Rivals' Reunion von MizunaStardust ================================================================================ Kapitel 8: Spuren ----------------- 8: Spuren This habit is always so hard to break. I don't want to be the bad guy, I've been blaming myself and I think you know why. I'm killing time, and time's killing you Every way that I do. Did you say "please just follow me"? I thought you wanted me. Cause I want you all to myself. I can try to suck it up, I just can't suck it up. Make me feel like someone else. (Marianas Trench) Umko Bari im Interview Part II Also … ja, ich habe ja von meiner Beziehung mit Ren erzählt. Dass sie sehr gut war auf eine … gesunde und beständige Art. Ich sage „war“, weil … naja, es ist so: Ich bin nicht mehr mit Ren zusammen. In der Presse war es kein großes Thema, deshalb hat es sich wenig herumgesprochen. Genauso wenig, wie es sich herumgesprochen hat, dass wir überhaupt ein Paar waren. Immerhin war Limono nicht involviert. War wohl dann einfach nicht so von Interesse. Auf jeden Fall … war ich es, der die Beziehung beendet hat. Ich muss es leider sagen, ja. Ich weiß auch nicht. Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist es mir selbst ein Rätsel. Eigentlich war alles super. Alles lief gut zwischen uns. Wir haben uns fast nie gestritten. Wir hatten dieselben Vorstellungen von Leben. Die Chemie hat einfach gestimmt. Ok, ich gebe zu, wenn ich es so erzähle, dann klingt es vielleicht etwas langweilig, als wären wir uns zu ähnlich oder so, aber das war es nicht. Im Grunde hatten wir unterschiedliche Interessen. Aber wir haben uns füreinander interessiert, dafür, was uns bewegt und was wir so denken und tun. Haben uns viel Freiraum gelassen. Ren hatte einige Hobbys, er hatte auch einen Freundeskreis, den ich sehr gern mochte und mit dem wir viel unternommen haben. Aber ich weiß auch nicht: Am Ende hat mir doch irgendwas gefehlt. Ich mache mir jetzt noch Vorwürfe, weil ich es beendet hab. Ren hat es nicht verstanden. Ich habe das in seinen Augen gesehen. Wir hatten wirklich alles. Es gab keine Probleme. Die Frage hat offen in seinen Augen gestanden, warum es vorbei sein sollte. Und er hat sie mir auch gestellt. Ich hatte keine Antwort. Ich hätte das alles haben können. Bis zum Ende. Bis wir alt und grau gewesen wären. Ich wollte es nicht. Und das ist ganz allein mir zuzuschreiben. Ich habe das zu verantworten und muss jetzt damit leben, dass ich mir das verbaut habe. Dass ich ihn verletzt habe. Es war mir irgendwie … nicht genug. Ich weiß einfach nicht. Ich verstehe mich selbst nicht. Vielleicht brauche ich etwas ganz anderes, als ich immer dachte. Vielleicht kenne ich mich selbst nicht gut genug. ~*~ Yami strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Er trug noch immer seine Sportklamotten und wollte nichts mehr als eine Dusche. Schon im ersten Augenblick, als sie den Fitnessraum endlich verließen, kam es ihm vor, als wäre das alles nicht real gewesen. Waren sie tatsächlich hier eingesperrt gewesen? Hatten sie es sich nur eingebildet? Waren sie ganz einfach zu dämlich gewesen, um die Tür zu öffnen? Während er die Treppe hinaufstieg, bemerkte er, dass Seto ihn von der Seite nachdenklich musterte. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er, als Yami seinen Blick auf sich ruhen spürte und den Firmenchef ansah. „Ja … ich denke schon“, sagte Yami etwas angespannt, „Es ist nur … wir waren ein wenig unter Stress da unten. Wir hatten echt Angst, da festzusitzen: Jedenfalls … danke, dass du nachgesehen und uns rausgeholt hast.“ Seto nickte. „Vielleicht liefern sie uns ja eine Erklärung, was da los war. Es wäre jedenfalls angebracht.“ Yami sah ihn dankbar an, erleichtert, dass Seto ihn nicht für verrückt oder unfähig hielt. Für einen Moment überlegte er, ob er ihm von dem seltsamen Gefühl berichten sollte, das er gehabt hatte. Aber er wollte den Firmenchef nicht am ersten Tag hier bereits wieder mit irgendwelchen mystischen Vorahnungen belästigen. „Also … schön, dass es dir … euch gutgeht“, fuhr Seto leiser fort, „Ihr solltet erst mal was frühstücken und ein bisschen runterkommen.“ Yami nickte. „Ja, das wird das Beste sein.“ Er wandte sich um, um den Rest der Stufen nach oben zu nehmen, als er noch einmal Setos Stimme hinter sich vernahm. Eine ungewohnte Unsicherheit lag darin. „Yami, warte einen Moment. Ich wollte …“ In diesem Augenblick tauchten Mokuba, Tea und Yugi am Ende der Treppe auf. „Hey, Seto, alles in Ordnung? Was ist denn da unten los? Gibt’s Probleme?“, wollte der jüngere Kaiba wissen. Seto schien sich wieder gefangen zu haben. „Nein, alles klar, Mokuba. Wir hatten hier nur ein kleines Problem mit der Tür. Aber es hat sich alles geklärt.“ Mokuba blickte sie nachdenklich an. * Später, als Yami und Joey sich ein ausgiebiges Frühstück gegönnt hatten, verkündeten sie den anderen die Neuigkeiten zur Tagesplanung, die über die verschlossene Tür fast untergegangen waren. „Also, alle mal hergehört! Yami und ich haben den Auftrag bekommen, euch heute Abend ein bisschen zu bespaßen. Und wir haben uns etwas Nettes für euch überlegt. Um der alten Zeiten Willen.“ Joey grinste vielversprechend in die Runde. „Wir werden ein Duel Monsters Turnier veranstalten. Der Sieger bekommt … nur Ruhm und Ehre. Aber das ist es ja auch, wofür wir alle spielen. Und zum Spaß natürlich. Die ersten Paarungen werden ausgelost. Also, strengt euch an, mischt eure Karten, stellt eure Decks zusammen – und gebt euer Bestes!“ Ein allgemeines Raunen ging durch die Anwesenden. Yami konnte sehen, dass Setos Augen leuchteten und sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen gelegt hatte. Limono hingegen verdrehte genervt die Augen. „Oh zur Hölle, ist man denn wirklich nirgends vor diesem dämlichen Spiel gefeit?“, seufzte er. „Tut mir leid, ich muss leider passen. Ich besitze keine einzige Karte. Wie außerordentlich schade“, fügte er dann in gespieltem Bedauern hinzu. Wortlos trat Seto vor und breitete seinen berüchtigten Koffer vor ihm auf dem Tisch aus, der über und über mit Karten gefüllt war. „Dieses Problem hätten wir hiermit gelöst“, sagte er schmunzelnd und Limono sah ihn nur ungläubig an. Letztlich musste er sich allerdings geschlagen geben und Seto versicherte ihm, dass es an seinem eigenen Deck nichts zu feilen gäbe und dass er ihm deswegen beim Erstellen eines Decks helfen würde. „Wie großzügig“, gab der Grünhaarige murrend zurück. In diesem Moment begann der Flachbildfernseher im Wohnzimmer, der in etwa so anachronistisch wirkte wie das Fitnessstudio im Keller, einen gleichmäßigen Piepton von sich zu geben und sprang ohne das Zutun eines der Kandidaten an. Limono und Seto sowie Yami und Joey sahen sich alarmiert an, doch schnell offenbarte sich diesmal die Quelle des verselbstständigten Elektrogeräts. Auf dem schwarzen Hintergrund des Displays erschien das Logo der „Rivals' Reunion“-Show und nach einem kurzen Jingle erschien eine schwarze Schrift: „Nicht so schnell, Seto Kaiba. Dein Deck mag gut sein, aber heute werden die Karten neu gemischt. Liebe Kandidaten: Öffnet den Koffer auf dem Esstisch.“ „Ein Koffer? Ich habe vorhin keinen gesehen“, überrascht lief Tea ins Esszimmer und kam kurz darauf mit einem Metallkoffer zurück. „Wenn sie den hier reinschaffen können, warum sorgen sie dann nicht mal für ein bisschen Auswahl an Eissorten im Gefrierfach?“, maulte Malik, „ich habe gestern im Interview schon darum gebeten!“ „Leute, er ist so leicht, hier scheint gar nichts drin zu sein“, bemerkte Tea verwundert. Sie öffnete die beiden Klappverschlüsse. Im Koffer befanden sich, in Stapeln, mindestens fünfhundert nagelneue Spielkarten. Nun ertönte erneut ein Ton aus dem Fernseher. „Für euer heutiges Turnier werdet ihr diese hier benutzen statt eurer eigenen Decks. Nur höchstens ein Drittel eurer Decks darf aus euren eigenen Karten bestehen. Es handelt sich bei allen Karten im Koffer um neu entwickelte Karten, die noch nie im Spiel verwendet und gerade erst zugelassen wurden. Ihr solltet also eure Hausaufgaben machen und euch damit auseinandersetzen.“ Seto knurrte ein wenig missmutig. Schließlich aber machte sich erneut ein Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Wie auch immer: Ich schlage jeden, egal mit welchem Deck.“ Joey und Yugi hatten sich sofort auf diesen soeben gehobenen Schatz gestürzt und überschlugen sich fast vor Aufregung, zeigten sich gegenseitig Effekte und verglichen Angriffs- und Verteidigungswerte. „Alter, ich bin im Paradies!“; jauchzte Joey. „Manchmal denke ich, ich bin im falschen Film. Welche bewusstseinserweiternden Substanzen habt ihr nur alle genommen, um auf ein paar Papierfetzen für Kinder so abzufahren?“, fragte Limono mit hochgezogenen Augenbrauen, aber keiner nahm davon Notiz. * Nach dem Frühstück verstreute sich die kleine Gruppe langsam wieder. Einige ließen sich von Yami und Joey die Geschichte ihres unfreiwilligen Aufenthaltes im Keller erzählen. Seto ließ Limono derweil keine Zeit, sich wieder aus der Sache herauszuwinden, und nötigte ihn dazu, sich erste Gedanken über den Charakter seines Decks zu machen. So saßen die beiden wenige Minuten später auf dem Sofa, wo sie gestern noch die Aufgabenverteilung für den heutigen Tag besprochen hatten, und Seto sortierte einige Kartenhäufchen auf dem kleinen Tisch vor ihnen, denn auch er war nun vor die Herausforderung gestellt worden, sich ein neues Deck zu basteln. Außerdem hatte er eine Spielmatte vor ihnen ausgebreitet, auf der sich bereits diverse Karten tummelten. Seto seufzte ungläubig. „Nein, so geht das doch nicht. Du kannst doch keine Zauberkarte in die Monsterkartenzone legen! Ist das denn so schwer zu begreifen, dass unterschiedliche Farben für unterschiedliche Kartentypen stehen? Hast du denn wirklich keine Ahnung von diesem Spiel? Wo zur Hölle hast du in den letzten Jahren nur gelebt?!“ Limono verdrehte zum wiederholten Mal die Augen. „Warum soll das nicht gehen? Immerhin ist doch auf der Karte so ne Art Monster drauf. Nur weil sie jetzt grün ist, soll ich sie nicht dahinlegen dürfen? Wer hat sich diesen Quatsch nur ausgedacht?“, entgegnete er zickig und zeigte auf die Topf der Gier-Zauberkarte in seiner Monsterkartenzone. „Ich kann es nicht glauben, dass dieser Kelch an dir vorbeigezogen ist – und damit meine ich NICHT den Topf der Gier“, stöhnte Seto resigniert und schüttelte den Kopf. „Was denn, nur weil ich mich nicht derselben Gehirnwäsche unterzogen hab wie eure Freakshow, soll ich mich jetzt dafür schämen? Gibt es denn eigentlich keine Spielanleitung für diesen Mist? Damit würden wir uns diese Tortur hier sparen und uns unsere Nerven erhalten.“ Seto sah Limono entgeistert an. „Eine Spielanleitung? Ist das dein Ernst? Ich habe ganz ehrlich noch nie jemanden erlebt, der für Duel Monsters nach einer Spielanleitung gefragt hat. Ich kann es wirklich nicht glauben.“ Nun war es an Limono, verständnislos dreinzublicken. „Wie habt ihr Verrückten denn alle die Regeln gelernt, wenn nicht so?“, fragte er ungläubig, wobei er doch über Setos Empörung schmunzeln musste. Diese fanatischen Spielsüchtigen ließen wirklich nichts auf ihr Heiligtum kommen. Er selbst, der sich nie für das Spiel interessiert und es auch nie gelernt hatte, schien für Seto in einer völlig anderen Welt zu existieren, fast abnorm zu sein. „Na … also, eigentlich kennt keiner so wirklich die Regeln“, gab Seto schließlich etwas kleinlaut zu, „im Grunde denkt sich jeder welche aus, die ihm gerade in den Kram passen, damit das Spiel dramatischer wird. Aber … wenn du es nicht anders haben willst, schaue ich mal, ob ich auf meinem Laptop eine Anleitung finde. Ins Internet darf ich mich hier ja leider nicht einwählen, aber vielleicht habe ich auf meiner Festplatte etwas Brauchbares.“ Limono nickte erleichtert und Seto zog seinen Computer auf seinen Schoß, als unvermittelt jemand zu ihnen an den Tisch trat und sich hörbar räusperte. Es war Umko. Seto und Limono sahen überrascht auf. Limonos Ex-Mann wirkte eigentlich selbst nicht sonderlich glücklich darüber, die beiden in ihrem Tun zu unterbrechen oder überhaupt mit ihnen reden zu müssen. Trotzdem sprach er sachlich und bestimmt. „Limono, wir sind gestern beide für die Erkundung des Hauses eingeteilt worden, schon vergessen? Sollen wir das nicht heute im Laufe des Tages angehen? Alle anderen haben sich an ihre Parts gehalten, ich finde es nur fair, wenn wir dem auch nachkommen.“ Limono sah kurz auf die beiden Psi-Monsterkarten, die er noch immer in der Hand hielt. Dann blickte er wieder zu Umko auf. „Ja, du hast wie immer Recht. Dann lass uns das doch nach dem Mittagessen machen. Bis dahin habe ich vielleicht die Regeln dieses absurden Wahns hier kapiert.“ Seto warf ihm einen empörten Blick von der Seite zu, aber Umko nickte nur wortkarg und überließ die beiden wieder sich selbst. Limono sah ihm mit gerunzelter Stirn nach. Er spürte, dass Umko am liebsten keinerlei Interaktion mit ihm eingegangen wäre. Er wirkte angespannt und verschlossen und Limono fragte sich, vor was er sich fürchtete. Vielleicht vor sich selbst. Vielleicht hatte er einfach nur gedacht, dieses Kapitel seines Lebens für immer abgehakt und Abstand gewonnen zu haben. Limono spürte einen Stich, wenn er Umko so unnahbar erlebte. Er vermisste es, wie sein Partner früher gewesen war. Aber es war der Weg, den er, Limono, für sie beide gewählt hatte, und er hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass ihm dieser Teil von Umkos Persönlichkeit jetzt verwehrt blieb. Manchmal war es schwer, sich daran zu erinnern, dass man das Richtige getan und aus Überzeugung gehandelt hatte. * Sie standen sich gegenüber. Beide hatten sie sich an Abmachung und Treffpunkt gehalten. Die Situation war angespannt, als sie jetzt auf dem oberen Treppenabsatz neben der großen Brüstung standen und damit zurechtkommen mussten, dass sie hier würden zusammenarbeiten müssen. Umko hätte sich lieber aus dem Staub gemacht, das spürte Limono deutlich. Er seufzte. „In Ordnung. Für mich ist das hier auch nicht gerade leicht. Warum machen wir nicht einfach das Beste draus und legen für die paar Stunden unsere Differenzen beiseite?“ In Umkos Augen konnte Limono Verletztheit aufflackern sehen. Er wusste, er hatte das Falsche gesagt. Natürlich konnte man alles, was war, nicht einfach wegschieben oder vergessen, auch nicht für ein paar Stunden. Aber welche Wahl blieb ihnen hier schon? Das war das Spiel und sie hatten sich darauf eingelassen. „Ok, hör zu: Ich weiß, du bist noch sauer auf mich, weil ich einfach abgehauen bin. Aber was hätte ich denn machen sollen? Es hat uns doch alles nirgendwo hingeführt und ich wollte es dir einfach leichter machen.“ Umko hatte zu Boden gesehen. Nun blickte er auf. Er sah jetzt wirklich verärgert aus. „Limono ganz ehrlich: Wann wirst du endlich verstehen, dass es nicht immer und jedem nur um DICH geht?! Ich bin längst über den Punkt hinweg, sauer auf dich zu sein. Ich bin über den Punkt hinweg, wo mich irgendwas davon überhaupt etwas angeht. Ich will einfach nur weitergehen und den ganzen Mist hinter mir lassen. Das hätte ich schon viel früher tun sollen. Und jetzt sitzen wir hier in dieser Show und wahrscheinlich wird von uns erwartet, dass wir hier irgendwie reden oder streiten oder anderes. Das alles nervt mich eigentlich einfach nur, genauso wie dein riesiges Ego. Also, ich gebe dir Recht. Lass es uns einfach hinter uns bringen. Ich tue, was von mir verlangt wird, um dieses Spiel bis zum Ende zu spielen, aber du solltest verstehen, dass DU kein Teil meines Lebens mehr bist, nicht einmal als Ärger oder Wut oder in Form irgendeines anderen Gefühls.“ Limono schwieg. Er hatte vergessen, wie es sich anfühlte, von Umko die Stirn geboten zu bekommen. Es hatte bisher niemanden gegeben, der so ehrlich mit ihm umging und so mühelos hinter seine kühle Fassade blickte. In den blauen Augen seines Gegenübers blitzte jetzt diese entwaffnende Ehrlichkeit auf, die Limono auch früher bereits fast dazu gebracht hatte, die absurden und so positiven Dinge zu glauben, die Umko über ihn gesagt hatte, als sie sich noch gut verstanden hatten. Während ihrer letzten gemeinsamen Monate waren es jedoch zunehmend die schmerzhafteren Wahrheiten gewesen, die über seine Lippen gekommen waren, und Limono hatte nicht weniger schneidend gekontert, obwohl er gewusst hatte, dass Umko Recht hatte. Mit allem. Und vielleicht hatte Limono ihre Situation wirklich falsch eingeschätzt. Vielleicht war Umko an einem anderen Punkt, als er erwartet hatte. Ja, er hatte sein Leben weitergelebt, wie Limono es sich gewünscht hatte. Auch wenn es schmerzte, keine Rolle mehr darin zu spielen, hatte er sich doch immer wieder in Erinnerung gerufen, dass er bisher immer nur der dunkle, zerstörerische Teil gewesen war, der Umkos zufriedenes, ausgeglichenes Gemüt mehr und mehr von innen heraus zermürbt hatte. Und wenn er nichts anderes in Umkos Leben sein konnte als das, dann wollte er lieber gar keinen Anteil daran haben. Umko hatte einen Partner gefunden, wie er es sich für ihn gewünscht hatte. Manchmal hatte Limono Neuigkeiten über die beiden aus den Medien erfahren. Sie schienen glücklich zu sein. Trotzdem hatte er immer irgendwie angenommen, dass dieser Ren nur Umkos zweite Wahl war, dass das, was sie beide geteilt hatten, anders war und nicht zu toppen. Ein arroganter Gedanke, das gab er zu. Aber vielleicht der einzige, der ihn das Ganze überhaupt ertragen ließ. Es war seine Entscheidung gewesen und das waren die Konsequenzen, die er gewollt, aber nicht gewünscht hatte. „Also gut. Vergessen wir es und tun wir einfach so, als wären wir uns zum ersten Mal begegnet und hätten nichts miteinander zu schaffen, abgesehen von dieser Suche hier“, schloss Limono das leidige Thema ab, „Dann überlegen wir doch mal: Wenn die Spielleiter wollen, dass wir etwas finden, dann haben sie vielleicht irgendwo etwas deponiert ... Wo könnte das sein? Vielleicht in einem Gemälde oder einem Schriftstück. Wie wäre es, wenn einer von uns sich mal das Arbeitszimmer hier im ersten Stock ansieht und der andere in der Zeit alle Bilder an den Wänden unter die Lupe nimmt?“ „Klingt vernünftig“, sagte Umko und atmete hörbar aus, „dann übernehme ich das Arbeitszimmer. Treffen wir uns in einer halben Stunde wieder hier.“ * Missmutig schlenderte Limono durch die Gänge des Gebäudes und inspizierte nur halb aufmerksam die Bilder an der Wand. Um ehrlich zu sein, fiel es ihm schwer, auszumachen, nach was er eigentlich suchen sollte. Er dachte an Umko und an den Moment, als er erfahren hatte, dass die neue Beziehung seines Ex-Mannes am Ende nicht funktioniert hatte. Umko war derjenige gewesen, der sich von seinem Partner getrennt hatte. Limono konnte schwer sagen, was er empfunden hatte. Vielleicht Erleichterung, vielleicht Mitleid. Vielleicht auch Angst. Solange Umko in dieser Partnerschaft gewesen war, war er aus seinen Gedanken verschwunden gewesen. Er war erleichtert gewesen, dass sein Plan aufgegangen war und Umko das gefunden hatte, von dem Limono geglaubt hatte, dass es das Beste für ihn war. Er hatte sich bestätigt gefühlt. Aber jetzt, da die Möglichkeit bestand, dass es offenbar doch nicht das gewesen war, was Umko gewollt hatte, war plötzlich alles wieder präsent. Verdammt, seit er hier war, musste er sich nur mit all den Dingen auseinandersetzen, die er eigentlich lieber verdrängen wollte: seiner gescheiterten Ehe, diesem blöden Kartenspiel und dieser dämlichen Schatzsuche. Er fühlte sich in etwa so miserabel wie der blasse Junge auf dem Gemälde, das er gerade abwesend betrachtete und der bereits auf einigen weiteren Bildern gewesen war, an denen er – Augenblick mal. Limono sah noch einmal genauer hin und ein Schauer überlief ihn eiskalt. Er hatte plötzlich die Gewissheit, gefunden zu haben, nach was sie suchten. Warum konnte er nicht sagen. Er fuhr mit dem Daumen über die zierliche Person auf der verblassten Fotografie, die so gar nicht zum Rest der Gesellschaft auf dem Bild zu passen schien. Sie war abseits der anderen und blickte düster vor sich hin. Limono hatte niemals so viel Unglück und ziellose Wut in menschlichen Augen gesehen. Obwohl auch die anderen eingefangenen Personen kaum lachten, wirkten sie ausgeglichen und ruhig. Die Stimmung dieses Jungen, der etwa 18, höchstens 20 Jahre alt war, schien durch das Bild in Limonos Inneres zu wabern. Er ging noch einmal zurück, um die anderen Bilder zu betrachten. Hier bot sich ihm ein ähnlicher Anblick. Nach einem Rundgang durch das erste Stockwerk hatte er insgesamt vier arrangierte Fotos gefunden, die den blassen Jungen zeigten – mal zusammen mit seiner ganzen Familie, mal nur mit zwei anderen Jugendlichen, die seine Geschwister zu sein schienen. Immer trug er recht altmodische Kleidung und wirkte deplatziert neben den anderen. Erleichtert, nicht mit leeren Händen zurückzukehren, betrat er nach einer halben Stunde das Arbeitszimmer, wo Umko bereits Aktenberge auf dem Schreibtisch und Boden ausgebreitet hatte. „Ich denke, ich hab‘ hier was“, sagte der Schwarzhaarige eifrig, „hier im Regal stehen Dokumente mit Informationen zu den ehemaligen Bewohnern dieses Hauses. Hör dir das an: Die letzte Familie, die hier lebte, ist 1888 hier eingezogen. Sie war hier bis 1896, allerdings gibt es keine Informationen darüber, wohin sie verzogen sind. Zumindest hier nicht. Seitdem steht das Haus leer. Die Familie war wohl adelig und über sie finden sich hier mit Abstand die meisten Dokumente. Da steht zum Beispiel, sie hatten drei Kinder. Und jetzt kommt es: Über eines davon, einen Jungen namens Miko Tomayashi, finden sich hier umfangreiche Krankenakten. Er befand sich wohl in psychiatrischer und psychotherapeutischer Betreuung oder zumindest, was man eben damals darunter verstand. Der Arzt schreibt hier, hör dir das an, „ist manisch, zeigt Anzeichen Paranoia und Hysterie, wie sie sonst nur beim schwachen Geschlecht in Erscheinung tritt, und weist mehrere Psychosen auf.“ Limono trat an den Schreibtisch heran, wo sich Umko über die besagte Akte beugte. Wortlos legte er die drei Bilder auf den Tisch, die er samt RAHMEN unter dem Arm getragen hatte. „Könnte es vielleicht sein, dass DAS unser Patient ist?“, sagte er amüsiert. Umko warf nur einen kurzen Blick auf die Bilder und verglich sie mit den Fotos in der Patientenakte. „Bingo“, sagte er trocken. „Ok, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Junge nichts mit unserem Rätsel zu tun hat? Die Hinweise sind ZU offensichtlich“, sagte Limono. Sie blätterten weiter in den Akten und lasen das eine oder andere über die Familie Tomayashi. „Nachdem das Haus leer stand, scheint es nie wieder bewohnt gewesen zu sein“, sagte Umko, der sich gerade durch den Bericht eines Maklers kämpfte, „also … könnte es eventuell sein, dass niemand mehr das Haus kaufen WOLLTE?“ „Ja, es scheint ganz so, oder?“ überlegte Limono und fuhr dabei gedankenverloren über das Portrait von Miko Tomayashi, „und vielleicht sollen wir ja herausfinden …“ „was der Grund dafür ist“, beendete Umko seinen Satz. „Ja, es könnte darum gehen, was hier mit der Familie Tomayashi passiert ist. Genau, wir sollen deren Geschichte aufdecken! Das ist unser Rätsel!“ Limono war aufgesprungen und war ein paar Schritte auf Umko zugelaufen und auch Umko hatte sich von den Papieren abgewandt und sah Limono erleuchtet an. „Genial, wir haben es echt geschafft. Wir haben eine Spur gefunden!“ Euphorisch lächelten sie einander zu. Limono mochte es, wie Umkos Augen vor Tatendrang sprühten. Er hatte sich im Moment verloren und plötzlich war er sehr froh, den Nachmittag hier mit Umko zu verbringen, und rügte sich im selben Moment dafür, als ihm das klar wurde. Noch immer waren ihre Blicke fest ineinander verhakt, als unvermittelt ein Rütteln durch den ganzen Raum ging. Die Glastür des Bücherschrankes zitterte, die Wählscheibe des alten Telefons klingelte wachgerüttelt und der Schreibtisch begann zu beben, sodass die Papiere darauf durcheinandergewirbelt wurden. Mit einem schrillen Klirren fiel eines der gerahmten Bilder, die Limono dort platziert hatte, zu Boden und das Glas zerbrach. Zum zweiten Mal an diesem Tag flackerte das Licht des elektrischen Kronleuchters über ihnen und erlosch schließlich völlig. Da das Zimmer fensterlos war, standen sie für einen Moment in absoluter Dunkelheit. Im nächsten Augenblick spürte Limono, wie Umkos Hand seine eigene ergriff und sie fest drückte. Limono konnte spüren, wie angespannt sein Ex-Mann war. Sie waren einander plötzlich sehr nah in der Dunkelheit, hörten den Atem des anderen. Dann wurde es wieder hell und schlagartig war alles ganz ruhig, als wäre nie etwas geschehen. Umko atmete aus. Dann, peinlich berührt, ließ er Limono los und räusperte sich, während er auf seine Schuhe sah. Keiner von Ihnen traute sich zu fragen, was diese Ereignisse verursacht hatte. „Tja … wir sollten hier aufräumen und dann den anderen von unserem Verdacht berichten“, sagte Limono, der sich als erster wieder gefasst hatte. „In Ordnung“, Umko nickte dankbar und beeilte sich, zur Tür zu gelangen. Ob sein Fluchtreflex nun dem ungewöhnlichen Vorfall oder seiner ungeplanten Annäherung geschuldet war, konnte Limono nicht sagen. Als sie das Zimmer verließen, fiel sein Blick noch einmal auf das zerbrochene Foto. Ein Riss ging genau durch die Stelle, an der Miko stand und ihn düster und ein wenig mit Häme beäugte. Auch wenn er es nie zugegeben hätte: Limono fröstelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)