Something Strange von ReptarCrane (Vanished) ================================================================================ Kapitel 4: Chapter 4 -------------------- Liv hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. Vieles war ihr vertraut, Verzweiflung, Angst, auch Leugnung und sogar Wut. Aber nicht das. Im Grunde war doch alles, was sie tun konnte, zu nicken. Zu nicken und dabei in einem möglichst ruhigen Tonfall zu sagen: "Ja. Ich weiß." Immerhin war das die Wahrheit. Sie wusste es, Randall wusste es, jeder wusste es. In der Polizeiakte zu diesem Fall stand zwar nach wie vor das kleine, Hoffnung versprechende Wörtchen "Vermisst", doch mussten sie sich nichts vormachen. Auch, wenn man seine Leiche bisher nicht hatte finden können, zweifelte niemand in der Stadt daran, dass er tot war. Bei der Menge von Blut, die sich im Schnee auf der großen Lichtung im Kempton Forest und - was noch viel brisanter war - an Randalls Händen und Klamotten, war überhaupt nichts anderes möglich. Und was brachte es schon, zu lügen? "Da war überall Blut." Sie hätte damit rechnen müssen, dass Randall noch etwas sagen, auf ihre Antwort eingehen würde, doch das hatte sie nicht, und so erschraken seine Worte sie ebenso wie zuvor. Ihr Klang hatte sich nicht verändert, ebenso wie seine Gesichtsausdruck, es schien, als sei er aktuell zu keiner noch so geringen Gefühlsregung mehr fähig. Als habe er es geschafft, Angst und Trauer zeitweise von sich fernzuhalten, und womöglich war diese Methode die einzige Möglichkeit für ihn, unter dem emotionalen Druck nicht zu kollabieren. Und wieder war ihre Antwort die gleiche wie zuvor: "Ich weiß." Und diesmal musste sie auf eine weitere Erwiderung seitens ihres Bruders nicht warten. "Nein. Nicht so. Es war einfach da, ohne Grund. Ich...Ich wusste nicht, was ich tun sollte..." Er stockte, und einen Augenblick lang schien in seinen Augen ein Funken von der Panik aufzubringen, die noch wenige Minuten zuvor so intensiv gewesen war, dann kehrte die Leere zurück. Er kam Liv vor wie ein seelenloser Untoter. "Sein Kopf ist abgerissen. Er hat Blut gespuckt und seine Knochen sind gebrochen...einfach...So..." "Das war ein Traum!" Liv wusste nicht, weshalb ihre Stimme so scharf klang. So gereizt. Vielleicht kam das von ihrer Unsicherheit, von ihrer Nervosität, vielleicht aber wurde sie langsam aber sicher auch schlicht und ergreifend ungeduldig. Es mochte gemein klingen, und das war es wahrscheinlich auch, doch merkte sie, dass das Adrenalin, das ihre Müdigkeit nach so wenig Schlaf in der letzten guten halben Stunde unterdrückt hatte, allmählich nachließ und Erschöpfung Platz machte, die, zusammen mit der Erinnerung daran, dass sie in nur wenigen Stunden wieder würde aufstehen müssen um sich für die Arbeit fertig zu machen, stark an ihrem Geduldsfaden zerrte. "Ich weiß!" Nun sah Randall sie wieder direkt an, und die Leere war aus seinen Augen verschwunden, eine Tatsache, die dafür sorgte, dass Liv einen warmen, angenehmen Schauer der Erleichterung verspürte...Jedoch nur für wenige Sekunden. Dann nämlich drehte ihr Bruder sich um, weg von ihr, legte sich auf die Seite und zog sich die Decke über den Kopf. "Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe! Kannst wieder schlafen gehen." Er hatte sich alle Mühe gegeben, dabei ebenso kühl und gleichgültig zu klingen wie zuvor, doch war deutlich herauszuholen, dass Livs schroffen Tonfall ihn sehr stark verunsichert hatte. Ihm wahrscheinlich das Gefühl gegeben hatte, dass es sie nicht wirklich interessierte, was er erzählen sollte. Und damit hatte sie es geschafft einen der größten Fehler zu begehen, der in solch einer Situation überhaupt möglich war: Ihm das Gefühl zu geben, dass sie ihn nicht ernst nahm. Für Außenstehende mochte es wie eine Überreaktion wirken, eine vollkommen unnötige Reaktion, die ziemlich fehl am Platz wirkte, doch konnten Außenstehende die Gesamte Situation eben auch wohl nicht im geringsten einschätzen. Liv zweifelte ja bereits daran, dass sie dies selbst konnte. "Niemand redet gern über derartige, persönliche Sachen, wenn er glaubt, dafür insgeheim belächelt zu werden, oder sogar den Leuten auf die Nerven zu gehen." Liv hatte verständnisvoll geknickt, als Dr. Parker ihnen diesen Rat mit auf den Weg gegeben hatte; und sie wusste noch genau, wie sie damals bei sich gedacht hatte, wie überflüssig dieser Hinweis doch war. Um diese Tatsache zu erkennen, bedurfte es doch lediglich gesunden Menschenverstand. Und jetzt? Jetzt stand sie hier, um zwanzig vor drei in der Nacht, und ihr war klar, dass Randall ihr nichts mehr erzählen, kein einziges Wort mehr mit ihr reden würde, vollkommen egal, wie sehr sie auf ihn einreden würde. Sie kannte ihn. Sie wusste, dass sie die Möglichkeit, mehr über diesen Alptraum herauszufinden, verspielt hatte, und auch, wenn diese Träume sich selten wirklich auffällig voneinander unterschieden und stets nach demselben Muster abzulaufen schienen hatte sie doch das starke, ungute Gefühl, dass ihr irgendetwas Wichtiges entgangen sein könnte. Wahrscheinlich redete sie sich das einfach nur ein, um sich ein wenig von ihrem einfachen, schlechten Gewissen abzulenken, aber vielleicht hatte es in diesem Traum ja doch irgendetwas gegeben, das ein hilfreiches Puzzleteil hätte sein können, das zum Vervollständigen des großen, komplizierten Ganzen gebraucht wurde, von dem niemand wusste, was es am Ende darstellen würde... Ein Hinweis. Etwas, das dazu führen konnte, dass all das endlich geklärt werden konnte. Endlich aufhören würde. Das war unfassbar optimistisch gedacht, das war Liv selbst schmerzlich bewusst. Es wäre naiv, zu glauben, dass sich all der Stress, all die Ungewissheit der letzten Monate mit einem Male in Nichts auflösen würde aufgrund eines Traumes. So etwas passierte höchstens ins Filmen oder Serien, wenn überhaupt. Doch die Realität war nicht so simpel gestrickt. Und dennoch...bloß ein kleiner Hinweis. Ein winziges Detail, das irgendwie dazu führen könnte, die seit Ermittlungen der Polizei, die seit Langem bereits kaum bis gar nicht voranzukommen schienen, in eine neue Richtung zu lenken, auch wenn die Aussage "Ich habe davon geträumt!" wohl in erster Linie zu Belustigung führen würde. Doch wie hatte Dr. Parker einmal gesagt? "In Träumen wird Unterbewusstes verarbeitet, und so kommen manchmal Dinge zum Vorschein, an die wir uns bei Bewusstsein nicht erinnern können. So etwas sollte man nicht unterschätzen." Er mochte in diesem Moment ein wenig geklungen haben, als habe er ein paar spirituell angehauchte Bücher zu viel gelesen, doch sie hatten sich diese Worte trotzdem zu Herzen genommen. Das, was passiert war, konnte schließlich nicht einfach so aus Randalls Gedächtnis verschwunden sein, und soweit sie das beurteilen konnten, erschien ihnen die Möglichkeit, dass irgend etwas davon einmal in einem der Alpträume wieder zum Vorschein kommen würde, nicht unbedingt unwahrscheinlich. Bis jetzt war dieser Fall allerdings noch nicht einmal einziges Mal eingetreten. Und falls dies nun in dieser Nacht der Fall gewesen sein sollte - was objektiv betrachtet ausgesprochen unwahrscheinlich war und in einem Film oder Buch wohl als "unrealistisch und konstruiert" bezeichnet worden wäre - so würde Liv es jetzt nicht mehr erfahren. Würde kein Wort mehr aus ihrem Bruder herausbekommen. Und so erhob sie sich vorsichtig von der Bettkante, warf, bevor sie sich in Bewegung setzte, noch einen letzten Blick auf die Decke, unter der ihr Bruder sich zusammengerollt hatte wie eine Katze vor einem brennenden Kamin auf einer Weihnachtskarte, bloß mit dem Unterschied, dass er nicht die Wärme orangeroter Flammen genommen, sondern wohl viel eher verzweifelt und voller Anspannung versuchte, wieder einzuschlafen, in der Hoffnung, dass der Alptraum nicht zurückkehren würde. Und in diesem Augenblick wünschte Liv sich nichts sehnlicher auf der Welt, als dass es eine Möglichkeit gäbe, die Zeit zurückzudrehen. Sie würde sich ihren bissigen Tonfall verkneifen und Randall weiter zuhören, ihm zeigen, dass sie ihn sehr wohl ernst nahm, dass sie...Nein. In die Dunkelheit des Flures tretend und die Tür von Randalls Zimmer hinter sich schließend schüttelte sie den Kopf und hätte die Worte, die ihr durch den Kopf gingen, beinahe laut ausgesprochen. Ich würde die Zeit um zehn Monate zurückdrehen. Um zehn Monate und einundzwanzig Tage. Ich würde verhindern, dass sie an diesem Tag das Haus verlassen, und nichts würde passieren. Alles wäre gut. Und so müßig es auch war, über dieses Szenario nachzudenken - eine solche Möglichkeit gab es nicht; nicht abseits von Fantasy- und Science-Fiction Geschichten - so erfüllte es Liv doch mit einer gewissen Beruhigung, die wahrscheinlich ihrer Müdigkeit zuzuschreiben war, die sie dazu brachte, selbst aus solch unrealistischen Vorstellungen so etwas wie Hoffnung zu ziehen. Naive, kindische, unbegründete Hoffnung. Hoffnung darauf, dass alles irgendwann irgendwie aufhören würde. Vorbei gehen. Ein Happy End. Dass es, so wie in den Geschichten, die ihre Mutter ihr als kleines Kind so oft vorgelesen hatte, wieder gut werden würde. Wieder so, wie früher. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)