen traten in meine Augen und für eine erschreckend lange Sekunde musste ich um den nächsten Atemzug kämpfen. „Glaubst du wirklich, das würde irgendetwas ändern?“ Ich wappnete mich für den nächsten Tritt, doch der blieb aus. Stattdessen ertönte ein Scheppern, etwas rollte gläsern über den Fußboden und mein Peiniger sah sich gezwungen, mit hörbarem Gefuchtel dem Chaos Einhalt zu gebieten. „Dellinger, hör auf mit dem Unfug.“ Der Alte blieb völlig ruhig, während er das sagte. „Bring das wieder in Ordnung und lass das Testsubjekt ganz. Er ist Ehrengast, falls du das vergessen hast.“ Testsubjekt? Ehrengast? Was haben die hier bitte vor? War es schlimmer als auf dem Operationstisch ausgeweidet zu werden? Würde ich es überleben? „Hach, ist eh schon alles wieder an seinem Platz“, motzte der Junge. „Los. Versuchen wir es nochmal.“ Erneut griffen Hände nach mir und zerrten mich in die Höhe. Leider jedoch half mir diesmal auch meine Nasser-Sack-Taktik nicht und ich fand mich in Kürze unter einer stählernen Decke mit großer, viel zu ärztlich wirkenden Lampe wieder. Seltsame Schläuche und Gerätschaften ragten ebenfalls in mein Sichtfeld und trotz Beruhigungsmittel in meinen Blutbahnen kroch kalter Schweiß auf meine Stirn. Ich konnte nichts tun. Während meine Arme und Beine in eiserne Schellen gelegt wurden, durchdrang mich einzig der widerliche Gedanke, dass ich schutzlos einem Schicksal ausgeliefert war, das andere für mich gewählt hatten. Es gab keinen Ausweg und ich war allein. Ich war zu jenem armseligen Darsteller auserkoren worden, dem die erste Szene im Krimi gebührte und diese nicht überlebte. Plötzlich drangen Stimmen von draußen am Gang an meine Ohren. Drei oder vier, wenn ich mich nicht täuschte, und mindestens zwei davon waren mir alles andere als fremd. Flamingo! Aber… warum? Und… warum er? Der grünhaarige Idiot, den Ruffy manchmal zu uns in die Bar schleppte – was tat er hier? Unmöglich konnte er mit all dem hier zu tun haben. Unser Umgangston glich zwar einem Desaster, doch für einen Entführer hätte ich ihn nie im Leben gehalten. Aber Moment! Ist der Kerl nicht Polizist? Ruffy hat das ein- oder zweimal erwähnt. In nur einem Sekundenbruchteil fügte sich das Puzzle schlagartig zu einem Bild zusammen. Don Quichotte de Flamingo war Geschäftspartner meines Vaters. Mein Vater hasste mich. Man brauchte nicht die hellste Leuchte im Lampengeschäft zu sein, um diese Gleichung zu lösen. Deswegen war auch der Mooskopf hier: Die Polizei war dem hageren Aasgeier bereits auf die Schliche gekommen und suchte nach mir! „…ich… bin hier…!“ Zu kläglich. Viel zu kläglich. Noch ehe ich ordentlich begonnen hatte, um Hilfe zu rufen, wurde mir auch schon ein monströses Plastikteil in den Mund gerammt. Ich verschluckte mich und schmeckte Blut. Meine einzige Möglichkeit, auf mich aufmerksam zu machen, war dahin und während ich in ersticktes Husten ausbrach, schloss sich eine Tür. Jetzt würde mich niemand mehr hören. „Husch, husch, ihr zwei“, schnitt sich eine durchdringende Stimme tief in mein Trommelfell. „Aus dem Weg und haltet euch bereit. Wir wissen nicht, zu welchem Ergebnis dieses Experiment führen wird.“ Ein irres Lachen folgte und das erste Mal, seit man mich aus dem Schlaf gerissen hatte, kehrte Kraft in meine Gliedmaßen zurück. Ich würde ganz gewiss keine Experimente an mir durchführen lassen! Zumal ich jetzt wusste, dass Flamingo die Hände im Spiel hatte, und das nur eines bedeuten konnte: Ich musste als Arzneimitteltester herhalten! Wild riss ich an meinen Fesseln und versuchte durch den unangenehm meine Mundwinkel einreißenden Plastiktrichter wenigstens ein vernünftiges Wort zu artikulieren. Doch die Lage war ebenso erniedrigend wie aussichtslos und ich erntete ausschließlich weiteres Gelächter. „Nicht doch, mein Versuchskaninchen.“ Ein bleiches, von wirrem Haar umrahmtes Gesicht tauchte über mir auf und jagte mir mit stechend gelben Augen eine Welle von Angst durchs Mark. „Du bist zu Wundervollem auserkoren. Den Polizisten haben wir weisgemacht, dass unser Superserum Blutkrankheiten heilt, aber die Wahrheit ist um so vieles Aufregender!“ Ich spürte Hitze in meinen linken Arm schießen und mit ihr kehrte die bleierne Schwere in meinen Körper zurück. Diese Beruhigungsmittel waren das reinste Teufelszeug: Sie nahmen mir die Angst nicht, aber unterdrückten ihre Auswirkungen. So dass ich voller Panik, die sich rein in meinem Kopf abspielte, dem durchgeknallten Wissenschaftler dabei zusehen musste, wie er einen langen Schlauch durch den Trichter direkt in meinen Hals schob. Bitte! Bitte, lasst diese Polizisten mich finden! Mir egal, ob es der Salatkopf ist. Er soll einfach nur hier auftauchen, verdammt! Ein Würgereiz blieb ebenso aus wie erhöhter Puls und ich schloss die Augen. Es zu spüren, war schon schlimm genug. Da wollte ich nicht auch noch mit ansehen, was weiter mit mir geschah. „Du wirst die Krönung meiner Forschungen werden“, säuselte der Wissenschaftler, während er irgendwo im Raum herumkramte. „Ein Soldat mit übermenschlicher Kraft, gehorsam und willenlos, ganz wie es unser Auftraggeber verlangt.“ Ich hörte nicht mehr hin. Mein Schicksal war längst besiegelt und anstatt mir von den grausamen Einzelheiten weiterhin Angst einjagen zu lassen, klammerte ich mich lieber an den letzten hoffnungsvollen Gedanken, den ich hatte: Zorro Lorenor war irgendwo dort draußen und suchte nach mir. Im Normalfall hätte ich lautstark behauptet, er wäre der letzte, in dessen Hände ich mein Leben legen würde. Jetzt, da der Ernstfall eingetreten war, sah die Sache allerdings anders aus. Der Schlauch in meinem Hals bewegte sich leicht und ich hörte, wie an seinem oberen Ende etwas befestigt wurde. Ein Behälter höchstwahrscheinlich, gefüllt mit irgendeiner ominösen Flüssigkeit. Durchdringend graubraun und deswegen keineswegs weniger anziehend rief ich mir den Blick ins Gedächtnis, mit dem Lorenor mir bei unserem ersten Aufeinandertreffen begegnet war. Er hatte mir sofort den Kopf verdreht mit seiner perfekt trainierten Statur, den drei Ohrringen und der unnahbar wortkargen Art, die meinen Jagdinstinkt herausforderte. Umso schwerer Männer zu haben waren, desto dringender wollte ich sie und dieser eine bildete dabei keine Ausnahme. Der Wissenschaftler hatte begonnen, den klischeehaften Monolog eines Bösewichts zu halten, doch ich tat mein Bestes, wegzuhören. Dass mein Dasein nach der bevorstehenden Prozedur ein ausschließlich klägliches sein würde, hatte ich bereits begriffen. Mehr Informationen brauchte ich nicht. Zu meinem Leidwesen hatte sich Lorenor als dickköpfiger Stoffel herausgestellt, der lautstarke Auseinandersetzungen einem Flirt vorzog. Oder das war seine Art, mit mir zu flirten. Verstanden hatte ich es nicht ganz. Ging aber wie der verknallte Idiot, der ich war, ein jedes Mal wieder darauf ein und fand sogar bald schon Gefallen daran. Alles war mir recht und erlaubt, sobald es mit dem Grünkohl zu tun hatte. Ein Ruck ging durch die gesamte Apparatur, an der ich hing. Darauf folgte ein Unheil verkündendes Rauschen. Lorenor reagierte empfindlich, wenn ich ihn für seine Haarfarbe aufzog, die stark an Moos erinnerte. Oder Seetang. Beides hatte seine Reize. Kalt und ekelerregend ergoss sich die Flüssigkeit in meinen Hals. Ich brauchte nicht einmal zu schlucken, so weit hatte man mir den Schlauch eingeführt. „Marimo“ nannte ich den sturen Kerl. Wie die kleinen, niedlichen Algenbälle, die ich für das Bar-Aquarium besorgt hatte. Natürlich interpretierte er das fälschlicherweise als Schimpfwort, doch genau deswegen blieb ich bei dem Namen. Mit nichts sonst konnte ich ihn gleichzeitig in Rage bringen und meiner insgeheimen Zuneigung Ausdruck verleihen. Wie Feuer fraß sich die Flüssigkeit in meine Eingeweide und trieb mir dabei Tränen in die Augen. Sowohl vor Schmerz als auch im Angesicht der Erkenntnis, dass ich mir zu lange Zeit gelassen hatte mit sinnlosen Spielereien. Der Marimo – mein Marimo – würde mich nicht rechtzeitig finden, ich würde ihn nie wieder sehen und er würde auch niemals erfahren, was ich wirklich für ihn empfand. Das Brennen wurde heftiger und stieg zuerst hinauf in den Rachen und schließlich in die Nase. Dort verweilte es und entfaltete sich zu einem Alptraum, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Ein Gestank nicht von dieser Welt, der das Atmen unerträglich machte und sich in jeder noch so kleinen Pore festsetzte. Plötzlich waren da keine angenehmen Gedanken mehr übrig, mit denen ich mich ablenken konnte. Nur noch meine Stoßgebete, dass es endlich aufhören möge, und ein ebenso kleiner wie auch unverdienter Dank an das Betäubungsmittel dafür, dass es meinen Würgereiz lahmgelegt hatte. „Bah, das stinkt ja!“, beschwerte sich der vorlaute Junge von vorhin aus irgendeiner Ecke heraus und es klang ganz danach, als hielte er sich einen Ärmel vor Mund und Nase. „Ist da irgendwo was ausgelaufen?“ „Peeronsaft“, kommentierte der Alte beiläufig. „Peeronsaft?“, wiederholte der Wissenschaftler und die Panik in seiner Stimme gefiel mir nicht. Das darauf folgende, hektische Umherhuschen und Zerren an dem Schlauchgebilde gefiel mir noch viel weniger. Und am allerwenigsten gefiel mir sein Jammern, mit dem er in kaum wahrnehmbarer Frequenz jeden Handgriff begleitete. „Schande! Wie konnte nur…? Wo ist es? Wo…? Warum liegt das da? Ist das wirklich…? Schande, oh allergrößte Schande! Ich bin tot! Der Chef wird mich umbringen! Eigenhändig erwürgen!“ „Widerlich. Ich gehe jetzt. Das hält ja keiner aus.“ „Duuuuuu!“ Dem Geräusch nach zu urteilen hatte sich der Wissenschaftler geradewegs auf den Jungen gestürzt. „Hast DU Superserum und Peeronsaft vertauscht?“ „Hach, kann sein, dass mir da vorhin etwas durcheinandergeraten ist. Ja, wahrscheinlich.“ Noch nie war ein Augenrollen hörbarer gewesen als soeben. „Na und? Ist halt jetzt zu spät.“ „Na und sagt er einfach! Macht, dass ihr verschwindet! Beide! Ihr seid mir vielleicht Mitarbeiter! Der eine zu blind zum Autofahren, der andere zu dumm zum Lesen! Und wer darf das alles wieder dem Chef beichten? Natürlich! Ich!“ Ich verstand nicht allzu viel von dem, worüber er sich aufregte. Bis auf eines: Das Experiment, welches man an mir durchzuführen beabsichtigt hatte, war gescheitert. Beziehungsweise hatte man mir das falsche Mittel verabreicht. Bevor ich ausreichend abwägen konnte, ob meine Aussichten sich nun verbessert oder eher verschlechtert hatten, wurde mir der Schlauch samt Plastiktrichter aus dem Mund gerissen. „Scheiße! Aua!“ Heiser krächzend wagte ich es endlich, die Augen wieder zu öffnen, und stierte voller Abscheu hinauf in das nervöse Gesicht des Wissenschaftlers. „Mistkerl! Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, dass du für Flamingo arbeitest!“ Zu meiner eigenen Überraschung fiel mir trotz gereizter Stimmbänder das Sprechen leichter als vor wenigen Minuten noch. Auch hatte der unsägliche Gestank etwas nachgelassen. „Zu spät. Alles umsonst.“ Der Typ beachtete mich nicht, sondern legte der Reihe nach eine Hand auf meine Stirn, auf meinen Bauch und schließlich ein Ohr gegen meine Brust. „Nein, nein, nein, nein, nein! Alles viel zu spät! Das ist nicht gut! Ich muss es aufhalten! Rückgängig machen!“ Er stob davon, beide Hände im Haar vergraben und so hysterisch, dass ich es selber wieder mit der Angst zu tun bekam. „Hey, du Saftsack! Hörst du mir überhaupt zu?“ „Es hat noch nie einer aufgehalten! Geschweige denn rückgängig gemacht! Wie bringe ich das dem Chef bloß bei?“ „Dein Scheißchef ist mir egal! Sag mir, ob ich sterben muss!“ Von neuer Kraft beseelt bäumte ich mich in meinen Fesseln auf. Ich zerrte und riss daran wie ein wildes Tier, um meiner panischen Wut Ausdruck zu verleihen, doch ein plötzlicher Krampf in meiner Magengegend ließ mich keuchend innehalten. Es war kein Schmerz und durchfuhr mich dennoch wie ein solcher. Mit Sicherheit hätte ich mich augenblicklich übergeben, wenn die Wirkung des Betäubungsmittels nicht gewesen wäre. Schlangen schienen sich durch meine Eingeweide zu winden und ich hatte nicht einmal eine Hand frei, um sie mir prüfend gegen den Bauch pressen zu können. „Sterben?“, hakte der Wissenschaftler nach und hörte endlich mit seinem Gewinsel auf. Eine lange, eiskalte Stille folgte, dann war er auf einmal mit breitem Grinsen wieder direkt über mir. Ich zuckte zusammen, zwang mich aber, ihn anzusehen. „Oh, glaub mir, mein Versuchskaninchen: Du wirst dir noch wünschen, tot zu sein.“ Schallendes Gelächter folgte, die Schlangen in meinem Bauch begannen sich zu verknoten und ich begriff, dass dies hier erst der Anfang von den Höllenqualen war, die ich durchleiden würde. „Warum ich?“, blaffte ich, was allerdings dank unterdrückter Übelkeit nach einem Schluckauf klang. „Was wollt ihr ausgerechnet von mir? Hat mein Dreckskerl von Vater euch damit beauftragt?“ „Irrelevant. Vollkommen irrelevant. Wir geben die Namen unserer Auftraggeber nicht preis. Wichtig ist nur, dass ich dich in einen Zustand bringe, in dem das Superserum vielleicht doch noch wirkt. Mir kam gerade eine Idee. Das wird mich retten.“ Er machte sich an meinem linken Handgelenk zu schaffen und mir war klar, was das bedeutete. „Arschloch!“, fauchte ich ihn an, während schon die nächste unbekannte Substanz ihren Weg in meine Blutbahnen fand. „Hoffentlich verreck ich! Dann hast du erst ein Problem!“ Es dauerte keine zehn Sekunden und ich verlor das Bewusstsein.   Als ich aufwachte, wunderte ich mich nicht einmal mehr, dass ich in einem fremden Bett lag. Die Decke über mir war hoch, die Luft erfüllt vom leisen Piepsen medizinischer Geräte und für einen Moment durchströmte mich Hoffnung. „Marimo?“ Hatte er mich doch noch gefunden? War das hier endlich ein richtiges Krankenhaus? Ich versuchte mich aufzurichten, doch kaum spannte ich die Bauchmuskeln an, schoss mir ein gänzlich unbekannter Schmerz durch die Eingeweide. Gleichzeitig quoll fauliger Geschmack in meinen Mund und ich wälzte mich ohne einen weiteren Gedanken zur Seite. Dann übergab ich mich auf den grauen Laminatboden. Qualvoll würgte ich schleimige Fäden hervor – einer zäher als der andere – und es fühlte sich an, als werde jeden Moment mein Magen selber folgen. Glücklicherweise blieb mir diese Unannehmlichkeit jedoch erspart und stattdessen tat sich in mir die Frage auf, weshalb mein Körper so drängend darauf bestand, etwas loswerden zu wollen, das nicht mehr existierte. Allem Anschein nach hatte man mir ja den Magen ausgepumpt, sonst hätte es längst ein Wiedersehen mit meinem Abendessen gegeben. Wieder und wieder krampfte ich mich zusammen, presste unter röchelndem Husten rosarot durchsetzte Verdauungssäfte hervor und krallte mich währenddessen in die Bettlaken. Bis nach einer gefühlten Ewigkeit die Wellen schwächer wurden. Ein letztes Mal würgte ich, brachte dabei aber nicht mehr als einen Speichelfaden zum Vorschein, und blieb schließlich mit brennendem Hals an Ort und Stelle liegen. Mir fehlte die Kraft, um mich umdrehen oder gar aufsetzen zu können. Außerdem war da immer noch der Schmerz, der an meinen Innenwänden nagte. Fühlte sich so vollständige Leere an? Oder waren es die Schlangen, die sich in meine Gedärme verbissen und sie wie hungrige Anakondas zerquetschten? Wie lange ich in absoluter Regungslosigkeit dort auf dem Bett lag, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass es keine Menschenseele zu interessieren schien. Niemand kam, um nach dem Rechten zu sehen, niemand tauchte schimpfend und fluchend auf, um mein Erbrochenes wegzuwischen, und niemand platzte freudestrahlend herein, weil ich endlich wach und nicht mehr verschwunden war. Nur die Schmerzen – die waren allgegenwärtig und zwangen mich bald schon dazu, ein winselndes Stöhnen nach dem anderen von mir zu geben. Ich schlang meine Arme um den Oberkörper und schloss die Augen. Vielleicht konnte ich es einer in den Wehen liegenden Frau gleichtun und mit der richtigen Atemtechnik meinen Zustand erträglicher machen. Plötzlich öffnete sich eine Tür und jemand näherte sich auf hochhackigen Schuhen dem Bett. Stöhnend hob ich den Kopf, um meinen Besuch identifizieren zu können. Reiju? Bitte lass es Reiju sein. Das Bild vor meinen Augen verschwamm mehrere Male, bevor es an Schärfe gewann und mich tatsächlich mit einer bekannten Person konfrontierte. Nur war es nicht Reiju. Und auch keine meiner Bekannten aus Jeff’s Bar. „Violet!“ Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht und ich sackte von einem neuerlichen Hustenanfall gebeutelt zurück in die Kissen. Das Krankenhaus aus meinen hoffnungsvollen Wunschvorstellungen war kein solches. Ein entsetzter Rundumblick bestätigte das zusätzlich, da zwei der mich umgebenden Wände vollständig aus Sicherheitsglas bestanden und ich dahinter ein Labor erkennen konnte. Jenes Labor, in dem man mir die Substanz namens „Peeronsaft“ eingeflößt hatte. Daran bestand kein Zweifel, da der übergeschnappte Wissenschaftler mit den ungekämmten Haaren dort umherwieselte und mit Reagenzgläsern hantierte. Flehenden Blickes wandte ich mich nach Violet um. Sie stand in einen Arztkittel gekleidet dort vor den Maschinen, an die ich mit mehreren Kabeln angeschlossen war, und machte sich Notizen auf einem Klemmbrett. „Violet, bitte!“ Sie konnte unmöglich das Herz aus Eis haben, das sie mir vorspielte. Eine Frau wie sie machte nicht einfach gemeinsame Sache mit Entführern und Forschern ohne jegliche Moral. Nein, sie hatte einen Grund, wurde womöglich selber erpresst. Das spürte ich! „Alle Werte im Normalbereich. Erbrochenes ist klar und von kleinen Mengen Blut durchsetzt. Keinerlei Anzeichen dafür, dass Magen- und Darmspülung eine Verzögerung der Transformation auslösen konnten.“ „Transformation?“ Es fühlte sich an, als täte mein Herz einen Satz ins Leere. War ich wirklich ich? War das alles überhaupt noch real? „Scheiße, Violet! Sie müssen mich hier rausholen!“ Der blinde Teil von mir, der das Böse in einer hübschen Frau nicht sehen wollte, betrachtete sie als meine letzte Rettung. Naiv und dumm, das wusste ich. Doch meine Gefühle hatten hier meinen Kopf vollkommen im Griff. „Ein herkömmliches Krankenhaus wäre nicht in der Lage, Sie ausreichend zu betreuen“, erhielt ich eine Antwort, die ich nicht hören wollte. „Sie können sich in diesem Raum frei bewegen, insofern es Ihre Kräfte zulassen. Aber versuchen Sie bitte nicht zu fliehen und schonen Sie sich. Ihr Körper wird viel Energie brauchen und die können wir Ihnen in den nächsten vierundzwanzig Stunden nur per Glukoseinfusion bereitstellen. Einen schönen Tag noch, Sanji.“ Die Art, wie sie mich einen Augenblick zu lange ansah, bevor sie sich abwandte und den Raum verließ, gab mir erneut Hoffnung. Es tat ihr leid. Diesen kleinen Funken der Reue hatte ich mir nicht eingebildet. Vielleicht konnte ich doch auf Hilfe von ihrer Seite hoffen. Vielleicht wartete sie nur auf den rechten Moment. Heftiger als zuvor kehrten die Schmerzen zurück und bohrten ihre Klauen in meine Innereien. Ich stöhnte auf, krümmte mich zur bemitleidenswerten Kugel zusammen und begann schweißgebadet die Sekunden zu zählen. Eine Transformation also. Aber in was? Und… war ich der erste Testkandidat oder war das reines Routineverfahren für Don Quichotte Pharma? So oder so hatte ich mich gegenwärtig mit meinem Schicksal abzufinden. Der dämliche Algenschädel hatte es bisher nicht fertig gebracht, mich zu retten, und allmählich zweifelte ich immer mehr daran, dass er überhaupt noch nach mir suchte. Wahrscheinlich war ich für ihn doch nur das Flittchen aus der Kneipe, wie er mich gerne betitelte, und für dieses strengte er sich gewiss nicht an. Kapitel 9 --------- Kid   „Oh, Kid, du bist wach. Dein Handy randaliert schon seit ner Stunde am Küchentisch herum.“ „Scheiße, Alter!“, schnauzte ich Wire an, während ich mir in der Tür stehend mit der Hand durchs platt gelegte Haar fuhr. „Hab schlecht geschlafen! Laber mich nicht voll!“ Ich polterte ins Bad hinüber, ärgerte mich über eine fast leere Flasche Shampoo, die ich irgendeinem meiner Mitbewohner – höchstwahrscheinlich Heat – zu verdanken hatte, und tat mein Bestes, um meine Salonfähigkeit wieder herzustellen. Shanks hatte ich bisher noch nicht verziehen und hatte es auch so bald nicht vor. Ständig musste ich meine Fälle an andere Teams abtreten und konnte sie nicht selber abschließen. Ich war es leid. Wenn ich meine Fähigkeiten vollends unter Beweis stellen und tatsächlich etwas erreichen wollte, musste sich daran etwas ändern. Falls nötig, nahm ich sogar einen Partnerwechsel dafür in Kauf. Gerade war ich dabei, mir mit einem Handtuch die Haare zu trocknen, als mein Blick auf die hochgeklappte Klobrille fiel. Ich hielt inne und spürte in mich hinein. Ja, der mir wohlbekannte Druck in der Bauchgegend war durchaus da und vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, wieder einmal Flüssigkeit loszuwerden. Genau konnte ich das nie sagen, denn das Gefühl von überfälligem Harndrang, wie es Shanks so oft zu haben schien, kannte ich nicht. Ich machte meine Toilettenbesuche rein davon abhängig, ob ich wie im ersten Trimester schwanger aussah oder nicht. Unverschämt gut tat es natürlich trotzdem, als ich mich zum Pinkeln vor das Klo stellte. Nur einen Moment später fiel mir ein, dass ich zwar heute Morgen Smile genommen, vorher aber eine Dosis ausgesetzt hatte. Genug Zeit für meinen Körper, die sich in mir ansammelnde Flüssigkeit in etwas zu verwandeln, das Heat und Wire seines widerlichen Geruchs wegen schon mehrere Male gerne zur chemischen Kriegsführung auf dem Schwarzmarkt verkauft hätten. Hätte ich es erlaubt. „Fuck! Mist! Aufhören!“ Ich brüllte nicht aus Rücksicht und reiner Herzensgüte meinen Penis an und brachte so den Strahl schneller zum Versiegen als er entsprungen war. Vielmehr erinnerte ich mich zu gut an den Vermieter, der unserer gesamten WG mit dem Rauswurf gedroht hatte, sollte es zu weiterer „Geruchsbelästigung“ kommen. Mann, was haben die Glück, dass ich das ohne Weiteres abbrechen kann… Mit einem Schnauben spülte ich ungefähr fünfmal, leerte das restliche Shampoo ins Klo, spülte noch zweimal und riss anschließend das Fenster weit auf. Ob das reichte, wusste ich zwar nicht, aber wenigstens hatte ich guten Willen bewiesen. Betont lässig verließ ich das Bad und zog rasch die Tür hinter mir zu. Wenn ich so tat, als sei nichts gewesen, dann... „Kid.“ Ich erstarrte. „Ja, Killer?“ Mein bester Freund aus Kindertagen baute sich in Schürze und mit von einem Tuch zurückgehaltener Metal-Haarmähne vor mir auf. Zwar war er kleiner als ich, aber leider auch eine furchteinflößende WG-Mama. „Hast du... mal wieder vergessen, Smile zu nehmen, bevor du am Klo warst?“, fragte er und es war völlig egal, ob seine Worte für einen Außenstehenden geradezu skurril klangen – Respekt verschaffte er sich damit trotzdem. „Also, ich habe heute Morgen Smile genommen...“, fing ich an, wurde unter Killers unbeeindrucktem Blick jedoch schnell mürbe. „Gestern Abend allerdings... ja, da hab ich das vielleicht tatsächlich... vergessen?“ Ein enttäuschtes Seufzen war alles, was ich daraufhin als Antwort bekam, und doch wirkte es besser als zehn Standpauken. „Ich hab auch sofort gelüftet, Mann!“, beteuerte ich und stiefelte halb entschuldigend, halb wütend herumfuchtelnd zum Küchentisch. „Ich hab gefühlt zehnmal gespült! Ich hab das restliche Shampoo, das Heat netterweise übriggelassen hat, reingekippt! Ich kann doch auch nichts dafür, dass... Scheiße.“ Letzteres hatte meinem Handy gegolten. Oder vielmehr Zorros Nachricht, die ich soeben geöffnet hatte.   (11:36) Zorro: Flamingo und sein ganzer Betrieb sind sauber. Der Chef hat den Fall eingestellt.   Darunter hatte er mir lediglich eine Sprachnachricht von fünf Minuten Länge geschickt. Ich konnte mir in etwa vorstellen, worüber er sich darin ausließ. „Kid, ist etwas passiert?“ Killer hatte meinen auf einmal viel zu ernsten Gesichtsausdruck völlig richtig gedeutet. „Ärger mit nem Fall“, brummte ich, steckte das Handy ein und sah auf. Normalerweise hätte ich mir eine Sprachnachricht einfach im Beisein der anderen angehört. Zorro zuliebe tat ich es aber nicht. „Was macht ihr eigentlich alle hier? Es ist drei Uhr nachmittags. Müsst ihr nicht zur Arbeit oder so?“ „Wir haben beschlossen, die Werkstatt erst morgen wieder aufzumachen“, antwortete Heat, der geistesabwesend an seinen Dreads herumfummelte. „Konnten ja Killers Besuch nicht einfach rauswerfen“, fügte Wire an, der genauso gelangweilt sein Gesicht im Vergrößerungsspiegel am Couchtisch betrachtete. Dann erst entdeckte ich ihn: Einen schmächtig wirkenden, jungen Mann, der sich eine Wintermütze mit Ohrenklappen (und das mitten im Sommer!) tief in die Stirn gezogen hatte. Er saß bei den anderen beiden Faulpelzen auf der Couch und mümmelte etwas, das sich als Killers Spezial-Pancakes herausstellte. Wo genau hatte Killer den bitte aufgegabelt? „Hoffe, ihr hattet wenigstens Spaß gestern“, sagte ich tonlos, schnappte mir zwei Äpfel aus der Obstschale und trollte mich. „Bin in meinem Zimmer. Muss was für die Arbeit erledigen.“ Seelsorger für Zorro spielen zum Beispiel. In genau diesem Moment ging die Badezimmertür auf und ein zweiter junger Mann mit rotbraunem Haarschopf wankte daraus hervor. Der musste sich unbemerkt nach mir dort hineingemogelt haben. Er wirkte grün im Gesicht und hielt sich eine Hand vor den Mund. Da war wohl gestern eine Menge Alkohol geflossen. „Irgendetwas stimmt mit eurem Klo nicht“, brachte er erstickt hervor. „Das stinkt so übel, dass mir beinah mein Milchshake wieder hochgekommen wäre.“ Okay, das war dann mein Stichwort, um mich endgültig zu verpissen. „Ki-hid...!“ „Ist echt dringend, Killer! Kann ich nicht aufschieben!“ Fluchs war ich in meinem Zimmer und hatte die Tür hinter mir zugesperrt. Ich warf mich auf mein Bett zwischen die zum Nest drapierten Decken und biss zuallererst mürrisch in einen der Äpfel. Sollten die da drüben doch in heillosem Durcheinander jetzt alle der Reihe nach das Klo inspizieren, herumschimpfen und das von Killer eigens in Amerika bestellte De-Skunk die Rohre hinabjagen. Sich überlegen, an welchem fernab der Zivilisation gelegenen Busch ich die restlichen anderthalb Liter der chemischen Wunderwaffe loswerden konnte, durfte alleine ich. „Das war das letzte Mal“, maulte ich vor mich hin. „Das letzte Mal, dass ich wegen der Arbeit Smile aussetze. Scheiße, wie ich dieses Gejammere hasse!“ Ein Vorsatz, an den ich mich nicht halten würde. Dafür war mein Jagdinstinkt schlichtweg zu ausgeprägt. Weiterhin an meinem Apfel nagend drehte ich mich auf den Bauch, zückte mein Handy und vertiefte mich in WhatsApp. Was zur Hölle war da eigentlich los? Nicht nur, dass Zorro mir fünf Minuten bescherte, in denen ich mir anhören durfte, wie voreilig der Beschluss des Chefs war und dass Smoker Flamingo sehr wohl für verdächtig hielt, nein. Ich war klammheimlich einer Gruppe beigefügt worden, die sich Operation Sanji nannte, und Law hatte mir auch noch geschrieben. Ganz klar, welchen Chat ich zuerst öffnete.   (12:15) Law: Hey, Patient. Hab gesehen, dass sie dich auch zu dieser wahnwitzigen Aktion einladen wollen. Das ist rechtlich doch gar nicht erlaubt, oder? Warum lässt dein Kollege das zu? (12:55) Law: Ich werde übergangen. -__- (13:15) Law: Sorry, ich konnte die nicht aufhalten! o__o   Mit unguter Vorahnung hob ich eine Braue. Um das zu verstehen, musste ich wohl oder übel in der Gruppe nachlesen, die mir mit über achtzig neuen Nachrichten aufwartete.   (Ruffy hat die Gruppe „Operation Sanji“ erstellt.) (Ruffy hat dich hinzugefügt.) (11:54) Ruffy: Jetzt hab ich aber alle! (11:55) Ace: Kann mir jetzt mal endlich wer erklären, was das alles hier soll? o.o (11:55) Lysop: Mensch, Ace!! Sanji ist weg und keiner weiß, wo er ist!! (11:55) Lysop: Wir müssen ihn finden!!! (11:55) Lysop: ER KÖNNTE TOT SEIN!!!!! D: D: D: (11:56) Nami: Hör auf, so gruselige Sachen zu schreiben! D:< (11:57) Ruffy: Aber echt! Wir haben doch Plakate aufgehängt! (11:57) Law: Was soll das hier? Kümmert sich nicht die Polizei um den Fall? (11:58) Ruffy: TRABERT! :D (11:58) Ruffy: Warum hast du uns nicht geantwortet? Du hast Sanji doch zuletzt gesehen! (11: 58) Ace: Ich weiß gar nicht, warum ihr mich mit in die Gruppe habt. Ich bin doch grad in Italien. o.o (11:59) Law: Die Polizei war bei mir. Der hab ich schon gesagt, dass ich nicht weiß, wo Sanji ist. (11:59) Sabo: @Ace Ruffy meinte, falls Sanji dir in Mailand über den Weg läuft... ¬__¬ (12:00) Ruffy: Du warst auch gar nicht dabei, wie wir die Plakate aufgehängt haben. Hast du meine Nachrichten nicht bekommen? :( (12:02) Law: Ja. Hatte schlechten Empfang. (12:02) Ruffy: Der Stachelkopf war bei dir, oder? (12:03) Ruffy: Den haben wir auch zur Gruppe dazu. Zorro meinte, der hilft uns. :D (12:04) Law: Wobei? (12:04) Ace: Warum sollte mir der in Mailand über den Weg laufen? o.o (12:05) Nami: HÖRT IHR JETZT ENDLICH AUF, SO DURCHEINANDER ZU SCHREIBEN?! (12:08) Nami: Sorry. Das ist furchtbar zu lesen. (12:08) Lysop: Ja! Und es ist ernst! (12:09) Sabo: @Ace Ich erklär dir das privat. (12:09) Ruffy: @Law Zorro hat mir vorhin geschrieben, dass sie bei der Polizei Sanji nicht mehr suchen. Zu wenig Beweise oder so Schmonsens. (12:10) Lysop: Das heißt Nonsens! (12:10) Ruffy: Da hab ich gesagt: Zorro! Wir müssen Sanji selber suchen! Wenn wir zwei Polizisten dabei haben, dann geht das klar! :D (12:12) Law: Das geht ganz bestimmt nicht klar! (12:12) Ruffy: Doch, doch! Zorro meinte, wir müssen ihm dringend helfen, wenn es sonst keiner tut! (12:13) Ruffy: Zorro steht nämlich auf Sanji. :D (12:14) Lysop: Langsam wissen wir das alle, Ruffy... ¬__¬ (12:17) Law: Das interessiert mich nicht. Lasst den Mist. Ihr kriegt Probleme. (12:19) Nami: Zorro könnte sich dazu aber auch mal selber äußern. (12:20) Lysop: Ja, genau. Warum bist du die ganze Zeit so still, Zorro? (12:30) Lysop: Zorro? o.o (12:32) Ruffy: HALLO, ZORRO! SCHREIB MAL WAS! (12:34) Nami: Ihr seid Volldeppen! Der pennt sicher! Hat doch ständig Nachtschicht! (12:34) Ruffy: Ach ja. .__. (12:39) Ruffy: Dann müssen wir eben alleine planen. (12:40) Lysop: Dafür bin ich auch! (12:42) Sabo: Ich auch! (12:42) Law: Was bitte habt ihr vor? Ihr habt doch gar keine Anhaltspunkte. Das ist illegal! (12:43) Lysop: Wir sollten uns erstmal alle i-wo treffen. (12:43) Ruffy: Stimmt! So viel schreiben ist voll anstrengend. D: (12:44) Nami: Wie wärs bei euch, Ruffy? Da ist Law auch gleich in der Nähe. (12:45) Lysop: Ich dachte, wir wären heute alle in der Uni. Auch Law. Hast du frei, Nami? (12:45) Nami: :P (12:45) Lysop: Du Sau! (12:45) Ruffy: XD XD XD (12:46) Law: Hallo? Habt ihr überhaupt gelesen, was ich geschrieben habe? (12:46) Ruffy: Treffen wir uns doch direkt an der Uni. (12:47) Sabo: Passt! (12:48) Nami: Jungs! Jetzt muss ich mich ja umziehen! -__- (12:48) Lysop: :P (12:48) Sabo: Bist du nur in Unterwäsche?!?!?! (12:49) Nami: Willst du die Farbe wissen~? (12:49) Sabo: *Q* (12:50) Nami: Sag ich dir aber nicht, du Ferkel!!! D:< (12:51) Sabo: :( (12:51) Ruffy: XD XD XD (12:51) Lysop: Das gibt Haue nachher, Sabo. XD (12:52) Law: Überlest ihr mich absichtlich? Ihr kriegt Ärger. (12:53) Nami: Also, wo genau treffen wir uns? Und wann? Ich brauch mindestens ne Stunde, bis ich fertig bin. (12:55) Lysop: Das wär um 14 Uhr. (12:55) Lysop: Uhhh... ich hab bis drei Kunstgeschichte-Vorlesung. -__- (12:56) Ruffy: Dann um drei. (12:57) Sabo: Nee, geht nicht. Ich hab noch Strafrecht bis halb fünf. (12:57) Ruffy: Dann halb fünf. (12:58) Ruffy: Vor der Kantine. Dann kann ich vorher noch was essen. XD (12:59) Sabo: Passt. (12:59) Lysop: Bei mir auch! (13:00) Nami: Dann bis später, Jungs. Ich leg mich jetzt in die Wanne~ (13:12) Law: Ihr seid verrückt. (13:24) Ruffy: Zorro, bist du schon wach? (13:29) Lysop: Kannst du ihn das nicht privat fragen? Das hier ist ein Chat nur für ganz wichtige Dinge!!! (13:46) Ruffy: An Zorro und Stachelkopf! Wir treffen uns um halb fünf vor der Uni-Kantine! (13:59) Law: Ich komm auch vorbei. (14:00) Ruffy: JUHUU! TRABERT! (14:02) Lysop: Nur ganz wichtige Dinge!!!!! (14:02) Ruffy: :x (15:13) Zorro: Leute! Das ist zu viel Text! (15:32) Zorro: Ok. Halb fünf. Bis dann. (15:33) Ich: @Zorro Ich hol dich ab.   Noch während des Lesens hatte ich meinen Entschluss gefasst: Wenn schon Shanks es mir ständig vermasselte, meine Fälle abschließen zu können, dann würde ich sicher nicht die einzige Chance ziehen lassen, doch noch aufzuklären, wohin der blonde Barkeeper verschwunden war. Außerdem war ich es Zorro als sein bester Kumpel schuldig. Dass ich auf diese Weise rein zufällig mein Date schon einen Tag früher sehen konnte, spielte natürlich auch mit hinein. War aber nicht der Hauptgrund! Ganz sicher nicht! Naja, vielleicht doch.   Als ich gemeinsam mit Zorro am vereinbarten Treffpunkt ankam, war dort die gesamte Chatgruppe bereits versammelt. Unter ihnen Ruffy, der Hyperaktive aus Jeff's Bar, und ebenso Law Trafalgar, nach wie vor umwerfend und das Heißeste, was ich im Umkreis von Kilometern je zu Gesicht bekommen hatte. Neben Letzterem kam ich ganz unauffällig zum Stehen und für einen Moment trafen sich aus dem Augenwinkel unsere Blicke. Ließe es sich deichseln, so würde ich die Gunst der Stunde nutzen und unser Date vorziehen, so viel war gewiss. Aber... zunächst zu dringlicheren Angelegenheiten. „Zorro! Du musst den anderen nochmal erklären, warum ihr nicht weiter nach Sanji sucht!“, krakeelte Ruffy. „Die glauben mir nicht!“ Die anderen – das waren neben Law eine süße Schnecke mit feuriger Haarmähne, welche meiner Konkurrenz machte, ein Dunkelhäutiger mit zu langer Nase und ein Blondschopf mit zu kurzer Nase. Alle drei schienen aufgewühlt und dementsprechend fingen sie auch sofort an, wild durcheinander zu diskutieren, dass sie ihm sehr wohl glaubten und Ruffy einfach nur zu dumm zum Erklären sei und obendrein das Kantineessen zu wenig und zu lasch gewürzt. Da verstand ja keine Sau ein Wort. Oder den Zusammenhang. „Ruhe!“ Man hörte in Zorros Stimme, dass er für sinnloses Zeitverschwenden gerade keinen Nerven hatte. „Die Beweislage ist unzureichend. Wir haben keine Spuren mehr, denen wir nachgehen können. Deswegen hat der Chef...“, er pausierte, als wolle er lieber nicht daran denken, „...den Fall eingestellt.“ „Schwachsinnige Beamtenbürokratie“, beschwerte sich das Nasenduo einstimmig. Woraufhin Zorro mit einem frustrierten Knurren antwortete: „Diesmal nicht. Ich war selber dabei. Der dämliche Betrieb ist von oben bis unten sauber. Zu sauber, sagt mein... Partner.“ „Welcher Betrieb? Was hat das mit Sanji zu tun?“, fragte die Frau. „Don Quichotte Pharma“, klärte ich auf. „Alle Indizien deuten darauf hin, dass einer ihrer Lieferwägen Sanji verschleppt hat. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ihr nichts gefunden habt, Zorro.“ Ich sah ihn mit einer gehobenen Augenbraue an. „Da passt jedes Puzzleteil.“ „Erzähl das nicht mir, Mann!“, brauste er auf. „Dieser Don Quichotte selber ist ein schleimiger Aasgeier! Ich glaub dem einfach nicht!“ „Doofquietschote?“ Ruffy legte den Kopf schief und sah dann Law an. „Ist das nicht da, wo dein Vater arbeitet, Trabert? Der hat doch auch so einen Lieferwagen.“ Ich konnte förmlich spüren, wie die Luft um mich her gefror. Dummer Zufall oder...? „DU bist das? DU warst zuletzt mit dem Koch zusammen?“ Jap, bei Zorro reichte das natürlich für einen neuerlichen Verdacht aus und er packte den größeren Law aus dem Nichts heraus am Kragen. „Was hast du mit ihm gemacht? Spucks aus!“ „Zorro, lass den Scheiß!“ Fester als beabsichtigt stieß ich ihn weg von Law. Was mir giftige Blicke von beiden Seiten bescherte. Gut, im nachfolgenden Moment wusste ich auch nicht so genau, was mich geritten hatte, derart rasch und vehement einzugreifen. „Danke, Eustass“, sagte Law mit einer Schärfe, die mich fast schon wieder anmachte. „Kann mich nicht erinnern, dich als persönlichen Bodyguard angeheuert zu haben. Und was Sanji angeht...“, er wandte sich an Zorro, „...der muss verschwunden sein, nachdem ich mit ihm zusammen war. Weiteres habe ich aber bereits deinem hitzköpfigen Kollegen hier erzählt. Ich wusste nicht, dass der Informationsfluss bei der Polizei so schlecht ist.“ „Ist er nicht“, warf ich ein. „Zorro zieht es nur vor, meine Ermittlungen in Frage zu stellen.“ „Weil deine Methoden nicht regelkonform sind! Deswegen!“, blaffte Zorro zurück. Daraufhin verengten sich meine Augen zu Schlitzen. Wollte er mir echt hier vor Leuten, die mich kein Stück kannten, in den Rücken fallen? „Hört auf! Das führt zu nichts! Wir sind hier, um Sanji zu finden! Nicht, um zu streiten!“ Glücklicherweise hatte der Rotschopf ein ähnlich mieses Temperament wie ich und knallte Zorro zur Besinnung eine. Es war offensichtlich, dass sie sich mehr Sorgen machte, als sie nach außen zeigte. „Falls es euch beruhigt“, warf da Law ein, „kann ich meinen Vater heute Abend fragen, ob er etwas weiß. Viele Hoffnungen würde ich mir allerdings nicht machen. Bei denen ist irgendwie alles Betriebsgeheimnis.“ „Tatsächlich?“, schnaubte Zorro, der sich die Backe rieb. „Don Quichotte hätte uns jeden einzelnen Arbeitsschritt gezeigt, hätten wir es verlangt.“ „Höchst verdächtig“, kam es daraufhin von der Langnase. „Sonst hätte ich euch nicht hierher bestellt!“ Zorro sah aus, als werde er im nächsten Moment anfangen, jedem den Hals umzudrehen, der neunmalkluge Bemerkungen machte. „Also gehen wir jetzt zu Doofquietschote und treten ihm in den Arsch, bis er Sanji herausrückt.“ Nein, dieser Ruffy hatte das nicht als Frage formuliert. Wären die Umstände andere gewesen, hätte ich lauthals zu lachen begonnen. Er war jedenfalls niemand, der lange Reden schwang. „Tun wir nicht!“, knurrte Zorro. „Vorerst. Wir brauchen handfeste Beweise. So, dass Don Quichotte die Schuld nicht weiter abweisen kann.“ Ich verzog missbilligend einen Mundwinkel, dann fragte ich: „Und wo willst du die hernehmen? Wir haben bereits Sanjis Wohnung und auch den Tatort gründlich durchsucht.“ Wenn einer das vermasselt hatte, dann waren das Smoker und Zorro gewesen. Im Gegensatz zu ihnen hätte ich mit Sicherheit eine Spur von Sanji im Betrieb von Don Quichotte Pharma gefunden. Ohne Smile kein Problem. Außer, dass ich mir vor wenigen Stunden noch hatte weismachen wollen, ich werde es in Zukunft immer brav regelmäßig einnehmen. „Shanks und du habt seine Wohnung durchsucht“, meinte Zorro da, mich berichtigen zu müssen. Offenbar hatte er einen ähnlichen Gedanken wie ich gehabt, nur in eine andere Richtung. „Keiner von euch beiden kennt ihn wirklich. Vielleicht habt ihr etwas Offensichtliches übersehen.“ „Möglich“, schnaubte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. „Mir war allerdings so, als kanntest du ihn auch nicht sehr viel näher.“ „Deswegen hab ich Ruffy, Nami und Lysop mitgebracht!“, keifte er mich an, als sei das glasklar gewesen, und deutete der Reihe nach auf die Anwesenden. Nur der Schweinchennasige schien keinen besonderen Zweck zu erfüllen. Was selbiger auch sogleich peinlich betreten bemerkte und sich mit einem Kopfnicken vorstellte. „Ich bin Sabo. Ich bin zur moralischen Unterstützung dabei.“ „Ich nicht“, kam es düster von Law. Musste er mir eine solch perfekte Vorlage in einer solch ernsten Situation anbieten? „Sag das nicht“, waren die Worte schneller ausgesprochen als ich denken konnte. „Meine Moral ist bei deinem Anblick schlagartig um das Dreifache gestiegen.“ „Sicher, dass es nicht nur der Testosteronspiegel war?“, bekam ich eine trockene Antwort, die abermals zum Weiterspielen einlud. Nur leider war Zorro schneller. „Wenn ihr beide nur zum Flirten mitgekommen seid, könnt ihr auch wieder gehen!“, blaffte er mit geballter Faust. „Sorry. Sind schon still“, beschwichtigte ich ihn. Im Grunde konnte ich ihn ja verstehen. Sich in Laws Anwesenheit zu beherrschen, war nur ungewöhnlich schwer. Selbst, wenn ich missbilligende Blicke von den Umstehenden erntete. „Wenn ich das also richtig verstanden habe“, hakte Nami an Zorro gewandt nach, „dann sollen wir mit dir zu Sanjis Wohnung gehen und uns dort umsehen? Ist das überhaupt erlaubt?“ Zorro zuckte die Schultern. Dass er eine Suspendierung riskierte, zeigte deutlich, wie wichtig ihm Sanjis Wohlergehen war. Was wäre ich für ein Kumpel, wenn ich das nicht respektieren und ernst nehmen würde? „Wir teilen uns am Besten auf“, schlug ich mit einem Seufzen vor. „Ich würde gerne den Tatort noch einmal unter die Lupe nehmen, ohne...“ Kurz wägte ich ab, entschied mich dann aber dafür, alle Vorsicht fahren zu lassen. Zumal der Name meines Medikaments den meisten sowieso nichts sagen dürfte. „Ohne auf Smile-Entzug zu sein. Ist auf der einen Seite zwar nützlich, um eine Spur aufzunehmen, aber kann auch vom Wesentlichen ablenken.“ „Du nimmst Smile?“ Sabo sah mich mit großen Augen an, dann seltsamerweise zu Law und wieder zurück. „Oh, wow, ich Dummkopf. Jetzt seh ich's auch.“ Er deutete auf seine Ohren, um zu versinnbildlichen, dass er meine sehr viel spitzeren und leicht gebogenen entdeckt hatte. „Und jetzt kapier ich auch... oh Mann. Oke, alles gut. Passt schon. Macht weiter.“ Niemand – mich eingeschlossen – schien zu verstehen, was das gerade sollte. Es ließ Sabo den weiteren Verlauf des Gesprächs über jedoch schief lächeln. „Wie auch immer“, griff ich mein Vorhaben wieder auf. „Ich werde mich noch einmal gründlich in der Seitengasse umsehen. Zorro, du übernimmst Sanjis Wohnung.“ „Klar.“ Kurz entstand eine Pause, während der er Law nach wie vor misstrauisch anstarrte. Letztendlich beschloss er: „Nimm den da und Sabo mit.“ „Der da hat einen Namen!“, fauchte ich. Abermals, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte. Was sollte das? Ich war nicht einmal auf Smile-Entzug. Das hätte die Wirkung, die Laws Anwesenheit auf mich hatte, wenigstens irgendwie erklärt. „Ihr seid ulkig!“, lachte da Ruffy, bevor ein weiterer Streit losbrechen konnte. „Los, Zorro! Lass uns Sanji finden!“ „Ich komm mit euch mit, Ruffy!“ Sabo warf mir einen vielsagenden Seitenblick zu und zwinkerte. „Den Tatort besichtigen – das schaffen die beiden hier sicher auch alleine.“ Jap, er verhalf Law und mir gerade ganz offensichtlich aus freien Stücken zur Zweisamkeit. Mit keinem Wort würde ich etwas dagegen einwenden. Zorro hingegen ließ mich böse stierend wissen, dass er die Entwicklung der Situation nicht das kleinste Bisschen guthieß. Der Sturschädel traute Law immer noch nicht über den Weg. „Bis später. Wir treffen uns nachher wieder hier“, brummte er und wandte sich zum Gehen. Die anderen folgten ihm. Nicht ohne, dass ich hören konnte, wie Lysop Sabo damit nervte, was denn bitte dieses Smile sei, und dass Nami mich mit einem skeptischen Blick bedachte. Hatte ich irgendetwas verbrochen? „Anstrengend“, kommentierte Law mit gedämpfter Stimme, sowie die Truppe außer Hörweite verschwunden war. Ich wusste sofort, was er meinte. „Das kannst du laut sagen. Die verlaufen sich mit Sicherheit, wenn sie sich auf Zorros Navigationskünste und Ruffys Enthusiasmus verlassen.“ Als einzige Antwort gab Law daraufhin ein leises, amüsiertes Geräusch von sich, welches mich dennoch in meinem Tun bestärkte. Solange ich ihn zum Lachen brachte, machte ich alles richtig. „Lass uns durch die FuZo gehen; das ist näher“, schlug ich vor. „Wenn du das sagst..." Wir setzten uns in Bewegung und überquerten schweigend den Uni-Campus. Immer wieder warfen wir einander verstohlene Seitenblicke zu und eine eindringliche Frage schien allgegenwärtig: Durften wir es dem Ernst der Lage zum Trotz genießen, auf einmal ungeplant Zeit dafür zu haben, uns näher kennen zu lernen? „Das ändert aber nichts an unserem Date morgen“, war es schließlich ich, der die Stille brach. „Kommt drauf an.“ Das Lächeln kehrte frech in Laws Gesicht zurück. „Solltest du irgendetwas finden, das mich belastet, wird es wohl eher ein Verhör werden.“ „Wenn du auf Zorro anspielst: Vergiss den. Der ist nur so misstrauisch, weil ich dich ohne Chemie im Blut befragt habe. Als ob ich dann nicht mehr klar denken könnte. Pah!“ „Du setzt wirklich Smile aus?“, hakte Law nun sehr viel ernster nach. „Du weißt hoffentlich, dass es schon nach 24 Stunden ohne das Medikament zu irreversiblen Fehlbildungen der Rückenmuskulatur kommen kann.“ Es wunderte mich nicht, dass er sich damit auskannte. Erstens hatte ich ja erfahren, dass sein Vater bei Don Quichotte Pharma arbeitete, und zweitens war er immer noch Medizinstudent. „Ist immer nur eine Dosis - da ist noch nie was passiert“, beschwichtigte ich ihn mit einem Zwinkern. „Schärft die Sinne um ein Zehnfaches und hat mir schon in so manchem unlösbar erscheinenden Fall weitergeholfen. Selbst wenn es weder von oben abgesegnet, noch eine offiziell gültige Quelle für Beweise ist.“ „Mir wäre das zu riskant.“ Wir machten an einer Ampel halt, mussten aber nicht lange auf eine Grünphase warten. „Eine Dosis auszusetzen, meine ich. Alkanthiolurie ist so schon kein Spaß - einen krummen Rücken und chronische Schmerzen kann ich nicht auch noch gebrauchen.“ Dass ich nicht mitten auf der Straße stehen blieb, grenzte an einem Wunder. Ich starrte ihn an und versuchte zu verarbeiten, was er gerade hatte durchblicken lassen. „Überrascht?“, fragte er. „Kann man so sagen“, brachte ich über die Lippen und gab weiterhin einen unintelligenten Anblick ab. Sicher, im Internet hatte ich bisweilen Foren zu Rate gezogen und mich flüchtig mit anderen Betroffenen ausgetauscht. Bisher hatte ich jedoch geglaubt, sie alle wohnten mindestens eine Zweitagesreise von mir entfernt. „Hier.“ Law strich eine Strähne bei Seite, die er geschickt über seinem Ohr drapiert hatte, und dann sah ich es klar und deutlich: Die Spitze und deren unverkennbare Wuchsrichtung gen Kopf. Selbst, wenn sie bei Law weitaus weniger geschwungen wirkte. „Ist mir bei dir gestern schon aufgefallen. Ich wollte nur nichts... überstürzen.“ Er hatte dieselbe, den Lebensstil stark beeinträchtigende Krankheit wie ich. Unmöglich, zu sortieren, wie viele Gedanken mir in diesem Moment gleichzeitig durch den Kopf schossen. Hatte es deswegen so schnell zwischen uns gefunkt? Hatte er deswegen diese anziehende Wirkung auf mich? War das möglich und ergab das überhaupt Sinn? „Ich weiß, es ist seltsam, plötzlich jemandem gegenüber zu stehen, den man kaum kennt, mit dem man aber einige... prägnante Eigenschaften teilt.“ Law versteckte sein Ohr wieder und ich konnte förmlich spüren, wie verlegen er auf einmal war. „Ging mir gestern nicht anders. Ehrlich gesagt kann ich es immer noch kaum glauben.“ „Hast du deswegen zugesagt?“ „Auch.“ Er warf mir ein erneutes, schiefes Lächeln zu, während wir die Fußgängerzone erreichten. „Du bist der erste andere Betroffene, den ich persönlich kennen gelernt habe.“ „Dito.“ Ich zuckte die Schultern. In keinster Weise verurteilte ich Law dafür, dass die gemeinsame Krankheit ein Grund gewesen war, sich mit mir treffen zu wollen. An seiner Stelle hätte ich genauso gehandelt. Wir bahnten uns einen Weg durch die von der Nachmittagssonne aus den Häusern gelockte Menschenmenge und bereits nach wenigen Schritten begann ich von einem spitzen Ohr zum anderen zu grinsen. Law Trafalgar war mehr als nur irgendein sexy Glücksgriff. Er war verdammt nochmal die erste Person in meiner langen Historie von Eskapaden, von der ich inständig hoffte, dass sich mehr mit ihr ergab als nur eine heiße Nacht. Er war, wie man so schön sagte, „keeping material.“ „Ich fass es nicht!“, lachte ich, während Sanjis Verschwinden vorübergehend in weite Ferne rückte. „Jetzt kann ich dich auf Pommes ohne alles einladen und muss nicht einmal erklären, wieso!“ „Das kannst du. Aber wolltest du dir den Tatort nicht noch einmal ansehen?“ Sein Lächeln verschwand nicht und ein gewisses Blitzen in seinen Augen sagte mir, dass er mich aus reiner Höflichkeit an mein eigentliches Vorhaben erinnerte. Das Gefühl, endlich nicht mehr alleine mit all den seltsamen Spleens zu sein, übermannte ihn wohl ebenso wie mich. „Das ist schnell erledigt“, erwiderte ich. „Außerdem lässt sich das eine mit dem anderen verbinden. Gegenüber vom Tatort steht eine Pommesbude. Es ist von absoluter Dringlichkeit, dass ich den Besitzer frage, ob er gestern etwas Auffälliges beobachtet hat. Wenn ich nebenbei etwas bestelle, stört das keinen. Bin rein theoretisch nichtmal im Dienst.“ „Rein theoretisch liegt der Fall auch auf Eis. Ich bin an einen ziemlichen Freigeist geraten, merke ich gerade.“ Zwar klang er tadelnd, bei Weitem jedoch nicht so entsetzt wie angesichts der Tatsache, dass seine Bekannten eine Rettungsaktion auf eigene Faust planten und jeden Einwand ignorierten. Tatsächlich glaubte ich sogar einen angetanen Unterton zu erkennen. Somit verbuchte ich es als weiteren Pluspunkt bei ihm. Wir tauschten Blicke und es war schwer zu sagen, was genau in diesem Moment zwischen uns geschah. Jedoch veranlasste es uns dazu, dass meine rechte Hand den Weg zu seiner linken fand und sie sich Nähe suchend umeinander schlossen. Augenblicklich durchströmte mich Wärme, die nicht von dieser Welt schien. Ich spürte Law so deutlich bei mir und es fühlte sich einfach - dafür gab es kein anderes Wort - richtig an. Ich wollte mehr davon. Baldmöglichst. Tatsächlich musste ich mich zusammenreißen, um ihn nicht mit einem wilden Kuss zu überfallen und für anderweitige Dinge in den nächsten Hinterhof zu verschleppen. Was zur Hölle ist das? Das kenne ich von meinen schlimmsten Smile-Entzugsphasen nicht! Glücklicherweise war ich damit jedoch nicht alleine, wie Law keine Sekunde später bewies. „Wenn diese Sache mit Sanji nicht wäre“, sagte er unter amüsiertem Kopfschütteln, „dann würde ich dich jetzt sofort ohne Umschweife zu mir nach Hause einladen.“ „Wenn die Sache mit Sanji nicht wäre, hätten wir uns nicht einmal kennen gelernt, fürchte ich“, erwiderte ich mit einem bedauernden Lächeln. „Aber ich komm auf deine Einladung zurück. Morgen nach unserem Date hätte ich Zeit.“ „Dir fällt es echt schwer, solche Dinge als Frage zu formulieren, oder?“ Ich spürte den Druck seiner Hand fester werden, doch gleichzeitig warf er mir einen erneuten seiner schelmischen Seitenblicke zu. Er brachte mich zum Lachen damit. „Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung! Wäre es dem werten Herrn denn genehm, mich nach unserem morgigen Rendezvous noch in seinem bescheidenen Heim zu empfangen?“ Ein leises Kichern ertönte. „Na, also. Geht doch.“ Wieder blitzten seine sturmgrauen Augen mich von der Seite her an. „Aber ja. Es wäre mir sogar mehr als genehm.“ Wir erreichten das Ende der Fußgängerzone, wo sie in eine Verkehrsinsel mit Bushaltestelle überging. Knapp davor befand sich eine Ampel, auf der anderen Straßenseite ein wenig abseits die mit Absperrband unzugänglich gemachte Nebengasse. Dorthin führte ich Law nun, bevor ich seine Hand losließ und mit einem Blick in die Gasse hinein die Arme in die Seiten stemmte. „Da wären wir. Pff, den Fall einstellen, aber dann nicht aufräumen. Arbeite ich eigentlich nur mit Stümpern zusammen?“ „Das sind ja nur zwei Minuten bis Jeff's Bar“, stellte Law entsetzt fest. „Ist es wirklich hier passiert? So knapp vorm Arbeitsplatz ist Sanji entführt worden?“ „Es verschwinden ständig Leute auf dem Arbeitsweg.“ Ich zuckte die Schultern, dann stieg ich über die Absperrung hinweg. Dass ich auch noch aufräumte für denjenigen, der hier seinen Job nicht gemacht hatte, sah ich gar nicht ein. „Es sind nur nicht alles Entführungen.“ „Aber diesmal schon?“ Law blieb brav stehen, wo er war. „Wie habt ihr das überhaupt herausgefunden?“ „Polizeigeheimnis. Würde ich jetzt behaupten. Wenn nicht meine Methoden - um Zorro zu zitieren - nicht regelkonform wären.“ Ich erntete einen nachbohrenden Blick. „Ich hab ohne Smile Sanjis Fährte aufgenommen und bis hierher verfolgt“, erklärte ich, ging zu dem Haufen Rohre und hockte mich noch einmal davor hin. „Bis genau zu diesem Punkt. Ab der Ampel war außerdem eine Frau bei ihm und da drüben“, ich deutete auf das rostige Tor weiter hinten, „tauchen die Spuren von zwei Männern scheinbar aus dem Nichts auf.“ Ich erhob mich wieder. „Addier das zu Lackabriebspuren, die den Nachforschungen zufolge von einem Lieferwagen stammen, und du hast alle Zutaten für eine Entführung.“ Laws Augen waren groß und ließen keine Sekunde von mir ab. „Das alles hast du herausgefunden, nur weil du eine Dosis Smile nicht eingenommen hast?“, fragte er. „Fast alles. Das mit dem Lieferwagen geht tatsächlich auf das Konto meines Partners“, gab ich zu. „Aber ja, wie bereits erwähnt: Smile wegzulassen schärft die Sinne. Ich bin dann eine Art menschlicher Spürhund. Mit einer gewissen, gewöhnungsbedürftigen Note allerdings.“ Nach einer eingehenden Prüfung der Umgebung kam ich zu dem Schluss, dass es hier wirklich keine weiteren Indizien zu holen gab, und stieg über die Absperrung zurück auf den Gehweg. Dabei grinste ich Law verschwörerisch zu. „Dürfte dich wohl kaum stören.“ „Ich denke nicht“, bestätigte er und sah mit einem Lächeln zu mir auf. „So wie ich mich und meine verwirrte Nase kenne, ist wahrscheinlich sogar das Gegenteil der Fall.“ Als sich unsere Blicke diesmal trafen, war mir, als hätte ich eine Tasse süßen Tees getrunken, wie Killer ihn mir bei einer Erkältung immer ans Bett stellte. Ein wärmendes Gefühl durchströmte mich und breitete sich rasch in jedes einzelne Körperteil aus. Die Aussicht darauf, Law nicht nur nahe sein zu können, obwohl ich dieses verdammte Medikament nicht genommen hatte, sondern ihm sogar noch besser zu gefallen dadurch, war zu schön um wahr zu sein. Ich wollte es hören. Ich wollte ihn sagen hören, dass er meinen unerträglichen Geruch mochte und nicht zum Weglaufen fand. Mehr noch: Ich wollte mich davon überzeugen, dass auch er diesen Geruch produzierte und ich ihn ebenfalls nicht zum Weglaufen fand. „Du könntest es ja selber mal ohne Smile ausprobieren“, schlug ich daher vor, während mich diese stählernen Augen in ihren Bann zogen und sich mir mit eindeutiger Absicht näherten. Im nächsten Moment hatte ich Law auch schon mit beiden Händen um die Mitte gefasst. Er war schlank und fügte sich nahtlos in meinen Griff ein. „Ich soll eine Dosis aussetzen?“, hakte er nach und als seine Finger meine Brust berührten, zuckte ein gieriges Verlangen durch mich, das ich gerade so im Zaum halten konnte. „Morgen für unser Date vielleicht“, bekräftigte ich ihn. „Es steigert zusätzlich nämlich... hmm... einen gewissen Appetit.“ „Hast du Angst, ich wäre nicht scharf genug auf dich?“, entgegnete er geradeheraus und kam mir so nahe, dass ich seinen Atem an meinen Lippen spüren konnte. Aufregung flammte mit der Heftigkeit eines Feuerwerks in mir auf. Normalerweise war ich nicht der Typ, der sich so leicht um den Finger wickeln ließ. Dafür spielte ich selber zu gerne. Gerade aber drängte mich mein gesamter Körper dazu, mit dem Zögern aufzuhören und endlich Nägel mit Köpfen zu machen. „Du hast Glück“, raunte Law mir zu. „Ich bin neugierig, wie wir aufeinander wirken so völlig ohne Smile. Wenn du es auch tust, werde ich die Tablette weglassen.“ Ein sinnlicher Blick folgte, zwei Hände, die mich aufgeregt bebend vorne am Shirt packten und das Rascheln von Kleidung, als Law sich mir noch ein Stück mehr entgegenstreckte und mir zuvorkam. Es war wie ein Eintauchen in warmes Wasser nach einem langen Arbeitstag. Er tat mir so gut, dass ich voller Vertrauen die Augen schloss und ihn innig an mich drückte. Ich erwiderte den Kuss ohne jeglichen weiteren Gedanken und mit einer Zärtlichkeit, die ich überhaupt nicht von mir kannte. Ewig wollte ich so mit ihm dastehen und die Zeit vergessen. Einfach nur seine Lippen an den meinen spüren und mich jener Gänsehaut hingeben, die sich nach und nach einstellte, als ich begriff, welch riesiges Glück wir beide doch gehabt haben mussten, als das Schicksal uns miteinander bekannt gemacht hatte. Tatsächlich hatte ich die Wahrscheinlichkeit, einem zweiten Menschen mit demselben Gendefekt zu begegnen, bisher für so gering gehalten, dass ich niemals auch nur damit gerechnet hatte. Law hier und jetzt in meinen Armen zu halten, erschien mir geradezu surreal aber auch ebenso wundervoll. Einfach, weil ich wusste, dass er war wie ich. Und welche Möglichkeiten uns folglich offenstanden... Die Hitze und das Glücksgefühl stiegen mir zu Kopf und ich löste heftig atmend den Kuss. Wenn wir jetzt weitermachten, konnte ich für nichts garantieren. Doch auch Law sah mich mit glühenden Wangen an, dann wandte er verlegen den Blick ab und gab mein Oberteil frei. Er streichelte unerwartet fahrig meine Brust, schließlich räusperte er sich. „Entschuldige. Ich wollte nicht... ich meine, es ist unpassend, wenn wir jetzt...“ „Kein Stress.“ Einmal noch erfühlte ich seine schmale Taille unter meinen Händen, dann ließ ich zaghaft von ihm ab. „Verschieben wir den Rest auf morgen.“ Stumm wie zwei Fische standen wir viel zu nahe beieinander da, strahlten nach wie vor sehnsüchtige Hitze aus und vermieden weiteren Blickkontakt. Keiner von uns beiden wollte warten. Schon gar nicht bis morgen. Einzig die Vernunft und ein klitzekleiner Rest Anstand verhinderten, dass wir wie Wilde übereinander herfielen. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte ich ein solch brennendes Verlangen mit noch niemandem geteilt, und es war nahezu beängstigend. „Wolltest du dem Besitzer der Pommesbude nicht ein paar Fragen stellen?“, rettete uns schließlich Law mit einer rein sachlichen Frage und ich nickte. „Lass uns rübergehen.“ Weiterhin nicht besonders gesprächig überquerten wir die Straße. Mein Herz klopfte währenddessen so laut und heftig, dass ich befürchtete, es könne jeden Moment aus meiner Brust mitten auf die Fahrbahn springen und dort einen Tod aus purer Liebestrunkenheit sterben. Denn abstreiten konnte ich es nicht: Der Kuss eben hatte mich geradewegs in den siebten Himmel und darüber hinaus katapultiert. Ich war Law hilflos verfallen und das sogar mit Smile. Als wir die Pommesbude erreichten, erlangte ich schlagartig Professionalität und auch Fassung zurück. Ich klatschte meinen Polizeiausweis auf die Theke (in der Hoffnung, dass ich hier ohne Uniform und Dienstmarke weiterkam) und verlangte mit routinierter Wortwahl: „Zweimal Pommes ohne alles bitte und ein paar Auskünfte die Seitengasse da drüben betreffend.“ Ich deutete mit dem Daumen hinter mich. Der Budenbesitzer sah mich und meinen Ausweis aus kleinen, stechenden Augen heraus abschätzend an, dann griff er nach Pappschalen, um diese zu befüllen. Währenddessen antwortete er: „Hab mich schon gefragt, wann ihr hier vorbeikommt. Nach all dem Brimborium mit dem Absperrband. Sind da drüben irgendwelche Chemikalien ausgelaufen oder was ist passiert?“ „Das nicht.“ Ich sammelte meinen Ausweis wieder ein und durchforstete meinen Geldbeutel stattdessen nach Münzen. „Aber eigentlich würde ich ja von Ihnen gerne wissen, ob Sie etwas Auffälliges gesehen haben.“ „Nur zwei Ihrer Kollegen, die sich anschreien und die Rolle mit dem Absperrband auf die Straße fallen lassen“, bekam ich eine nach meinem Geschmack viel zu treffende Beschreibung von Corby und Helmeppo bei der Arbeit zu hören. „Die ist bis hier rüber zum Radweg gerollt und hat ein riesiges Tohuwabohu veranstaltet. Ein Kind hat sich mit seinem Tretroller darin verheddert und ist hingefallen. Zum Glück ist nichts passiert. Aber wie leicht hätte das Verletzte geben können...“ Ich verdrehte genervt die Augen. Offenbar arbeitete ich wirklich nur mit Stümpern zusammen. „Irgendetwas Auffälliges außer das?“, bohrte ich nach. „Vorher am besten.“ Der Budenbesitzer zog eine gelangweilte Miene und schüttelte den Kopf. Dann stellte er zwei Schalen dampfende Pommes auf die Theke. „Zweimal ohne alles. Das macht acht Euro.“ „Das ist ja Wucher!“ „Von irgendetwas muss unsereins auch leben“, schnaubte er und sah mich ungeduldig an. Bevor ich zurückkeifen konnte, schob sich allerdings Law - die Ruhe in Person - mit einem Schein dazwischen und legte ihn dem Budenbesitzer direkt unter die Nase. „Hier. Das passt so.“ Er nahm eine der Schalen von der Theke, dann zupfte er sacht am unteren Ende meines Oberteils. „Komm. Da drüben sind Tische.“ Ohne meine Antwort abzuwarten, ging er vor und ließ mich überrumpelt zurück. Jetzt hatte ja er mich eingeladen und nicht umgekehrt. „Wenn ich genauer darüber nachdenke...“, hörte ich da den Budenbesitzer sagen, als wäre es ihm gerade erst wieder eingefallen, „...dann habe ich vielleicht doch etwas Ungewöhnliches beobachtet.“ „Was?“, schnaubte ich und musste zähneknirschend mit ansehen, wie mein Gegenüber den Zehneuroschein glatt strich, als sei dieser eine besonders reinrassige Katze. „Zwei Männer und eine Frau in einem Lieferwagen. Von dieser Firma da. Sie wissen schon. Die mit den teuren Medikamenten.“ „Don Quichotte Pharma? Mit einem blauen Logo?“ „Genau die. Die sind da drüben reingefahren.“ Er deutete überflüssigerweise auf die Seitengasse. „Wäre nicht weiter seltsam gewesen, wenn die unteren Etagen da nicht alle leer stehen würden. Und einen Höllenlärm haben die dabei auch gemacht. Hätten beinahe einen Container mitgenommen. Dann sind sie ausgestiegen und ne Weile da herumgestanden. Was weiter passiert ist, weiß ich allerdings nicht. Hatte zwischendurch eine Reisegruppe zu bedienen und danach war der Lieferwagen weg.“ „Das reicht“, winkte ich ab, meine Laune durchaus besser als zuvor. „Sie haben mir gerade eine ganze Reihe Annahmen bestätigt. Dankeschön.“ „Bedanken Sie sich lieber bei Ihrem spendablen Freund.“ Meine Augen wurden schmal und meine Laune rutschte zurück in den Keller. Der Betonung nach zu schließen, hatte der Typ Law und mir vorhin beim Knutschen zugesehen und hieß es alles andere als gut. „Schönen Tag noch!“, blaffte ich ihn an, riss meine Portion Pommes an mich und stampfte von dannen. Sollte der meinetwegen denken, bei der Polizei arbeiteten nur Idioten und Perverse. Ging mir dezent am Arsch vorbei! Als ich bei Law und einem billigen Plastikstehtisch ankam, machte ich meiner Wut Luft, indem ich das Schälchen auf die Tischplatte knallte und anschließend murrte: „Ich wollte dich einladen.“ Law blickte unbeeindruckt auf, biss ein kleines Stück von einem Pommes ab und entgegnete mit kühler Stimme: „Wenn du damit nicht zurechtkommst, Eustass, such dir besser einen anderen. Ich weiß, dass es ordentlich zwischen uns funkt. Mehr als erlaubt sein sollte, wenn du mich fragst. Aber Gejammere wegen verletztem männlichen Stolz oder sowas vertrage ich nicht. Entweder werden wir Partner oder gar nichts dergleichen. Und als solche“, seine Miene wurde kaum merklich sanfter, „hilft man sich eben gegenseitig aus.“ Mit wortlos zusammengepresstem Mund starrte ich ihn an. Jap, so war das. Ich wurde hier vor vollendete Tatsachen gestellt und hatte nichts zu melden. „Danke“, maulte ich und fing an, Pommes in mich hineinzustopfen. „Immerhin hat der Typ noch gemeint, er hätte den Lieferwagen von Don Quichotte Pharma mitsamt den beiden Männern und der Frau gesehen.“ „Dann stimmt es also. Wobei ich immer noch nicht verstehe, warum ein Pharmakonzern Leute verschleppen sollte. Illegale Menschenversuche klingt so...“ „...nach billigem Thriller?“, ergänzte ich. „Nun... ja.“ Law seufzte. „Ich hoffe, ich kriege brauchbare Informationen aus meinem Vater heraus.“ Ich nickte mit trüber Miene. Es gefiel mir nicht, dass alle Anhaltspunkte, die uns in Sache Sanji noch blieben, irgendwelche losen Fäden ohne Zusammenhang waren. „Erzählt er dir denn sonst von seiner Arbeit?“, hakte ich nicht ohne persönliches Interesse nach. „Über Smile oder Alkanthiolurie selber. Du musst doch eine Menge Insiderwissen haben. Ich meine, du studierst Medizin und sitzt auch noch quasi an der Quelle für Medikamente.“ Law schenkte mir daraufhin ein mattes Lächeln. „Was willst du wissen?“ „Alles? Und am besten Dinge, die ich noch nicht weiß?“ „Keine Ahnung, ob ich damit dienen kann“, meinte Law mit hörbarem Bedauern in der Stimme. „Ehrlich gesagt hast du mir heute sogar Dinge erzählt, die ich noch nicht wusste. Dass man einfach eine Dosis Smile ohne Bedenken weglassen kann, zum Beispiel. Ginge es nach dem Lehrbuch oder den Warnungen meiner Eltern, solltest du schon gar nicht mehr gerade gehen können.“ „Schwachsinn“, war mein ganzer Kommentar dazu. Was irgendwelche Theoriefurzer schwafelten, wog nun einmal nicht viel gegen meine fundierte praktische Erfahrung. „Das ist es ja“, stimmte Law mir zu. „Vieles, was in den Büchern steht, ist nicht vollständig. Wenn man wie du und ich selbst an dieser Kondition leidet, häufen sich im Laufe des Lebens Fragen über Fragen über Fragen, die einem niemand beantwortet. Warum vertrage ich Schimmelpilze? Wieso verwertet mein Körper alles, was ich zu mir nehme, in flüssiger Form? Welchen Nutzen hat es, dass mich meine Nase nicht vor Schwefelverbindungen warnt, sondern im Gegenteil das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert wird? Warum muss ich mir ein Nest bauen, um schlafen zu können? Und wie überhaupt kann ein Körper, dem so viele wichtige Organe fehlen, alleine durch Tabletten überleben?“ Er hatte sich richtig in Rage geredet und in seinen Augen brannte ein Feuer, das vor allem aus angestautem Frust zu bestehen schien. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Viele dieser Fragen waren auch mir nicht fremd und eigentlich hatte ich geglaubt, jemand wie er habe wenigstens ein paar Antworten darauf. Umso erschütternder, dass dem nicht so war. „Also weiß es niemand? Es wurde noch nicht ausreichend erforscht?“ „Schwachsinn“, war nun er mit abfälligen Bemerkungen an der Reihe. „Ich bin mir sicher, in den zuständigen Einrichtungen weiß man mehr als genug. Mein Vater erzählt mir nur nichts. Oder eben wenig. Um mehr herauszufinden, muss ich mich selber bei Don Quichotte Pharma bewerben, sobald ich mit dem Studium fertig bin. Wahrscheinlich sollte ich auf Pharmazie umsteigen...“ „Wieso wird daraus überhaupt ein so ein riesiges Geheimnis gemacht?“, fragte ich und stopfte weiter Pommes in mich hinein. Zu meinem Leidwesen war die Schale schon fast leer. „Das“, sagte Law mit Nachdruck, „ist seit geraumer Zeit Frage Nummer eins, die ich mir tagtäglich stelle. Wahrscheinlich aber wollen die von Don Quichotte Pharma vorerst nicht, dass man ihnen irgendwelche Rezepturen stiehlt. Vielleicht - wenn wir Glück haben - kriegen wir in ein paar Jahren ja doch noch Forschungsergebnisse zu sehen.“ Er beäugte mich schief, wie ich dem Rest meiner Pommes den Garaus machte, dann schob er mir unaufgefordert seine eigene Schale herüber, die noch zu einem Drittel gefüllt war. „Hier. Ich bin satt.“ „Wirklich?“ Ich hob eine Braue und musterte ihn kurz. Gut, die schmale Taille kam wohl nicht von ungefähr. „Ich weiß, ich sollte mehr essen...“ „Cool. Das ist voll praktisch“, überging ich ihn und fuhr frohgemut damit fort, Pommes zu vernichten. „Mir sind die Portionen eigentlich immer zu klein, wenn man irgendwo bestellt.“ Für einen Moment starrte mich Law mit einem blanken Ausdruck im Gesicht an, dann ließ er wieder sein leises Lachen hören. Nur, um anschließend in einer huschenden Bewegung den Tisch zu umrunden, in meine Armbeuge zu schlüpfen und auf diese Weise an mich geschmiegt doch noch ein oder zwei Pommes zu stibitzen. Es war zwar unverschämt, aber auch verdammt niedlich. Weswegen ich ihn gewähren ließ und es einfach nur genoss, dass er mir nahe war. „Wusstest du, dass Alkanthiolurie nur Männer betrifft?“, fragte er nach geraumer Zeit. „Und nicht nur das; in hundert Prozent der Fälle sind sie mindestens bi-, wenn nicht sogar homosexuell.“ Ich gab einen Laut der Anerkennung von mir. „War mir bisher gar nicht so bewusst, nein. Aber jetzt, da du es sagst...“ Nachdenklich schob ich mir die letzten beiden Pommes zwischen die Lippen. Nein, in den Foren waren tatsächlich nur höchst selten Frauen unterwegs gewesen. Meistens Ärztinnen oder solche, die es werden wollten. Ein Zupfen am Ärmel ließ mich hinunter und direkt in Laws Gesicht blicken. Vorwurfsvoll wanderten seine Augen von mir zu dem noch verbliebenen Pommes, das aus meinem Mund herausragte, und dann wieder zurück. Ich verstand. Mit einem Schmunzeln und glühenden Wangen beugte ich mich hinab, den Köder fest zwischen die Lippen geklemmt. Keine Sekunde dauerte es und ich hatte meinen Fang auch schon gemacht: Einen angeblich bereits satten Law, der im Verhältnis dazu erstaunlich gierig anbiss. Er klaute mir frech mein Pommes, aber schien danach noch längst nicht genug zu haben. Wieder war er es, der mich zuerst küsste, und wieder schloss ich dabei die Augen, wohl wissend, dass uns der Budenbesitzer von hier aus beobachten konnte. Sollte er ruhig. Umso mehr es ihn störte, desto lieber war ich ihm ein Dorn im Auge. Zumal dieser Kuss wie auch der vorherige schon unglaublich gut tat. Als wir uns diesmal voneinander lösten, lächelten wir einander zufrieden an. Ob es nun an dieser dummen Krankheit lag oder nicht: Da war etwas zwischen uns, das sich nicht in Worte fassen ließ. Eine Verbindung tief im Innersten, die sich ihrer Heftigkeit wegen vor allem als körperliche Anziehung äußerte, aber noch so vieles mehr in sich verborgen hielt. Ich konnte es kaum erwarten, gemeinsam mit Law jede einzelne ihrer Facetten zu entdecken. „Wir sollten wohl langsam wieder los“, sagte ich leise und hob einen Finger, um damit flüchtig Laws Wange zu berühren. „Zurück zu den Deppen.“ Einen Moment lang sah er mich nur an und folgte mit dem Gesicht kaum merklich meiner Hand, als ich sie wieder sinken ließ. Letztendlich aber nickte er. „Hoffen wir, dass sie erfolgreicher waren als wir.“ „Als ob“, schnarrte ich abfällig, nahm die leeren Schälchen vom Tisch und stopfte sie in den nächstbesten Mülleimer. „Du vertraust nicht gerade in die Fähigkeiten deines Kollegen, kann das sein?“ „Er ist mehr der Typ für schnelle Reaktionen, nicht fürs Denken“, verteidigte ich mich, während ich voller Selbstverständlichkeit Laws Hand ergriff. „Außerdem haben wir Sanjis Wohnung bereits gründlich durchsucht. Zu dritt. Wenn die echt noch was Bahnbrechendes herausgefunden haben, fress ich meine Dienstmarke.“ Wir gingen ein paar Schritte zurück Richtung Fußgängerzone, dann erinnerte ich mich an etwas. „Sag mal, dieser Sabo...“, begann ich laut nachzudenken, „woher wusste der, was Smile ist?“ „Weil ich ihm davon erzählt habe“, klärte Law mich umgehend auf und erstickte somit alle meine Verschwörungstheorien im Keim. „Er studiert Jura und brauchte Informationen für eine Hausarbeit. Außerdem ist es nicht wirklich ungewöhnlich, darüber Bescheid zu wissen. Gerade in der Stadt, in der Smile hergestellt wird. Meinst du nicht?“ „Stimmt auch wieder.“ Ich zuckte die Schultern und beließ es dabei. Insgeheim aber war ich mir sicher, dass mein Gespür mich nicht trügte - Sabo wusste irgendetwas, von dem er uns nichts erzählte.   Ich musste meine Dienstmarke nicht aufessen. Wie zu erwarten gewesen war, hatte Zorros Durchsuchungstrupp die Wohnung in einem zwar nicht unschuldigen (im Nachhinein nahm ich es Sanji übel, dass er Sex mit Law gehabt hatte und ich noch nicht), jedoch völlig gewöhnlichen Zustand vorgefunden. Die letzte Hoffnung, an die Zorro sich nun verzweifelt klammerte, war Sanjis Schwester. Warum das auf einmal - keine Ahnung. Sanji hatte wohl einige Fotos von ihr in seiner Wohnung hängen und auch viel über sie erzählt. Außerdem kannten Ruffy und Nami sie flüchtig. Ob sie uns wirklich noch zu nützlichen, neuen Informationen verhelfen konnte, wagte ich nach unserem Telefonverhör allerdings zu bezweifeln. Das einzig Gute an der Sache war, dass zuletzt Barty damit beauftragt worden war, sich um sie zu kümmern. Bei dem nachzufragen, kostete mich allenfalls einen Handschlag. Knapp vor Schichtbeginn kamen Zorro und ich auf der Wache an. Die ganze Fahrt über hatten wir uns eine hitzige Debatte darüber geliefert, dass ich angeblich blindlings in mein Verderben rannte, nur weil ich Händchen haltend mit Law am Treffpunkt aufgetaucht war. Zorros Meinung nach gehörte der nämlich immer noch zu den Hauptverdächtigen oder war zumindest potentieller Mittäter. Angeblich hatte Law mich ja "um den Finger gewickelt" und ich war "unbrauchbar vor lauter Verknalltsein." Dass Zorro selber gerade seinen Job und noch sehr viel mehr für diesen Vinsmoke-Deppen riskierte, schien er nicht einmal zu merken. Meine Laune war also bereits mies, als wir das Gebäude betraten. Besser wurde sie ganz gewiss nicht dadurch, dass mir Corby über den Weg stolperte, den ich daraufhin ankeifte, er habe vergessen, den letzten Tatort wieder freizugeben. Auch Shanks, der mir aus dem Büro zurief, wir bräuchten für den nächsten Fall dringend meine Spürnase wieder, erheiterte mich wenig. Klar, immer dann, wenn es ihm gerade gelegen kam, war meine Krankheit praktisch. Aber wehe, ich schwitzte ihm nach erfolgreicher Verfolgungsjagd sein Auto voll. Als uns dann auch noch Barty in seinem Keller volljammerte, Reiju habe ihm bereits seit - ganz schrecklich - einer halben Stunde nicht mehr zurückgeschrieben, war das Fass zum Überlaufen voll. Ich keifte ihn an, dass er sie doch ficken solle, wenn er es keinen halben Tag ohne Nachricht von ihr aushielt, dann überließ ich es Zorro, ihm unser eigentliches Anliegen zu unterbreiten. In der Zwischenzeit ging ich mir im nahen Park die Beine vertreten, nahm kein Smile und goss einen möglichst abgelegenen Baum mit literweise penetrant stinkender Flüssigkeit, die ich nun auch schon den ganzen Tag mit mir umherschleppte. Dabei fiel mir Law wieder ein und ich musste mir zerknirscht eingestehen, dass ich ihn vermisste, selbst wenn das rein objektiv betrachtet albern war, da ich ihn ja bereits morgen wiedersehen würde. Doch ich konnte nichts dagegen tun: Mit der Aussicht darauf, die gesamte Nacht wieder nur in Gesellschaft des versoffenen Sacks zu verbringen, der mich regelmäßig meine Fälle kostete, sehnte ich mich zurück in Laws wohltuende Nähe. Herrgott oder wer auch immer da oben ist, dachte ich und lehnte meinen Kopf gegen die glatte, kühle Baumrinde, bitte lass es einfach Wochenende werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)