AX-4 von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 1: ----------- 01 Crawford stellte seinen Motor ab und sprang aus dem Auto. Den Zündschlüssel nahm er mit, seinen Wagen ließ er mangels Parkplatz einfach am Straßenrand stehen. Für die drei Minuten, die er hier zu parken gedachte, würde das schon mal gehen. Er spazierte ins Grundstück hinein und hielt direkt auf den Eingang des Einfamilienhäuschens zu. Die Tür stand einen Spalt breit offen, was Crawford irritierte. So unvorsichtig war der Bewohner dieser Behausung sonst nicht. Auf sein Klingeln und Klopfen hin erfolgte keine Reaktion, also blieb Crawford schließlich nichts anderes übrig als unaufgefordert einzutreten. Es war so still hier im Haus. Ob irgendwas passiert war? Er hatte Schuldig abholen und zu einem Termin mitnehmen wollen. Wo war der denn? Nochmal schnell auf Toilette? Suchend begann er durch die Räume zu wandern. Der Flur war spartanisch eingerichtet, geschuldet einem argen Platzmangel. Ein paar Kleiderhaken an der Wand, daneben ein Spiegel, ein Fußabtreter zum Abstellen der Schuhe, mehr nicht. Nach links zweigte die Tür ins Schlafzimmer ab. Sie stand offen und erlaubte einen Blick auf Schuldigs Luxus-Doppelbett, welches noch zerruschelt war. Hätte Crawford auch arg gewundert, wenn der seine Betten gemacht hätte. Im Schlafzimmer war niemand, also ging er weiter. Die Küche war ebenfalls nicht sehr geräumig. Crawford wusste, daß der Herd nur zur Deko dort stand und in der Regel keine ernsthafte Konkurrenz für die Mikrowelle oder den Pizzadienst darstellte. In der Spüle stand ein benutzter Teller, aber Schuldig war auch hier nicht zu finden. Er bekam Schnappatmung, als er ins Wohnzimmer kam. Dort fand er den rothaarigen Telepathen auf ein Holz-X gekreuzigt, welches hochkant an der Wand lehnte. Geknebelt, aufgeschlitzt, mit Stacheldraht umwickelt, an dem er sich die Haut und Kleidung aufgerissen hatte, und mit Nägeln gepinnt. Sein Kopf war etwas zur Seite gekippt, seine Augen so verdreht, daß man nur noch das Weiße sah, und unter ihm sammelte sich eine Blutlache. Kurzum, eine riesige Schlachthaus-Sauerei. Crawford blinzelte und fasste sich wieder. „Schuldig, lass das gefälligst!“, verlangte er streng. Schräg neben ihm erscholl ein Lachen und die Illusion verflüchtigte sich wie Rauch. Es war nur eine Halluzination gewesen, heraufbeschworen von Schuldigs telepathischen Kräften. Dieser saß auf dem Sofa – völlig unversehrt, wie Crawford doch ein wenig erleichtert bemerkte – hatte einen Arm hinten über die Rückenlehne gelegt, und amüsierte sich prächtig. Er hatte ein sehr offenes, ungezügeltes Lachen, das bisweilen regelrecht schadenfroh klang und einem wirklich an die Substanz gehen konnte, wenn man wusste, daß der Spott einem selber galt. „Du Pflaume! Warum machst du das?“ „Es macht Spaß, deine Reaktion zu sehen“, gab Schuldig zu und lachte wieder. „Du hast immer so einen verschlossenen Gesichtsausdruck. Ich wollte mal sehen, wie gut dir etwas Mimik steht.“ Der Hellseher schüttelte leicht den Kopf und atmete nochmal durch, um den Schreck los zu werden. Sein Kumpel hatte einen seltsamen Humor. Der Kerl konnte Gedanken lesen. Es war also nicht so, als ob er auf Crawfords Mimik angewiesen gewesen wäre, um zu erfahren, was sich in ihm abspielte. „Jetzt komm schon, wir sind spät dran.“ „Ist mir nicht entgangen. Du hast mich warten lassen“, stimmte Schuldig zu. Er sprang voller Energie vom Sofa hoch. „Ja, tut mir leid. Ich bin aufgehalten worden.“ Schuldigs Belustigung nahm etwas ab, während sie gemeinsam das Haus verließen. Im Vorbeigehen griff Schuldig sich seinen Haustürschlüssel, dann zog er die Tür einfach schwungvoll von außen ins Schloss. „Ist was passiert?“ „Nein, alles okay. Nur so ein kleiner Idiot, der sich gern mal mit den Falschen anlegen wollte.“ „Sag mir Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Du weißt, daß ich immer da bin, wenn irgendwas ist.“ Crawford nickte. „Ja, ich weiß. Danke.“     Takatori platzte forschen Schrittes in das kleine Büro hinein, in dem seine Spezialtruppe auf ihn warten sollte. Warten lassen hatte er sie in der Tat. Er ließ seine Leute grundsätzlich spüren, daß sie unwichtige, kleine Lichter waren, und von ihm keine Annehmlichkeiten zu erhoffen hatten. Wenn er sich den rothaarigen Kerl so ansah, der gerade der Länge nach auf dem Sofa lag, die Hände im Genick verschränkt hatte, und augenscheinlich schlief, fragte sich Takatori allerdings, ob er nicht immer noch zu lasch mit diesen Flegeln umging. Brad Crawford saß im Sessel der Sitzecke, Nagi auf seiner linken Armlehne, und Farfarello auf einer Armlehne des Sofas. Letzterer wetzte eines seiner geliebten Messer an einem Schleifstein, wohl um sich die Wartezeit zu vertreiben. Keine Ahnung, warum Nagi und Farfarello mit den Seitenlehnen Vorlieb nahmen. Das Sofa hätte locker Platz für drei Leute geboten, wenn Schuldig es nicht alleine in Beschlag genommen hätte. Takatori beschloss, nichts dazu zu sagen. Mochten die sich selber um ihre Sitzplätze schlagen. Hauptsache sie waren anwesend und aufnahmefähig, wenn er mit ihnen reden wollte. „Guten Tag, Boss“, grüßte Crawford in neutraler Tonlage. Takatori antwortete nur mit einem missgestimmten Brummen und pflanzte sich hinter seinen Schreibtisch, wo er zunächst ein paar Unterlagen aus einer Schublade kramte. Es dauerte einen Moment, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. „Ich habe einen Auftrag für euch“, begann er dann. Das metallische Schleifen von Klinge auf Bimsstein setzte sich unbeirrt fort. „Ich will, daß ihr eine Waffe für mich beschafft, die in der Forschungseinrichtung der Medi Tec Foundation entwickelt wurde. Sie nennt sich AX-4 und befindet sich derzeit noch in der Testphase, soll aber alle Erwartungen übertroffen haben. Das Biomechaniker-Team, das an der Waffe ... Mastermind, hörst du mir überhaupt zu!?“, unterbrach Takatori sich selbst, weil es ihn nervte, daß von Schuldig nach wie vor keinerlei Regung zu verzeichnen war. Der Gangster-Boss glaubte langsam, daß der wirklich pennte. „Ja“, gab der Angesprochene mit wacher, klarer Stimme zurück. Gar nicht wie jemand, den man gerade geweckt hatte. Aber mehr auch nicht. Er blieb langgestreckt liegen, die Hände blieben hinter dem Kopf, die Augen blieben zu. „Würdest du mir wohl die Güte antun, dich hinzusetzen?“ „Nein.“ „Wieso nicht?“ „Wieso denn?“ „Schuldig!“, ging Crawford halb bittend halb tadelnd dazwischen, als Takatori schon drohend nach Luft schnappte. „Hör auf zu diskutieren. Setz dich bitte hin.“ Ein leises Seufzen war der einzige Protest, den Schuldig sich gegenüber Crawford erlaubte. Dabei öffnete er endlich die Augen und nahm gehorsam eine aufrechte Sitzposition ein, auch wenn er die Arme verschränkte und die Beine übereinanderschlug und damit eine gänzlich abwehrende Haltung zur Schau trug. Brad Crawford war so ziemlich der einzige, der den rothaarigen Gedankenleser halbwegs im Zaum halten konnte. Überhaupt war er der einzige, dem Schuldig sowas wie Loyalität angedeihen ließ. Wahrscheinlich weil Schuldig als Gedankenleser sehr genau einschätzen konnte, wie Crawford wirklich zu ihm stand, und ihm deshalb weitestgehend vertraute. Farfarello nutzte die Gelegenheit, um von der Sofalehne auf die nun freie Sitzfläche hinunter zu rutschen. „Der Auftrag!“, hob Takatori sauer von Neuem an. „Beschafft mir diese Waffe AX-4. Es heißt, sie muss auf jemanden eingerichtet werden und kann dann nur noch von diesem einen Menschen benutzt werden. Also stellt nichts Dummes mit ihr an, damit sie nicht wertlos für mich wird.“ „Was für eine Art Waffe ist das?“, hakte Crawford nach. „Was kann sie denn?“ „Angeblich kann sie eine ganze Menge. Aber ich glaube den wilden, haltlosen Gerüchten nicht, solange ich es nicht mit eigenen Augen gesehen habe.“ „Medi Tec Foundation“, überlegte Schuldig laut. „Das sind medizinische Labore. Haben wir es mit einer biologischen Waffe zu tun?“ „So sagt man zumindest. Aber es handelt sich definitiv nicht um einen Virus oder ein Gift oder etwas in der Art.“ „Sonst noch was Interessantes?“, wollte Crawford wissen. „Das ist alles.“ „Gut. Verlassen Sie sich ganz auf uns, Boss“, meinte Crawford also, zeigte ein untertäniges Nicken und erhob sich. Förmlich in der gleichen Bewegung scheuchte er seine Kollegen mit einem Fingerschnipsen hoch, damit sie es ihm gleichtaten.   „Verlassen Sie sich ganz auf uns, Boss!“, äffte Schuldig Crawfords Stimme nach, während sie durch die Gänge des Geschäftsgebäudes spazierten und den Ausgang suchten. „Hast du was gesagt?“, gab der mit leicht drohendem Unterton zurück. Einem Schuldig sollte man besser nicht drohen, das wusste Crawford. Aber deswegen auf der Nase rumtanzen ließ er sich trotzdem nicht. „Du kriechst diesem Wichser zu sehr in den Allerwertesten.“ „Er bezahlt uns gut dafür.“ „DAFÜR!?“, entgegnete Schuldig ungläubig. „Er bezahlt uns, okay. Aber von 'gut' kann eigentlich keine Rede sein, wenn du mich fragst.“ „Dich frag ich aber nicht!“, konterte Crawford und brachte Schuldig damit zu einem amüsierten Schnaufen, der natürlich wusste, daß er so rüde Kommentare ganz und gar kameradschaftlich verstehen durfte und nicht ernst nehmen musste. „Ganz schön dürftig“, kommentierte Farfarello mit wenig Begeisterung. Brad Crawford und Schuldig brauchten beide einen Moment, um zu kapieren, daß er einen Themenwechsel eingeleitet hatte und von etwas ganz anderem sprach als sie. „Das war ja nicht gerade viel, was Takatori uns über diesen Auftrag erzählt hat“, präzisierte Farfarello auf ihre fragenden Blicke hin. „Seh ich auch so. Schuldig, was weiß er wirklich über diese Waffe?“, fragte Crawford nach, wohl wissend, daß der Gedankenleser einiges mehr an Informationen abziehen konnte als der Boss freiwillig preisgab. „Schwer zu sagen. Wirklich zu wissen scheint er eigentlich gar nichts. Er hat nur einen ganzen Eimer voll Kauderwelsch aufgeschnappt, den er selber nicht glaubt. Aber keine konkreteren Informationen, die zu irgendwas nütze wären.“ „Und was ist das für ein Kauderwelsch?“ „In Takatoris Kopf spukten Gedankengänge wie 'hochintelligent' und 'sie soll ihre Form beliebig verändern können' herum.“ Crawford zog die Stirn in Falten. „Stimmt. Das würde ich auch nicht glauben, wenn mir das einer erzählt.“ Er grübelte einen Moment vor sich hin. „Was will er mit einer Waffe, über die er im Grunde gar nichts weiß?“, zog er schließlich Resümee. „Nagi, hock dich an deinen Computer und finde was über die Medi Tec Foundation Labore raus. Und über dieses AX-4, wenn du kannst. Und dann bring uns dort irgendwie rein!“ Der stille Junge nickte lediglich zustimmend.     „Okay, jeder kennt seine Aufgabe. ... Und, Schuldig ... !?“ „Ja-ja, nicht lange rumfackeln, schon klar“, entgegnete der enttäuscht. Diese Leier kannte er schon. Crawford mochte es nicht, wenn er während einer Mission zu lange mit seinen Opfern spielte. Dabei machte das so viel Spaß. Aber Crawford dachte da pragmatischer und wollte keine wertvolle Zeit verlieren. „Ich sag das nicht zum Spaß. Die Gefahr, aufzufliegen, wächst mit jeder Minute, die wir da drin sind!“ „Ist ja gut, ich hab´s verstanden.“ Er nickte, bevor er mit einem Handzeichen das Kommando gab, auszuschwärmen. Auf dem Gelände waren sie bereits. Jetzt hieß es, einen gesicherten Korridor für das Vorrücken ins Gebäude und den späteren Rückzug zu schaffen und zu halten. Kaum 10 Minuten später hatte sich Crawford bereits durch die enge, staubige Belüftungsanlage bis zu seinem Ziel vorgearbeitet. Er hasste das. Aber es war nunmal der sicherste und schnellste Weg durch solch einen Komplex, so unkomfortabel er auch war. Crawford lugte etwas genervt aus dem Lüftungsschacht. „Meine Fresse, da unten geht es ja zu wie im Bienenstock“, befand er leise. Überall rannten hektische Leute mit Vollschutz und Maschinengewehren herum, und zwar gleich in ganzen Gruppen. Die Station schien in hellem Aufruhr zu sein. „Haben die uns etwa schon bemerkt und suchen uns?“ Nagi saß neben ihm und hantierte mit unbewegter Miene auf seinem Tablet herum. Er hatte sich mittels dieses Dings und eines Kabels ins zentrale Netzwerk der Forschungseinrichtung gehackt und sabotierte fröhlich vor sich hin. Auf Crawfords Frage hin schüttelte er jedoch den Kopf. „Es wurde eine Alarmstufe ausgerufen. Aber schon bevor wir gekommen sind. Die suchen was anderes.“ „Welche Art von Alarmstufe?“ Nagi fummelte auf seinem Touch-Screen herum und legte schließlich abwägend den Kopf schief. „Wenn ich dir was von 'Code 49' sage, wird dir das nicht viel nützen.“ „Super ...“, seufzte der Hellseher. Er schaute wieder in den Gang hinunter. Wie sollten sie jetzt da reinkommen, wenn eh schon alles auf Gefechtsstation war? Eine Truppe von gut 15 bewaffneten Securitys blieb ziemlich genau unter Crawfords Ausguck stehen, um zu beratschlagen. Crawford schaute auf die Armbanduhr, um abzuschätzen, wie sie im Zeitplan lagen. Immerhin hatte er keinen Kontakt zu Schuldig und Farfarello und die beiden würden ihre Teile der Absprachen ungeachtet etwaiger Verzögerungen durchziehen. Plötzlich wich einer der Männer zurück, schrie hysterisch auf, hob sein Maschinengewehr und begann unter Hilfe-Rufen wild um sich zu schießen, bis er all seine Kollegen durchsiebt und niedergemäht hatte und keiner mehr übrig war. Eine Sache von Sekunden. Crawford machte riesige, erschrockene Augen, als er dieses Massaker beobachtete, auch wenn er sofort einen Verdacht hatte, was das sollte. Es war ja nicht das erste Mal, daß sowas passierte. Auch Nagi neben ihm hielt sich den Mund zu, um nicht aufzuquietschen. Der Amokläufer brach in die Knie, nachdem er all seine Kollegen erschossen hatte, und blieb um Atem ringend und zitternd auf dem Boden sitzen. Zwei Sekunden später wurde er selbst mit einem präzisen Kopfschuss umgenietet und kippte tot um. Die Ruhe hernach war gespenstig. Crawford schauderte ungewollt. Nach einigen Momenten näherten sich endlich ruhige Schritte, mit denen Crawford schon gerechnet hatte. Im Gang unter der Öffnung des Lüftungsschachtes erschien ein rothaariger Kerl: Schuldig. Er hatte die Pistole noch locker in der Hand. Damit war die Frage, wer den letzten Sicherheitsmann per Kopfschuss ausgeknipst hatte, also geklärt. Schuldig überflog mit seinem Blick den Haufen Leichen, um sicher zu gehen, daß davon keiner mehr lebte, dann schaute er hoch zu Crawford und gab ihm mit einer ruckhaften, seitlichen Kopfbewegung zu verstehen, daß er runterkommen sollte. „Dieser elende, ungeduldige ... argh!“, fluchte Crawford leise und fand auf die Schnelle nichtmal ein passendes Schimpfwort für seinen Kollegen. Etwas sauer öffnete er die Gitterabdeckung und sprang in den Gang hinunter zu Schuldig und seinem Berg von Opfern. Er wusste von Nagi, daß es in diesem Gang hier keine Überwachungskameras gab, also erlaubte er sich eine gewisse Unvorsichtigkeit. „Kannst du dich nicht EINMAL an den Plan halten, Mann? Wieso bist du nicht mehr auf deinem Posten?“, raunzte er Schuldig mürrisch an. „Wozu? Hat doch nichts gebracht.“, erwiderte der gelassen. Crawford schaute unglücklich auf die vielen toten Sicherheitsleute und schüttelte den Kopf. Schuldig war noch nie ein Fan davon gewesen, recht viele Überlebende übrig zu lassen. Er arbeitete bei sowas penetrant gründlich. Vermutlich hatte Schuldig dem ausgetickten Security mittels seiner telepathischen Fähigkeiten glaubhaft gemacht, daß seine Kollegen sich in grausige, blutrünstige Zombies verwandelten, woraufhin der arme Kerl sie alle panisch niedergeschossen hatte. Schuldig spielte gern mit den Ängsten seiner Mitmenschen und genoss das extremst. Crawford seufzte leise. „Lass uns hier verschwinden, bevor die jemand entdeckt.“   Der Telepath schielte vorsichtig um die Ecke, verschwand dann wieder in seiner Deckung und suchte mit seinem Blick die Wände nach Videoüberwachung ab. „Fünf“, stellte er dabei in den Raum, womit er die Anzahl der Gegner meinte, die gerade auf dem Weg zu ihnen waren. „Hätte ich dir auch sagen können“, kommentierte Brad Crawford nüchtern. Schuldig ignorierte ihn. „Gibt´s Kameras?“, wollte er wissen, da er wider Erwarten selber keine entdecken konnte, und erntete ein Handzeichen mit hochgestrecktem Zeige- und Mittelfinger von Nagi. Zwei also. Schuldig schloss daraus, daß die nach wie vor aufzeichneten und der Junge sie noch nicht abgeschalten hatte, obwohl er sich ins Netzwerk eingehackt hatte und sein Möglichstes tat. Schuldig zog eine Schnute und überlegte sichtlich, wie er mit den Gegnern am gefahrlosesten umgehen konnte. Crawford schnappte Schuldig an der Kleidung und zerrte ihn in eine andere Richtung mit sich davon. Einerseits war es ja schon recht komfortabel, ihn die ganze Drecksarbeit machen zu lassen und sich dann nur noch um das Finden des Weges kümmern zu müssen. Langsam wurde es nämlich ganz schön lästig, alle Nase lang über Soldaten zu stolpern. Aber andererseits wünschte Crawford sich schon manchmal, daß Schuldig seinen Weg nicht ständig mit Leichen pflastern würde. Es war ja nicht so, als ob sie die Securitys nicht auch umgehen und andere Wege hätten nehmen können. Wieso rannten in einem medizinischen Labor überhaupt so viele schwer bewaffnete Kampftruppen rum? Crawford fragte sich langsam echt, was für eine Waffe das war, die hier entwickelt wurde. Aber leider hatten sie darüber nichts herausgefunden. Sämtliche Daten zu diesem Forschungsprojekt schienen auf einem Server ohne Online-Anbindung zu liegen, so daß Hacker von außen nicht herankamen.   Die drei arbeiteten sich durch einige Gänge. Dieser Komplex war wesentlich größer als er von außen aussah, weil der weit verzweigte Großteil unterirdisch lag. Das Gebäude oben drauf war ja nur die Spitze des Eisberges. Allerdings hatte diese Einrichtung etwas sehr Hermetisches und Steriles. Nirgends Bilder oder Pflanzen. Nur nackte, leere Gänge, kalte, weiße Neonröhren und ab und an ein paar Schiebetüren. Selten kam man mal an einem Monitor vorbei, der in die Wand eingelassen war und irgendwelche nutzlosen Informationen anzeigte. Nagi ging mit seinem Tablet vornweg, weil er darauf unter anderem den Lageplan hatte. Hin und wieder blieb er wortlos stehen. Dann deaktivierte er wohl irgendwelche Bewegungsmelder oder Kameras, die ihnen im Weg waren, vermutete Crawford. Schuldig lief neben ihm her, immer einen Blick über die Schulter nach hinten gerichtet, um Verfolger sofort zu bemerken. Crawford selbst behielt die Gänge vor ihnen im Auge, damit Nagi ungestört und ohne Ablenkung auf seinen Bildschirm starren konnte. „Hier ist es.“ Der Junge blieb vor einer metallenen, doppelflüglichen Schiebetür stehen und wollte sich sofort über das Scannerfeld an der Seite hermachen. Hier erhielt man nur mit einem autorisierten Handabdruck Zugang. Er zog ein Kabel aus der Tasche und stopfte den einen Stecker in eine Buchse seines Tablets. Schuldig drehte sich weg, mit dem Rücken zur Tür, und beobachtete den Gang solange Nagi arbeitete, damit sie nicht von unliebsamen Passanten aufgegabelt wurden. Bei dieser Art von Missionen hatten sie eine eingespielte Arbeitsteilung. Brad Crawford orakelte, was sie hinter der Tür finden würden, vorrangig, um da drin keine herumlungernden Soldaten zu überraschen. Aber was er sah, verdutzte ihn. Umgekippte Stahltische, eingeschlagene Computermonitore, ein zersplitterter und ausgelaufener Wassertank, in dem dicke, zerfetzte Schläuche baumelten, auf dem gefluteten Boden verstreute Dokumente. „Spar dir die Mühe“, hielt Crawford Nagi zurück. „Das Labor hinter dieser Tür ist komplett zerstört. Da ist nichts mehr drin.“ Schuldig sah fragend herum. „War jemand vor uns da?“, hakte er irritiert nach. Das hätte den unnormalen Security-Auflauf hier erklärt. Niemand fragte, woher Crawford sein Wissen bezog. „Weiß nicht. Die Waffe ist jedenfalls weg. Aber weit kann sie noch nicht sein“, entschied der Kopf der Truppe. Er winkte seinen beiden Mitstreitern, ihm zu folgen. Kapitel 2: ----------- 02 Auf dem Weg nach draußen schloss sich Farfarello ihnen wieder an, der hier die Stellung gehalten hatte, um ihnen den Rückzug zu sichern. „Erfolgreich?“, wollte er wissen, da er im Besitz seiner Kollegen keine Gegenstände oder ähnliches entdecken konnte, die er als die gesuchte Waffe hätte ansehen können. „Noch nicht“, meinte Crawford, während er konzentriert den Gang vor sich hinunter stierte. Immer wenn er diese starren Augen hatte, orakelte er. Er versuchte Sicherheitstruppen vorherzusehen, die ihren Weg kreuzen könnten. „Pass auf!“, machte er plötzlich erschrocken und sprang zur Seite, ohne noch spezifizieren zu können, wen seiner drei Kameraden er überhaupt angesprochen hatte. Neben Schuldig erschien eine Öffnung. Ein anderthalb Meter breites Stück der Wand drehte sich um eine senkrechte Mittelachse wie eine Drehtür, erfasste den Telepathen schneller als der reagieren konnte, und hatte ihn auch schon verschluckt. Einen Moment später war da wieder nichts als massive, lückenlose Wand, nur ohne Schuldig davor. Farfarello fluchte und rannte hin, um die Wand zu untersuchen. „Habt ihr auch das Kind gesehen?“, wollte er aufgekratzt wissen. „Da war kein Kind!“, hielt Nagi dagegen.   Schuldig fühlte sich am Arm gepackt und geradewegs durch die Wand gezerrt. Mit einem Floppen sprang die Tür in ihre Verschluss-Stellung zurück und verriegelte hörbar. Von dem rigerosen, seitwärts-abwärts-gerichteten Ziehen aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte er über seine eigenen Füße und kam etwas ungelenk auf dem Boden zu sitzen, so daß er nichtmal mehr reflexartig seine Pistole aus dem Achselholster ziehen konnte. Das hier war ein Raum, nicht größer als eine Besenkammer, aber gut genug beleuchtet, daß man seine Umgebung noch erkannte. Schuldig schaute in ein Paar rubinroter Augen in einem ebenmäßigen, puppenhaften Gesicht. Ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren, die vom Seitenscheitel zu beiden Seiten herunter wallten, hockte ihm gegenüber. Sie hatte ihn wohl hier rein gezerrt, wurde ihm klar. Das Mädchen war ziemlich süß. Allerdings hatte kein Mensch solche Augen oder so uncharakteristische Gesichtszüge ohne die geringsten Hautfältchen oder Poren. Er konnte sich ein stutziges „Was bist DU denn?“ nicht verkneifen und runzelte die Stirn. „Du musst mir helfen!“ Schuldigs nach oben gezogene Augenbrauen rutschten wieder nach unten und zogen sich unwillig zusammen. „Wegen dir bin ich aber nicht hier. Ich hab andere Probleme. Lass mich hier raus!“ „Du suchst AX-4!“ „Wie kommst du darauf?“ „Was solltest du sonst hier wollen? Diese komplette Forschungsstation wurde nur zu diesem einen Zweck gebaut. Hier gibt es nichts anderes.“ „Tja, aber die Station ist schlecht bewacht, wie mir scheint. AX-4 ist weg“, gab Schuldig zurück, raffte sich vom Boden auf und widmete sich nebenbei schon der Drehwand, um zu sehen, wie er hier am besten wieder rauskommen sollte. „Ich bin AX-4!“, machte das Mädchen ihm ungeduldig klar und erreichte damit, daß der Telepath wieder zu ihr herumfuhr und sie ungläubig von oben bis unten und zurück musterte. „Sag das nochmal!“ „Ich bin AX-4! Und ich muss aus diesem Labor raus! Sofort!“ „Das musst du mir nochmal genauer erklären ...“ „Jetzt nicht! Die Wachleute werden dich finden, wenn du zu lange hierbleibst. Du bist meine einzige Chance, aus diesem Labor raus zu kommen!“ „Ich dachte, du bist ´ne Waffe!“, hielt Schuldig uneinsichtig dagegen. Wenn die sich den Weg nicht selber frei räumen konnte, wer dann? Aber vielleicht brauchte sie ja einfach bloß jemanden, um sich draußen zurecht zu finden, weil sie die Forschungsstation noch nie verlassen hatte? „Wenn du mich mitnimmst, helfe ich dir, ohne eine Kugel im Kopf hier wieder weg zu kommen.“ Schuldig glotzte sie noch eine Weile ziemlich dumm an, weil er beim besten Willen nicht wusste, was er davon jetzt halten sollte. Irgendwann nickte er schließlich doch. „Okay!? ... Klingt nach einem guten Deal. Lass uns gehen“, entschied er. Wenn sie tatsächlich AX-4 war, musste er sie so oder so mitnehmen. Und eine große Wahl schien er ja auch nicht zu haben. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie ihn einfach von dannen ziehen lassen, wenn er auf ihren Vorschlag nicht einging. Was es nun genau mit dem seltsamen Mädchen auf sich hatte, konnte er draußen immer noch ergründen. Jetzt musste er erstmal zu Crawford zurückkommen. „Gut!“, stimmte das Mädchen überglücklich zu und betätigte den unscheinbaren Öffnungsmechanismus neben sich. „Aber ich bin nicht alleine. Ich geh nicht ohne meine drei Kollegen hier weg.“ Sie nickte einverstanden und ohne sich zurückhalten zu lassen.   Farfarello trat alarmiert einen Schritt zurück, als sich das dubiose Stück Wand erneut öffnete und rotierte. Er hatte Schuldig drinnen mit jemandem reden hören und anhand der ruhigen Tonlage vermutet, daß mit ihm nichts Schlimmes vor sich ging. Aber trotzdem legte er wenig Wert darauf, ihm da drin Gesellschaft zu leisten. Diesmal blieb die Wand auf 90° geöffnet stehen, so daß der Gedankenleser in aller Ruhe herauskommen konnte. Er wirkte unversehrt und hatte eine junge Dame bei sich, die ihm kaum bis über die Schulter reichte. Ihr Gesicht war altersmäßig nicht zu schätzen, aber vom Körperbau her wirkte sie sexy und dadurch schon recht erwachsen. „Ich hab AX-4 gefunden“, informierte er Crawford mit einem Grinsen. „Oder sie mich, das wäre ehrlicher.“ Crawford bedachte abschätzend die rubinroten Augen und das seltsam unindividuelle Gesicht, und beschloss, vorläufig keine weiteren Fragen zu stellen. Dafür würde ihnen später Zeit bleiben. Er wusste, daß Schuldig kein leichtgläubiger Mensch war. Wenn der sich einreden ließ, daß dieses Mädchen die Waffe AX-4 war, dann würde er Beweise oder mindestens gute Gründe dafür haben. „Kommt, hauen wir endlich ab! Sie wird ohne Zicken mitkommen. Sie will sowieso dringend hier weg“, legte Schuldig noch nach. Über Nagi schlug ein Projektil in die Wand ein, sirrte als Querschläger davon und ließ die ganze Bande schleunigst in die Gänge kommen. Sie waren entdeckt worden und standen unter Beschuss. Crawford fluchte. Wenn sie gesehen worden waren, brauchten sie jetzt auch kein Geheimnis mehr um sich zu machen. Jetzt hieß es, Knarre nehmen und mit Gewalt durchbrechen, um hier wieder raus zu kommen.   Schuldig fiel fast durch die Tür, die sich leichter öffnen ließ als gedacht, fand sich plötzlich im Freien wieder, und presste sich erstmal mit dem Rücken gegen die Hauswand, um sich schnell einen Überblick zu verschaffen, wo er überhaupt war. Immerhin draußen, das war ja schon mal die halbe Miete auf ihrer Flucht. „Schaffen wir es bis zu den Blechbüchsen da drüben?“, wollte er wissen und zeigte auf einige Frachtcontainer, wie sie sonst im Schiffsgüterverkehr genutzt wurden. „Müssen wir ja“, nickte Farfarello. „Zum Glück stehen die dort. Auf dem riesigen Parkplatz wären wir Freiwild, so ganz ohne jede Deckung.“ Schuldig und Farfarello rannten los. Crawford und Nagi hatten eine andere Route nach draußen gewählt, um sich und damit auch die Verfolger aufzuteilen. Sie bogen um die Ecke eines Containers. Beiden stockte der Atem, als sie sich unvermittelt einer ganzen Truppe Sicherheitsleute mit angelegten Waffen gegenübersahen. Schuldig erstarrte mitten in der Bewegung und hatte kaum noch Zeit, ein entsetztes Keuchen von sich zu geben. Ein „Nein!“ gellte in seinen Ohren.   ... dann plötzlich nur noch Schwärze ...   Es ging erneut alles viel schneller als sein Verstand es erfassen konnte. Die völlige Dunkelheit, die über ihn hereinbrach und sich eng um ihn schlang, nahm ihm jegliche Orientierung. Im gleichen Moment zuckte er schon wieder zusammen, weil die Kugeln der Maschinengewehre um ihn herum wie Hagel auf ein Blech prasselten. Es war eher eine kurze Schwerelosigkeit, die ihm ein Gefühl des Fallens gab, welches gleich darauf von einem harten Aufschlag bestätigt wurde, den er mangels Bewegungsfreiheit nicht abfedern konnte. Er war nach hinten umgekippt. Schuldig keuchte, völlig überfordert mit der ganzen Situation, noch bevor er seine Positionsänderung ganz realisiert hatte, und strampelte. Er war so eingepfercht, daß seine Ellbogen und Knie anstießen. Sein eigenes Ächzen klang in seinen Ohren unnatürlich dumpf. Und es machte ihn panisch, daß er nichts sehen konnte. Er lag im absoluten Dunkel auf dem Rücken, offenbar in einer Kiste, wie er beim Herumtasten bemerkte. Jedenfalls war er in alle Richtungen eng von Wänden umschlossen, massiv genug, um ihn auch vor den Gewehrsalven abzuschirmen. Was zur Hölle war das bitte? In was steckte er hier? Wo war er da reingeraten? War das eine Falle? Es war so furchtbar schnell gegangen. Aber wenn die Sicherheitsleute ihn derart bombensicher gefangen hätten, würden sie doch nicht mehr auf ihn schießen, oder? Ruhelos wanderten seine Hände weiter herum, auf der Suche nach einem Öffner oder Ausgang. Dabei zwang er sich, zumindest die letzten paar Augenblicke nochmal Revue passieren zu lassen. Er glaubte, daß er von etwas oder jemandem angesprungen worden war. Ja, von AX-4. Sie hatte sich ihm an den Hals geworfen, soviel hatte er noch mitbekommen. Um ihn mit ihrem eigenen Körper vor den Projektilen zu schützen. Von ihr war auch das gellende „Nein“ gewesen, das er gehört hatte. Aber wann genau war aus AX-4 die Metallkiste geworden, in der er jetzt steckte? Und vor allem, was war mit Farfarello? War der auch in so eingeengter Sicherheit? Der Kugelhagel erstarb. Die Sicherheitsleute hörten auf, auf ihn zu ballern. Stattdessen gab es einige gequälte Aufschreie und würgende Geräusche, die Schuldig durch die Metallwände nur sehr gedämpft wahrnehmen konnte. Irgendjemand machte die smarten Burschen da draußen gerade gründlich platt. Es folge eine Weile Ruhe. Mit gemischten Gefühlen lag der Gedankenleser da und konnte nicht viel mehr tun als zu warten, was als nächstes passierte. Was war das nur für eine kranke Mission hier? Jetzt war es ihm schon zum zweiten Mal passiert, daß er von den Ereignissen einfach gnadenlos überrollt worden war, weil alles viel zu schnell gegangen war, er die Kontrolle über die Situation verloren hatte und er nicht mehr Herr der Lage war. Das war unverzeihlich, wenn man in diesem Business arbeitete. Er erschrak tierisch, als es plötzlich an seinem Sicherheitsgefängnis klopfte. „Eh, Schu', lebst du noch?“, rief jemand. Das war die Stimme von Farfarello. Schön, dann ging es dem also gut. Der war dem Kugelhagel irgendwie noch schnell genug entkommen, wie es aussah. Schuldig schnappte nach Luft, um sich wieder zu beruhigen. „Ja! Nichts passiert!“, rief er erleichtert zurück. „Kriegst du noch genug Sauerstoff da drin?“ „Ja. Aber es ist scheiße dunkel und eng hier, Mann! Wie in einem Sarg! Holt mich hier endlich raus!“ „Schon dabei. Kann aber ne Weile dauern“, gab jemand anderes zurück. Das war Crawfords Stimme. „Wir müssen erstmal sehen, wie man das Ding aufkriegt.“ Alter Schwede! Schuldig atmete tief durch und versuchte sich wieder zu entkrampfen und zu entspannen. Alles gut, es war vorbei. „Komm schon, Mädchen. Du darfst mich jetzt wieder frei lassen“, murmelte er, in der irrwitzigen Annahme, AX-4 würde es hören und der Bitte auch tatsächlich nachkommen. Wider Erwarten tat sich über ihm wirklich ein kleines Guck-Loch auf, das schnell größer wurde und nach der langen Dunkelheit hier drin fürchterlich blendete. Schuldig brauchte einige Sekunden, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnten. Die Metallwände um ihn herum schmolzen förmlich weg wie Kerzenwachs im Feuer, und gaben ihn wieder frei. Crawford schaute ihn verdutzt an. „Was hast du gemacht?“ Statt zu antworten – mit einer Antwort rechnete sowieso keiner – glotzten sie alle miteinander ratlos auf das Mädchen, das bewusstlos neben Schuldig auf dem Boden lag. Sie war alles, was von dem ganzen Spuk noch übriggeblieben war. „Also eines scheint schon mal zu stimmen: Ihre Form ändern kann sie“, attestierte Crawford. „Wie ist das möglich? Das ... ich meine ... wie soll das biologisch möglich sein? Erklär mir das mal auf ner wissenschaftlich haltbaren Grundlage!“, hielt der Gedankenleser ungläubig dagegen und rappelte sich vom Boden auf. Wie sollte ein Mensch – ein organischer, lebender Körper – auf Befehl zu einem Metallspint werden? Und dann wieder zu einem lebenden Menschen? „Später. Wir müssen hier weg, bevor die Verstärkung kommt. Nimm sie Huckepack und komm in die Gänge!“ Schuldig warf einen nachdenklichen Blick auf das Blutrinnsal, das an Farfarellos Arm herunterlief, bevor er der Aufforderung nachkam. Er hatte einen Streifschuss kassiert. Auch wenn der weißhaarige Kerl keinerlei Schmerzempfinden hatte, sollte er beim Tragen des Mädchens besser nicht helfen. „Sie macht nichts mehr. Ist die kaputt?“, wollte Farfarello skeptisch wissen. „Das klären wir auch später! Hauptsache, wir haben sie erstmal.“ Schon wieder fielen Schüsse. Nagi riss den drei Verfolgern mittels seiner telekinetischen Kräfte ihre Gewehre aus den Händen und ließ diese in der Luft schweben. Die Waffen richteten sich auf ihre Besitzer und leerten ihre Magazine restlos in deren Körper hinein. Dann ließ Nagi die fliegenden Maschinengewehre fallen und rannte.   AX-4 stieg aus dem Wagen aus und schaute fragend an der Fassade des Wolkenkratzers hinauf. Sie hatte so etwas noch nie live gesehen. Aber sie wusste dennoch, was das war. Die Funktion von Bürogebäuden war ihr geläufig. „Wohin gehen wir?“, fragte sie interessiert nach, als die vier Männer, denen sie sich angeschlossen hatte, ohne Umwege auf den Eingang zuhielten und Crawford schon allen voran darin verschwand. Als sie wieder aufgewacht war, hatte sie sich in einem Auto befunden. Wo die Kerle sie überhaupt hinbrachten, war noch gar nicht thematisiert worden. „Gut, daß du fragst“, entgegnete Schuldig. Er hatte langsam ein leicht mulmiges Gefühl, sowohl bei dem Gedanken an Takatoris Reaktion, als auch die Reaktion dieser Waffe, wenn sie gleich alles erfuhr. „Jetzt machst du mal mit unserem Boss Bekanntschaft. Er will dich gern kennenlernen.“ Das Mädchen nickte verstehend. „Will er mich verkaufen?“, hakte sie gelassen, aber ohne Umschweife, nach und ließ den sonst so vorlauten Telepathen damit schlucken. Sie konnte genau analysieren, was in ihm vorging. Sie wusste, daß er nichts Falsches sagen wollte. Daß er sie nicht verärgern oder gar verschrecken wollte. „Deshalb habt ihr mich doch aus dem Labor rausgeholt, oder? Euer Boss hat euch beauftragt“, fuhr sie selbst fort, um ihm den Eiertanz abzunehmen. „Und ich bin eine Waffe. Was soll er sonst mit mir wollen, außer Geld mit mir zu machen?“ „Du siehst das aber sehr nüchtern ...“, kam Schuldig nicht umhin zu bemerken. Er hatte mit einer stärkeren Emotion ihrerseits gerechnet, wenn sie davon erfuhr. Immerhin hatte er ihr nicht offenbart, daß sie eigentlich seine Gefangene war. „Ich weiß ehrlich gesagt noch gar nicht so genau, was er mit dir will. Vielleicht will er dich auch behalten und selber einsetzen.“ „Egal. Mich zu behalten oder meistbietend zu verkaufen, wird ihm alles beides nicht möglich sein“, klärte AX-4 ihn auf und marschierte schnurstracks durch die Tür ins Gebäude hinein. „Ich bin jetzt auf dich personalisiert. Ich kann von niemand anderem außer dir mehr eingesetzt werden.“ „Das ... ist gar nicht gut“, urteilte Schuldig mit einschlafendem Gesicht. Crawford, der es trotz seines Vorsprungs ebenfalls gehört hatte, blieb alarmiert stehen und schaute zu den beiden zurück. Takatori hatte gesagt, daß AX-4 auf einen Menschen eingerichtet werden konnte, dann nur noch von demjenigen steuerbar war, und demzufolge nutzlos für ihn werden würde. „Was meinst du damit: personalisiert?“ „Um mich als Waffe bedienen zu können, muss ein Mensch eine mentale Brücke zu mir aufbauen. So kann ich seine Gehirnaktivitäten auslesen und damit seine Befehle entschlüsseln und umsetzen. In der Forschungseinrichtung bin ich eine telepathische Kopplung mit Mastermind eingegangen, um ihn vor den Gewehrkugeln schützen zu können. Dadurch bin ich jetzt an ihn gebunden. Die Verbindung zwischen uns steht immer noch und wird auch so bleiben. Ich gehöre ihm jetzt. Ich kann mich an niemand anderen mehr heften, denn sowas geht logischerweise nur mit einem einzigen Menschen. Ich kann nicht die Befehle mehrerer Leute gleichzeitig verarbeiten, weil die niemals deckungsgleich sind und ich deshalb nicht wüsste, auf wen ich hören soll.“ „Du ... gehörst ihm?“, betonte Crawford ungläubig. „Das ist das treffendste Wort dafür, ja. Mastermind ist der einzige, der mich jetzt noch einsetzen kann. Ich bin an ihn gebunden.“ „Du, ähm ... Du kannst Schuldig zu mir sagen. 'Mastermind' ist nur ein Codename“, warf der Telepath überfordert von der Seite ein, wohl wissend, daß das gerade sein geringstes Problem war. Takatori würde ihn umbringen! „Ich nehme wohl an, das lässt sich nicht rückgängig machen?“, fragte Crawford nach. Dabei kannte er die Antwort quasi schon. AX-4 schüttelte bestätigend den Kopf. Die Personalisierung war endgültig. Die konnte man nicht wieder löschen, wenn sie einmal fixiert war. Jedenfalls nicht in einer Weise, daß sie hinterher noch als Waffe zu gebrauchen gewesen wäre. Farfarello ließ einen Puh-Laut vernehmen. „Schon ´ne Idee, wie wir das dem Boss erklären sollen?“, wollte er wissen, als würde er Crawford unterstellen, nicht selber schon fieberhaft darüber nachzugrübeln.   „Nichtsnutze! Versager!“ Takatori holte mit dem Golfschläger aus und drosch ihn Schuldig mit solcher Wucht ins Gesicht, daß es diesen der Länge nach zu Boden schickte. Crawford zog Luft durch die Zähne und eine seiner Hände zuckte Einhalt gebietend hoch, aber er bremste sich gerade noch rechtzeitig. Takatori sollte man lieber nicht dazwischenfunken, wenn er sauer war. Auch wenn Schuldig ihm echt leidtat. Es war immerhin nicht das erste Mal, daß der arme Kerl den Schläger ins Gesicht bekam. Ihr Boss Takatori nutzte dieses verdammte Ding oft und gern, um seinem Unwillen die nötige Würze zu verleihen. Der schon etwas in die Jahre gekommene Mann mit den grauen Schläfen setzte stinksauer nach, holte erneut aus und wollte weiter auf den am Boden liegenden Telepathen einprügeln, aber da wurde sein Schlagwerkzeug mit einem harten Ruck gestoppt, der ihm wie ein Schock durch die Schultergelenke und den halben Rücken fuhr. Wütend sah er sich um. AX-4 hatte das obere Ende des Golfschlägers mit einer Hand ergriffen und hielt fest. Mit einer erstaunlichen Kraft, die es Takatori unmöglich machte, ihr den Schläger wieder zu entreißen. „Tu das nochmal und du bist tot!“, drohte das Mädchen düster. Der Gangsterboss gaffte sie perplex an, völlig entgeistert von so dreisten Drohungen. Keiner seiner Untergebenen hatte es jemals gewagt, solche Töne zu spucken, oder ihn auch nur so respektlos zu dutzen. Unterdessen setzte sich Schuldig mit einem genervt-schmerzlichen Laut zumindest wieder auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die getroffene Wange. „Schon okay. Lass gut sein, Kleine“, seufzte er dabei. „Nein, lasse ich nicht“, entschied AX-4 böse. „Ich habe mich verpflichtet, dich zu schützen. Ich dulde nicht, daß dir jemand etwas antut. Sollte das jemand versuchen, wird derjenige nicht lebend davonkommen.“ „Lass den Mist! Das ist unser Boss!“ „Ist mir egal! Ich töte auch euren Boss, wenn es sein muss! Niemand legt Hand an meinen Meister!“ „Meister, ja?“, machte Schuldig, schlagartig amüsiert, und kämpfte sich wieder auf die Beine. So unpassend das auch gerade war, aber das gefiel ihm. „Hinterhältige Brut!“, fluchte Takatori und zerrte aggressiv an seinem Golfschläger. Als AX-4 diesen daraufhin losließ, stolperte er von seinem eigenen Schwung getragen ein paar Schritte durch das Büro. Er tobte und wetterte noch aufgebrachter herum als vorher schon, aber da sich das sonderbare Mädchen mit verschränkten Armen vor Schuldig aufbaute wie ein Bodyguard, verpuffte sein Gewittersturm machtlos. An den elenden Telepathen kam er nicht mehr heran, um seine Wut an ihm abzureagieren. Und direkt an AX-4 wollte er sich lieber nicht versuchen. Er wusste, wenn auch nur die Hälfte der Gerüchte stimmte, würde er das tatsächlich nicht überleben. Und er kannte wesentlich mehr Gerüchte über diese Waffe als seine Spezialtruppe selbst. „Hören Sie zu, Takatori, ich mache Ihnen einen Vorschlag“, mischte sich Crawford irgendwann aus dem Hintergrund ein, um dem ganzen Tumult endlich einen Riegel vor zu schieben. Der Boss war in dieser Laune einfach unerträglich. „AX-4 ist jetzt auf Mastermind geprägt. Was soll´s. Zu ändern ist es offenbar erstmal nicht mehr. Aber sie ist Ihnen immer noch von Nutzen. Mastermind untersteht schließlich Ihrem Befehl, also AX-4 automatisch mit. Wenn Sie mit AX-4 irgendwelche Pläne haben, dann sagen Sie ihm doch einfach Bescheid. Er wird halt nur mitgehen müssen, wenn Sie die Waffe irgendwo hin kommandieren wollen. Aber ansonsten gibt es damit keine Probleme. Sie steht Ihnen trotzdem voll zur Verfügung.“ „Und wenn ich sie verkaufen will!? Darf ich den Idioten dann etwa mitverkaufen, ja!?“ Schuldig schnappte sauer nach Luft, war aber klug genug, sie als tiefes Durchatmen wieder loszuwerden, statt etwas zu erwidern. „Er hat das ja nicht mit Absicht gemacht!“, diskutierte Crawford weiter. „Die Waffe hat von selber entschieden, sich an ihn zu binden.“ „Seit wann treffen Waffen selber Entscheidungen!?“, jaulte Takatori hysterisch auf und fuchtelte schon wieder mit seinem Golfschläger herum. „Die hier ist eben ...“ „RAUS!!! Alle! Raus aus meinem Büro! Ihr unnützes Ungeziefer!“, schrie der Boss. Er versuchte, den Stiel seines Schlägers zu verbiegen, um seiner Wut irgendein Ventil bieten zu können, aber natürlich hielt der massive Stahl ihm trotzig Stand. „Ihr hört von mir, wenn ich entschieden habe, wie es mit der Waffe weitergehen soll. Haut jetzt ab!“   Schuldig fuhr sich erneut mit den Fingerspitzen über das schmerzende Jochbein, während er durch die Gänge lief. „Dieser verdammte Penner“, maulte er dabei schlecht gelaunt vor sich hin. Das wurde garantiert ein satter, blauer Fleck. Takatori war echt ein Arschloch von einem Boss, selbst nach Gangster-Maßstäben. Wieso nur hatte er sich von Crawford breitschlagen lassen, sich in geschäftliche Beziehungen zu diesem Kerl mit hineinziehen zu lassen? „Bist du in Ordnung?“, wollte AX-4 von ihm wissen. „Ja-ja. Halb so wild.“ „Tut mir leid, daß ich nicht schneller reagiert habe. Nochmal wird er das nicht tun.“ „Was machen wir jetzt?“, hakte Farfarello in neutraler Tonlage nach. „Feierabend!“ „Ich meine mit ihr!“, präzisierte er und deutete mit seinem verbliebenen, gelben Auge auf AX-4. Ihm wäre es ja am liebsten gewesen, sie wegzusperren. Aber da er nicht wusste, wie die anderen darüber dachten, behielt er diesen Vorschlag erstmal für sich. „Ich werde sie wohl mit zu mir nach Hause nehmen“, legte Schuldig fest. Crawford atmete nachdenklich durch. „Finde ich nicht gut.“ „Wieso nicht? Ist ja jetzt schließlich meine Waffe, wenn ich das richtig verstanden habe. Und ich habe den Verdacht, daß sie sich sowieso nicht von mir trennen lässt.“ AX-4 nickte bekräftigend. Das hatte er verdammt richtig erkannt. „Schuldig, irgendwas stimmt mit ihr nicht!“, hielt Farfarello ihm vor, als stünde das Mädchen gar nicht daneben und würde alles hören. „Natürlich nicht!“, meinte der Telepath in einem Tonfall, der an den Verstand seines Gegenübers appellierte. „Sie ist eine im Labor gezüchtete Waffe. Was erwartest du?“ „Von ihr gar nichts! Aber du, du könntest etwas vorsichtiger mit ihr sein. Du kennst sie nicht. Du vertraust ihr zu sehr, wie mir scheint.“ „Sie hat mich vor der Medi Tec Security und vor Takatori gerettet. Ich finde, ich habe keinen Grund, ihr nicht zu vertrauen.“ Alle Augen, auch die von Nagi, der sich aus der Debatte gänzlich heraushielt, richteten sich wartend auf Crawford. Der Hellseher seufzte innerlich und bedachte das Mädchen mit einem langen, abschätzenden Blick. Was blieb ihm schon übrig? Die Waffe hatte selber kundgetan, daß sie sich von ihrem 'Meister' nicht fernhalten lassen würde. „Nimm sie mit“, entschied er etwas unglücklich. „Aber nimm dich bitte ein bisschen in Acht, Kumpel. Wie Farf´ schon sagt: ein normaler Mensch ist sie nicht.“ Kapitel 3: ----------- 03 „Na schön ... Hast du einen Namen, Hübsche?“, fragte Schuldig nach und warf seine Jacke einfach über eine Stuhllehne. „AX-4“, gab sie in einem 'das-weißt-du-doch'-Tonfall zurück. Interessiert lief sie in Schuldigs kleinem Haus herum und sah sich alles an. Die Küche schien selten benutzt zu werden, auch wenn schmutziges Geschirr in der Spüle stand. Das schien schon länger dort zu stehen. Das Wohnzimmer wirkte dagegen sehr freundlich und wohnlich. Ein helles Sofa, hellbraune Möbel, luftige Vorhänge, ein paar immergrüne Pflanzen auf den Fensterstöcken. Der Fernseher war hypermodern, folglich verbrachte Schuldig wohl sehr viel seiner Zeit mit diesem Ding. „Ja, schon klar, das war die Bezeichnung deines Forschungsprojektes. Aber hast du keinen Namen ... was weiß ich ... mit dem du im Alltag angesprochen wurdest?“ Sie schüttelte den Kopf. Sie war einfach immer AX-4 gewesen. Auch die Mitarbeiter im Labor hatten sie stets so genannt. Und so lange gab es in ihrem Leben noch gar keinen Alltag. Bis vor wenigen Wochen hatte sie noch nichtmal ein Bewusstsein gehabt, geschweige denn die Möglichkeit, frei durch die Gegend zu laufen. Schuldig zog eine unzufriedene Flunsch. „Ich will dich aber nicht mit 'AX-4' anreden. Das ist mir zu synthetisch. Dann muss ich dir wohl selber einen Namen geben.“ Er schnappte sie am Handgelenk und zog sie neben sich auf das Sofa, damit sie aufhörte, hier herum zu laufen. Das machte ihn wuschig. „Mh ... Ah, ich weiß! Ich werde dich Ayax nennen. Klingt doch besser als AX, findest du nicht?“ „Wie du möchtest“, stimmte sie lächelnd zu und wandte ihre Aufmerksamkeit von der Wohnung ab und endlich ihm zu. „Du bist für eine Frau echt süß“, bemerkte Schuldig und legte ihr lose einen Arm um die Schultern. „Ich bin eine Waffe.“ „Du siehst aber aus wie eine Frau.“ „Ist das gut oder schlecht?“, wollte sie wissen. „Gut! Sehr gut!“, meinte Schuldig hingerissen. „Ein Glück. Ich dachte schon, du hättest ein Problem damit, dich von einem Mädchen beschützen zu lassen.“ Er zog sie herum und schloss sie ganz in die Arme, um sie fest an sich zu knuddeln. Ihr Körper war auf die typisch organische Art weich und warm. Undenkbar, daß das kein Mensch sein sollte. Labor hin oder her, Puppengesicht oder nicht, sie MUSSTE ein Mensch sein! Vielleicht genmanipuliert, oder was auch immer die Wissenschaftler Krankes mit ihr angestellt hatten, aber trotzdem ein Mensch, „Bist du eigentlich ... anatomisch korrekt gebaut? ... Auch so untenrum?“, schnurrte Schuldig verführerisch und streichelte über ihre Hüfte und ihren Oberschenkel, um zu verdeutlichen, welches 'untenrum' er meinte. „Ich weiß nicht. Ich hatte noch keine Gelegenheit, Vergleiche mit anderen Weibchen anzustellen.“ „Hmmm~ Soll ich mal nachsehen?“, bot der Gedankenleser neckisch an und rutschte mit seiner Hand deutlich weiter Richtung Zentrum. Dabei drückte er sie rücklings auf die Sitzfläche seines Sofas, was sie auch willig zuließ, und kletterte auf sie. Mit seinem adretten Erscheinungsbild litt er zwar wahrlich keinen Mädchenmangel, aber wenn sie schon so toll mitspielte, warum nicht? AX-4 lächelte den rothaarigen Telepathen abermals ermunternd an und fuhr mit den Händen links und rechts über seine Rippen. „Das wäre schön.“ Auch davon, worauf er gerade hinauswollte, hatte sie eine sehr genaue Vorstellung, und wusste bestens Bescheid wie es funktionierte. Übrigens ohne es vorher jemals getestet zu haben.     Mit einem unterdrückten Gähnen spazierte Crawford den Hausflur hinunter und kramte in der Jacke schon nach seinem Wohnungsschlüssel. Es war verdammt spät geworden. Er freute sich darauf, für heute Feierabend zu machen und einfach nur aufs Sofa zu fallen. Oder gleich ins Bett, mal sehen. Ein paar Schritte vor seiner Wohnungstür blieb er stehen. Irgendwas machte ihn hellhörig. Mit der Tür war zwar alles in Ordnung. Sie war geschlossen und unbeschädigt. Aber trotzdem stimmte etwas nicht. Als Hellseher wusste Crawford natürlich schnell, was es war: Da drin befand sich jemand und erwartete ihn. Eine Person. Männlich. Und interessanterweise nicht mit schlechten Absichten. Trotzdem angelte Crawford nach seiner Pistole, prüfte nochmal schnell den Füllstand des Magazins, und behielt sie dann direkt in der Hand. Er entriegelte das Schloss und stieß die Tür mit einem kräftigen Ruck auf. Ein Luftzug wehte ihm entgegen und ließ die Vorhänge sich dramatisch in dem bisschen Licht aufbauschen, das vom Flur hereinfiel. Und im Rahmen des sperrangelweit offenstehenden Fensters saß eine unkenntliche Silhouette. Das Fenster diente ganz offensichtlich als Fluchtweg, falls hier irgendwas schiefging. „Lass das Licht aus!“, verlangte die dunkle Gestalt bestimmend. Crawford sackte erleichtert etwas in sich zusammen und ließ auch die vorgehaltene Pistole wieder sinken. „Bombay ...“, stöhnte er. Wenigstens war der Eindringling jemand, den er kannte und einschätzen konnte, auch wenn der Kerl beileibe nicht zum Freundeskreis zählte. „Du kannst Omi zu mir sagen.“ „Meinetwegen auch das. Wie hast du mich hier gefunden?“ „Auch wir von Weiß haben so unsere Möglichkeiten.“ „Was willst du?“, verlangte Crawford zu wissen, steckte mit einer Hand die Pistole in seinen Hosenbund und knipste mit der anderen rigoros die Deckenbeleuchtung an. Auch wenn dieser Omi ihm etwas Gegenteiliges befohlen hatte. Er ließ sich doch in seiner eigenen Wohnung nicht verbieten, das Licht an und aus zu schalten wie er lustig war. Schon gar nicht vom Feind. Er musterte den kleinen Jungen, der auf seinem Fensterstock saß, streng. Einfach unglaublich, daß der seine Adresse herausbekommen hatte und auch noch die Dreistigkeit besaß, hier einzubrechen. „Wir müssen reden, Oracle.“ „Natürlich, gern. Willst du einen Kaffee?“ „Ääääh~ ...“ brachte Omi nur verwirrt heraus. „Jetzt ernsthaft?“, „NEIN, du Idiot! Das war Sarkasmus!“, pflaumte Crawford ihn ungehalten an. „Sieh zu, daß du aus meiner Wohnung verschwindest, sonst helfe ich nach!“, stellte er klar. Dabei war er sonst ein durch und durch beherrschter Mensch und ließ sich so gut wie nie zu irgendwelchen Ausfälligkeiten hinreißen. Aber die Tatsache, nichts Böses ahnend nach Hause zu kommen und ein Mitglied von Weiß in seinen vier Wänden aufzugreifen, war ihm dann doch zu viel. Wieso blies er dem Jungen nicht einfach eine Kugel durch das Spatzenhirn? ... Hm, nein, zu auffällig. Wenn der aus dem Fenster kippte und unten auf den Bordstein klatschte, gab es nur unschöne, polizeiliche Ermittlungen. Das konnte Crawford auch nicht brauchen. „Oracle, hör mir zu!“, bat Omi nachdrücklich. Crawford verzichtete darauf, dem Jungen gleichsam seinen echten Vornamen anstelle des Codenamens anzubieten. „Das ist wirklich wichtig! Glaubst du denn, ich bin zum Spaß hergekommen?“ „Du hast 30 Sekunden, dann wirst du meine Wohnung auf die eine oder andere Weise verlassen haben. Also fasse dich besser kurz.“ Omi hopste mit einem unzufriedenen Laut vom Fensterstock auf den Fußboden und schloss das Fenster, damit nicht irgendein Nachbar mithörte, der zufällig gerade die Nase heraushielt, um eine zu rauchen, oder sowas. „Ihr seid heute bei MTF eingebrochen und habt ein Mädchen aus dem Labor entführt. Ich nehme an, ihr wisst, daß sie kein normaler Mensch ist, sondern eine synthetisch gezüchtete Waffe. Sie ist gefährlich. MTF hat begonnen, die Wissenschaftler zu liquidieren, die an der Entwicklung dieses Mädchens beteiligt waren.“ Tja, dumm gelaufen für die Forscher. Für Crawford hieß das bestenfalls, daß die Waffe voll einsatzfähig und die Arbeit an ihr vollendet war und die Medi Tec Foundation die Wissenschaftler nicht mehr brauchte. „20 Sekunden“, antwortete er humorlos. „Glaubst du, keiner wird diese Waffe suchen kommen? Eine Menge Leute sind hinter ihr her! Ihr werdet Probleme kriegen, wenn ihr sie behaltet!“     Schuldig stellte sein Glas in die Spüle, nachdem er es benutzt hatte, und überlegte, was er mit dem Abend noch anfangen könnte. Er hatte heute während der Mission einige Leute getötet, ohne vorher ausgiebig mit ihnen spielen zu dürfen. Er hatte von Takatori wortwörtlich eine auf´s Maul bekommen. Und er hatte ungefragt eine humanoide Waffe aufs Auge gedrückt bekommen, die jetzt einfach bei ihm wohnte, ob er wollte oder nicht. Irgendwie war dieser Tag zwar actionreich gewesen, stimmte ihn aber trotzdem unzufrieden. „Oh, da fällt mir ein ...“, entfuhr es ihm laut, was Ayax interessiert aufsehen ließ. „Ich hab da ja noch was im Keller, um das ich mich kümmern muss.“ „Du hältst einen Mann gefangen, den du foltern willst.“ Schuldig schaute die junge Frau etwas bedeppert an. Irgendwie war es unangenehm, daß sie das wusste. Er hatte unterschätzt, daß sie seine Gedanken genauso lesen konnte wie er ihre. Und er hatte unterschätzt, wie verunsichernd es sein konnte, seine Gedanken nicht geheim halten zu können und seine Deckung so aufgebrochen zu sehen. Er war ja bisher auch noch nie auf andere Telepathen gestoßen. „Willst du mitkommen?“, hakte er einfach mal nach. Sie nickte und sprang vom Sofa hoch. Schuldig stieg die steile Hühnerleiter in den Keller hinunter und knipste das Licht an. Eine Fehlkonstruktion, wie er immer wieder fand. Wieso hatte man den Lichtschalter nicht am oberen Ende der Treppe installiert? Wäre das nicht sinnvoller gewesen? Das panische Zappeln und das Klirren der Ketten hörte man schon in der Dunkelheit, bevor die trübe Glühbirne endlich flackernd zündete. Sein Opfer, das er hier gefangen hielt, war bereits gefesselt und geknebelt und konnte sich nur noch mit Mh-Lauten verständigen. Schuldig grinste vorfreudig. Der Kerl war ein älterer, schmieriger, dickbäuchiger Typ in verschlissenen, löchrigen Klamotten, unrasiert und nach billigem Alkohol und kaltem Zigarettenrauch stinkend. Ein Obdachloser von der Straße. Einer von der Sorte, die man nicht so schnell vermissen würde. Unwahrscheinlich, daß jemand die Polizei auf den Plan rief, um nach diesem Mann zu suchen. Sein Verschwinden würde im besten Fall ewig unbemerkt bleiben. Der Telepath spürte jetzt schon die aufsteigende Panik seines Opfers, das ihn mit großen Augen anstarrte. „So, Kollege. Da bin ich wieder. Ich habe dich ganz schön lange warten lassen, was?“, meinte er schadenfroh. „Mmmh-mh“, machte der Mann nur verängstigt und zog an den Ketten, die ihn an der Wand festhielten. Die Ketten waren lang genug, daß er sich stellen, setzen oder legen konnte, aber mehr als anderthalb Schritte Bewegungsradius hatte er nicht. Da ihm die Hände auf den Rücken gefesselt waren, konnte er auch gegen seinen Knebel denkbar wenig tun. Schuldig hob eine Reitgerte vom Boden auf und zog sie dem Kerl gleich erstmal knallend über den Rücken wie eine schlechte Begrüßung. Der bog heulend den Rücken durch. Schuldig freute sich über das Aufjaulen. Was ihm aber noch viel diebischere Freude bereitete, war, die Schmerzen seines Opfers auf der telepathischen Ebene haarklein mitverfolgen zu können. Nur zu sehen, wie das wehrlose Opfer sich lustig wand, war nicht halb so interessant wie die Emotionen und Panik mitspüren zu können. „Ach, solange du noch den dicken Pullover trägst, macht das ja gar keinen Spaß. Da merkst du ja gar nichts!“, entschied Schuldig und holte ein Taschenmesser aus seiner Hosentasche, um seinem Opfer die Kleidung vom Leib zu schneiden. Peitsche auf nackter Haut war gleich nochmal was ganz anderes. „Verbinde ihm die Augen“, schlug Ayax vor, die bisher schweigend danebengestanden und sich alles fasziniert angesehen hatte. Auch sie verfolgte telepathisch sehr wissbegierig mit, was in dem gefesselten Obdachlosen vorging. „Wozu? Er weiß, wie ich aussehe.“ „Mit verbundenen Augen gepeitscht zu werden, hat viel mehr Reiz. Man weiß nicht, wann der nächste Hieb kommt. Oder wo er auftreffen wird. Man kann sich mental überhaupt nicht auf den Schlag vorbereiten, man ist absolut ungewappnet.“ „Das ändert doch an den Schmerzen nichts“, meinte Schuldig irritiert. Er hatte nicht gedacht, daß Ayax ihm auch noch Tipps geben würde, wie es sadistischer ging. „Nö, um die körperlichen Schmerzen geht es auch nicht. Aber wir wollen doch mit ihm spielen. So fühlen wir seine Verzweiflung und Hilflosigkeit wesentlich stärker. Glaub mir, das wird Spaß machen!“     Schuldig spazierte zur sperrangelweit offenstehenden Tür herein, gefolgt von seinem neuen Dauer-Anhängsel Ayax, und schaute sich verwundert zwischen den ganzen Kartons und zerlegten Möbelteilen um. Dann gehörte der schon halb beladene Transporter unten im Hinterhof also Crawford. Die Wohnung wirkte ungewohnt leer, da bereits etliches fehlte. „Was tust du denn hier?“, wollte Schuldig wissen. Crawford fuhr nicht minder verdutzt zu ihm herum. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet. Und er war ja auch nicht 24 Stunden am Tag am Orakeln, um allen Eventualitäten zuvor zu kommen. Aber eine offene Wohnungstür hielt natürlich keine Besucher fern, das war klar. „Hi, Schuldig. Ich ziehe in eine andere Wohnung um.“ „Davon hast du gar nichts erzählt.“ „Nein, war eine sehr spontane Entscheidung. Ich bin hier von Bombay aufgespürt worden. Er weiß jetzt, wo ich wohne. Und da lege ich überhaupt keinen Wert drauf. Ich such mir auf der Stelle eine neue Bleibe.“ Schuldig zog die Stirn kraus. „Omi war hier? In deiner Wohnung?“ „Ja. Gestern.“ „Und du hast ihn wieder laufen lassen? Spinnst du?“ „Was hätte ich mit dem Jungen denn machen sollen? Ihn als Geisel festhalten? Ich hab keine Lust, mich mutwillig ins Visier von Kritiker und Perser zu manövrieren oder mir den Rest seiner Weiß-Truppe aufzuhalsen.“ „Du hättest ihn ausknipsen können! Ein Problem weniger!“ Crawford schloss kurz resignierend die Augen, als hätte er diese Argumentation schon viel zu oft mit Schuldig führen müssen. Dennoch blieb er völlig ruhig und sachlich, wie so meistens, wenn er mit dem rothaarigen Telepathen herumdiskutieren musste. Ihre Zusammenarbeit beruhte schon seit jeher auf gegenseitigem Respekt. Crawford hatte gegenüber Schuldig noch nie die Chef-Karte gespielt, weder im Dienst, noch privat. Er war zwar der Kopf von Schwarz, aber er befehligte Schuldig niemals entgegen dessen Einsicht herum. Er wollte, daß Schuldig die Gründe verstand, besser noch mit den Anweisungen einverstanden war, und nicht einfach nur die Klappe halten und gehorchen musste. Auf dieser Basis funktionierten Loyalität und Vertrauen nicht. „Wir töten niemanden, ohne einen entsprechenden Auftrag von Takatori erhalten zu haben. Das weißt du“, erklärte Crawford also geduldig. „Ja-ja. Schon klar. Wir sind bezahlte, beauftragte Berufs-Söldner und keine Wahnsinnigen, die rumlaufen und willkürlich Leute platt machen“, betete Schuldig herunter, was Crawford ihm schon so oft vorgehalten hatte. Die Leier kannte er ebenfalls schon. „Wir sind Profis. Wir erledigen einen Job. Unsere persönlichen Befindlichkeiten haben da nichts zu suchen.“ „Willst du Weiß etwa in Schutz nehmen?“ „Nein. Ich sage nur, daß das zwischen denen und uns nichts Persönliches ist. Weiß und wir arbeiten für konträre Organisationen. Und wenn sich unsere Aufträge überkreuzen, kann keiner von uns was dafür. Wir tun unsere Arbeit und die tun ihre. ... Und ich wäre dir dankbar, wenn wir das nicht halb im Treppenhaus besprechen müssten.“ Schuldig drehte sich mit einem uneinsichtigen 'ts'-Laut um und verschwand erstmal im Bad, wohl um auf Toilette zu gehen. Der Hellseher schaute ihm vielsagend nach, bevor er sich wieder ins Packen seiner Kartons vertiefte. Manchmal war es echt kompliziert, Chef zu sein. Crawford kannte seine Männer sehr genau und wusste, wie er mit jedem einzelnen von ihnen umgehen musste, um eine zielführende Arbeitsweise zu erreichen. Mit Schuldig war es bisweilen allerdings schwierig, auf einen grünen Zweig zu kommen. Er mochte Schuldig. Sehr sogar. Er sah ihn über das dienstliche Teamkollegium hinaus als einen Freund an, obwohl er, der Chef von Schwarz, und Schuldig, das 'Personal', eigentlich auf ganz verschiedenen Ebenen rangieren sollten. Gerade diese freundschaftliche Ader zwischen ihnen machte es zu einem verfluchten Drahtseilakt. Schuldig gehorchte und vertraute ihm als Freund, nicht als Boss. Auf der einen Seite machte ihre Freundschaft Schuldigs Loyalität um Längen glaubwürdiger und gesicherter als die von Farfarello oder selbst die von seinem hassgesteuerten Ziehsohn Nagi. Obwohl man sich auf Schuldig beileibe nicht blind verlassen sollte, konnte man doch gewiss sein, daß der nie irgendwas Dämliches anstellen würde, was Crawford persönlich zum Schaden gereichen könnte. Schuldig würde auch niemals auf die Idee kommen, einen solchen Vertrauensbruch aufs Parkett zu legen wie etwa Crawford mittels seiner telepathischen Fähigkeiten manipulieren zu wollen, wohingegen er das bei Farfarello und Nagi durchaus häufiger tat. Aber auf der anderen Seite war es durch die kameradschaftliche Komponente auch schwerer, Schuldig im Notfall an der Kandare zu halten, wenn er Crawford nicht als Vorgesetzten sondern „nur“ als Gleichberechtigten wahrnahm. Der Telepath hatte einen recht durchtriebenen Charakterzug, einhergehend mit einem sehr ausgeprägten, eigenen Willen, einem raumfüllenden Ego und wenig Sinn für Unterordnungs-Verhältnisse. Und er würde sicher aus dem Team ausbrechen, wenn Crawford an seinem respektbasierten Umgang mit ihm irgendwas änderte und ihn zu einem Untergebenen zu degradieren versuchte, der sich sturen Befehlen zu fügen hatte. „Was ist denn 'Weiß'?“, wollte Ayax wissen, die sich schlagartig sehr alleingelassen vorkam, da Schuldig auf dem WC und Crawford mit der Nase in einer Umzugskiste steckten, und sich keiner mehr um sie kümmerte. „Selbstjustizler“, gab der Hellseher ihr abgelenkt Auskunft. „Eine Truppe von vier Kerlen, die sich um Verbrecher kümmern, die nicht vom Gesetz bestraft werden können. Leider kommen sie uns damit gelegentlich in die Quere.“ „Dann seid ihr von Schwarz also auf der Seite der Bösen?“ Crawford warf ihr einen stoischen Seitenblick zu. „Lass mich eines klarstellen, Kleine! Weiß sind Schwerverbrecher; keinen Deut besser als die, hinter denen sie her sind. Sie rennen rum und bringen Menschen um. Sie sind Mörder im Namen einer illegalen Einrichtung. Das ist nicht weniger strafbar als das, was wir tun. Nur weil ihre Opfer kriminell sind, macht das Weiß nicht gleich zu einer Truppe von Heiligen. Im Gegenteil. Diese Jungs rechtfertigen ihre juristisch und moralisch unhaltbaren Machenschaften mit dem Deckmantel vermeintlicher Gerechtigkeit, statt einfach zuzugeben, daß sie genauso sind wie wir.“ Ayax nickte verstehend, auch wenn Crawford seine vorrangige Aufmerksamkeit schon längst wieder dem Umzugskarton gewidmet hatte und es nicht mehr sah. „Wie stellst du dir eigentlich deinen weiteren Werdegang vor, Kind?“, hob Brad Crawford von selbst ein neues Thema an, als sie nicht weitersprach. „Ich bin Schuldigs Waffe“, erwiderte sie sofort überzeugt. „Und du stellst keine blöden Fragen?“ „Das ist nicht meine Aufgabe. Ich diene. Ich frage nur nach Informationen, die ich zum Ausführen meiner Aufgaben brauche.“ Crawford schüttelte unterschwellig den Kopf. „Du bist komisch ...“, entschied er. Dann klappte er den Karton zu, lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand und sah sie endlich direkt an. „Wieso ausgerechnet Schuldig?“ „Ich bin mit seinen Fähigkeiten kompatibel“, erklärte sie ohne vorher überlegen zu müssen, ganz als hätte sie auf diese Frage bereits gewartet. „Er ist dazu in der Lage, mich einzusetzen. Alles Weitere war reiner Zufall.“ „Das ist alles?“ „Wieso fragst du das?“, wollte Ayax wissen. „Ist es für dich nicht in Ordnung? Sollte ich lieber dir dienen? Ich weiß, du bist der Kopf eurer Gruppe und ...“ Der Hellseher konnte sich ein kurzes Aufkichern nicht verkneifen. „Nein. Ich gönne Schuldig die Unterstützung, so ist es nicht. Es hat mich nur interessiert. Du tauchst aus dem Nichts auf, schließt dich uns völlig grundlos an, ohne Fragen zu stellen, und verteidigst einen Kerl mit deinem Leben, den du überhaupt nicht kennst und mit dem dich ansonsten auch nichts zu verbinden scheint. Ich glaube auch nicht, daß da so viel Zufall im Spiel war. Wenn du mich fragst, hast du dir Schuldig ausgesucht. Du hast ihn ja nichtmal gefragt, bevor du dich auf ihn 'personalisiert' hast.“ „Dazu war keine Zeit mehr! Auf ihn wurde geschossen!“ „Ich würde einfach gern verstehen, warum du das getan hast. Überhaupt würde ich dich gern besser verstehen, das ist alles.“ Ayax überlegte eine Sekunde lang sichtlich vor sich hin, weil sich ihr die Frage nicht erschloss. Themen in dieser Richtung waren ihr noch nie zur Diskussion gestellt worden. Sie war noch nie gefragt worden, warum sie etwas tat. Sie hatte sich das bisher noch nicht einmal selber gefragt. Was sie eben zu Crawford gesagt hatte, entsprach ja der Wahrheit. Und es irritierte sie, daß er ihre Aussagen trotzdem weiter hinterfragte. Unwahrheit kannte sie nicht. Wieso sollte ihr also jemand nicht glauben? AX-4 war in der Tat nicht für die Allgemeinheit zu gebrauchen. Es gab auf dieser Welt nur einen sehr niedrigen Prozentsatz an Menschen, die überhaupt dazu geeignet waren, mit einer Waffe wie ihr zu arbeiten. Man musste dafür eine besonders ausgeprägte mentale Gabe haben, und einen überdurchschnittlich geweiteten Geist. Es gab nur denkbar wenige, die eine so übernatürliche Wahrnehmung wie Hellsicht oder Aura-Sehen hatten oder eine Medium-Veranlagung besaßen. Schuldig als Telepath war ein solch seltener Mensch, der in der Lage war, einen Kanal zu einer mental gesteuerten Waffe wie AX-4 aufzubauen. Und in diesem Gefecht auf dem Parkplatz der Medi Tec Foundation war er glücklicherweise auch gerade für eine solche Verbindung offen gewesen, so daß sie sich spontan an ihn hatte binden können. Sicher, Farfarello hatte zwar direkt danebengestanden, aber seine Resonanzen und Instinkte waren für ein mentales Andocken nicht empfänglich. Ihn hätte sie nicht schützen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Das war der ganze Grund, warum ihre Wahl – sofern sie denn tatsächlich aktiv eine getroffen hatte – auf Schuldig gefallen war. Er war einfach die einzige, konvergente Person im Umkreis gewesen. Und jetzt fragte Crawford sie, warum? „Ich bin eine Waffe“, erklärte sie schließlich. „Mich muss man nur einsetzen. Mich muss man nicht verstehen.“ „Oh“, machte Crawford negierend, „ab dem Moment, ab dem mein Leben von dir abhängt, sehe ich das anders.“ Er schnappte seinen Karton und marschierte davon, um ihn hinunter zu bringen und im Transporter zu verräumen. Sie nahm sich ebenfalls eine wahllose, schon gepackte Kiste, und folgte ihm. Wenn sie schon mal hier war, konnte sie ihm ja auch tragen helfen.   Hier fand gerade eine ganz klare Prioritätensetzung statt: Schuldig stand am offenen Fenster und rauchte, statt sich ebenfalls einen Umzugskarton zu greifen. Wenn er ausdrücklich darum gebeten wurde und Instruktionen erhalten hatte, an welche Kisten er gehen durfte und von welchen er die Hände zu lassen hatte, würde er sicher helfen. Sie waren ja schließlich Freunde. Aber bevor Schuldig nicht mindestens das geklärt hatte, weswegen er hier war, würde er keinen Finger rühren. So kannte Crawford ihn. Der rothaarige Telepath drehte sich vom Fenster weg, als Crawford wieder in die Wohnung zurückkam, und lehnte sich leger in den Rahmen. „Was hat der Mensch von Weiß denn gewollt, als er in deiner Wohnung war?“, fragte er nach. „Was soll er schon gewollt haben!? Sie natürlich“, informierte Crawford ihn und nickte dabei vielsagend in die Richtung von Ayax, die hinter ihm eintrat. Schuldig schüttelte leicht den Kopf. „Ein Amateur. Wieso ist Omi nicht zu mir gekommen? Wusste er etwa nicht, daß die Waffe bei mir ist?“ „Doch. Aber er wusste auch, daß du ihn kalt gemacht hättest, bevor er dir erklären konnte, was er will.“ Brad Crawford nahm einen weiteren Karton und drückte ihn dem sonderbaren Mädchen rigoros in die Arme. „Gehst du den bitte schon mal runterbringen, Kind?“ Er sah ihr nach, bis sie davongestiefelt und außer Hörweite war. Er wollte nicht, daß Ayax das hier so direkt mithörte. Als sie endlich wieder weg war, wandte er sich mit verschränkten Armen an Schuldig. „Hör zu, Omi wollte mich vor ihr warnen. Das ist etwas gänzlich anderes, als sie uns einfach nur streitig machen zu wollen.“ „Wie süß“, kommentierte Schuldig, zog ein letztes Mal an seiner Kippe und schnipste diese dann in hohem Bogen aus dem Fenster. In Japan war das eine unerhörte Frechheit, Zigaretten auf die Straße zu werfen und Crawford schenkte ihm auch einen tadelnden Blick dafür. „Der Junge macht sich doch nicht etwa Sorgen um uns?“, lästerte Schuldig geringschätzig weiter, wobei er diesen Blick geflissentlich ignorierte. „AX-4 tötet ihre Nutzer. Sie ist eine parasitäre Waffe. Sie hängt nicht an dir, weil sie dir loyal ergeben wäre und dir gehorchen will, sondern weil sie dich als Batterie braucht. Jetzt, wo sie das Labor verlassen hat und draußen ohne Energiezufuhr klarkommen muss, wird sie von deiner Energie gespeist. Sowohl von deiner Körperenergie als auch deiner mentalen Gehirnleistung. Nur darum ist sie mit uns gekommen.“ Schuldig zog nur verdutzt die Augenbrauen nach oben. Als Telepath wusste er, daß Crawford ihn gerade nicht auf den Arm nehmen wollte. Der meinte das ernst, soweit er sich seiner Sache selber sicher war. Aber: bitte was!? ... Nun, zugegeben, sie hatte von ihm bisher weder etwas zu essen noch zu trinken annehmen wollen. Die Frage, wovon sie eigentlich lebte, war nicht ganz unberechtigt. Aber wenn sie von seiner Körperenergie lebte, müsste er sich dann nicht entsprechend geschwächt und müde fühlen? Seinem eigenen Empfinden nach ging es ihm super. „Dieser Playboy da, Balinese, war dagegen, uns zu kontaktieren. Er meinte, wir sollen ruhig mit dieser Waffe arbeiten, damit wir denen endlich vom Hals geschafft werden. Aber Omi wollte uns davor warnen. Gegen den Rat seiner Kollegen. Und er ist ein ziemliches Risiko damit eingegangen, mich in meiner eigenen Wohnung abzupassen. Ich nehme also an, daß er vielleicht ein bisschen übertrieben, aber auf keinen Fall völlig geblöfft hat. Irgendwas wird schon dran sein.“ Schuldig ließ nachdenklich den Blick schweifen. „Aber welchen Grund sollte Omi haben, uns zu warnen, selbst wenn es wirklich so wäre? Was hätte er davon?“ „Ein gutes Gewissen vielleicht.“ „Unsinn. Er ist überzeugt von Weiß und von dem, was er dort tut. Als damals zur Debatte stand, daß er Takatoris Sohn sein könnte, hat er sich ganz bewusst gegen seinen mutmaßlichen Vater und für Weiß entschieden. Im Gegensatz zu dir ist das für Omi sehr wohl was Persönliches.“ Crawford zuckte mit den Schultern. Er wusste doch auch nicht mehr als das, was Omi ihm erzählt hatte. Er konnte in Omis Kopf ja nicht reinschauen. Wer von ihnen war denn hier der Gedankenleser? „Wie auch immer. Ich kann dir AX-4 nicht wieder wegnehmen. Aber tu mir einen Gefallen und beleuchte deine kleine, neue Freundin unter diesem Gesichtspunkt nochmal genauer.“ Schuldig enthielt sich einer Reaktion. Er wusste selber noch nicht, ob er einverstanden war oder diesen Auftrag als sinnlos einstufte. Das würde er später entscheiden. Fakt war jedenfalls, daß er Crawford ernst nahm, wenn der sowas sagte, also würde er in einer ruhigen Minute zumindest nochmal drüber nachdenken. „So, und was hat dich nun hergeführt? Du hast gar nicht gesagt, daß du mich besuchen kommst“, wechselte Crawford das Thema. „Ich hab eine Leiche im Kofferraum“, gab Schuldig ungerührt Auskunft. „Ich dachte, du hilfst mir vielleicht, sie zu beseitigen.“ Der Hellseher schloss frustriert die Augen. Nicht schon wieder. „Ist es jemand, den wir kennen?“ „Nein, nur ein fremder Kerl, mit dem ich etwas gespielt habe.“ „Wieso tust du das?“, wollte Crawford missmutig wissen. „Weil du es mir in den Medi Tec Laboren verboten hast“, lächelte Schuldig. „Wenn ich auf unseren Missionen nicht mit meinen Opfern spielen darf, dann suche ich mir eben in meiner Freizeit eins, mit dem ich das ausgiebig nachhole.“ „Dir macht das Spaß, oder?“ „Wenn es dir keinen macht, bist du in diesem Job echt falsch, Kumpel“, behauptete der Telepath überzeugt. Ja, er genoss es, andere Menschen zu quälen und Macht über sie auszuspielen. Na und? Crawford schob sich die Brille auf der Nase zurecht. „Tut mir leid. Wie du siehst, bin ich mit meinem Umzug beschäftigt“, würgte er das Thema ab. „Dann muss ich es halt mit Ayax alleine über die Bühne bringen.“ „Weiß sie etwa davon?“ „Natürlich. Sie hat ja fleißig mitgemacht. Ein sehr sadistisches Ding, diese Kleine. Ich glaube, ich mag sie.“ Kapitel 4: ----------- 04 Takatori hatte eine komplette Privatarmee. Eigentlich hatte er also genug andere Leute bei der Hand, die seinen Dreck regeln konnten. Trotzdem saßen sie wenige Tage später schon wieder zusammen und harrten seiner Wünsche. Wenigstens war es diesmal nur eine Videokonferenz in ihrer kleinen Basis. Heute mussten sie mal nicht persönlich in seinem Büro antreten. Aber wie üblich ließ er sie warten. Farfarello packte Ayax´ Kopf mit beiden Händen und zog sie nah an sein eigenes Gesicht heran. Grob. Ohne selbst eine Miene dabei zu verziehen. „Diese Rubin-Augen!“, meinte er verächtlich, während er ihr tief in selbige hineinschaute. „Ich wüsste zu gern, was hinter diesen Augen geschieht! Aber das kann mir nur Schuldig beantworten. Er ist der Gedankenleser.“ „Mh, du solltest sie besser wieder loslassen“, erwiderte Schuldig gelassen und es war vom Tonfall her nicht ganz zu deuten, ob das tatsächlich eine Antwort auf Farfarellos Frage darstellen sollte oder ob da kein Zusammenhang bestand. An seiner lässigen Sitzhaltung mit einem Arm hinterrücks über der Rückenlehne änderte er jedenfalls nichts, um irgendwie einzuschreiten. „Warum? Ist es dir Alpha-Tierchen etwa nicht recht, wenn jemand dein Zeug anfasst?“ Schuldig grinste schadenfroh. „Das auch. Aber in erster Linie wertet sie deine Aktion gerade als Angriff und leitet schon Gegenmaßnahmen ein. Wenn du von ihr nicht umgebracht werden willst, dann lass sie jetzt los.“ Der Bildschirm auf Nagis Computer blitzte auf und aus der 'offline'-Meldung wurde eine stehende Verbindung, woraufhin Farfarello die Waffe tatsächlich wieder frei gab und Haltung annahm. Schuldig konnte sich gerade noch ein vorlautes „Na endlich“ verkneifen. Wieso musste Takatori eigentlich immer zu spät sein? Und warum waren sie eigentlich immer pünktlich, wenn sie doch genau wussten, daß Takatori es sowieso nicht war? „N´Abend, die Herren“, brummte der Gangster-Boss in die Runde. Er trug einen taubenblauen Anzug von der Stange und saß hinter seinem Schreibtisch, wie unschwer zu erkennen war. Das Bild war klar und deutlich, der Ton gut verständlich, seine Laune wie immer mürrisch. „Hallo, Chef“, grüßte Crawford stellvertretend für alle zurück. „Ihr habt Arbeit.“ „Davon ist auszugehen, sonst würden wir nicht hier sitzen“, kommentierte Schuldig. „Halt den Mund, Mann!“, raunzte Takatori ihn an. „Ich will, daß ihr ein Mädchen für mich ausschaltet! Sie hat gefährliche Fähigkeiten, etwa vergleichbar mit euren. Und sie wird deshalb auch schwer bewacht und beschützt. Ich teile euch in drei Teams auf. Oracle, Mastermind, Berserker, jeder von euch bekommt eine Truppe Soldaten mit, die ihm untersteht.“ „Wir sollen getrennt agieren?“, rückversicherte sich Crawford erschrocken. Das hatte es ja noch nie gegeben. Sie waren ein eingespieltes Team mit einer funktionierenden Arbeitsteilung. Sie ergänzten sich gegenseitig. Sie waren bei Missionen aufeinander angewiesen. Und wer war bitte so wahnsinnig, Farfarello alleine los zu schicken!? „Ich übermittle euch jetzt die Daten, wo ihr das Mädchen finden werdet und wann und wo ihr euch mit euren jeweiligen Einheiten treffen werdet. Die weisen euch in alles Weitere ein. Jeder von euch hat seinen Auftrag. Versaut eure Mission nicht!“ Nun, daß Nagi zu jung war, um ihm eine eigene Kompanie Soldaten zu unterstellen, war verständlich, dachte Crawford. Der war ja noch nichtmal volljährig, auch wenn er ein vollwertiges Mitglied von Schwarz war. „Dann bleibt Prodigy mit in meinem Team“, legte er fest und warf seinem Adoptivsohn einen Seitenblick zu. „Nein. Prodigy, du lässt dich in meinem Büro blicken. Noch heute.“ „Uuuuuh~ Geheimnisse?“, lästerte Schuldig dazwischen. „Oracle, bring diesen großfressigen Kerl zum Schweigen!“, zeterte Takatori wütend. „Du bist der Leiter von deinem Haufen da, also halte deine Leute unter Kontrolle! Ich schwöre dir, ich peitsche dich tot, wenn er noch einmal die große Klappe hat!“ Crawford nickte seufzend. „Du hast ihn gehört, Schuldig“, merkte er in beinahe mildem Tonfall an. Der Telepath zog zwar eine griesgrämige Schnute. So schlimm war der Einwurf ja nun auch wieder nicht gewesen, wie er fand. Er sagte aber nichts mehr. „Und bring mir den Kopf dieses Mädchens! Sonst nehme ich deinen dafür!“ Die Leitung wurde unterbrochen und auf dem Bildschirm ploppte wieder die graue 'offline'-Meldung auf. „Himmel, der hat ja heute gute Laune ...“, maulte Farfarello. „Das gefällt mir nicht, daß Takatori uns in alle vier Himmelsrichtungen zerstreuen will. Was bezweckt er damit?“ „Ja, und er könnte sich echt mal angewöhnen, uns wieder mehr Infos zu den Aufträgen zu geben“, warf Schuldig ein. Nebenbei stand er schon auf und ging die Vorhänge wieder aufziehen, mit denen sie für die Videokonferenz den Raum verdunkelt hatten. „'Ein Mädchen' ist jetzt keine sehr präzise Beschreibung der Zielperson. Und wenn wir uns mit einem Gegner mit 'gefährlichen Fähigkeiten' anlegen sollen, so stark, daß eine kleine Armee dafür nötig ist, würde ich schon ganz gern vorher wissen, womit wir es zu tun haben.“   Schuldig hob sich das summende Handy ans Ohr, ohne vorher auf den Bildschirm geschaut zu haben, wer ihn überhaupt anrief. Den Ton hatte er bereits ausgeschalten, in Vorbereitung auf das Kommende. Es ging nur noch der Vibrationsalarm los, wenn jemand ihn kontaktierte. „Was gibt es?“ „Bist du schon auf Position?“, hörte er Crawfords Stimme aus der Leitung. „Nein. Laut Plan schlagen wir erst in drei Stunden los.“ „Wo bist du?“ „Wie meinst du das?“, wollte Schuldig verwundert wissen. „Ich habe gerade mit Farfarello gesprochen. Er ist mit seiner Einheit in Asakusa. Ich bin hier in Shibuya. Mir scheint, wir wurden zeitgleich auf verschiedene Ziele angesetzt. Wir greifen nicht alle das selbe Objekt an. Also wo bist du?“ „Shinjuku“, gab Schuldig zu. Crawford fluchte am anderen Ende leise. Noch ein weiterer Stadtteil Tokyos. „Die haben uns ganz schön weit auseinandergetrieben.“ „Aber dieses Mädchen, das wir jagen, kann doch nicht an drei Orten gleichzeitig sein.“ „Richtig. Das ist es ja, was mir so zu denken gibt. Ich hoffe, Takatori hatte einfach nur keine Ahnung, wo sie sich befindet, und es steckt nicht mehr dahinter.“ Der Telepath nickte leicht vor sich hin, kam aber trotz aller Grübelei zu keinem rechten Ergebnis. „Na schön. Pass auf dich auf, hörst du?“ „Mach ich. Du auch.“ „Ich hab ja Ayax. Mach dir lieber Sorgen um Farfarello. Du weißt, wie er drauf ist, wenn er seinen Blutrausch kriegt.“ Schuldig verabschiedete sich und ließ das Telefon langsam wieder verschwinden. Seine Teamkollegen waren in gänzlich anderen Gebäuden zugange. Er war hier also auf sich allein gestellt. Das war keine coole Situation. Sein Blick blieb nachdenklich auf AX-4 haften. „Ist alles okay?“, wollte sie wissen und schlang beruhigend die Arme um seine Mitte. „Jetzt wird es ernst, Hübsche. Das erste Mal, daß ich im echten Gefecht auf dich angewiesen bin.“ Er strich ihr die Haare hinter ein Ohr, streichelte über ihre Wange und ihre Halsseite. In den wenigen Tagen, die sie erst bei ihm war, hatte er sich doch ziemlich in sie vernarrt und herzte sie total an. „Ich werde dich beschützen“, versprach sie. „Das hoffe ich doch.“ Erst jetzt, mit der Hand an ihrem Hals, fiel ihm so richtig auf, daß sie gar keinen Puls hatte. Er wurde ernster und, ja, skeptisch. Ihre menschlich warme Körpertemperatur, ihre weiche Haut und vor allem auch ihre weiblichen Rundungen hatten ihn bisher gut darüber hinweggetäuscht, aber jetzt hatte er plötzlich doch Zweifel daran, daß sie wirklich organisch war. „Okay. Ich schätze, es ist an der Zeit, was über dich zu lernen“, entschied Schuldig. „Du bist also eine Waffe, sagt man. Was genau kannst du?“ „Ich verändere meine Form nach Belieben.“ „Du kannst jedes Erscheinungsbild annehmen, das du willst?“ „Ich kann keine Doppelgänger von realen Menschen nachahmen. Aber ansonsten kann ich zu jedem Gegenstand werden, der gerade benötigt wird. Teilweise funktionsfähig, teilweise nicht. Mein primärer Zweck ist es, zu einem Schutzschild zu werden und meinen Benutzer vor Angriffen abzuschirmen, indem ich als Stahlplatte um ihn herumschwirre, während er sich durch das Gelände bewegt. Ich bin ein intelligenter Panzer.“ „Kannst du zu einer Pistole werden?“ Ayax nickte stoisch. „Ich kann zu etwas werden, das wie eine Pistole aussieht. Aber feuern kannst du mit mir nicht. Ich muss immer in einem Stück bleiben. Ich kann keine Teile von mir abspalten, um sie durch die Gegend zu schießen. Wenn du mich in eine Angriffswaffe verwandeln willst, solltest du dich für eine massive Hieb- oder Stichwaffe entscheiden. Nutzbringender bin ich aber als Werkzeug. Ich kann für dich zu jedem beliebigen Tür- oder Zündschlüssel werden, zu einer Brechstange, zu einer Leiter, oder meinetwegen zu einer Kaffeekanne, wenn du gerade eine brauchst. Unsere telepathische Verbindung gibt mir exakte Instruktionen, was du haben willst.“ „Wie wäre es mit etwas Komplexerem, wie einem Motorrad?“ „Gerne auch ein Motorrad“, bestätigte sie gelassen und machte es ihm zum Beweis auch gleich vor. Sie zerfloss zu einem unförmigen, silbernen Etwas, dehnte sich in ungeahnte Richtungen aus und nahm wieder erkennbare Konturen an. Zuletzt bekam das ganze Ding auch wieder Farbe. Binnen Sekunden stand eine Harley Davidson vor ihm. „Da ich keinen Verbrennungsmotor habe, mache ich zwar nicht die gleichen Geräusche wie ein echtes Motorrad, aber schnell durch die Gegend tragen kann ich dich“, fuhr ihre Stimme fort. Schuldig kapierte erst nach einigen Sekunden, daß diese Stimme nur noch in seinem Kopf zu hören war. Als Motorrad hatte sie keinen Mund mehr zum Reden. Also musste sie wohl auf die telepathische Kommunikation zurückgegriffen haben, die sowieso zwischen ihnen herrschte. Er fuhr sich unschlüssig mit den Fingerspitzen die Lippenkonturen nach, statt etwas zu sagen. Was er hier sah, verstörte ihn mehr als ihm lieb war. Ayax nahm wieder ihre menschliche Erscheinung an. Die des Mädchens mit den roten Augen und dem Puppengesicht. „Du wirkst unzufrieden“, stellte sie in einer undeutbar herausfordernden Tonlage fest. „So würde ich das nicht gleich nennen“, entgegnete Schuldig vorsichtig. „Ich frage mich nur, wie du das machst. Was zur Hölle bist du?“ „Meine Grundstruktur basiert auf Nanobots. Zahllose, mikroskopisch kleine Metallteilchen, die sich beliebig umsortieren und neu zusammensetzen können und dadurch immer andere Objekte formen. Zusammengehalten und gesteuert werden sie von einer programmierten Haupteinheit, auf der verschiedene Datenbanken, Baupläne und Programmabläufe gespeichert sind. Zum Beispiel, damit ich in menschlicher Sprache mit dir kommunizieren oder mich in Städten orientieren kann. Oder soziale Verhaltensmuster, wie dir und deinen Kollegen unaufgefordert zu helfen, wenn ich euch arbeiten sehe.“ Ein ratloses Nicken war alles, was Schuldig dazu zunächst einfiel. „Du wirkst immer noch unzufrieden“, merkte Ayax an, als sei das eine Tatsache. „Ich glaube, was wir zwei die letzten Nächte miteinander getrieben haben, war eine blöde Idee ...“ „Warum?“ „Warum!?“, quietschte der Telepath, langsam leicht hysterisch. „Hast du irgendwas dabei empfunden? Hat es dir Spaß gemacht?“ „Für mich ist Spaß kein Kriterium. Ich bin eine Maschine und tue, was man mir aufträgt. Du bist mein Meister und laut meinen Analysen hatte der Verkehr mit mir einen positiven Effekt auf dich.“ Schuldig stieß fassungslos Luft aus. Ging´s noch? „Genau das ist meine Aufgabe als deine Waffe“, fuhr sie unbeirrt fort. Er musste sich schaudernd von ihr abwenden und presste sich eine Hand auf den Mund, um nicht gar zu entsetzt nach Luft zu schnappen. Er konnte ihr nicht mehr in die Augen sehen. Er konnte nichtmal mehr sagen, ob er gerade lachen oder heulen wollte. Das war ihm jetzt echt zu heftig. Was dachte die sich eigentlich? Na, wahrscheinlich gar nichts. Sie war nur eine programmierte Maschine. Ein Roboter quasi, der mittels Emotions-Simulator so tat, als wäre er ein Mensch. Schuldig kam sich furchtbar betrogen, ja regelrecht prostituiert vor und fühlte sich schlagartig elend. Er hatte sich mit einer Maschine vergnügt, Herrgott nochmal. Und das ohne es zu merken. Er hatte ihr vertraut! Aber mal von dieser emotionalen Hintergehung ganz abgesehen: Dieses verfluchte Ding war als Mensch so echt und überzeugend, daß es einen problemlos irreführen konnte. Selbst ihn als Gedankenleser hatte sie getäuscht. Sie hatte ihm sogar Gedanken vorgetäuscht, damit er als Gedankenleser etwas zum Lesen hatte und keinen Verdacht schöpfte. Er hatte sich ihr aus freien Stücken völlig ausgeliefert. Undenkbar, was sie ihm alles hätte antun können, wenn sie ihm nicht zufällig wohlgesonnen gewesen wäre. Nicht zu fassen. Seine Gedanken und Emotionen überschlugen sich in seinem Kopf zu einem einzigen Chaos. Er hatte für den ersten Moment keine Ahnung, wie er das verarbeiten sollte. „Schuldig?“ „Lass mich in Ruhe!“, pflaumte er sie an und ging. Er ließ sie einfach stehen. Er brauchte kurz Abstand von all dem hier. Er hätte eher anfangen sollen, Fragen zu stellen, statt sich von ihrer reizenden Erscheinung verblenden zu lassen. Wie hatte er jemals glauben können, daß sie irgendwas Menschliches an sich haben könnte? Gut, das war auch ein Erfahrungswert, den er bisher noch nie hatte machen müssen. Normalerweise scherte er sich nicht um die Gefühle anderer Menschen. Es war ihm ehrlich gesagt auch ziemlich Schnuppe, was sie dabei empfand, wenn er sich im Bett an ihr ergötzte. Ihr Spaß war ihr nicht halb so wichtig wie sein eigener. Aber egal ob es sie positiv oder negativ tangierte, er wollte gefälligst ernst genommen werden! Hatte sie seiner Autorität denn gar keine Bedeutung beigemessen!? Er benutzte und manipulierte andere schamlos zu seinem eigenen Vorteil oder Vergnügen, ungeachtet der Folgen für denjenigen. Er liebte es, Macht über andere auszuüben. Und unter der Prämisse, daß er diese Ayax als sein persönliches Eigentum eingestuft hatte, hatte er davon auch gewissenlos und nur zu gern Gebrauch gemacht – wie üblich ohne sich groß den Kopf darüber zu zerbrechen. Aber was er garantiert nicht hinnehmen konnte, und was sein Ego zutiefst kränkte, war ein diesbezüglicher Rollentausch. Noch dazu, wenn er so hinterrücks und heimlich vonstattenging. Das war ja förmlich Verrat! Wer ging denn auch davon aus, daß in Wirklichkeit sie diejenige war, die ihn manipulierte? Ihn hatte noch nie etwas dermaßen aus dem Konzept gebracht. „Mastermind! Komm sofort zurück und reiß dich zusammen!“, befahl sie streng und folgte ihm. „Wir sind hier auf einer Mission! Sieh zu, daß du einen klaren Kopf behältst, sonst gefährdest du deine gesamte Kompanie!“ „Kümmer dich um deinen eigenen Rotz! Zum Beispiel darum, die Telefone, Handys und Notrufsysteme zu stören! Du hast noch genug zu tun, bevor wir da einrücken!“   Mit einem überdeutlichen Rumms, der das ganze Gebäude wackeln ließ, wurde die Tür schlicht und ergreifend aus dem Rahmen gesprengt. Sie legten hier keinen Wert auf diskretes Vorgehen. Kein Alarm. So weit, so gut. Schuldig ging voraus – im Gegensatz zu den Kampftruppen, die gebückt und mit eingezogenem Kopf herumrannten, um ein möglichst kleines Ziel zu sein, lief Schuldig aufrecht und ohne Eile – ließ seinen Geist schweifen und suchte ziellos in der Umgebung herum. Es war zwar mühsam und ungefähr so erfolgversprechend wie mit den Händen blind in der Dunkelheit herum zu tasten, aber manchmal fand er dabei doch irgendjemanden, der sich unbemerkt in einer Deckung versteckte. Das hatte ihn schon auf manchen Hinterhalt aufmerksam gemacht und ihm in der Vergangenheit mehrfach das Leben gerettet. Er bekam mit seiner telepathischen Gabe tatsächlich etwas zu fassen. 'Den rothaarigen Typen ... zuerst ausschalten ... weiße Klamotten ...', hörte er die stillen Gedanken einer unbekannten Person wie aus undurchsichtiger Ferne. Sie waren ein wenig zusammenhanglos und stichpunktartig, wie Gedanken im Kopf eines Menschen eben waren. 'Keine kugelsichere Weste ... ist kein normaler Soldat ... muss einer der Kommandanten sein.' Schuldig schaute sich suchend um, wo die Person saß, die solcherlei Gedanken hegte. Dabei gab er seiner Truppe mit zwei knappen Handzeichen Befehl, ihn links und rechts zu überholen und voraus zu gehen. Noch während die um ihn herum wuselten und ihm damit ungewollt volle Deckung gaben, weil aus keiner Richtung mehr freie Schussbahn gegeben war, zog er seine eigene Pistole. „Ayax, bleib in der Nähe“, trug er seiner Begleiterin auf. „Natürlich.“ „Die Spinte dort.“ Der Telepath deutete auf ein paar Stahlschränke an der Wand und einen Wimpernschlag später steckte AX-4 als riesiger, metallener Rammbock in einer der Türen. Sie hatte das bisschen Blech mit Wucht durchstoßen und sich in den Schrank hinein gebohrt wie ein Pfahl. Schuldig war selbst ein wenig erschrocken darüber. Er hatte nicht mal gesehen, wie sich AX-4 von ihrer Frauengestalt in den eisernen Pflock verwandelt hatte. Ein gepresstes Röcheln. Eine Blutnase, die langsam unten aus der Spinttür heraus gelaufen kam. Er hatte gut geschätzt. Sein versteckter Gegner war gefunden. AX-4 löste sich aus der Tür, wechselte wieder in ihre humanoide Gestalt und kehrte ohne Verzug zu ihm zurück, um ihn wieder zu decken. Schuldig hielt sich nicht damit auf, nachzusehen, was mit dem Kerl im Schrank nun im Detail passiert war, sondern ging weiter. Immerhin stürmten sie gerade ein Gebäude und waren hier nicht auf einem Spaziergang. Auch wenn seine Einsatztruppe gerade einen gegenteiligen Eindruck machte. Der Teamleiter hockte neben einem abzweigenden Gang und bewegte sich keinen Schritt mehr. „Was ist los? Machen wir hier Picknick, oder was?“, wollte der Telepath wissen. „Das ist ein verflucht langer Flur“, meinte der Soldat unbehaglich. „Ohne jede Deckung. Wenn da jemand am anderen Ende hinter der Ecke sitzt, schießt der uns auf halber Strecke ab wie Wildgänse. Wir könnten nirgendwo hin.“ Schuldig griff sich mit unbewegter Miene eine Handgranate von der Weste seines Gegenübers, zog den Stift und warf das Ding flach über den Boden. Die Granate segelte bis ganz ans andere Ende des Gangs und ging dort sofort hoch. Es gab ein mörderisches 'Wumm' in den engen Räumlichkeiten. Irgendwo rieselte ein bisschen Putz von der Decke. „Jetzt sitzt da keiner mehr. Vorrücken!“ Der Soldat steckte sich stöhnend die Zeigefinger in beide Ohren, um den Druck auf seinen Trommelfellen wieder auszugleichen. Schuldig vollführte einen subtilen Fingerzeig Richtung der Tür am anderen Ende des Gangs. Eine Bewegung, die so beiläufig und weich wirkte, daß sie einem unaufmerksamen Beobachter sicherlich gar nicht aufgefallen wäre. „Du musst mich nicht mit Handzeichen leiten“, kommentierte Ayax. „Ich verstehe auch so, was du willst.“ „Weiß ich. Aber noch fällt es mir so leichter, dich zu dirigieren. Ich hab nicht genug mit dir geübt, um mich mit dir zu verständigen.“ Er sparte sich die Rüge, daß sie ihn nicht so neunmalklug und vorlaut auskontern sollte. Dafür war gerade der falsche Zeitpunkt, auch wenn es ihn im Angesicht der gesamten Truppe arg gereizt hätte, etwas zu sagen.   „Ich bestätige 47 Ziele“, merkte Ayax an, als sie sich nach der Decke umsah. Schuldig warf ihr einen fragenden Blick zu, weil er nicht verstand. „Ziele?“ „Wärmesignaturen.“ „Du meinst Menschen?“ „Richtig.“ „Hast du einen Röntgenblick?“ „Infrarot.“ „Durch Stahlbeton-Mauern hindurch?“, wollte der Telepath ungläubig wissen. „Zeig mir das, das will ich auch sehen.“ Er schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf die telepathische Verbindung zu seiner Waffe. Ayax ließ ihn mit ihren Augen sehen. Tatsächlich konnte er durch beide Keller-Etagen und alle drei überirdischen Stockwerke hindurch sämtliche Menschen im Gebäude als rote Silhouetten wahrnehmen. Das gewaltsame Eindringen einer schwer bewaffneten Kampftruppe war natürlich längst bemerkt worden. Die meisten Leute, die hier arbeiteten, kauerten verängstigt auf einem Haufen und beteten wohl, nicht gefunden zu werden. Andere suchten nach notdürftigen Schlagwerkzeugen, um sich zu verteidigen. Einer versuchte noch panisch alle Computer herunter zu fahren und die streng geheimen, wissenschaftlichen Daten zu sichern. „Was suchen wir?“, wollte Ayax wissen. „Ein Mädchen“, gab Schuldig ihr abgelenkt Auskunft, noch viel zu fasziniert von dieser grandiosen Fähigkeit. „In dieser Einrichtung ist kein Mädchen.“ „Bist du sicher?“ „Ich lokalisiere fünf Frauen unter den Zielen. Aber keine davon ist jung genug, um noch als Mädchen durchzugehen. Alles Wissenschaftlerinnen.“ Schuldig ließ die telepathische Verbindung in den Hintergrund rutschen, öffnete seine Augen wieder und schaute sich in dem Gang um, den er gerade mit seinen Truppen besetzt hielt. Kein Mädchen. Und Takatori hatte drei Gebäude gleichzeitig angreifen lassen. Dann war das gesuchte Mädchen sicher wo anders. Bestimmt würden Crawford oder Farfarello erfolgreich sein. Also kein Grund, hier noch weiter Zeit und Nerven zu verschwenden. Er nickte dem Truppenführer auffordernd zu. „Ihr habt sie gehört. Abrücken. Wir verschwinden.“ „Und dann?“, hakte der Mann irritiert nach. „Was dann?“ „Naja ... gehen wir einfach?“ „Jagt den gesamten Gebäudekomplex in die Luft“, trug Schuldig ihm auf. „Was!? Hier sind noch Menschen drin!“ „Zeugen, Kumpel. Ich bin sicher, du willst keine Zeugen.“ „Was ist mit den Forschungen, die hier betrieben wurden? Den Unterlagen? Den Präparaten! Den technischen Einrichtungen!? Dem Lager!? Hier könnten chemische Kampfstoffe gelagert sein!“ „Sprengen, hab ich gesagt!“, beharrte Schuldig stur. „Schnell, gründlich und mit allem, was drin ist. Hier bleibt gefälligst kein Stein auf dem anderen.“ Der Soldat seufzte unglücklich, diskutierte aber nicht weiter. „Ja“, meinte er nur zerknirscht und trollte sich, um dem Befehl nachzukommen. Als Kämpfer einer Privatarmee waren sie ja allesamt nicht gerade aus Zucker. Aber dieser elende, rothaarige Spezi, der in seiner Arroganz nichtmal eine Schussweste trug, übertraf an Kaltherzigkeit und Gewissenlosigkeit wirklich alles, was er jemals erlebt hatte. Kein Wunder, daß er bis in Takatoris Sondereinheit Schwarz aufgestiegen war. Kapitel 5: ----------- 05 Crawford sah gelangweilt auf seine Armbanduhr. Es gab nichtmal einen Plan, den er im Kopf nochmal hätte durchgehen können. Zugang verschaffen und dann systematisch alles von hinten nach vorn durchkämmen, fertig. Mehr war zu ihrem Auftrag nicht dazu. So wie er auf die Uhr schaute, sauste draußen der Zug an ihm vorbei. Quasi auf die Sekunde genau. Gute, japanische Pünktlichkeit. „Okay, und los!“, rief der Soldat neben ihm ins Funkgerät. Der Eisenbahnwagen, in dem sie sich selber befanden, wurde von einer Trieb-Lok geschoben, die sich auf Befehl in Bewegung setzte. Sie ratterten vom Nebengleis auf die Hauptschienen, nahmen die Verfolgung auf und wurden rasch schneller. Bis sie ihn eingeholt hatten, würden sie auch weit genug draußen in der menschenverlassenen Pampa sein, um keine Zeugen zu riskieren. Denn das Abstellgleis, auf dem sie Position bezogen hatten, lag immerhin noch in der Nähe eines Bahnhofs. Sie würden von hinten an den Zug andocken und hinüberklettern. Während der Fahrt. Das konnte spaßig werden. Bei dem Zielobjekt handelte es sich um einen Gefangenentransport. Er war nicht schnell unterwegs, aber schwer bewacht. Das Gefährt kam vor ihnen langsam wieder in Sicht. Ein recht unscheinbarer, auf unmodern getrimmter Personenzug. Von außen sollte man ihm nicht ansehen, was er tatsächlich transportierte. Das bruchsichere Fensterglas und die verstärkten Türen fielen von außen gar nicht auf und auch das militärische Personal ließ sich bei der Durchfahrt durch die Bahnhöfe nicht blicken. Crawford konnte jetzt schon ganz genau orakeln, wie viele bewaffnete Wachleute ihnen da drin begegnen würden. Aber auf den Gefangenen, den sie suchten, fand er nach wie vor keine Hinweise. Das machte ihn langsam stutzig. Je näher ein Geschehen rückte, desto klarer und detaillierter konnte er es für gewöhnlich vorhersehen. Und sie waren immerhin schon kurz davor, diesen fraglichen Zug zu kapern. Es würde sich nur noch um Minuten handeln, nicht mehr um Stunden oder Tage. Es gab einen leichten Ruck, als sie von hinten auf den Gefangenen-Zug auffuhren, die Prellpuffer der Kupplung den Stoß auffingen und die Kupplung automatisch verriegelte. Sie hatten angekoppelt. „Mit wieviel Widerstand ist zu rechnen?“, wollte der Gruppenführer von ihm wissen. „Hinter der ersten Tür sind drei bewaffnete Zugbegleiter, hinter der zweiten Tür nochmal drei, die durch eure Schüsse in Alarmbereitschaft versetzt werden und euch schon erwarten werden. Dann sehen wir weiter.“ Ein Nicken. Die ersten Soldaten kletterten sofort vom Wagon auf den anderen Zug hinüber und stürmten ihn. Alles passierte bei voller Fahrt. Sie würden sich nicht die Mühe machen, den Zug anzuhalten. Fast augenblicklich fielen Schüsse. Crawford ließ sich Zeit. Er hatte keine Lust, sich an dem Gemetzel zu beteiligen. Er war einer der letzten, der auf den vorderen Zug hinüberkraxelte. Stattdessen suchte er angestrengt weiter nach der Zielperson. Wieso sah er sie noch nicht? „Der Wagon ist sauber. Wir rücken vor in den nächsten“, meldete der Truppenführer seiner Einheit. Crawford schüttelte den Kopf. „Wir brechen die Mission ab und ziehen uns zurück. Die Zielperson ist nicht hier.“ „Aber nach unseren Informationen ist der Gefangene im dritten Wagon!?“ „Ja, die transportieren im dritten Wagon einen Gefangenen“, hielt Crawford belehrend dagegen. „Aber nicht den, den wir suchen.“ Vor ihnen wurde Fluchen laut, vermischt mit neuerlichen Schüssen. „Der Pisser hat uns abgekoppelt!“, schrie jemand. Tatsächlich nahm ihr Wagen spürbar an Fahrt ab, nun wo er nicht mehr gezogen wurde. Die Wachleute aus dem nächsten Wagon hatten wirklich schnell reagiert, alle Achtung. Crawford zuckte nur mit den Schultern. „Lasst sie entkommen und sag dem Fahrer unserer Trieb-Lok, er soll uns in den nächsten Güterbahnhof schieben.“ „Du machst es dir einfach, Oracle. Takatori wird nicht begeistert sein.“ „Er wird auch nicht begeistert sein, wenn wir noch mehr Männer opfern und die Zielperson trotzdem nicht finden. Mach dir lieber Gedanken darum, wie wir die Leichen hier loswerden. Jemand wird sie sicher vermissen.“     Als Nagi ins Büro kam, spielte Takatori drinnen schon wieder Zimmer-Golf mit seinem elenden Golfschläger. „Guten Tag, Chef“, grüßte der Junge möglichst neutral. „Du bist zu spät“, erwiderte der missgelaunt. „Seit wann sind Sie denn mal pünktlich? Damit rechnet ja keiner!“, hielt Nagi zynisch dagegen. „Nicht frech werden, Freundchen! Tu lieber deinen Job!“ „Keine Sorge. Es wird alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigt werden“, versicherte Nagi ihm und dachte insgeheim daran, wie Schuldig diese Aussage wohl wieder gewertet hätte. Dabei ließ er sich auf dem Sofa in der Sitzecke nieder, welches für Besucher wie ihn vorgesehen war. Es war ungewohnt, allein hier zu sein und sich selber mit Takatori herumschlagen zu müssen. Takatori verschwand hinter seinem Schreibtisch und zog eine Schublade auf, um eine Akte heraus zu holen, die er autoritär auf die Tischplatte klatschte. „Es geht um einen gewissen Hoshite Ieyoshi, drüben in Sapporo“, kam er sofort zur Sache. Nagi streckte stoisch die Hand nach der Akte aus, die sich daraufhin in die Luft erhob und ihm im Ganzen entgegenflog. Telekinese war schon eine nützliche Fähigkeit. Er überlegte, welche Fragen sein Ziehvater Crawford jetzt wohl stellen würde. „Sollte ich den Herrn kennen?“, wollte er wissen und blätterte. In der Akte kam außer ein paar Fotos von einem Friedhof nicht viel zum Vorschein. „Nein. Nur ein Firmenbesitzer, das ist alles.“ „Ich nehme an, ich soll ihn beseitigen. Ist er Ihnen im Weg? “ „Er ist bereits tot“, klärte Takatori ihn auf und deutete auf die Akte in Nagis Händen. „Er hat aber ein Geheimnis mit ins Grab genommen, und zwar wortwörtlich. Er wurde mit einer rätselhaften Kerze beerdigt.“ „Eine Kerze?“, machte Nagi ungläubig. „Mein Gott, du wirst doch wissen, was eine Kerze ist!? Ein Wachs-Klumpen mit Docht! Wird für gewöhnlich angezündet um nette Stimmung zu machen!“ Der junge Hacker schluckte Takatoris Beleidigung kommentarlos herunter. Natürlich wusste er, was eine Kerze war. Aber was sollte an einer Kerze so mysteriös sein? „Bring mir diese Kerze, die da mit ihm zusammen begraben wurde.“ Auch dazu sagte Nagi nichts. Jetzt wurde er also schon zum Grabschänder degradiert. Was für eine Verschwendung seiner Talente. Aber egal. Vergnügungssteuerpflichtig war sein Job ja ohnehin noch nie gewesen. „Was ist so besonders an dieser Kerze?“, hakte er lediglich noch nach. Er hoffte, daß die nicht mit eingeäschert worden war, sondern erst nachträglich zur Urne hinzu gepackt wurde, sonst konnte das eine lustige Angelegenheit werden. „Das werde ich sehen, wenn ich sie habe.“ „Sie wissen nichtmal, warum Sie diese Kerze überhaupt haben wollen?“ „Ich weiß jedenfalls, daß es dich nichts angeht!“, zischte Takatori gereizt. „Jetzt zieh schon Leine, du Grünschnabel! Ein bisschen plötzlich! Hinter der Kerze sind noch andere Leute her! Du hast nicht den ganzen Monat Zeit!“ Nagi ließ sich nicht hetzen. Er dachte nach, während er weiter die Fotos und Notizen aus der Akte studierte. Schließlich wollte er nichts übersehen, bevor er die Mission antrat. Noch dazu alleine. Eine Kerze also. Es gab verschiedene Möglichkeiten, was es damit auf sich haben könnte. Auf der Kerze könnte ein Text geschrieben stehen. Oder das Wachs hatte eine dubiose chemische Zusammensetzung. Aber das würde er wohl vor Ort feststellen müssen. Was zur Hölle war in letzter Zeit nur mit ihrem Boss Takatori los? Der erteilte neuerdings nur noch so kryptische Aufträge, ohne selber zu wissen, warum, und ohne Informationen zu den Zielpersonen und Zielobjekten geben zu können. Wusste er wirklich nichts, oder wollte er nur nichts verraten? Vertraute er seiner Spezialeinheit Schwarz etwa nicht mehr? Nagi kam das sehr eigenartig vor.     Farfarello ließ unauffällig den Blick schweifen. Man wusste ja nie, wem man in so dubiosen Kneipen über den Weg lief. Hier war es schummrig und schmierig. Nicht gerade gehobenes Ambiente. Und der Whisky, an dem er bisweilen nippte, schmeckte auch irgendwie gepanscht. Ihm Gegenüber saß ein Kerl, der so durchschnittlich war, daß selbst sein billiger Anzug von der Stange nicht darüber hinwegtäuschen konnte. Mittlere Größe, stabile Statur, Allerwelts-Haarschnitt, eckige Brillenfassung aus dem Supermarkt. So ein Typ, den man sah und sofort wieder vergaß. Das war grundsätzlich nicht schlecht, wenn man in diesem Gewerbe arbeitete. Aber sehr erfolgreich war er offensichtlich nicht, sonst hätten zumindest eine teure Armbanduhr oder ein goldenes Kettchen ihn verraten. Farfarello achtete auf solche Details an seinem Gegenüber. Akimura hier war kein ernstzunehmender Krimineller. Nur ein kleiner Gauner, der Yakuza spielen wollte. Farfarello stellte sein Whiskyglas zur Seite und griff stattdessen nach der winzigen Phiole, die ihm von seinem durchschnittlichen Geschäftspartner herübergeschoben worden war. Er kippte das Glasbehälterchen, so daß die Flüssigkeit darin herum schwappte. Dann hielt er sie gegen das trübe Dämmerlicht der Deckenlampe. Keine Ahnung, was er erwartet hatte, aber definitiv nichts so Unspektakuläres. Das da drin hätte gut und gern Leitungswasser sein können. „Ich versichere dir, daß es wirken wird“, warf Akimura ein, dem Farfarellos Argwohn wohl nicht entgangen war. „Möchte ich dir auch geraten haben. Was muss ich damit beachten?“ „Nun ...“, begann sein Lieferant etwas verunsichert. „Es sind klassische Tuberkulose-Bakterien in Nährlösung. Normalerweise ist es recht schwer, sich damit anzustecken. Nur bei jedem zehnten bricht nach einer Infektion die Krankheit auch tatsächlich aus, und zwar vorrangig bei Leuten, die sowieso ein geschwächtes Immunsystem haben. Aber das Zeug hier ist so hochkonzentriert, daß ein Immunsystem in unseren Breitengraden damit garantiert überfordert sein wird. Tödlich verläuft die Krankheit, wenn die Diagnose zu spät gestellt wird. Und dafür stehen die Chancen recht gut. Ich meine, wer rechnet hierzulande bei einem Husten schon gleich mit TBC?“, erzählte der Kerl weiter. „Also hast du zwar keine Garantie, aber zumindest recht gute Chancen, dein Opfer damit um die Ecke zu bringen. Da die Ansteckungsmöglichkeiten für TBC quasi grenzenlos sind, wird kein Mensch drauf kommen, daß es Mord war.“ Farfarello nickte und drehte die Phiole weiter im Licht. „Interessant, aber das wollte ich nicht wissen.“ „Achso, ja ... was es zu beachten gibt ...“, erinnerte sich Akimura. „Natürlich darfst du das Zeug nicht selber einatmen oder anderweitig mit den Schleimhäuten in Kontakt bringen. Trag lieber Handschuhe und Mundschutz, wenn du irgendwas damit präparierst. Am besten schüttest du es in irgendein Getränk, das nicht kochend heiß ist. In Europa hat man sich früher ganz gerne mal an Frischmilch von infizierten Kühen angesteckt. Einer der Gründe, warum Milch inzwischen pasteurisiert wird.“ „Klingt machbar“, urteilte Farfarello nüchtern. „Darf ich fragen, auf wen du es damit abgesehen hast?“ Die Antwort – sofern es tatsächlich eine gegeben hätte – musste warten, da in diesem Moment Farfarellos Handy vibrierte. Er angelte das summende Ding vom Tisch, warf einen abschätzenden Blick auf das Display und wägte sichtlich ab, ob er den störenden Anruf jetzt wirklich annehmen musste. Aber das war immerhin Crawford, da musste er schon rangehen. „Hey, was gibt´s?“, wollte er salopp wissen. „Schreit der Boss mal wieder nach uns?“ „Nein, ich wollte nur wissen, ob alles okay ist. Wie läuft deine Mission?“ „Du kennst mich doch“, hielt Farfarello verständnislos dagegen. Die Frage beantwortete er damit wohlweislich nicht. „Wo bist du gerade?“, fragte Crawford skeptisch nach, dem die Spielunken-Geräusche im Hintergrund nicht entgingen. „Das klingt nicht, als wärst du mit einer Kampftruppe unterwegs!“ „Was geht´s dich an?“ „Wir sind auf Mission, Mann!“ „Und? Die Mission wird ja auch ausgeführt.“ „Von wem?“ „Meine Truppen sind vor Ort und kümmern sich um alles, was ihnen aufgetragen wurde. Meine persönliche Anwesenheit ist nicht notwendig. Also nutze ich meine Zeit besser. Es kommt immerhin selten genug vor, daß ihr mich mal raus lasst.“ „Takatori wird dich lynchen!“, hielt Crawford ihm sauer vor. „Zur Kenntnis genommen. Dann schönen Abend noch.“ Statt auf weitere Einwände zu warten, legte er einfach auf und steckte das Handy weg, um nicht nochmal davon gestört zu werden. Ein genervtes Kopfschütteln. „Probleme?“, vermutete Akimura. „Nein, alles bestens. Was ich in meiner Freizeit treibe, geht meine Chefs nichts an. Und was sie in ihrer treiben, interessiert mich auch nicht. - So, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, in ein nicht zu heißes Getränk kippen.“ Das kleine Glasfläschchen folgte dem Handy in Farfarellos Jackentasche. Akimura flocht seine Finger zu verschlungenen Knoten. „Hast du das Geld vielleicht schon dabei?“ „Natürlich nicht! Was weiß ich denn, was du mir hier verkaufst!? Lama-Spucke? Das Geld bekommst du, wenn ich mich von der Wirkung überzeugt habe.“ „Aber ich könnte die Kohle wirklich brauchen. Komm schon, ich hab Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu erledigen, was du mir aufgetragen hast.“ „Willst du eine Kugel im Kopf als Vorschuss?“, schlug Farfarello düster vor und brachte den durchschnittlichen, kleinen Gangster damit zum Schweigen. „Du wirst dein Geld kriegen. ... Wenn die Ware geprüft und in Ordnung ist.“ „Und wann wird das sein?“ Farfarello verdrehte genervt sein eines, verbliebenes Auge. „Vielleicht morgen, vielleicht in einer Woche, vielleicht in zwei. Wer weiß das schon!? Es dauert so lange wie es eben dauert.“ „Das ist zu spät! So viel Zeit hab ich nicht mehr!“, jaulte Akimura auf. „Weißt du, was das Schöne an diesem Problem ist? Es ist deins!“, kommentierte er gehässig. Sicher hätte er gelacht, wenn er in der Lage gewesen wäre, zu lachen. Aber Farfarello hatte noch nie gelacht. Also genoss er es einfach nur, den kleinen Jammerlappen zappeln zu lassen. Er stand mit einem verabschiedenden Nicken auf und zog in aller Ruhe von dannen. Wie in Japan üblich, bezahlte er seine Getränke beim Gehen an der Kasse neben der Tür, dann war er weg.     Crawford marschierte ruhelos im Zimmer hin und her wie eine Patrouille. Nach Abschluss seiner Mission war er sofort zu Farfarellos Einsatzort aufgebrochen, auch in dem Wissen, daß Farfarello sich anderswo herumtrieb. Seine Einheit hatte allerdings auch ohne ihn kräftig aufgeräumt. Wo Farfarello hin war, hatte man ihm aber nicht sagen können. Also blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten, bis der Kerl von selber wieder auf die Bildfläche trat. Nun hockte er zur Untätigkeit gezwungen im Schwarz-Hauptquartier. Wie er das hasste. Gerade wenn es um Farfarello ging. Der Kerl konnte jederzeit und überall ein Blutbad anrichten, wenn bei ihm eine Sicherung rausschnappte. Crawford überlegte, ob er inzwischen mal bei Nagi anrufen und fragen sollte, wie es bei ihm eigentlich so lief. Oder lieber eine bewaffnete Truppe, die loszog und Farfarello suchen ging. Aber die wären, sollten sie Farfarello tatsächlich finden, wohl kaum lebend zurückgekehrt. Zuviel Aufsehen. Er sollte Farfarello lieber noch eine gewisse Frist einräumen, freiwillig her zu kommen. Die Tür öffnete sich mit dem üblichen Quietschen und ließ Crawford Haltung annehmen. Aber der Neuankömmling war nur Schuldig mit seiner Waffe Ayax. Wobei „nur“ an dieser Stelle ja ein unpassender Begriff war. Crawford freute sich natürlich außerordentlich, daß der Telepath wohlbehalten wieder zurück war. Dennoch wäre er in diesem Moment auch nicht böse darüber gewesen, wenn es Farfarello gewesen wäre. Mit einem halb fröhlichen, halb enttäuschten Seufzen ließ er sich auf das Sofa fallen, während er Schuldigs legeren Gruß erwiderte und ihm dabei zusah, wie er seine Pistole sicherte, das Magazin herausnahm und beides getrennt voneinander ablegte. „Und? Hast du dieses ominöse Mädchen gefunden, das wir suchen sollten?“, erkundigte sich Schuldig beiläufig. „Nein.“ „Ich auch nicht. ... Und Farfarello wohl auch nicht, wenn ich mir deine miesepetrige Laune so ansehe“, fügte der Telepath noch hinzu, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. „Farf‘ hat auf die Mission gepfiffen.“ Schuldig lachte schallend auf, was Crawfords Stimmung gleich noch etwas weiter in den Minusbereich fuhr. „Hätte mich auch sehr gewundert, wenn er brav mit seiner Truppe seiner Aufgabe nachgekommen wäre. Was hast du erwartet?“ „Ich weiß, was ihn erwartet, wenn er hier aufkreuzt!“, maulte Crawford. „Ja? Was denn zum Beispiel?“, mischte sich eine Stimme aus dem Hintergrund ein, die beide erschrocken herumfahren und sogar Ayax in Lauerstellung gehen ließ. Da Schuldig die Tür beim Hereinkommen halb offengelassen hatte, war das typische Quietschen ausgeblieben, das Farfarello hätte verraten können. Darum stand er erstaunlich überraschend mitten im Zimmer. Crawford fing sich als erster wieder. „Du!“, fluchte er anstelle einer Begrüßung und schnellte vom Sofa hoch. „Wo bist du gewesen, du Knallerbse!?“ Farfarello zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Meine Mission wurde doch erfüllt, oder nicht? Also was bläst du dich so auf?“ „Du weißt sehr genau, warum! Rennst einfach draußen rum! Ohne Aufsicht! Ohne jemandem zu sagen wo du bist! Lässt uns einfach in dem Glauben, daß ...“ „Ich bin es leid, ständig einen Aufpasser an der Backe zu haben! Ihr behandelt mich wie ein uneinsichtiges Kleinkind, das man an der Hand führt!“ „Ja, und du weißt selber, daß das notwendig ist! Hast du eine Ahnung, was losgehen würde, wenn du alleine draußen rumrennst und von der Polizei aufgegriffen wirst?“ „Glaubst du denn, ich würde mich einfach widerstandslos aufgreifen lassen?“, hielt Farfarello bockig dagegen. Nein, eben nicht. Das war ja das Problem. Aber Crawford hatte keine Lust mehr, zu diskutieren. Man musste ja quasi dankbar sein, daß der Kerl überhaupt wieder zurückgekommen war, und das sogar noch zeitnah. Trotzdem packte er den weißhaarigen Iren mit einem unerbittlichen „Du wanderst sofort zurück in deine Zelle!“ am Kragen und wollte ihn zur Tür bugsieren. Farfarello begann zeternd um sich zu schlagen und zu treten, um wieder los zu kommen. Er wollte durchaus nicht wieder mit einer Zwangsjacke in einer Gummizelle sitzen wie ein Freak, solange isoliert, vergessen und eingelagert bis er mal wieder für irgendeine von Takatoris Missionen gebraucht wurde. Wider Erwarten ließ sich Crawford tatsächlich auf die Rangelei mit dem durchgedrehten Psycho ein und versuchte sich zu behaupten. Anders konnte man ihm kaum klarmachen, daß man der Boss war. Man musste ihn besiegen. Mit seinen hellseherischen Fähigkeiten fiel es ihm zunächst auch nicht schwer, Farfarellos Aktionen zu händeln. Bis aus dem sprichwörtlichen Nichts eine Messerklinge aufblitzte. Im gleichen Moment ging auch schon Ayax dazwischen, um die zwei zu trennen und den Kampf zu beenden.   „Dieser ... Dieser Mensch!“, maulte Crawford. „Ich fasse es nicht, daß die Knalltüte tatsächlich mit einem Messer auf mich losgeht!“, beschwerte er sich und steckte beleidigt den Zeigefinger durch ein Loch im Ärmel seiner Anzugjacke. Schuldig winkte achtlos ab. „Das ist Farf‘. Du kennst ihn. Wenn bei ihm das Gehirn aussetzt, passiert sowas. Genau darum sperren wir ihn ja weg.“ Brad Crawford pflanzte sich ermattet auf sein Sofa. Der Hellseher und Schuldig hatten sich wieder in ihrem kleinen Schwarz-Hauptquartier eingefunden, um die Mission auszuwerten. Farfarello war schon längst in eine Zwangsjacke gestopft und in seine Zelle zurück gesperrt worden, bis er wieder klar im Kopf war. Den Kerl konnte man nicht alleine lassen. Dann neigte er zu Selbstverstümmelung und Selbstmord. Aber weder Crawford noch Schuldig hatten gerade die Nerven, auf ihn aufzupassen, bis er sich wieder eingekriegt hatte. „Na schön“, meinte er in einem Tonfall, der ganz klar einen Themenwechsel einleitete. Er kam wohl endlich zum Geschäftlichen, nachdem ihr Kollege wieder sicher verwahrt war. „Takatori hat uns auf drei Ziele gleichzeitig angesetzt, aber keiner von uns hat ein Mädchen gefunden“, fasste er zusammen. „Ja. Es gab also einen Haufen sinnloser Leichen und keine Ergebnisse. Entweder hatte Takatoris Auftrag einen anderen Zweck, den er uns bloß nicht verraten wollte, oder er ist verdammt schlecht informiert.“ „Aus strategischer Sicht war es unnötig, die Einrichtung zu sprengen“, warf Ayax im Plauderton ein, als wüsste Schuldig nicht selbst, auf wessen Konto die sogenannten sinnlosen Leichen gingen. „Ob das nötig war, entscheide immer noch ich! Du hast mir keine Moralpredigten zu halten, merk dir das!“, blaffte Schuldig sie gereizt an. Dabei warf er seine Jacke neben Crawford auf das Sofa, weil es hier keine Kleiderhaken gab. „Hab ich was falsch gemacht? Warum bist du plötzlich wieder so garstig?“, fragte Ayax ruhig nach. „Was heißt hier 'wieder'? Immer noch!“ „Während der Mission hast du ganz normal mit mir geredet. Und jetzt bist du plötzlich wieder ablehnend.“ „Weil ich Profi bin und mich zusammenreißen kann. Wir haben uns da drin mit Waffengewalt durch ein bewachtes Gebäude geschlagen. Da habe ich meine Wut auf dich natürlich ausgeblendet, weil ich andere Probleme hatte.“ „Und jetzt, wo die Mission vorbei ist, wirst du gleich noch ein zweites Mal auf mich wütend? Ohne neuen Anlass?“ Schuldig atmete genervt durch. „Du verstehst wirklich nichts von der menschlichen Psyche. Wie auch? Du hast ja nur ein paar Schaltkreise da oben drin, die Programme abspielen!“, nörgelte er und tippte sich dabei gegen die Stirn. „Ist irgendwas passiert?“, mischte sich Crawford mit verschränkten Armen ein, weil er der Meinung war, sich den Streit jetzt lange genug angehört zu haben. „Sie hat mich betrogen!“, zeterte Schuldig und zeigte vehement anklagend mit dem Finger auf die Waffe. „Ich habe dich nicht betrogen“, hielt die dagegen, nach wie vor freundlich und die Ruhe in Person. Sie wirkte dabei in ihrem fehlenden Ärger sehr unauthentisch. Jeder normale Mensch, der unberechtigt des Betrugs angeklagt wurde, wäre definitiv emotionaler gewesen. Beleidigt oder sauer oder was auch immer. Es waren solche winzigen Kleinigkeiten, die sie dann doch verrieten, wenn man genau hinsah. „Du bist verlogen und ... ach, scher dich zur Hölle!“ „Ich habe dich nie angelogen.“ „Du bist kein Mensch!“ „Ich habe auch nicht behauptet einer zu sein.“ „Du hast es mir aber vorgegaukelt!“, tobte Schuldig weiter. „Du hattest ja kein Problem damit, daß ich dir das vorgaukle“, erklärte Ayax so seelenruhig wie ehedem. „Du wolltest es ja förmlich.“ „Ich hätte aber ein Problem damit gehabt, wenn ich gewusst hätte, daß du keiner bist!“ „Ich befolge Befehle und Wünsche. Du hast mir aufgetragen, eine Frau zu sein, also war ich für dich eine.“ „Ach, leck mich doch!“ Ayax zog die Augenbrauen hoch. „Ist das ein ernst gemeinter Befehl?“ „NEIN!!!!“ Crawford schloss die Augen und massierte sich den toten Punkt über der Nasenwurzel, während er diesem Rosenkrieg unbeteiligt weiter folgte. Konnten die beiden das nicht auf der telepathischen Ebene austragen, um ihre Umgebung nicht damit zu belästigen? Aber scheinbar passte sich Ayax bei der Wahl der Kommunikationsmittel ihrem Besitzer an, und für den war die verbale Methode wohl gerade einfacher. „Welche Konsequenzen gedenkst du daraus jetzt zu ziehen?“, wollte Ayax wissen und ließ sich auch weiter nicht aus der Reserve locken. Schuldig warf ihr einen düster-nachdenklichen Blick zu und sagte nichts. Er schien selber erstmal darüber grübeln zu müssen, was er denn nun tun wollte. Plötzlich weiteten sich die Augen von Ayax ungläubig. „Ooooh nein! Vergiss es! Das wirst du lassen!“, verlangte sie drohend, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Wahrscheinlich hatte sie das tatsächlich. Sie war ja telepathisch mit Schuldig verbunden. Crawford sah mit betont müdem Blick wieder auf, um zu erfahren, was los war. „Warum nicht? Wenn es keinen anderen Weg gibt, dich los zu werden!?“, meinte der Telepath mit gehässigem Schmunzeln. „Du hast keinen Grund, mich loszuwerden.“ „Ich brauche keinen Grund, dich loszuwerden! Ich wollte dich ja nicht mal haben! Du hast dich ungefragt an mich geheftet, ohne mir eine Wahl zu lassen!“ Ein heftiger Kopfschmerz explodierte in seinem Kopf und setzte ihn auf der Stelle außer Gefecht. Schuldigs Hände zuckten zu seinen Schläfen. Der Schmerz war so scharf, daß er die Augen nicht mehr aufbekam. Sein eigener Herzschlag dröhnte in seinen Ohren und störte sein Gleichgewichtsgefühl empfindlich. Mit einem gepressten Stöhnen brach er in die Knie, weil er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Dieser Druck in seinem Kopf zwang ihn zu Boden. Er hatte das Gefühl, daß sein Gehirn gerade langsam von einer Schrottpresse zermatscht wurde. „Schuldig!“, entfuhr es Crawford erschrocken. Er sprang vom Sofa hoch und zog reflexartig seine Pistole. Als Schuldig versuchte, die telepathische Verbindung zu Ayax irgendwie abzubrechen oder wenigstens zu dämpfen, kochte der Schmerz zur Strafe erst recht hoch und ließ seinen ganzen Körper krampfen, so daß er diesen Versuch sofort wieder unterließ. Er kippte aus seiner noch sitzenden Haltung endgültig um und rollte sich qualvoll ächzend auf der Seite zusammen. „Lass ihn los!“, verlangte Crawford und legte auf Ayax an. „Nimm die Knarre runter, sonst ist er tot!“, gab die Waffe finster drohend zurück. Wie zur Bestätigung jaulte Schuldig in diesem Moment besonders schmerzhaft auf und verdrehte sich in eine groteske Pose, als könne das das Stechen in seinem Kopf beenden. Natürlich tat es das nicht. Crawford fluchte innerlich. Er hatte keinen Zweifel daran, daß AX-4 ihn wirklich umbringen konnte, wenn sie wollte. Er musste sie irgendwie ausschalten. AX-4 hatte in ihrer humanoiden Gestalt eine Schwäche. Eine kleine nur, aber sie war da. Omi hatte ihm verraten, wie man diese Waffe unschädlich machen konnte. Crawford glaubte in diesem Moment auch nicht, daß Omi ihn angelogen hatte. Die Frage war eher, welchen Effekt es auf Schuldig haben würde, der ja telepathisch mit ihr rückgekoppelt war. Würde er genauso Schaden nehmen? Und vor allen Dingen: war Crawford überhaupt so ein guter Schütze, die kleine Schwachstelle aus dieser Entfernung zu treffen? Er pflegte ja doch eher eine amerikanische Schusstechnik: möglichst viel Blei verteilen und darauf hoffen, daß schon irgendwas sein Ziel traf. „Ich werde nicht zulassen, daß mein Besitzer sich von mir trennt, indem er mich zerstört. Wenn er mir schaden will, werde ich ihm die Handlungsfähigkeit nehmen.“ „Ja, und weiter?“, wollte Crawford aufgekratzt wissen. Diese akut umgeschlagene Situation überforderte ihn mehr als ihm lieb war. „Wer soll dir dann Anweisungen geben, wenn du keinen mündigen Besitzer mehr hast?“ „Ich HABE meine Anweisungen. Ihn brauche ich dafür nicht“, stellte Ayax stoisch klar, packte den vor Schmerzen wimmernden Telepathen am Kragen und stürzte sich mit ihm völlig unvermutet direkt aus dem offenen Fenster. Crawford blieb die Luft weg. Panisch und keuchend stolperte er ebenfalls zum Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Vier Stockwerke bis zum Fußweg. Und unten war nichts. Gar nichts. Ayax und Schuldig waren spurlos verschwunden, als wären sie nie hier gewesen. Die Waffe musste mit ihm bereits auf und davon sein. „Scheiße, ist das Biest schnell!“, fluchte Crawford, aber so sehr er sich auch die Augen aus dem Kopf stierte, die beiden blieben weg. Er fand sie nirgends wieder. Er machte sich keine Sorgen, daß Schuldig beim Sturz aus dem Fenster irgendwas passiert war. Die Waffe würde schon dafür gesorgt haben, daß er heil unten ankam. Aber Schuldig war jetzt allen Ernstes in der Gewalt dieser ausgetickten Maschine. Sie hatte ihn gekidnappt und verschleppt, Gott weiß wohin, und keiner konnte sagen, welche Pläne sie jetzt verfolgte. Schuldigs Ablehnung hatte offenbar ein Selbsterhaltungs-Programm in ihr initiiert. Nicht auszudenken, welche weiteren Schritte dieses Programm vorsehen mochte. Crawford musste die beiden schnellstmöglich wiederfinden! Kapitel 6: ----------- 06 „Farfarello, Besuch für dich“, hörte er den Wärter sagen. Farfarello, der in seine Zwangsjacke eingeschnürt auf der Pritsche lag, öffnete die Augen und warf einen Blick in die Runde. „Ach, Fuck, Mensch. Du gönnst einem aber auch gar keine Ruhe ...“, grummelte er, als er den Neuankömmling sah. „Was ist, Crawford? Schreit der Boss schon wieder nach uns?“ „Nein, diesmal schreie nur ich“, erwiderte Crawford humorlos und sparte sich eine Begrüßung. Solche Sprüche konnte er gerade gar nicht vertragen. „Ich brauch deine Hilfe, Farfarello. Du hast doch sicher Lust auf noch mehr Action.“ „Lass mal hören.“ Er setzte sich auf, um Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. „Ayax ist gerade ausgebüchst. Sie hat Schuldig als Geisel genommen und ist mit ihm abgehauen.“ „Hoppla. Wie ist das denn passiert?“ „Sie lehnt sich plötzlich gegen ihren Besitzer auf und scheint Schuldig nicht mehr zu gehorchen. Ich weiß auch noch nicht genau, was da schiefläuft.“ „Sag nichts. Ich ahne es schon. Du willst unsere kleine Prinzessin jagen.“ Nun stand er sogar auf und kam die paar Schritte bis zum Zellengitter. Crawford musterte ihn eingehend. „Du bist wackelig auf den Beinen.“ „Lenk nicht vom Thema ab. Hast du einen offiziellen Auftrag von Takatori bekommen oder nicht?“ „Nein.“ „Du willst sie privat ins Visier nehmen? Ohne mich!“, entschied Farfarello. „Wenn der Boss seine dämliche Waffe wiederhaben will, soll er uns wenigstens einen Auftrag geben und uns dafür bezahlen.“ „Ich pfeife auf Ayax! Ich will Schuldig wiederhaben!“, stellte Crawford klar. Ernsthaft? Farfarello kräuselte fragend die Stirn. „Seit wann das denn? Ich dachte, wer verschütt‘ geht, hat Pech gehabt. Wir sind doch nicht die Musketiere, mit «einer für alle, alle für einen», und so.“ „Er ist unser Freund!“ „DEIN Freund, Crawford! DEINER!“, präzisierte der Gefangene und hätte sicher anklagend mit dem Zeigefinger auf Crawford gezeigt, wenn er nicht in einer Hab-mich-lieb-Jacke gesteckt hätte. „Solche Rettungsaktionen stehen nicht auf unserer Agenda. Wir haben ihn vor dieser Waffe gewarnt.“ „Schuldig kann doch nichts dafür. Er hat sich das nicht ausgesucht. AX-4 hat sich ungefragt an ihn geheftet.“ „Darum geht´s gar nicht“, predigte er auf seinen Team-Chef ein. Die Arme vor der Brust zu verschränken, fiel ihm in der Jacke nicht schwer. „Wir haben uns ausdrücklich darauf geeinigt, uns nicht heldenhaft gegenseitig zu retten, wenn wir uns damit selber in Gefahr bringen. Damit wir am Ende nicht allesamt in der Tinte sitzen. Wir lassen nicht zu, daß ein einzelner die ganze Gruppe ins Verderben reißt, schon vergessen? Ich bin mir sicher, daß du das auch für mich nicht tun würdest. Und Schuldig selber wäre sowieso der Letzte, der irgendwen von uns retten würde. Also geh mal schön alleine. Ich werde mich jetzt eine Runde auf´s Ohr hauen.“ Crawford atmete hörbar durch, blieb aber stumm. Machen konnte er nichts. Farfarello hatte schließlich Recht, diese Absprache gab es zwischen ihnen wirklich. „Sonst noch was?“, wollte Farfarello wissen. „Nein“, maulte er beleidigt. „Wenn du mir nicht helfen möchtest, dann nicht.“ „Dann viel Glück. Erzähl mir hinterher, was rausgekommen ist.“ Ungerührt legte er sich wieder auf die Pritsche und wandte Crawford den Rücken zu.   Crawford, inzwischen wieder in der oberen Etage seines Hauptquartiers, starrte finster vor sich hin. Farfarello hatte ihn tatsächlich sitzen lassen. Mist, verdammter. Der Hellseher seufzte. „Schön“, meinte er in einer Tonlage, als hätte er bereits einen alternativen Plan, und begann die Schränke zu durchwühlen. Einen echten Waffenschrank gab es hier nicht. Alle Lagerbestände waren frei zugänglich. Seine übliche Pistole hatte er noch im Achselholster stecken. Aus der Schublade der Kommode zog er eine weitere und schob sie sich in den Hosenbund. Eine dritte kam zum Vorschein. Ebenfalls in den Hosenbund damit, neben die andere. Eine vierte lag auch noch drin. Crawford pustete den Staub herunter, zog das Magazin heraus um den Füllstand an Patronen zu prüfen, und schob sie sich dann gleichsam in den Hosenbund. „Wenn Farfarello mir nicht helfen will, dann geh ich eben ohne ihn“, murmelte er leise vor sich hin. „Wie steht es eigentlich mit Nagi? Ob der mitkommen würde?“ Crawford ließ nachdenklich den Blick durch das leere Hauptquartier schweifen. Klar, Nagi wäre schon mitgekommen, wenn er ihn darum gebeten hätte. Ein Anruf hätte genügt. Was auch immer Takatori ihm aufgetragen hatte, er hätte es sicher stehen und liegen lassen, wenn Crawford nach ihm gerufen hätte. Aber er hätte das ganz klar für ihn, für Crawford, getan, und nicht für Schuldig. Crawford zog eine unzufriedene Schnute, während er so vor sich hinbrütete. Er hatte Nagi damals aus dem Waisenhaus aufgenommen, aufgezogen und ihn zu dem ausgebildet, was er heute war. Nagi verdankte Crawford sehr viel, sowohl das blanke Überleben, als auch die Möglichkeit, seinem Hass auf die Gesellschaft ein Ventil zu geben. Natürlich würde er für Crawford entsprechend vieles tun, ihm bestmöglich helfen und ihm Folge leisten. Schuldig hingegen war von dem Jungen immer als hinderlich empfunden worden, das wusste der Hellseher. Schuldig und Crawford verband nicht nur das blanke Pflichtgefühl, sondern es hatte sich eine regelrechte Freundschaft zwischen den beiden entwickelt, die Nagi im Weg war. Nagi hatte seinen Ziehvater immer mit Schuldig teilen müssen. Er hatte Crawford nie für sich allein gehabt. Man konnte es Eifersucht nennen, aber Nagi hegte diesbezüglich einen gewissen Groll auf den rothaarigen Telepathen. Er würde ganz sicher nicht losrennen, um Schuldig zu retten, weil der ihm irgendwie wichtig wäre. Er würde bestenfalls losrennen und Schuldig retten, um Crawford damit einen Gefallen zu tun. Das alles wusste Crawford und es frustrierte ihn ein bisschen. Schwarz war schwerlich als intaktes Team zu bezeichnen. Schuldig und Nagi hörten nur auf ihn, weil sie ihm beide aus verschiedenen, persönlichen Gründen loyal waren. Farfarello war gänzlich undurchsichtig. Der schien einfach nur zu tun, was ihm Spaß machte und wofür er bezahlt wurde. Keiner der drei hatte einen ernsthaften Teamgeist für Schwarz entwickelt. Crawford hatte praktisch einen Kumpel, einen Sohn und einen Arbeitskollegen um sich geschart, die sich gegenseitig kaum Bedeutung beimaßen und einander tendenziell unwichtig fanden. Crawford als das Zentrum von Schwarz war der einzige, der sie alle zusammenhielt, hatte er manchmal das Gefühl. In solchen Situationen hier ganz besonders. Es gab wohl keine Ehre oder Freundschaft unter Mördern. Verständlich, denn das machte einen auch angreifbar. Mit einem unterschwelligen Kopfschütteln entschied der Hellseher, Nagi nicht anzurufen. Mochte der mal brav Takatoris Aufträge ausführen und damit viel Ärger für das ganze Team vermeiden.     Der Zentralfriedhof von Tokyo war fast ein eigenes Stadtviertel. Es verkehrte sogar eine eigene Buslinie in dem weitläufigen, parkähnlichen Gelände, weil man kaum noch alles erlaufen konnte. Wenn man sich hier nicht auskannte, dauerte es eine Weile, bis man gefunden hatte, wonach man suchte. Das Grab von diesem Herrn Hoshite befand sich auch nicht direkt in einem Planquadrat, in dem man jeden anderen Normalsterblichen bestattet hätte. Er hatte einen halben Ehrenplatz bekommen, abseits des großen Trubels. Also musste er wohl entgegen Takatoris Behauptung doch was Besonderes gewesen sein. Oder jemand hatte ihm aus anderen, politischen Interessen heraus eine Sonderbehandlung gestiftet. Jedenfalls hatte es Nagi eine ziemliche Menge an Zeit und Nerven gekostet, bis er die Stelle im hintersten, abgeschiedensten Winkel des Friedhofs endlich gefunden hatte. Er war froh, die Akte in Takatoris Büro so aufmerksam gelesen zu haben, sonst hätte er Tage hier zugebracht. Der Junge folgte dem kaum noch sichtbaren Trampelpfad durch eine schon fast verwachsene Lücke in Gebüsch. Hier kamen sonst keine Leute lang, das sah man sofort. Um so besser. Dann wurde er wahrscheinlich nicht gestört, wenn er das Grab wieder aufwühlte, um diese komische Kerze zu suchen. Natürlich entgingen ihm die Fußspuren auf dem weichen Boden nicht. Aber die Beerdigung war ja auch noch nicht so lange her, wenn die Angaben in der Akte stimmten. Als er zwischen den Bäumen hervortrat, musste er allerdings erschrocken feststellen, wie neu diese Fußspuren tatsächlich noch waren. Dort standen zwei Männer herum. Nagi suchte schnell Schutz in einem Gestrüpp und sondierte erstmal die Lage, bevor er entdeckt wurde. „War ja klar ...“, grummelte er leise in sich hinein. Takatori hatte gesagt, daß noch andere Leute hinter der Kerze her sein würden. Hätte er sich ja denken können, daß der Boss damit diese Typen meinte. Nagi hatte keinen Zweifel, daß er das richtige Grab gefunden hatte, denn dort standen ein hochgeschossener Schönling mit blonden Wellen, und ein eher drahtiger Kerl mit langen, weinroten Haaren. Balinese und Abessinier. Yoji und Aya. Das war eine ziemlich doofe Situation. Die zwei waren ihm wirklich im Weg, wenn sie hier herumlungerten. Schlimmer noch! Aya rammte gerade motiviert mit dem Fuß einen Spaten in die Erde. Die beiden waren im Begriff, das Grab auszuheben. Nagi schaute eine Weile aus seinem Versteck heraus zu, grübelte hin und her, und nahm es schließlich positiv. Sollten die mal machen. Damit ersparten sie ihm die Arbeit, selber zu buddeln. Wie er ihnen die Kerze später abnehmen sollte, wenn sie sie wirklich fanden, nun, das würde sich zeigen. Der junge Hacker machte es sich in seinem Gebüsch bequem und schaute den beiden Weiß-Mitgliedern in aller Ruhe beim Schuften zu.     Ein schnelles, aber gleichmäßiges Klackern von Metall auf Metall. Jemand ließ ein Eisenrohr oder etwas in der Art über die Gitterstäbe der Zelle rattern. Von links nach rechts und wieder zurück. Hin und her. Immer wieder. Halb müde, halb genervt, wandte sich Farfarello auf seiner Pritsche um, um zu erfahren, was los war. Bekam man denn hier gar keine Ruhe? Crawford war noch keine 20 Minuten weg. Was wollte er denn jetzt schon wieder? Beim Umdrehen musste er allerdings feststellen, daß jemand anderes dort stand. „He! Dich weißhaarigen Zyklopen kenn ich doch!“, entschied der Besucher mit einem gehässigen Feixen. Der Wärter, der sonst über diese Zelle wachte, hing machtlos zappelnd im Schwitzkasten des Kerls. „Du bist doch der Wichser, der damals meinen Cousin platt gemacht hat!“ Farfarello seufzte leise. Er hatte gerade keine Lust, sich mit dem Kerl zu befassen. Und er hatte so viele Leute auf dem Gewissen, daß er sich auch bestimmt nicht mehr an jeden einzelnen erinnern konnte. Aber zumindest nahm er sich die Zeit, seinen streitlustigen Gegenüber eines genaueren Blickes zu würdigen, bevor er entschied, was weiter zu tun war. Der Typ war groß und breitschultrig, hatte einen struppigen Pferdeschwanz, ein breites, kantiges Kinn, eine Hakennase und ein ungepflegtes, narbiges Gesicht mit Bartstoppeln. So ein typischer Kleinkrimineller eben. Farfarello glaubte nicht, ihn schonmal gesehen zu haben. „So sieht man sich also wieder. Komm mal her, Freundchen. Wir haben ein Wörtchen miteinander zu reden.“ Der Typ pflückte den Schlüsselbund vom Gürtel des Wachmanns, um sich Zugang zu Farfarello zu verschaffen. Okay, möglicherweise hatte er jetzt ein Problem. Er trug ja immer noch die Zwangsjacke und war damit halbwegs wehrlos. Einen Moment lang bereute Farfarello es, nicht mit Crawford mitgegangen zu sein.     Als Crawford zu seinem Auto kam, stolperte er dort unvermutet über einen alten Bekannten. An einem Baumstamm am Fußweg lehnte ein Junge mit wuscheligen, braunen Haaren und legerer Freizeitkleidung und wartete offenbar auf jemanden. „Oracle! Endlich!“, grüßte er und deutete dabei ein Winken an. Crawford stöhnte leise. „Ich hab jetzt keine Zeit für dich, Omi“, meinte er, als ihm aufging, daß der Weiß-Winzling hier nicht zufällig herumstand und auf irgendjemanden wartete, sondern tatsächlich auf ihn. Wurde man diesen lästigen, kleinen Sack denn gar nicht los? Jetzt, wo Crawford in eine andere Wohnung umgezogen war, suchte Omi stattdessen nach seinem Auto, oder was? Zu blöd, daß hier gerade zu viele Menschen auf der Straße waren, um ihn auf eine Weise loszuwerden, die nicht so schön anzusehen gewesen wäre. „AX-4 ist verschwunden!“, warf Omi ihm aber direkt an den Kopf. „Was du nicht sagst ...“ Das ging ja schnell. Ayax' Entwischen war noch keine halbe Stunde her – so lange hatte Crawford gebraucht, um Farfarello zu besuchen, seine Unterlagen über die Medi Tec Foundation nach Hinweisen auf den wahrscheinlichsten Verbleib der Waffe zu durchstöbern und sich zu bewaffnen – und Weiß wussten schon davon. Unerhört. „Wir müssen sie wiederfinden.“ Crawford entriegelte sein Auto und zog die Fahrertür auf. „Was glaubst du, was ich gerade tue, Kleiner?“ Der Winzling runzelte die Stirn. „Alleine? Bist du wahnsinnig?“ Er hoffte, der Anführer von Schwarz würde präzisieren, daß er mit 'gerade' natürlich nicht 'jetzt auf der Stelle und so wie ich hier stehe' meinte. Leider wurde Omi enttäuscht. Schon am verbissenen Gesichtsausdruck seines Gegenübers sah er, wie ernst es diesem war. „Lass mich mitkommen!“, legte er fest. Unter den fassungslosen Blicken von Crawford löste er sich von seinem Baumstamm, umrundete das Auto und öffnete die Beifahrertür, um ebenfalls mit einzusteigen. Der Hellseher stand noch sekundenlang dumm herum, den Türgriff in der Hand, und wusste nicht recht, was er sagen, denken oder tun sollte. „Du ... du willst mir helfen, Schuldig zu finden?“, rückversicherte er sich völlig verdattert. „Nur zur Info: Mastermind ist mir egal“, klärte Omi ihn stoisch auf. „Ich will nur diese verdammte Waffe wiederfinden und aufhalten, bevor sie was richtig Dämliches anstellt. Jetzt fahr schon! Ich sag dir, wo wir hinmüssen.“ Mit einem leicht überforderten Nicken kam Crawford dieser Aufforderung nach. Er konnte jede Hilfe brauchen, die er kriegen konnte, also protestierte er nicht. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was passiert ist, sag mal?“ „Ich kann es mir denken. AX-4 hat eine einprogrammierte Mission, die sie unter allen Umständen durchführen wird. Ich gehe also mal davon aus, daß sie euch inzwischen nicht mehr gehorcht, sondern eigenmächtig handelt.“ Crawford nickte. „Sie hat Schuldig als Geisel verschleppt.“ „Schuldig ...“, wiederholte Omi nachdenklich, während er an einem seltsamen, technischen Gerät mit Bildschirm einige Einstellungen vornahm. „Es ist ungewohnt, ihn so zu nennen. Ich kannte ihn immer nur als Mastermind.“ Sein elektronischer Apparat erwachte unterdessen endlich zum Leben. „Was ist das?“ „Ein Ortungsgerät. AX-4 hat eine Art Peilsender. Eben damit man sie wiederfindet, wenn irgendwas ist. Ich konnte zum Glück ihre Frequenz in Erfahrung bringen. ... Okay, du musst wenden. Wir müssen zurück in die andere Richtung.“ Crawford nickte abermals und startete den Motor. „Du bist echt nicht übel, Kleiner.“ „Was denn? Kam Prodigy an diese Daten nicht ran?“, wollte Omi amüsiert wissen, womit er Nagi meinte. Auch den kannte er vorrangig unter seinem Codenamen. „Bin ich etwa ein talentierterer Computer-Hacker als er?“ Der Kopf von Schwarz konzentrierte sich etwas mehr auf den Straßenverkehr und versuchte das seltsame Gefühl zu ignorieren, das ihn nicht loslassen wollte. Sein Teamkollege Farfarello verweigerte sich und sein Feind Omi half ihm. Irgendwas lief hier echt falsch. „Verrate mir was! Wenn du diese Waffe mit deinem tollen Radar selber finden kannst, wieso arbeiten wir beide dann gerade zusammen? Und warum warst du überhaupt so schnell zur Stelle?“ „Ich habe AX-4 beschattet. Seit einer ganzen Weile schon. Ich hab sie aus dem Fenster springen und verschwinden sehen. Aber ich kann sie trotz Ortungsgerät nicht ohne deine Hilfe verfolgen, weil ich mit ihr nicht alleine fertig werde. Und weil wir nicht die einzigen sein werden, die hinter dieser Waffe her sind. Und – um ehrlich zu sein – weil du mir Mastermind vom Hals halten musst. ... Schuldig, meine ich.“ „Was ist mit deinen Kollegen von Weiß?“ Omi winkte ab. „Frag einfach nicht“, seufzte er. „Ich könnte dich genauso fragen, was mit deinen Kameraden von Schwarz ist. Von denen ist auch gerade keiner hier.“ Crawford wusste nicht, ob er verstehend nicken oder ungläubig den Kopf schütteln sollte, also tat er gar nichts in dieser Richtung und achtete endgültig auf den Straßenverkehr um sich herum. „Hm, wir müssen irgendwie weiter da rüber“, merkte der Junge an und zeigte dabei wage aus dem Fenster. „Bieg bei passender Gelegenheit mal links ab.“ „Wie nah sind wir Ayax denn schon?“ „Ayax? Ihr habt diesem Ding einen Namen gegeben?“ „Das ist auf Schuldigs Mist gewachsen“, redete der Hellseher sich heraus. „Hm. Ich weiß leider nicht, wie weit sie weg ist. Ist etwas doof, daß mir das Ding keine Entfernungen sondern nur Richtungen anzeigt. Aber was Besseres konnte ich auf die Schnelle nicht auftreiben.“ Kapitel 7: ----------- 07 Schuldig lag seitlich zusammengerollt auf dem blanken Boden und schmollte dumpf vor sich hin. Er hatte auf den Rücken gefesselte Hände, die eher symbolischen Charakter hatten, aber ansonsten war er eigentlich noch erstaunlich frei. Zumindest körperlich. Er war nichtmal angekettet. Und gerade das machte es so mies. Diese Tatsache, sich bewegen zu können, es aber nicht zu dürfen. Er hatte keine zusammengebundenen Füße. Er hätte problemlos aufstehen und loslaufen können. Er hatte keinen zugeklebten Mund. Er hätte jederzeit reden können. Aber wenn er auch nur Versuche dahingehend unternahm, bestrafte Ayax ihn sofort mit diesen mördermäßig dröhnenden Kopfschmerzen, die ihn komplett außer Gefecht setzten. Sie saß drüben in der anderen Ecke des Raumes an einem PC und arbeitete, indem sie ihren Finger in eine USB-Buchse gesteckt und sich auf diese Weise mit dem Computer verdrahtet hatte. Wonach sie suchte, wusste Schuldig nicht. Wenn er versuchte, ihre Gedanken zu lesen, fand er derzeit nur eine Flut an Programmiersprache vor. Logisch, mit einem PC musste sie nicht in menschlicher Sprache kommunizieren. Sie schien auch kein großes Interesse an ihm zu haben. Sie brauchte offenbar nur seine Anwesenheit, weil sie von seiner Körperenergie und seiner mentalen Kraft gespeist und am Laufen gehalten wurde. Das war der einzige Grund, warum sie ihn hier festhielt. Schuldig hatte versucht, ihr klar zu machen, daß er ihr auf diese Art nicht sehr lange von Nutzen sein würde. Als Mensch musste er regelmäßig essen und trinken, um am Leben zu bleiben. Aber das hatte sie nicht hören wollen und hatte ihn wieder mit einem explodierenden Schädel zum Schweigen gebracht. Solange er nichts tat und nichts sagte, ließ sie ihn in Ruhe. Darum war im Moment sein vorrangigstes Ärgernis, hier auf dem dreckigen Fußboden rumliegen zu müssen und sich seinen schneeweißen Anzug damit zu versauen. Er verstand auch nicht, warum er nicht wenigstens sitzen durfte, sondern unbedingt liegen musste. Leider war es halbwegs aussichtslos, Fluchtpläne auszubrüten, wenn Ayax mittels ihrer telepathischen Verbindung immer gleich darüber informiert wurde. Also blieb ihm tatsächlich nichts anderes übrig, als hier rumzuliegen und zu warten, bis irgendwas passierte. Ayax schaute fragend von ihrem Bildschirm herum und sah ihn analysierend an. Schließlich stand sie auf und kam ohne Eile herüber. „Du langweilst dich“, stellte sie fest. Das schwarzhaarige Mädchen ging neben ihm in die Hocke. „Das ist nicht gut. Wenn ein Mensch sich langweilt, kommt er auf dumme Gedanken.“ „Und wenn schon. Ist ja nicht so, als ob ich hier viel Blödsinn anstellen könnte“, gab er mürrisch zurück. „Trotzdem. Du hast gerade zu viel überschüssige Energie und weißt nicht wohin damit. Das werde ich ändern.“ „Verrat mir doch mal, wo wir sind und was wir hier machen“, schlug er vor. Da das Dröhnen in seinem Schädel erst aufgehört hatte, als sie sich an diesen PC gesetzt hatte, konnte er wirklich nicht sagen, wo er sich befand. Den Weg hier her und die Ansicht des Gebäudes von außen hatte er nicht bewusst mitbekommen. Aber wenn er raten müsste, hätte er es für eine Forschungseinrichtung gehalten. Und er hatte ja in letzter Zeit genug solcher Labore gesehen, um das beurteilen zu können. Statt zu antworten, schob sie ihn mit Kraft auf den Rücken herum. Dann kletterte sie auf allen Vieren über ihn, legte sich zu ihm und kuschelte sich eng an. „Was!?“, keuchte Schuldig empört und wand sich unbehaglich unter dieser dreisten Annäherung, als sie ihre Stirn gegen seinen Hals und ihre Finger auf seine Herzgegend legte. Mit den hinterrücks gefesselten Händen war diese Lage sowieso schon nicht gerade bequem. Aber dann noch sowas, das ging echt zu weit. „Halt still“, zischte Ayax ihn in drohendem Tonfall an. „Wenn du dich wehrst, oder ich auch nur einen Ton von dir höre, wirst du den Rest des Tages keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das verspreche ich dir.“ Und Schuldig hielt derwegen zähneknirschend still und sagte kein Wort mehr. Er hatte keine Lust darauf, sich abermals stundenlang unter Qualen am Boden zu winden. Quasi auf der Stelle spürte er, wie er langsam auskühlte, wie sein Puls herunterfuhr und er allmählich entsetzlich müde wurde. „Seltsam“, kommentierte sie. „Das letzte Mal hatte meine Annäherung einen gänzlich anderen Effekt auf dich. Du warst nicht so unwillig. Das letzte Mal hat dich meine Liebe in Euphorie versetzt.“ „Du bist ´ne Maschine!“, maulte Schuldig müde aber sauer. „Nenn das gefälligst nicht Liebe, was du mir angetan hast!“ „Angetan? Willst du etwa behaupten, es hätte dir nicht gefallen?“ „Zu dem Zeitpunkt hast du mir noch völlig falsche Tatsachen vorgetäuscht!“ „Du sollst den Mund halten, habe ich gesagt!“ „Da merkt man mal wieder, daß du wirklich keinerlei Ahnung von der menschlichen Psychologie hast! Du arbeitest nur einprogrammierte Algorithmen ab und-AUA!!!“ Er kniff die Augen zusammen, als er wieder von diesem strafenden Kopfschmerz zum Schweigen gebracht wurde. Gleichzeitig nahm sein Energieverlust noch weiter zu. Enorm sogar. Selbst seine Atmung wurde schwerer. Sie zog ihm sämtliche Kraft weg, wurde ihm klar. Um zu ergründen, wie genau das biologisch möglich sein sollte, fühlte er sich allerdings zu schwach. Nach ein paar Augenblicken nahmen die Kopfschmerzen schon wieder ab. Sie waren nicht mehr so heftig, daß sie ihm alle Sinne genommen hätten, gingen aber auch nicht ganz weg. Sie dauerten kräftig genug an, um in seinem Bewusstsein präsent zu bleiben. Wie eine Warnung, nicht nochmal zu rebellieren. „Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden. Und nun lass mich weiterarbeiten!“, verlangte Ayax herzlos. Sie stand auf, ging zu ihrem PC zurück und ließ ihren Wirt einfach auf dem Fußboden liegen. Schuldig hatte nicht nur von den miesen Schmerzen fast Tränen in den Augen. Er hätte vor Schwäche heulen können. Er war so fertig und zittrig, daß er sich nichtmal mehr alleine hätte aufsetzen können, wenn Ayax ihn gelassen hätte, geschweige denn hätte stehen oder gar laufen können. Der Gedanke daran, sich noch weiter zu wehren, schwand zusehends, obwohl er sehr wohl das Gefühl hatte, daß er Ayax‘ parasitären Raubbau an seinen Energiereserven nicht mehr lange überleben würde. Er nahm seine Existenzangst mehr am Rande zur Kenntnis, als daß er ihr wirklich noch Priorität einräumte. Diese körperliche Schwäche zwang ihm auch mental eine Resignation auf, die er gar nicht wollte. Das war eine grausame Art des Ausgeliefertseins.     Aya zog ein längliches, weißes Objekt aus dem aufgewühlten Grab. Es war in eine transparente Plastiktüte eingeschlagen. Aya putzte die Erde herunter und musterte es von allen Seiten. „Das ist sie wohl“, stellte er fest. Yoji lehnte sich auf den Stiel seines Spatens. „Das ist alles?“ „Offensichtlich.“ „Hm ...“, machte der blonde Privatdetektiv nur, überlegte spürbar hin und her und zuckte schließlich mit den Schultern. „Naja, müssen wir uns wohl zu Hause genauer ansehen. Lass uns das Grab zuschaufeln und die Blumen wieder draufpflanzen, damit es nicht so auffällt, daß wir hier waren.“ „Ja.“ Aya pfefferte seine Beute etwas unsanft neben sich auf den Boden, griff zu seiner Schaufel und machte sich wieder an die Arbeit. Sie arbeiteten alle miteinander in einem Blumenladen. Im Umgang mit Blumen kannten sie sich ja aus. Nagi in seinem Versteck lächelte leicht. Die zwei waren total abgelenkt von ihrer Gärtner-Tätigkeit. Eine bessere Gelegenheit würde es nicht mehr geben. Der Junge streckte die Hand nach der Kerze aus und ließ sie mittels seiner telekinetischen Fähigkeit vom Boden abheben und davonschweben. Ganz klammheimlich. Für den ersten Moment ging es auch noch gut. Plötzlich fuhr Aya mit einem wütenden „Hey!“ herum, hechtete der Kerze hinterher und fing sie aus der Luft. Nagi fluchte in seinem Versteck leise auf. „Prodigy!“, stellte Yoji ganz richtig fest, hob seine Schaufel mit beiden Händen hoch wie eine Waffe und scannte mit seinem Blick die Umgebung. Er konnte sich sonst niemanden mit telekinetischen Kräften vorstellen. „Schwarz sind irgendwo hier!“ Aya schaute zurück zu der Stelle, wo die Kerze gelegen hatte, und verfolgte von dort aus deren Flugrichtung weiter bis zu dem Gestrüpp, hinter dem Nagi saß. Dem Jungen entfuhr ein weiteres, unfeines Schimpfwort, als er entdeckt wurde. Er versuchte zu flüchten, wurde aber sofort eingeholt. Die paar Schritte Distanz bis zu Nagis Gebüsch waren ja auch nicht schwer zu überbrücken. Mit seinen hochgekrempelten Ärmeln sah Aya schwer nach Ärger aus, so daß Nagi regelrecht zurückprallte, als der unvermittelt neben ihm stand. Yoji war verschwunden. Der checkte wohl die Umgebung auf weitere Schwarz-Mitglieder. Die wussten ja nicht, daß Nagi allein hier war. Mit seiner Telekinese riss Nagi Aya den Spaten aus den Händen und ließ ihn in der Luft rotieren wie einen Propeller. Aya duckte sich erschrocken weg, damit er das Schaufelblatt nicht an den Kopf gedonnert bekam, nutzte diese Bewegung gleich noch, um sich für einen Sprung zu spannen, hechtete mit einem Satz nach vorn und rannte Nagi damit buchstäblich über den Haufen. Er wuchtete den Jungen zu Boden und landete rittlings auf ihm. Ohne groß nachzudenken und mit routinierten Handgriffen legte er seinen Kontrahenten bewegungsunfähig unter sich fest. Die Schaufel flog ihm abermals um die Ohren wie ein Knüppel, bis er sie sauer aus der Luft fing und sie mit zur Fixierung seines Opfers nutzte. Nagi signalisierte schließlich hustend und mit offenen Handflächen, daß er aufgab. Da erst erlaubte Aya sich ein Durchatmen und einen suchenden Blick in die Runde. Yoji erschien wieder neben ihm. „Die Luft ist rein. So seltsam es auch scheint, der Kleine ist offensichtlich alleine hier“, meinte er. „Na schön. Wir sind also nicht die einzigen, die ein Interesse an der Kerze haben. Was tun wir jetzt? Mit ihm hier, meine ich!?“ „Arbeitsteilung!“, entschied Yoji. „Wir haben das Grab aufgebuddelt, also kann er auch mal was tun und es für uns wieder zuschaufeln. Und dann nehmen wir ihn halt erstmal mit. Danach sehen wir weiter.“ Aya schaute seinen Kollegen ungläubig an. „Du willst ihn mit ins Hauptquartier nehmen?“ „Wieso nicht? Diese Schwarz-Typen wissen sowieso, wo es ist. Da müssen wir kein Geheimnis mehr draus machen. Laufen lassen würde ich ihn jedenfalls nicht, jetzt wo wir ihn schon mal geschnappt haben.“ Mit einem amüsierten Schmunzeln richtete Aya seinen Blick wieder auf den wehrlos festgehebelten Jungen. „Du hast es gehört, Kleiner. Hier hast du ´ne Schaufel!“     Crawford sah etwas genervt auf sein Handy, als dieses dudelte. Er wollte jetzt keine blöden Anrufe haben. Er war gerade zu beschäftigt, um gestört zu werden. Ein Videoanruf von einer unterdrückten Nummer wurde angekündigt. Crawford hielt doch nochmal inne, bevor er den Anruf einfach wegdrückte. Wieso ein Anruf mit Bildübertragung? Wer sollte ihn da anrufen? Nichtmal Takatori tat das. Er fuhr links ran, riss das Handy mit einer fahrigen Bewegung aus der Freisprech-Haltung und stieg aus. Er hielt mit dem Daumen die Frontkamera seines Telefons zu, um selbst nicht aufgezeichnet zu werden. So würde sein Gesprächspartner nur einen schwarzen Bildschirm angezeigt bekommen. Dann nahm er das Gespräch entgegen. Was sich ihm zeigte, drehte ihm allerdings sofort den Magen um. Da standen drei vermummte Gestalten in einem Raum, den er sofort als Farfarellos Zelle wiedererkannte. Einer von ihnen hatte ein Gewehr, zwischen ihnen kniete ein gefesselter Farfarello, dem nach wie vor die Arme in der Zwangsjacke verschnürt waren und der schon ein wenig malträtiert aussah. Daneben eine Regentonne. Dieses Bild wurde offensichtlich von einem Laptop auf einem Tisch aufgezeichnet, und die Telefonverbindung via Internet aufgestellt. „He, Brad, bist du da?“, meldete sich einer der Typen, verwundert darüber, daß der Bildschirm dunkel blieb. „Wer seid ihr?“, gab Crawford zurück und hielt seine Handykamera konsequent weiter mit dem Daumen verdeckt. „Wir haben diesen kleinen Wichser hier geschnappt“, meinte einer und schubste Farfarello dabei grob an. „Er will mit dir reden.“ Das ungute Gefühl in Crawfords Magen verstärkte sich. Wer auch immer diese Typen waren, sie hatten allen Ernstes ein Teammitglied von ihm. Was jetzt? Zeit schinden? Eine Rettungsaktion einleiten? „Bin ganz Ohr“, antwortete er nervös und presste sich dann die Faust auf den Mund, um die Fassung zu wahren. Das Handy hielt er nur noch an der oberen Kante fest, wo die Kamera saß. Farfarello zog ein zerknirschtes Gesicht, als er den Blick hob. „Die Kerle wollen Geld, Crawford. Von irgendjemanden. Ich dachte ... vielleicht hast du ... ich meine, ich geb dir das Geld natürlich später wieder.“ „Ich soll Lösegeld für dich zahlen?“, übersetzte der Hellseher schlagartig etwas angefressen. „Wie bist du an diese smarten Burschen geraten?“ „Ich weiß es nicht. Ich nehme an, sie wurden von einem meiner Geschäftspartner angeheuert“, gab Farfarello zu. „Es geht um ein paar Millionen ...“ „Ein paar Millionen!?“, wiederholte Crawford grenzhysterisch. Das Prädikat „ein paar“ klang wie Hohn in seinen Ohren. Millionen! Ein paar! Selbst wenn er gewollt hätte, so viel Geld besaß er nicht! „Du hast dich gerade noch geweigert, Schuldig zu helfen, und jetzt verlangst du tatsächlich von mir, daß ich DICH rette!? Frag doch Takatori, ob er dich freikauft, du Idiot!“ „Bezahl lieber!“, riet einer der vermummten Gentlemen ungeduldig. „Sonst könnten wir versehentlich was sehr Unschönes mit ihm anstellen.“ „Ja, tu das! Farf‘ spürt keine Schmerzen! Und er steht drauf, gefoltert zu werden!“ „Das wissen wir.“ Zwei der Kerle packten ihre wehrlos gefesselte Geisel, hievten ihn hoch und tunkten ihn mit dem Kopf in die offensichtlich randvolle Regentonne. Farfarello begann panisch zu zappeln. Das Sprudeln und Platschen des Wassers hörte man sogar durch die Telefonleitung hindurch. Crawford wurde schlecht, als er das sah. „Schmerzen spürt er vielleicht keine. Aber Sauerstoff braucht er auf jeden Fall“, meinte der dritte Kidnapper. „Also. Zahlst du?“ Crawford rang einen Moment fassungslos um Atem. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es erwuchsen Pläne und wurden sofort wieder verworfen. Er überlegte, wer die Kerle sein könnten. Was sie wollen könnten. Wozu sie so viel Geld brauchen mochten. Wo er so viel Geld herkriegen sollte. Oder warum. Es stritten konträre Prioritäten miteinander. Und er dachte, er müsse sich übergeben. Dann brach er die Verbindung einfach ab. Legte auf. Steckte das Handy schnell in die Jackentasche um sich nicht mehr damit konfrontiert zu fühlen. Er griff sich an die Stirn und atmete erstmal tief aus. Leider hatte es nicht der erhofften, erleichternden Effekt. Omi, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen war und das Telefonat in den wesentlichsten Teilen mitverfolgt hatte, sah ihn mit großen Augen an. „Will-Willst du ihm nicht helfen?“, stotterte er perplex. Crawford schüttelte langsam den Kopf, ohne ihm in die Augen zu sehen. Aus dem Griff an die Stirn wurde ein vorübergehendes Stützen der Hände in die Hüften, um sich selber eine weiterhin aufrechte Haltung zu erleichtern. „Ich geh Schuldig retten, das ist wichtiger.“ „Aber ...“ „Die werden Farfarello schon nicht umbringen. Egal wer die sind, tot nützt er denen nichts.“ Omi nickte nur, sagte nichts mehr und folgte dem aufgekratzten Schwarz-Leader, als der sich mit verbissenem Gesicht wieder auf seinen Fahrersitz warf. Er konnte sich vorstellen, was jetzt in Crawford vorging. Er hatte sich binnen Sekunden zwischen Schuldig und Farfarello entscheiden müssen. Beide steckten in der Patsche. Sicher waren ihm beide irgendwie wichtig. An seinem Gesichtsausdruck sah man überdeutlich, daß ihm diese Entscheidung nicht leicht von der Hand gegangen war. Aber er konnte sich nicht zerteilen. Er konnte nur einem von ihnen helfen und beten, daß der andere bis dahin durchhielt. Und Crawford hatte seine Wahl getroffen. Für Schuldig. Kapitel 8: ----------- 08 „Wieso bist du eigentlich der einzige, der losrennt und diese Waffe sucht?“, wollte Omi in einem ruhigen, ernsthaften Tonfall wissen. Inzwischen waren sie wieder auf der Straße und fuhren nach Radar-Anzeige. Der Junge klang unglaublich erwachsen, kam Crawford nicht umhin zu bemerken. Dem Knirps war klar, daß er mit dieser Frage mehr als nur eine belanglose Plauderei auslösen würde. „Um die geht es mir nicht. Ich will Schuldig retten.“ Omi überdachte das kurz. Es ging also nicht um die Waffe? „Und wieso bist du der einzige, der Schuldig retten geht? Das ist ja noch viel schlimmer.“ Wenn nur Crawford es für nötig erachtet hätte, AX-4 wiederzubeschaffen, schön und gut. Aber wenn Crawford ernsthaft der einzige war, dem es wichtig war, seinem Team zu helfen, dann waren Schwarz in seinen Augen schon eine arg kranke Truppe. „Schuldig ist mir was wert“, gab Crawford knapp angebunden, aber in nicht minder seriösem Ton, zu. Dabei schaute er stur weiter auf die Straße und versuchte sich keine Emotion anmerken zu lassen. „Ihr seid Freunde?“ „Würde ich so behaupten, ja.“ Keine Ahnung, wieso er das ausgerechnet einem Weiß-Mitglied erzählte. Den ging sowas ja nun wirklich nichts an. Aber sie waren hier immerhin gemeinsam auf einer lebensgefährlichen Mission. Der Kleine half ihm! Sicher rechtfertigte das einen gewissen Vertrauensvorschuss. Er hatte Schuldig damals förmlich von der Straße aufgelesen. Der rothaarige Telepath war vorher in einer anderen Söldnertruppe aktiv gewesen, ähnlich Schwarz heute. Er war dort elendlich hintergangen worden und hatte eigenhändig sein komplettes Team umgebracht, um lebend davon zu kommen. Den Rest des Abends war er bei strömendem Regen ziellos durch die Straßen geirrt, verstört und verzweifelt, hatte nicht zurück in seine Wohnung gekonnt, weil sein damaliger Boss ihn dort sofort gefunden hätte, und hatte letztlich, so klatschnass und durchgeweicht wie er war, bei herbstlicher Hundekälte die Nacht auf der Straße verbracht. Am nächsten Morgen hatte er eine Lungenentzündung gehabt. So hatte Crawford ihn gefunden, in einer engen, dunklen Sackgasse, zwischen Mülltonnen, fiebrig und kaum noch bei Bewusstsein. Als Crawford den Telepathen bei sich zu Hause aus den immer noch klammen Klamotten geschält hatte, um ihn ins Bett zu stecken und wieder aufzupeppeln, hatte er natürlich notgedrungen auch dessen Pistole gefunden. Und die Tatsache, daß das Magazin mehr als halb leer war, war ihm ebenfalls nicht entgangen. Der Kollege hatte schwerlich abstreiten können, was er war: ein Mörder und Krimineller. Aber da Crawford ja selber keinen Deut besser war, und nebenbei auch noch ähnliche mentale Begabungen besaß wie der Telepath, hatte sofort eine gewisse verschwörerische Verbundenheit zwischen ihnen bestanden. Sie waren vom selben Schlag Mensch. Es war quasi vorprogrammiert, daß sie zusammenhalten und gemeinsame Sache machen mussten. Crawford hatte den niedergeschmetterten, jungen Kerl, der aufgrund der Ereignisse in seinem alten Team fortan den Namen „Schuldig“ annehmen wollte, wieder aufgebaut, sowohl gesundheitlich als auch psychisch. Schuldig hatte niemand anderen mehr gehabt. Crawford war der einzige, der damals für ihn da gewesen war. Er hatte Schuldig sogar geholfen, seinen damaligen Boss zu beseitigen, der ihm das angetan hatte. Und Schuldig dankte es ihm bis heute mit unerschütterlicher Loyalität, die er zwar bisweilen etwas hinter seiner noch größeren Klappe versteckte, aber niemals vergaß. „Wie läuft das bei euch in der Weiß-Truppe?“, wechselte Crawford das Thema, ehe Omi noch weiter nachbohren konnte. Das alles hier wollte er dem Jungen nämlich nicht unbedingt erzählen. „Seid ihr Freunde? Würdet ihr euch gegenseitig retten kommen?“ „Hm~“, machte Omi nachdenklich. „Als Freunde würde ich sie vielleicht nicht bezeichnen. Wir sind Arbeitskollegen. Natürlich sind wir uns gegenseitig loyal, geben uns im Gefecht gegenseitig Deckung und Schutz, und sind durch das Wissen um unsere gemeinsamen Aktivitäten aneinander gekettet, aber mehr nicht. Privat, abseits unserer Arbeit, haben wir wenig miteinander zu schaffen und interessieren uns auch nicht füreinander. Als wir damals wegen Takatoris gemeiner Intrigen zeitweilig unsere Arbeit eingestellt haben, hatten wir nicht mal mehr Kontakt zueinander. Jeder von uns ist ungesehen eigene Wege gegangen. Ich war der einzige, der überhaupt noch im Auge behalten hat, was die anderen inzwischen so treiben.“ Sieh an, bei Weiß ging es also auch nicht viel besser zu, dachte Crawford etwas erleichtert. Dann lag es also nicht an ihm, daß er seine Männer nicht zu einem eingeschworenen Team formen konnte.     Crawford stand in seiner offenstehenden Autotür wie hinter einem Schutzschild. Er hatte den einen Ellenbogen auf das Autodach und den anderen auf die Türkante gelegt. „Na schön. Und du bist dir sicher, daß AX-4 da drin ist?“ „Absolut“, bestätigte Omi und hantierte auf seinem Peilgerät herum, um es etwas feiner zu kalibrieren. Je näher sie dem gesuchten Objekt kamen, desto weniger grob musste das Anzeigeraster sein. Crawford überdachte nochmal, ob Omi ihn hier vielleicht in eine Falle locken könnte. Gründe dafür hätte der Halbstarke sicherlich genug. Aber seine hellseherischen Fähigkeiten zeigten ihm nach wie vor keinerlei Anzeichen dafür. Im Gegenteil konnte er sogar jetzt schon orakeln, daß er Schuldig da drin wiederfinden würde. Also schob er seinen Argwohn endlich zur Seite und beschloss, Omi eine Chance zu geben. Er beobachtete wieder aufmerksam das Gebäude, das er vor der Nase hatte. Es war ein weiß gestrichener Flachbau. Könnte aalglatt eine weitere Forschungseinrichtung sein. Aber sie sah auffallend still und menschenleer aus. Der Parkplatz war leer. Crawford glaubte allerdings nicht, daß das allein daran lag, daß hier an einem Sonntag keiner arbeitete. Zumindest ein Wachschutz für das Gebäude war in solchen großen Laboren eigentlich immer vor Ort, auch an Wochenenden. Brad Crawford schloss sein Auto ab und machte sich mit Omi auf den Weg. Sie gelangten völlig unbehelligt ins Gebäude. Das kam ihm sehr verdächtig vor. Die Tür war nicht abgeschlossen, der Empfangstresen nicht besetzt, nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Das einzige, was die Stille störte, war das unablässige Orten von Omis Peilgerät. Er fühlte sich wie in einer Falle. „Meine Güte, kannst du von dem Ding nicht den Ton ausschalten?“, verlangte er angespannt. „Dein Piepsen verrät uns ja im ganzen Haus.“ Der Junge sah fragend vom Lageplan neben der Tür auf und zu ihm herum. Dann schaltete er den Apparat gehorsam aus. „Sie müsste ganz am Ende des Flurs sein. Das ist der einzige Raum, der zur Peilung passen dürfte“, erklärte er nebenbei und tippte auf den Grundriss an der Wand. „Sie ist auf dieser Etage?“ „Ich denke schon. Das Gebäude hat noch mehrere Kellergeschosse, aber auf diese kurze Distanz würde man es merken, wenn sie unter uns wäre. Da müsste man das Gerät eher so ein bisschen kippen, um richtig Peilung zu kriegen.“ „Na, worauf warten wir dann noch?“   Omi lugte vorsichtig um die Tür und sah sich um. Alles dunkel und still. Also trat er ganz ein, wenn auch wachsam wie ein kampfbereiter Hund. „Das ist der Raum.“ „Hier ist nichts!“ „Sie war hier!“, beharrte Omi. Er ließ erst den Blick im Raum umherschweifen und sah dann ratlos auf sein Peilgerät. „Willst du mich etwa reinlegen, Kleiner!?“, grollte Crawford aufgewühlt und packte den Jungen sauer am Schlawittchen. Schuldig so nah gewesen zu sein und ihn nun doch so knapp wieder verloren zu haben, setzte seinen armen Nerven entsetzlich zu. „Sie entfernt sich!“, motzte Omi uneinsichtig. „Was heißt 'sie entfernt sich'??? Ich dachte, dein Gerät zeigt keine Entfernungen!“ „Gut, sie bewegt sich!“, präzisierte der Weiß-Knirps, langsam etwas genervt, und hielt ihm das Radar vor die Nase wie einen Beweis. „Und zwar ziemlich schnell. Die schnappen wir jetzt nicht mehr.“ Er verstand ja, daß Crawford aufgekratzt war. Aber deswegen musste der nicht gleich handgreiflich werden. Omi wollte doch bloß helfen, Herrgott nochmal. „Lass mich endlich los, Mann!“ Brad Crawford ließ Omis Jackensaum wieder fahren und wandte sich stattdessen dem Raum zu, in dem sie hier standen. Schien eine Computerzentrale zu sein. AX-4 war im weiteren Sinne ein Roboter. Ob sie sich hier irgendwelche Updates geholt hatte? Omi setzte sich enthusiastisch an den einen Rechner, der gerade angeschalten war, und klickte suchend ein wenig in den offenen Daten herum. Mal sehen, was sich hier alles Schönes finden ließ. „Gib mir dein Radar!“ Der Junge hielt ihm das Gerät blind hin, weil seine Aufmerksamkeit bereits von den vielen tollen Dingen auf dem Computerbildschirm vereinnahmt wurde.   Mit einer Mischung aus Hellseherei und Omis Radar arbeitete Crawford sich durch den Gebäudekomplex. Wieso gab es hier nirgendwo Personal? Keine Security, keine Laboranten, gar nichts. Die Station war wie ausgestorben. Dieser Standort schien geräumt worden zu sein. Nicht, daß Crawford da böse drüber gewesen wäre. Das konnte ihm die Verfolgung nur erleichtern. Interessanterweise wurde er aber nichtmal von verschlossenen Türen aufgehalten. Sämtliche Sicherheitsprotokolle schienen außer Kraft. Selbst Durchgänge, die sich normalerweise nur mit einem Handabdruck auf dem Scannerfeld passieren ließen, standen sperrangelweit offen. Er wurde den Verdacht nicht los, daß die Türen ihm den Weg zeigen sollten, denn es standen immer ausgerechnet die offen, die er sowieso nehmen wollte. Ayax hatte sich wohl bei ihrer Flucht nicht die Zeit genommen, die Türen hinter sich wieder zu schließen. Im Sichtschutz einer Wand blieb Crawford stehen und musterte das Radar. Wenn er dieses Ding richtig interpretierte, befand sich Ayax im Nebenraum. Wenn er durch diese Tür ging, stand er ihr gegenüber. Er haderte mit sich, was er tun sollte. Wie verhielt er sich am besten? Mit vorgehaltener Pistole reinstürmen? Nein, zu riskant. Am Ende schoss er noch versehentlich auf Schuldig. Aber er wusste auch zu wenig über die Fähigkeiten von Ayax, um sich gänzlich schutzlos dort rein zu begeben. „Komm schon, Crawford, zeig dich!“, rief eine Mädchenstimme von drinnen. „Ich weiß, daß du da bist. Was stehst du so dumm da draußen rum?“ Crawford seufzte leise. Damit war die Frage wohl geklärt. Mit erhobenen Händen, eine leer, in der anderen das Radar, trat er in die offenstehende Tür und sah sich schnell um, um die Lage zu sondieren. „Warum hat das so lange gedauert?“, wollte Ayax wissen. „Du hast mich erwartet?“ Das hier war ein Umkleideraum für die Mitarbeiter. Es standen ein paar Sitzbänke an den Wänden, darüber waren namentlich beschriftete Kleiderhaken mit ein paar Laborkitteln. Weiter hinten gab es kleine Schließfächer für Wertgegenstände, die nicht mit reingenommen werden durften. Die Waffe stand mit verschränkten Armen mitten im Raum. Schuldig saß schräg vor ihr im Kniesitz auf dem Fußboden. Er sah fürchterlich aus. Er hatte die Hände kraftlos im Schoß liegen, seine gesamte Körperhaltung wirkte schlaff in sich zusammengesunken, er rang um Atem als wäre er aus der Puste, und unter seinen Augen sah man überdeutliche, schwarze Augenringe. Er wirkte regelrecht krank. Ihm ging es überhaupt nicht gut. „Du hast dir ja nicht gerade Mühe gegeben, unentdeckt hier rein zu kommen“, schoss AX-4 ungerührt zurück. „Also was willst du?“ „Das musst du mich allen Ernstes fragen? Ich dachte, ihr seid alle beide Gedankenleser, Schuldig und du.“ „Sicher. Aber du ziehst verschiedene Optionen in Erwägung. Nenne mir deinen priorisierten Plan.“ „Ich will keinen Ärger mit dir, okay? Gib mir einfach Schuldig zurück, dann kannst du meinetwegen verschwinden. Ich halte dich nicht auf. Du bist mir unwichtig“, antwortete der Hellseher. Und er meinte das sogar ernst. Er hätte Ayax wirklich einfach gehen lassen, wenn er dafür Schuldig ohne Spektakel bekommen hätte. Aber er musste kein Hellseher sein, um zu ahnen, daß es so leicht nicht werden würde. „Ich kann ihn dir nicht geben.“ „Dann muss ich leider nachhelfen“, stellte Crawford klar und zog mit seiner freien Hand blitzschnell eine Pistole. Schuldig quietschte halb erschrocken, halb schmerzlich auf, als er im gleichen Moment im Kragen gepackt und auf die Beine gezerrt wurde. Schneller als er schauen konnte, fand er sich in einem fiesen Würgegriff wieder. Ayax hatte von hinten eine Arm um seinen Hals geschlungen und hielt ihn auf diese Weise vor sich fest. Da sie kleiner war als er selber, zog sie ihn dabei auch noch sehr unbequem ins Hohlkreuz, was eine etwaige Gegenwehr noch schwerer machte. Er brauchte beide Hände, um sich an ihrem Arm festzuhalten, einerseits damit sie ihn nicht erwürgte, und andererseits, damit er in dieser gemeinen verrenkten Haltung nicht mangels Gleichgewicht zusammenbrach. „Crawford!“, japste Schuldig hilfesuchend auf. Crawford schaute reichlich blöd, als er sah, daß Ayax sich hinter Schuldig versteckte und ihn als lebendes Schutzschild missbrauchte. Sie war ein humanoider Panzer und kugelfest. Sie hatte es gar nicht nötig, sich eine Deckung zuzulegen. Das hier tat sie eindeutig nur zu dem Zweck, Crawford mit psychologischen Mitteln im Zaum zu halten. Er war überrascht von diesem Schachzug. So strategische Kniffe hatte er der Waffe gar nicht zugetraut. „Du opferst das Wichtigste, was du hast? Deinen Wirt? Du musst doch wissen, daß du ein echtes Problem hast, wenn ihm was zustößt!“, versuchte er logisch auf Ayax einzureden. „Ich weiß, daß du ganz sicher nicht auf mich schießen und dabei in Kauf nehmen würdest, ihn zu gefährden. Nimm die Pistole runter“, gab sie seelenruhig zurück. „Schon gut, du hast gewonnen.“ Crawford bückte sich und ließ seine Pistole flach über den Boden davonschlittern. Hätte er sie auf den Boden geworfen, hätte sich wohlmöglich noch ein unkontrollierter Schuss gelöst. „Also, wie geht´s jetzt weiter? Du wirst ja nicht grundlos hier auf mich gewartet haben? Was willst du von mir?“ „Das erkläre ich dir.“ Ayax ließ Schuldig los, welcher sofort haltlos in sich zusammenbrach und wieder auf dem Boden zu sitzen kam. Crawford riss die nächste Pistole hervor – er hatte ja in weiser Voraussicht noch drei weitere in seinem Hosenbund stecken – und nutzte die freie Schussbahn diesmal ohne jede Zeitverzögerung, um das halbe Magazin leer zu ballern. Etliche Projektile klatschten in Ayax‘ Gesicht. Leider erfolglos. Nach dem siebten oder achten Schuss sprang sie nach vorn und stürzte sich auf ihn. Ihre Hände schlangen sich zielsicher um seinen Hals. Schuldig wollte sich mit einem „Nein!“ wieder hochkämpfen und einschreiten, wurde aber von dem schon bekannten, alles auslöschenden Dröhnen in seinem Kopf auf der Stelle zurück zu Boden geschickt.     Farfarello hustete und schnappte ächzend nach Luft, als er mit dem Kopf wieder aus der Wassertonne gezogen wurde. Der Erstickungszwang war unglaublich massiv und mit nichts zu vergleichen, was er sich bisher selber angetan hatte. Ihm war vom Sauerstoffmangel leicht schwindelig und er war erstmal viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, um auf die Gespräche seiner Kidnapper zu hören. Irgendwann wurde er aber an der Zwangsjacke gepackt und wieder auf die Beine gezerrt. „Hast du gehört, Kumpel?“, blaffte einer der vermummten Gestalten ihn an. „Dein Freund will nicht für dich bezahlen. Er hat einfach aufgelegt und dich deinem Schicksal überlassen. Er wird dir nicht helfen. Was machen wir jetzt mit dir?“ „Gute Frage“, mischte sich ein anderer ratlos ein. „So war das nicht geplant. Was machen wir denn jetzt mit ihm?“ „Wir nehmen ihn erstmal mit und verschwinden von hier. Vielleicht sitzt diesem Takatori das Geld ja tatsächlich lockerer im Geldbeutel.“ Noch immer luftringend und desorientiert wurde Farfarello die Stufen hochbugsiert, stolperte über zwei Stufen, konnte sich in seiner Zwangsjacke kaum abfangen, wurde aber dennoch gnadenlos weitergestoßen. Ehe er sich´s versah, befand er sich auch schon draußen und einen Augenblick später im Frachtraum eines Transporters. Die Türen krachten hinter ihm zu, der Motor startete förmlich im gleichen Moment, und dann beutelte ihn die erste, scharfe Rechtskurve haltlos über die Ladefläche, als die Fahrt überstürzt begann. Fluchend richtete sich Farfarello wieder auf und suchte irgendwo einen stabilen Halt. Er wünschte, er wäre nicht in diese dämliche Zwangsjacke eingeschnürt gewesen. Er konnte sich nichtmal das Wasser wegwischen, das ihm in die Augen lief, geschweige denn sich zur Wehr setzen. Er sah sich um, so gut es ging. Die Fensterchen in den Doppeltüren waren so winzig, daß er da auch nicht durchgepasst hätte, wenn sie nicht vergittert gewesen wären. Sie dienten wirklich nur dazu, ein Minimum an Licht reinzulassen. Die Türen von innen auf zu treten, würde ebenfalls nicht sehr erfolgversprechend sein, wenn man keinen vernünftigen Halt hatte, sich alles um einen herum bewegte und man nichtmal ganz aufrecht stehen konnte. Na schön, es blieb ihm also nur, zu warten, was als nächstes passieren würde und wohin man ihn brachte. Er begann dumpf vor sich hin zu brüten. Crawford wollte ihm nicht helfen. Er konnte Crawford nichtmal einen Vorwurf machen, denn immerhin hatte er vorhin selber erst darauf gepocht, daß sie sich absprachegemäß nicht gegenseitig retten kamen. Das hatte nichts mit Illoyalität zu tun, sondern beruhte einfach nur auf gegenseitigem Einvernehmen. Er war sogar sauer auf Crawford gewesen, daß der unbedingt losrennen und Schuldig helfen wollte, zur Not auch ganz alleine. Dieser Groll bestand jetzt inzwischen nicht mehr. Er war nicht böse, daß Crawford zwar um jeden Preis Schuldig befreien wollte, ihn aber nicht. Im Gegenteil. Jetzt, wo es ihn selber betraf, sah er ein, daß es verdammt blöd war, wenn einem niemand half und man auf sich allein gestellt war. Es wäre richtig gewesen, mit Crawford mitzugehen und den Teamkollegen unter Gewaltanwendung freizukämpfen. Sicher hätte Crawford dann auch das selbe für ihn getan. Farfarello merkte auf, als das Auto eine gefühlte halbe Stunde später zum Stehen kam und der Motor abgestellt wurde. Sie standen hier nicht bloß an einer roten Ampel. Sie hatten offensichtlich ihr Ziel erreicht. Wo mochten sie ihn hingebracht haben? Es dauerte auch nur Sekunden, bis die doppelflügliche Tür des Transporters von außen geöffnet wurde und man ihn anwies, heraus zu kommen. Etwas steifbeinig stieg der Ire aus und schaute sich um, wo er hier gestrandet war. Sah ihm verdächtig nach einem Geschäfts- oder gar einem Fabrikgebäude aus. Auf dem Dach prangte eine riesige Tafel mit dem Firmenschriftzug. „Medi Tec Foundation? Ihr seid MTF-Leute?“, wollte er wissen. Diese erstaunliche Erkenntnis machte ihm viel mehr Kopfzerbrechen als die Frage, warum man ihn ausgerechnet in ein medizinisches Labor brachte. Medi Tec hatte viele Standorte im Großraum Tokyo. Das hier war nicht die Forschungsstation, aus der sie AX-4 herausgeholt hatten. Und AX-4 war bisher auch nicht zur Sprache gekommen. Also ging Farfarello pauschal erstmal nicht davon aus, daß diese Kerle mit der Waffe im Zusammenhang standen. Aber was dann? Stammten die Tuberkulose-Bakterien, die er aufgekauft und noch nicht bezahlt hatte, möglicherweise aus dieser Einrichtung? Sollte sein winselnder, kleiner Geschäftspartner Akimura etwa wirklich ein MTF-Mitarbeiter sein? Andererseits, würde sich ein so großer Konzern wie Medi Tec ernsthaft wegen einer Phiole herkömmlicher Bakterien derart ins Hemd machen und Leute entführen und erpressen? Er konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, warum er ausgerechnet von Medi Tec entführt werden sollte.     Omi wandte sich kurz fragend um, als die Tür aufging, widmete sich aber gleich wieder dem Computer, als er sah, daß es nur Crawford war. „Du siehst ramponiert aus. Alles okay bei dir?“, wollte er wissen. „Ich hab Ayax und Schuldig erwischt, aber hab sie leider wieder verloren. Diese verdammte Waffe war zu schnell für mich.“ Er verzichtete darauf, zuzugeben, daß er froh sein konnte, nach der Prügelei mit ihr überhaupt noch zu leben. Ayax hatte ihn einfach nur gnadenlos zusammengeschlagen und legte dabei Geschwindigkeiten an den Tag, daß selbst seine Hellseherei das nicht mehr ausgleichen konnte. Ihre Bewegungen waren mit dem bloßen Auge kaum noch wahrzunehmen. Und noch viel weniger wollte er zugeben, daß er mehrfach auf Ayax geschossen, ihre Schwachstelle mit der Pistole aber nicht getroffen hatte. Omi kannte diese Schwachstelle ja ebenfalls. Er war es, der sie Crawford verraten hatte. „Ich hab übrigens den Gebäude-Wachschutz gefunden. Er ist tot“, wechselte er schnell das Thema. „Ich bin inzwischen auf was sehr Spannendes gestoßen. Das könnte dich interessieren.“ „Was denn?“ „Ayax war auf der Suche nach ihren Schwestern.“ Crawford blinzelte. „Wie, es gibt noch mehr von diesen Dingern?“ „Zumindest, wenn die Infos hier stimmen. Es ist noch von drei weiteren die Rede, die auf andere Forschungsstationen verteilt sind.“ „Und bekommst du die Standorte raus?“ „Sicher. Ich weiß zwar nicht, welchen davon Ayax zuerst ansteuern wird“, meinte Omi unbesorgt. „Aber dafür hab ich ja mein Peilgerät. Wir finden sie schon.“ Er konnte nicht pauschal davon ausgehen, daß sie von hier aus das nächstgelegene Labor ins Visier nahm. Vielleicht arbeitete sie ja auch nach einem Prioritäten-Prinzip und suchte erstmal die wichtigste ihrer Schwestern. Oder vielleicht jemand ganz anderen. Jemanden vom Forschungsteam möglicherweise. Wer wusste das schon? Omi las weiter laut vor. Eine der Waffen war vorrangig auf Nahkampf ausgelegt, eine auf Distanzkampf, eine auf Spionage und eine auf Schutz und Panzerung. Schuldigs Ayax war wohl die Panzer-Spezialistin, nach allem was er gehört hatte. „Da wäre allerdings noch was.“ Jetzt klang er schon deutlich vorsichtiger. Er kratzte sich unschlüssig am Hals, statt von selber weiter zu reden. „Spuck´s schon aus.“ „Wenn ich das hier richtig verstehe, kann sich Ayax mit den drei anderen AX-Modellen zu einer großen 'Masterwaffe' verbinden.“ Crawford keuchte. „Ach du sch~schöne Schande“, kommentierte er, seine Wortwahl im letzten Moment nochmal überdenkend. Ja, klar. Wenn die auch alle aus Nanobots bestanden, konnten die sich beliebig fusionieren, solange ihre Steuerungen kompatibel waren. „Und jede von denen hat einen Besitzer? Wer von den vieren kontrolliert diese Masterwaffe dann?“ „Gar keiner. Die gehorchen ja inzwischen niemandem mehr. Die führen nur noch die Mission aus, die ihnen einprogrammiert wurde. Ich frag mich eher, wer die drei anderen Besitzer sind. Ich dachte, die Zahl der Menschen mit einer passenden mentalen Begabung wäre denkbar gering. Solche Telepathen wie Schuldig gibt es ja nicht wie Sand am Meer.“ „Wenn das so ist, warum will AX-4 ihre Kollegen dann unbedingt aktivieren? Die dürften doch ohne einen Wirt gar nicht einsatzfähig sein.“ Omi und der Hellseher bekamen synchron riesige Augen und starrten sich gegenseitig entgeistert an, als sie gleichzeitig verstanden. Die Erkenntnis überfiel jeden von ihnen wie ein Schlag in den Magen, trotz dem ihre Absichten und Ziele so gegensätzlich waren, denn DAS wollte keiner der beiden: „Die werden sich ALLE an Schuldig heften!“, fasste Crawford es als Erster in Worte. „Wenn die sich zu einer Gesamteinheit verbinden und eins werden, greift diese ganze Masse an Nanbots auf Schuldig zu.“ „Davon geh ich mal aus.“ „Das wird ihn umbringen!“ Omi nickte, wobei sein Blick nachdenklich abschweifte. Darum also galt das AX-System als parasitäre Waffe. Ayax allein war vielleicht nicht schön, aber zu verschmerzen. Alle vier zusammen allerdings, da wurde es hart. Lange würde sein Körper so einen Energiebedarf definitiv nicht bedienen können. Das hieß im Umkehrschluss, diese Waffen mussten beim Ausführen und Vollenden ihrer Mission schnell sein, damit Schuldig ihnen nicht vorher wegstarb.  „Wir sollten zusehen, daß wir das verhindern“, meinte Omi in einer Stimmlage, die gleichzeitig beruhigend und entschlossen klingen sollte. Er deutete vielsagend auf das Peilgerät in Crawfords Händen. Kapitel 9: ----------- 09 „Hör auf, zu heulen“, befahl Ayax streng. „Ich heule gar nicht.“ Sie beugte sich herüber, packte Schuldig an den Haaren und zwang ihn mit grober Hand, ihr direkt ins Gesicht zu sehen. „Du hast Wasser in den Augen“, bescheinigte sie ihm in ihrer typischen, roboterhaften Emotionslosigkeit. „Du kannst mich mal!“, zeterte der Telepath sauer. „Und lass mich los! Das tut weh!“ Wider Erwarten löste sich ihr Griff in seinen langen, roten Haaren tatsächlich. Sofort sackte er kraftlos wieder gegen das Seitenfenster, jetzt wo das schmerzhafte Ziehen ihn nicht mehr aufrecht hielt. Er unterdrückte ein gequältes Stöhnen. „Ich verstehe dein Gejammer nicht“, meinte Ayax und sah mit verschränkten Armen zu ihm herüber. „Wieso bist du so sauer über den Kampf? Ich war gezwungen, mich gegen Crawford zu verteidigen. Er hat mich angegriffen.“ „Er wollte mich retten!“ „Ich habe Crawford am Leben gelassen. Was willst du denn noch!? Ich hätte ihn ja auch umbringen können, wenn dir das lieber gewesen wäre!“ Schuldig winkte ab. Wie sollte er einer Maschine erklären, warum er auf Crawfords Seite stand, obwohl er in ihren Augen der Aggressor war? „Wir wissen beide, daß du weg willst. Und wir wissen auch beide, daß ich dich nicht gehen lassen kann. Ich brauch dich noch, das ist nicht zu ändern. Also unterlasse endlich dieses widerborstige Sträuben.“ Der Telepath warf ihr einen uneinsichtigen Blick von der Seite zu. „Wofür genau brauchst du mich denn? Wie lautet deine Mission?“ „Du bist nicht autorisiert, Zugang zu dieser Information zu erhalten.“ Schuldig seufzte. „Na schön, wer hat dir diese Mission einprogrammiert? Kannst du mir wenigstens das sagen?“ „Die Forscher der Medi Tec Foundation, die uns AX-Waffen entwickelt haben.“ „Und für wen arbeiten die?“ „Die Medi Tec Foundation gehört Reiji Takatori.“ Schuldig war immer verwirrter. „Sekunde, das musst du mir nochmal genau erklären. Du arbeitest für Takatori? Ich meine, du gehörst Takatori?“ „Ja.“ „Wieso schickt Takatori uns los, um sein Labor zu überfallen und dich zu klauen, wenn ihm dieses Labor mit allem drum und dran sowieso gehört?“ „Das sind Fragen, die ich als Waffe nicht stelle. Ich befolge nur die Mission, die mir einprogrammiert wurde.“ Schuldig überlegte, wie er sich darauf einen Reim machen konnte. Klang, als hätte es zwischen Takatori und Medi Tec Differenzen gegeben und als hätten die Forscher Takatoris Befehle nicht mehr befolgt. Er fand, das hätte Takatori ihnen wenigstens sagen können, als er sie damals losgeschickt hatte. Er hatte ja gar nichts über diese Waffe gewusst. Folglich hatte er sie nicht selber in Auftrag gegeben. „Wen müsste ich fragen, wenn ich darauf eine Antwort haben will? Wer genau hat dich programmiert?“ „Du kannst niemanden mehr fragen. Mein Entwicklungsteam ist inzwischen vollständig eliminiert worden.“ Inzwischen sprang die rote Ampel vor ihnen auf Grün, so daß Ayax ihre Arme entknotete und wieder nach dem Lenkrad griff. „Von wem?“ Ayax antwortete nicht. Sie fuhr einfach nur schweigend den Firmenwagen, den sie aus der Tiefgarage der Medi Tec Foundation gekapert hatte, um das Labor schnellstmöglich zu verlassen. Schuldig wunderte sich längst nicht mehr darüber, was sie alles konnte. Seinethalben eben auch Autofahren. Sollte sie mal machen. „Ich stell mal eine Theorie in den Raum“, quasselte der Telepath also selbst weiter. „Halt den Mund.“ „Deine Mission ist es offenbar, Takatori und seine Schlüsselfiguren auszuschalten. Denn wenn du FÜR Takatori arbeiten würdest, hätte er ja von dir gewusst.“ „Muss ich dich wieder ruhigstellen?“, drohte sie. „Bin ich eine Schlüsselfigur?“ „Wenn es dich beruhigt: nein! Was aber nicht heißt, daß ich dich gehen lasse. Und jetzt Ruhe, sonst weißt du, was dir blüht.“ Schuldig verschränkte auf dem Beifahrersitz die Arme und hielt zu seinem Eigenschutz tatsächlich schmollend die Klappe.     Die fensterlose Abstellkammer, in die man ihn eingesperrt hatte, bot zwar einen ganzen Haufen Trödel, aber nichts Nützliches. Nagi hatte die letzten anderthalb Stunden damit verbracht, die Kisten hier zu durchwühlen, hatte aber nichts darin gefunden, was ihm beim Öffnen der Tür oder als Waffe geholfen hätte. Er konnte seinen Kontrahenten ja wohl schwerlich ein Harry-Potter-Buch mit Softcover über die Rübe hauen. Ein bisschen mehr würde schon nötig sein, um ein Weiß-Mitglied außer Gefecht zu setzen. Leider war das Türschloss auch nicht derart, daß er es mit seinen telekinetischen Kräften hätte öffnen können. Entsprechend grummelig war der Junge, als die Tür aufgeschlossen wurde und man sich wieder mit ihm befasste. Ken erschien und winkte ihn mit ernster Miene heran. „Raus da, Freundchen!“, befahl er. Murrend aber widerstandslos kam Nagi der Aufforderung nach. Was blieb ihm auch übrig? Er wurde im Nachbarzimmer förmlich per Hand an einen Esstisch bugsiert und auf einen Stuhl gedrückt. Yoji saß bereits mit einer Kaffeetasse dort, Ken öffnete eine neue Flasche Wasser, goss sich und Nagi jeweils ein Glas ein und gesellte sich schließlich auch dazu. Mitten auf dem Tisch stand die Kerze, hinter der sie allesamt her waren. Unscheinbares, weißes Wachs, vielleicht 15 Zentimeter hoch und gerade so dick, daß man sie mit einer Hand nicht mehr komplett umfassen konnte, aber daß man sie hinstellen konnte, ohne daß sie umfiel. „Also!“, begann Yoji theatralisch und schob Nagi die Kerze hin. „Du warst auch hinter diesem Ding hier her. Ich nehme an, du weißt was darüber.“ Nagi schüttelte den Kopf und hielt die Hände unter der Tischplatte, statt nach dem Objekt zu schnappen. „Du greifst uns wegen dieser Kerze an und weißt nichtmal, wozu sie gut ist?“ „Ich habe nur meinen Auftrag ausgeführt.“ Der hochgewachsene Playboy runzelte die Stirn und nahm erstmal einen Zug aus seiner Kaffeetasse, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Er wirkte unzufrieden. „Wisst ihr denn, wozu sie gut ist?“, hakte Nagi kühl nach. „Um ehrlich zu sein: nö“, warf Ken ein, der mit beiden Ellenbogen auf der Tischplatte stützte. „Es hieß, diese Kerze wäre der Schlüssel um AX-4 aufzuhalten. Wir hatten nicht gedacht, daß es tatsächlich nur eine ganz gewöhnliche Kerze ohne irgendwas dazu sein würde. Wir sind ein bisschen ratlos mit diesem Ding. Jedenfalls haben wir keine Idee, wie so ein billiger Wachs-Klumpen einen Androiden stoppen könnte.“ Nagi nahm die Kerze nun doch an sich und schaute sie genauer an. An einer Stelle war eine deutliche Kratzspur zu finden. Diese Kerle hatten offenbar schon Proben von dem Wachs genommen und untersucht. Nagi hielt sie gegen das Licht der Deckenlampe. Viel sah man damit natürlich nicht. „Habt ihr ein Ultraschall-Gerät hier?“ „Du willst die Kerze durchleuchten?“ „Irgendwas muss ja drin sein, wenn die Kerze nicht selber der springende Punkt ist.“ Yoji stellte seine Tasse zurück auf den Tisch. „Wir kommen an ein Röntgen-Gerät ran, wenn wir wollen.“ „Nein, kein Röntgen. Röntgenstrahlen beschädigen technische Geräte mitunter. Damit könntet ihr das, was auch immer da drin eingegossen ist, kaputt machen.“ Ken nickte einverstanden. „Ich kümmere mich.“   Tatsächlich saßen Yoji und Nagi noch am gleichen Nachmittag gemeinsam am PC in der Basis von Weiß und beschossen das ominöse Wachsgebilde von allen Seiten mit Ultraschall. Er hätte nie gedacht, die Basis mal von innen zu sehen, geschweige denn hier zu arbeiten. Aber das kleine Computer-Genie von Weiß war gerade auf Mission und konnte sich nicht selber darum kümmern, wenn man Yoji glauben wollte. „Wie oft willst du das Ding denn noch durchleuchten?“, maulte Yoji gelangweilt. „Sei doch nicht so ungeduldig.“ „Wenn da was drin wäre, würden wir es doch sehen!“ „Wer sagt, daß das gesuchte Teilchen groß genug ist, um gleich gefunden zu werden? Wir reden hier immerhin von Nanobots.“ „Ich hoffe, wir finden heute noch was.“ „Siehst du das da?“, meinte Nagi und zeigte auf den Bildschirm. „Wahnsinn, ein kleines, schwarzes Pixel“, lästerte der Playboy lustlos. „Da wird ein Staubkorn mit ins Wachs rein geraten sein.“ „Nicht unbedingt. Kann man das irgendwie vergrößern?“ Nagi drehte die Kerze ein wenig, in der Hoffnung, den Einschluss besser vom Ultraschall erfasst zu bekommen, und machte noch einen Screenshot. Dann tippte er wild auf der Tastatur herum und stellte einige Filter anders ein. Er blühte langsam auf. Am Computer war er ganz in seinem Element und störte sich gar nicht mehr so vordergründig daran, daß er hier gerade von Weiß gefangen gehalten und zur Arbeit gezwungen wurde. Was es mit der dämlichen Kerze auf sich hatte, wollte er ja schließlich selber wissen. Yoji begutachtete das etwas verschwommene Bild auf dem Monitor argwöhnisch. „Wofür hältst du es?“ „Für einen Computer-Chip. Wenn ich raten müsste, sind da Daten drauf, die die Instruktionen von AX-4 verändern. Mit etwas Glück wird ihre Mission abgebrochen. Oder ihre Verbindung zum Besitzer deinstalliert. Aber um das rauszufinden, bräuchte ich anderes Equipment hier und müsste das Ding natürlich erstmal aus dem Wachs rauskriegen. Feuer wäre ein bisschen schlecht.“ Yoji quälte sich seufzend vom Stuhl hoch und griff nach seinem Handy. „Entschuldige mich kurz. Und stell nichts Blödes an, solange ich weg bin. Aus diesem Raum gibt es nur den einen Ausgang, und dort werde ich stehen. Also versuch gar nicht erst, abzuhauen.“ Mit diesen Worten stieg er die Treppe nach oben und verschwand.     Farfarello wurde unsanft durch die Gänge des Gebäudekomplexes geschoben. Hier sah ein Gang aus wie der andere. Erstaunlich, daß die sich hier drin orientieren konnten. Dann und wann kreuzten bewaffnete Securitys ihren Weg, die aber keine Notiz von dem in Zwangsjacke verschnürten Gast nahmen. So intensiv Farfarello sich auch in den Räumen und Fluren umsah, durch die er kam, er fand ... naja ... nichts. Nicht, daß er gewusst hätte, wonach er nun konkret Ausschau halten sollte. Fluchtmöglichkeiten, bekannte Gesichter, Hinweise darauf, warum man ihn hergeschleppt hatte. Er fand nichts dergleichen. Ihm fiel nur auf, daß seine Kidnapper Zugangskarten für die Scanner an den Türen hatten, um sich hier überall Zutritt zu verschaffen. Aber ob sie folglich Mitarbeiter hier waren oder die Karten nur gestohlen hatten, wusste er deshalb noch lange nicht. Irgendwann gab er das stumme Gerätsel auf. „Verratet ihr mir nun, wer ihr seid?“, wollte er direkt von den vermummten Kerlen wissen. „Halt die Fresse!“, motzte einer und stieß Farfarello zu einer metallenen Schiebetür. Dahinter wurde bereits Gekläffe und Gebell laut. „... oder was ihr wollt?“ „Fresse, hab ich gesagt! Und rein da!“ Die Tür öffnete sich. Durch sie gelangte man in einen gekachelten, muffigen, großen Raum mit mehreren Zwingern, in denen verschiedene, große, gefährlich aussehende Hunde eingesperrt waren. Wozu brauchte man die? Waren das Laborhunde? Versuchstiere? Einer der Männer krallte Farfarello an den Haaren und zerrte ihn hinein, ehe er weiter darüber nachdenken konnte. Das reichte jetzt endgültig! Farfarello hatte diese Behandlung satt. Er fuhr herum und verbiss sich seitlich im Hals des Mannes. Seine Zähne waren die letzten Waffen, die ihm noch blieben. Der Kerl schrie zwischen Schreck und Schmerz auf und ließ sich reflexartig nach hinten umfallen. Farfarello ging mit ihm zu Boden. Sofort war eine riesige Keilerei im Gange. Die zwei übrigen Entführer stürzten sich auf ihre gefesselte Geisel. Farfarello trat und biss in Rage um sich. Binnen Sekunden war er blutverschmiert, aber nicht von seinem eigenen Blut, sondern dem seiner Kidnapper. Er biss in Hände, in Nasen, in Unterarme, in Ohren, in Halsschlagadern, riss teilweise Wunden, riss teilweise ganze Fleischstücke heraus, wie ein Raubtier. Wie im Rausch. Und über allem schwebte das hysterische Bellen der eingesperrten Hunde. Ein Pistolenschuss. Farfarello zuckte zusammen. Keine Ahnung, ob er getroffen worden war. Er spürte ja keine Schmerzen. Also scherte er sich für´s Erste nicht darum. Er spürte nur, daß er plötzlich ungeahnte Bewegungsfreiheit hatte. Der Schuss hatte einen Halteriemen seiner Zwangsjacke durchschossen, so daß die Fixierung sich öffnete. Der Ire strampelte sich aus dem lästigen Kleidungsstück frei und dann begann der Krieg erst richtig. Jetzt konnte er greifen, schlagen, kratzen, sich eine Waffe schnappen! Noch mehr Blut, es war ein Fest! Einem der Männer rutschte im Eifer des Gefechts eine Fernbedienung aus der Jacke und klapperte zu Boden. Farfarello trat mit Schwung auf das kleine Plastik-Kästchen, das er für einen Alarmauslöser hielt und das unter der rüden Gewalteinwirkung in hundert Teile zersplitterte, und schnaufte triumphierend. Die Freude blieb ihm im Hals stecken, als sich alle Hundezwinger langsam und gleichzeitig öffneten. Die aggressiven Tiere stürzten sich sofort auf die immer größer werdenden Türspalte ihrer Käfige und versuchten ungeduldig, heraus zu kommen. „Oh fuck!“, keuchte Farfarello erschrocken. Die Fernbedienung war der Öffner für die Hundezwinger gewesen. Schlecht. Ganz schlecht. Er wandte sich um und rannte.     „Omi, wo bist du gerade?“, hörte er Yojis Stimme in der Leitung. „In einem der Medi Tec Labore. Mir geht´s gut“, meinte er und hielt sich dabei den Zeigefinger vor die Lippen, um Crawford zu signalisieren, daß er still sein sollte. Er konnte ja schlecht zugeben, mit einem Mitglied von Schwarz auf Achse zu sein. Wie hätte das auch ausgesehen? Seine Kameraden wussten von nichts. „Ich war zwar noch nicht erfolgreich, aber bisher stecke ich nicht in Problemen. Und wie steht´s bei euch?“ „Wir haben diese bekloppte Kerze ausgebuddelt. Wir könnten dich hier brauchen, Omi. In das Wachs ist so ein Nanobot-Teilchen mit eingegossen, wie es aussieht.“ „Oh! Bringt das Wachs bloß nicht mit Feuer zum Schmelzen, um da ran zu kommen! Mit Hitze zerstört ihr es wahrscheinlich!“, meinte der Junge erschrocken. „Das wissen wir. Aber um es mechanisch aus dem Wachs raus zu popeln, ist das verfluchte Ding zu klein. Wachs gehört chemisch gesehen zu den Fetten und Ölen, also ist die Kerze wahrscheinlich alkohollöslich. Wir werden sie auflösen.“ „Das ist gut. Das schadet dem Metall nicht. Was ist das für ein Nanobot-Teilchen?“ „Sieht ganz nach einem Lösch-Chip aus. Damit kann man vielleicht die Personalisierung von AX-4 aufheben, also die telepathische Verbindung zu ihrem Wirt löschen, und ihre einprogrammierte Mission abbrechen. Aber das wirst du uns genauer sagen können. Du bist der Computer-Spezi.“ Omi nickte leicht vor sich hin, während er schon über diese Informationen nachdachte. Die Wissenschaftler der Medi Tec Foundation hatten echt mitgedacht, wenn sie so einen Chip erschaffen hatten. „Es gibt also einen Lösch-Chip für AX-4. Das ist gut“, sinnierte er im Plauderton, vorrangig um diese Neuigkeit unauffällig Crawford mitzuteilen. „Ich komm so bald wie möglich zurück.“ „Eins noch!“, fuhr Yoji amüsiert fort. „Wir haben diesen kleinen Wichtigtuer von Schwarz. Wie nennt er sich doch gleich? Prodigy?“ Omis Augen weiteten sich entsetzt. „Wie, ihr habt Prodigy?“, entfuhr es ihm, womit er Crawford neben sich ebenfalls hochschrecken ließ. Yoji lachte am anderen Ende unbekümmert. „Ja, der war auch hinter der Kerze her und wollte uns gern beim Ausheben des Grabes überfallen. Wir haben ihn einfach mal weggefangen.“ „Ihr- äh ... ihr habt doch nichts mit ihm angestellt, oder?“, vergewisserte sich der Junge. Gott, Crawford würde ihn umbringen oder schlimmeres, wenn Weiß seinem Adoptivsohn irgendwas antaten. „Ach, er lebt noch, wenn das deine Sorge ist. Aber ich kenne da jemanden, der sicher einige Fragen an ihn hat. Das wird lustig. ... Also beeil dich. Wir warten im Hauptquartier mit dem Nanobot-Chip auf dich“, meinte Yoji noch bester Laune und legt auf. Das Tuten der freien Leitung verabschiedete Omi. Der Knirps nahm langsam das Handy vom Ohr und presste die Lippen zusammen, bevor er vorsichtig einen Blick zu seinem einen Kopf größeren Begleiter hinaufwarf. Crawford tastete gerade blind mit einer Hand nach der Wand, um sich daran abzustützen. Er hyperventilierte fast und zitterte unübersehbar. „Oracle ...“, hob Omi beruhigend, fast tröstend, an. „Die werden Nagi nicht einfach laufen lassen, oder?“ Der Junge schüttelte langsam den Kopf. „Ich schätze nicht. Dafür ist Kritikers und Persers Interesse an ihm einfach zu groß.“ Crawford lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, kniff die Augen fest zu, als könne er der Situation damit entfliehen, ließ den Kopf verzweifelt hängen und krampfte die Finger zu beiden Seiten in seine Haare. Das war das Ende. Jetzt waren sie alle am Arsch. Schuldig war in den Fängen dieser ausgetickten, parasitären Maschine, Farfarello hatte sich mit den falschen Leuten angelegt und hing in einer Lösegeldforderung fest, und jetzt war auch noch Nagi in der Gewalt von Weiß und hatte ein hartes Verhör zu befürchten. Wen um Himmels Willen sollte er retten? Die Wahl zwischen Schuldig und Farfarello war ihm noch verhältnismäßig leichtgefallen. Aber Nagi in den Händen von Kritiker und Perser veränderte alles. Noch dazu wenn es dort auch einen Lösch-Chip für Ayax gab. Omi ließ ihm die nötige Zeit, um sich wieder zu sammeln. Der Hellseher war gerade komplett fertig mit der Welt, das konnte Omi ihm nachfühlen. Andererseits hätte er sich auch nicht gewundert, wenn der jetzt aus Wut oder Verzweiflung auf ihn losging. „Bist du okay?“, wollte Omi irgendwann mitfühlend wissen, auch wenn er selber wusste, daß jetzt gar nichts mehr okay war. „Es tut mir leid, wirklich.“ Crawford brauchte immer noch einige weitere Sekunden, aber irgendwann hob er den Kopf und atmete tief durch, um sich wieder in den Griff zu kriegen. Er war froh, daß ihm der dicke Kloß im Hals keine Tränen in die Augen getrieben hatte. Dafür hätte er sich vor dem Weiß-Knirps definitiv geschämt. Sein Blick schweifte kurz über einen imaginären Lageplan, als er nachdachte. Hier zu sitzen und zu heulen, brachte nichts. Takatori würde ihm ebenfalls nicht helfen, das wusste er jetzt schon. Was er nicht selber geregelt bekam, war und blieb verloren. Er musste sich entscheiden. Wiedermal. „Was tust du jetzt?“, hakte Omi ruhig nach. „Ich werde jetzt endlich Schuldig finden“, legte er fest und stemmte sich voller erzwungenem Tatendrang von der Wand weg. Omi zog einen Moment lang ein verwundertes Gesicht. Er hatte abermals Mastermind den Vorrang eingeräumt. Dieser rothaarige Teufel musste ihm wirklich wichtig sein. Jedenfalls sehr viel wichtiger als der Rest seines Teams. Omi wurde mehr und mehr klar, daß die zwei tatsächlich Freunde waren. „Gut, lass uns gehen!“, stimmte der Junge zu und zückte sein Peilgerät, um Ayax wieder ausfindig zu machen. „Du kommst mit?“ „Ja.“ „Wieso?“, wollte Crawford wissen. „Solltest du dich nicht zurück zu deinen Kollegen scheren? Oder glaubst du, ich würde dich jetzt nicht mehr gehen lassen? Wer weiß, du würdest vielleicht eine gute Geisel abgeben, um dich gegen Nagi einzutauschen.“ „Bestimmt. Vielleicht hättest du damit sogar Erfolg. Aber ich hab dir versprochen, daß wir Schuldig retten. Dabei bleibe ich“, klärte der junge Computer-Hacker ihn auf und lächelte zuversichtlich. „Sekunde mal. Du sagtest, Schuldig wäre dir völlig egal. Du wolltest nur die Waffe finden und aufhalten. Das waren deine Worte!“ Omi nickte. „Ja, waren sie. Und ich will AX-4 immer noch stoppen. Aber meine Ansichten haben sich inzwischen verschoben. Das hier ist für dich offensichtlich was Persönliches. Schuldig ist ein wirklicher Freund für dich. Ich überlege schon die ganze Zeit, ob ich auch einen so guten Freund habe, der sein Leben für mich riskieren würde. Wahrscheinlich nicht. Mit so einem mörderischen Job wie unserem ist es auch schwer, echte Freunde zu finden.“ Er machte eine Sprechpause, um das wirken zu lassen. „Lass ihn uns zurück holen“, fügte er dann noch an. Kapitel 10: ------------ 10 „Kannst du nicht etwas langsamer gehen?“ „Jammer nicht und komm!“, befahl Ayax und zerrte Schuldig unbarmherzig am Handgelenk hinter sich her. Schuldig gab einen mürrischen Protestlaut von sich. Ihr Griff tat weh. Und sie hatte eine Kraft, die man ihr aufgrund ihrer doch recht zierlichen Mädchenerscheinung gar nicht zugetraut hätte. Aber sie war eben eine Maschine. Natürlich hatte sie mehr Kraft als ein Mensch mit seinen paar Muskeln. Leider war sie auch eine Spur skrupelloser als ein Mensch. Über ihre mentale Verbindung wusste sie ganz genau, daß er kurz vor dem Zusammenbrechen war. Es war ja nicht so, als ob er diesbezüglich irgendwie ein Weich-Ei oder gar ein Simulant gewesen wäre. Trotzdem trieb sie ihn gnadenlos in dem Tempo weiter, das ihr gerade genehm war. Schuldig ärgerte sich, daß Crawfords Rettungsversuch gescheitert war. Natürlich machte er Crawford keine Vorwürfe, versagt zu haben. Im Gegenteil, er war mehr als dankbar, daß Crawford überhaupt gekommen war, um ihn zu befreien. Das war innerhalb ihrer Truppe so nicht vereinbart und sagte wohl mehr als tausend Worte, wie sie beide sich wirklich gegenüberstanden. Aber er grämte sich maßlos, daß er Crawford nicht hatte helfen können. Schuldig hätte schon gern zum Gelingen der Rettung auch selbst etwas beigetragen. Es war irgendwie unfair, daß Ayax ihn derart handlungsunfähig machen konnte. Er hatte ja gar keine Chance, für sein Heil zu kämpfen. „Wo sind wir hier eigentlich?“, versuchte Schuldig ein Gespräch am Laufen zu halten, unter anderem, um sich selber von seinem schwächelnden Zustand abzulenken. „Wieso stellst du falsche Fragen?“, gab Ayax emotionslos zurück. „Inwiefern?“ „Du weißt, wo wir sind.“ „Ich weiß nicht, wo wir sind!“, verteidigte sich der Telepath empört. „Und du willst es auch gar nicht wissen. Dich interessiert eigentlich, was wir hier wollen. Ihr Menschen seid echt komisch. Fragt etwas anderes als ihr wissen wollt.“ „Und du Maschine hast keine Ahnung von der menschlichen Denkweise! Ein Mensch hätte sofort verstanden, was sich hinter meiner Frage verbirgt“, maulte Schuldig und stieg über ein paar blutüberströmte Leichen, die ihnen gerade im Weg herumlagen. Himmel, was war hier bloß los gewesen? Man konnte ja fast vermuten, Farfarello sei hier zugange gewesen, so wie es hier aussah. Ein Knurren und ein Klackern von krallenbewährten Tatzen auf hartem Boden ließ ihn hochschrecken. Ayax gab den schmerzhaften Klammergriff um sein Handgelenk endlich frei und blieb ebenfalls stehen. Ein kehliges Knurren kündigte schon vorher an, was da gleich um die Ecke kommen würde. „Ach du Schande“, hauchte Schuldig leise, als der riesige Rottweiler am anderen Ende des Gangs auftauchte. Reflexartig ging er seine Optionen durch. Er war definitiv zu geschwächt, um sich mit so einem Tier anzulegen, wenn er es nicht gerade bequem und in aller Ruhe über den Haufen schießen konnte. Aber bewaffnet war er ja inzwischen auch nicht mehr. Weglaufen? Auch dafür war er nicht in einem erfolgversprechenden Zustand. Hoffentlich würde AX-4 ihn schützen. Bestimmt würde sie das. Sie brauchte ihn doch noch. Der Hund blieb kurz stehen, wie um die Lage einzuschätzen, und tapste dann ohne Eile herbei. Immer näher. „Äääh ... Ayax!?“ „Keine Sorge, sie tut dir nichts.“ „Sie???“ „AX-3“, präzisierte sie. „Wegen ihr sind wir hier.“ „AX-3? Dieses Viech ist genau sowas wie du?“, wollte Schuldig überrascht wissen. „Ist das dein Vorgänger-Modell, oder was?“ „Nein, meine Schwester-Version. Wir wurden parallel entwickelt.“ „Aha!?“, machte der Telepath nur, nicht so recht wissend, was er dazu sagen sollte. Und der Rottweiler kam immer noch Schritt für Schritt näher. „Es gibt vier von uns. Darum heiße ich AX-4. Ich bin die vierte“, klärte Ayax ihn weiter auf, weil sie wusste, daß es ihn interessierte, auch wenn er es gerade nicht in Wort zu fassen vermochte. „Hat sie dieses Massaker hier angerichtet? Diese Forschungsstation wurde doch überfallen, wenn ich mich so umsehe. Hier scheint keiner mehr zu leben.“ „Weiß ich nicht. Aber das wird sie uns sicher gleich verraten. Jedenfalls muss irgendwer sie rausgelassen haben.“ „Und warum ist sie dann noch hier?“ „Ihre Ladestation ist hier. Ihr würde draußen die Energie ausgehen. Ohne einen Wirt kann sie die Einrichtung nicht verlassen. ... Nenne es meinetwegen ‘Besitzer‘, wenn dir das besser gefällt“, fügte sie noch an, als sie bei dieser Wortwahl Schuldigs akuten Unmut aufkeimen spürte. „Als ob du mich noch als Besitzer ansehen würdest ...“ Schuldig gab seiner Schwäche endgültig nach und ließ sich zu Boden plumpsen. Er musste sich setzen. Er war am Ende. Obwohl er sich seit dem letzten Energieraub schon wieder etwas hatte erholen können, war er noch weit davon entfernt, sich fit zu fühlen. Es war ihm egal, daß er sich dabei mehr oder weniger in eine Blutschleifspur setzte. Sein schneeweißer Anzug war sowieso nicht mehr zu retten. Einige Meter vor ihnen richtete sich der riesige Rottweiler plötzlich in einen Zweibeiner-Stand auf und wurde zu einem Menschen. Die Silhouette verschwamm als fließender Übergang vom Tier zum Menschen. Wenngleich Schuldig solche Verwandlungen schon an Ayax erlebt hatte, fand er sie doch immer noch gruselig-faszinierend. Ihre menschliche Erscheinung war Ayax gar nicht ganz unähnlich. Auch sie hatte dieses ebenmäßige Puppengesicht ohne individuelle Gesichtszüge und einen jugendlich-reifen Mädchenkörper. Allerdings waren ihre Haare im Gegensatz zu denen von Ayax nur knapp schulterlang, wuschelig und dunkelgrün. Schuldig überlegte, warum man diesen Maschinen unbedingt Mädchen-Körper hatte geben müssen. Was hatten die Entwickler damit bezweckt? Tarnung? Sollten sie auf offener Straße nicht auffallen? Sollten die AX-Modelle harmlos aussehen? Sollten ihre Opfer sie unterschätzen oder sich verführen lassen? Sollten ihre Wirte ihnen vertrauen und mit ihnen sympathisieren? Wer hatten ursprünglich überhaupt die Wirte für diese Dinger sein sollen? Angeblich waren die ja von normalsterblichen Menschen ohne mentale Fähigkeiten gar nicht einsetzbar. Man würde doch kaum einen riesen Haufen Arbeit und Forschungsgelder in die Entwicklung solcher Nanobot-Waffen stecken, wenn man hernach niemanden hatte, der sie benutzen konnte. Das Zusammentreffen von Ayax und ihrer ‘Schwester‘ AX-3 verlief auffallend emotionslos. Die zwei waren sich noch nie begegnet, soweit Schuldig wusste. Aber die beiden verhielten sich nicht wie zwei Menschen, die sich zum ersten Mal sahen und versuchen mussten, sich gegenseitig kennen zu lernen. Und schon gar nicht wie Geschwister, die sich nach langer, verzweifelter Suche endlich gefunden hatten. Sie standen sich einfach nur stumm und reglos gegenüber.     Nagi saß mit verschränkten Armen herum und wartete. Um ehrlich zu sein, langweilte er sich sogar. Mit der Kerze machen konnte er vorläufig nichts mehr. Er hatte gerade nicht die nötige Ausstattung, um den Chip heraus zu holen oder anderweitig zu analysieren. Weg kam er hier ebenfalls nicht, also brachte es auch nichts, die Kerze heimlich einzustecken. Das Internet war abgeschalten, also konnte er nichtmal irgendwem eine Hilfe-E-mail schicken, solange er unbeobachtet war. Aus Mangel an besseren Beschäftigungen begann er die Daten durchzugrasen, die auf dem PC gespeichert waren. Wann bekam man schon mal die Chance, den Computer von Weiß zu filzen? Hätte ihn ja sehr gewundert, wenn er hier nichts Interessantes fand. Und selber Schuld, wenn man ihn mit dem Computer allein ließ. Er wurde auch schnell fündig. Passwörter, Lagepläne, elektronische Akten, Missionen ... Dieser Rechner hier war ja förmlich ein Geschenk! Nagi durchwühlte die Schubladen des Schreibtisches, fand tatsächlich einen alten USB-Stick darin und stöpselte ihn an, um sich einige dieser Dokumente zu ziehen. Das Fehlen eines Sticks würde hoffentlich länger unbemerkt bleiben als beispielsweise das Fehlen dieser mischuggenen Kerze. Yoji ließ sich Zeit. Als Nagi sich schon längst alles gesichert hatte, was er toll fand, war von dem Playboy immer noch keine Spur zu sehen. Was gab es also noch zu tun? Einfach mal rotzdreist das Laufwerk C formatieren und damit den gesamten PC schrotten? Nein, das war vielleicht zu auffällig. Seine Kidnapper würden ihn totschlagen, wenn sie zurückkamen und das sahen. Andererseits sagte ja keiner, daß das sofort geschehen musste. Er hatte vorhin ein spaßiges Tool von Omi entdeckt, mit dem man programmieren konnte. Der junge Hacker dachte mit einem gehässigen Lächeln über eine stille Countdown-Sequenz nach, die die Festplatte erst in ein paar Stunden automatisch zerstören würde. Bis dahin hoffte er ja wohl von hier wieder weg zu sein. Enthusiastisch machte er sich ans Werk.     „Takatori ...“, murmelte Brad Crawford unglücklich, als er auf sein dudelndes Handy schaute. Der fehlte ihm jetzt gerade noch. Trotzdem ging er ran. Mobiltelefone waren echt eine blöde Erfindung. Musste man denn unbedingt ständig für jeden erreichbar sein? „Oracle, du kommst sofort in mein Büro!“, plaffte der Boss ihn an, noch bevor Crawford auch nur zum Grüßen kam. „Jetzt?“ „Auf der Stelle!“ „Ist was passiert? Das ist gerade sehr ungünstig, Chef.“ „Ich sagte: sofort! Hier rennen überall dubiose, bewaffnete Kerle vor meinem Gebäude rum. Das ist eindeutig eine Bedrohung. Du wirst herkommen und mir die Kerle vom Hals halten, wenn es sein muss.“ „Sie wollen von mir Personenschutz?“ „Personenschutz?“, mischte sich Omi fassungslos von der Seite ein. „Hat der Kerl nicht eine komplette Privatarmee für sich alleine?“ Crawford wedelte unterbrechend mit der Hand, damit der Knirps still war. Aber es war zu spät. Takatori hatte ihn durch das Telefon hindurch gehört. „War das Bombay?“, schrie er so laut ins Telefon, daß Crawford den Hörer etwas weghalten musste, damit ihm nicht das Trommelfell platzte. „Es stimmt also, was meine Leute mir zugetragen haben!? Du machst mit Weiß gemeinsame Sache!“ „Das ist anders, als Sie denken ...“ „Oh, das ist GENAU so wie ich denke! Du verlierst rein zufällig meine Waffe, bevor ich ihre Personalisierung ändere, und gerade bekomme ich einen erpresserischen Anruf von einem Trupp schmieriger Auftragskiller, die Berserker aus dem Verkehr gezogen haben! Auf deine Veranlassung hin!“ „Auf meine ...???“ „Du hast die doch mit Lösegeldforderungen zu mir geschickt, oder etwa nicht? Nebenbei bringt dein Sohn die Kerze aus Hoshites Grab, die er mir beschaffen sollte, zu Weiß. Und jetzt auch noch deine Befehlsverweigerung, wenn ich dir sage, daß du herkommen und dich um die Kerle vor meinem Gebäude kümmern sollst! Es ist eindeutig: du bist ein Verräter, Oracle! Und ich schwöre dir, du wirst die Nacht nicht überleben! Ich hetze dir alle Truppen auf den Hals, die ich habe!“ „Hetzen Sie Ihre dämlichen Truppen lieber auf die Pfeifen vor Ihrem Büro, Sie biologische Bremsspur!“, schrie Crawford ins Telefon, um Takatori zu unterbrechen und selbst mal zu Wort zu kommen. „Ich könnte Ihnen das alles erklären, wenn Sie mich endlich mal lassen würden!“ „Du bist ein toter Mann, Oracle. Mein Wort darauf“, gab Takatori wütend zurück und beendete das Gespräch, ohne auf weitere Einwände zu warten. Crawford hörte sich das Tuten in der Leitung einige Sekunden lang an, bis ihm das Handy vor Kraftlosigkeit aus der Hand rutschte und zu Boden klapperte. Als wären drei gefangene Teamkollegen noch nicht Problem genug, hatte sein Boss jetzt also auch noch beschlossen, ihn als Verräter zu jagen und ihm eine ganze, kleine Armee hinterher zu schicken. Diese Tatsache nahm Crawford völlig reglos auf. Das war jetzt endgültig zu groß für seine seelische Belastbarkeit. Er nahm das nur noch als nackte Information hin, verarbeitete es aber auf der psychischen Ebene nicht mehr. Sein Kopf war völlig leer und emotionslos. Nur sein Körper machte schlapp. Er fühlte sich plötzlich so entsetzlich zittrig auf den Beinen, daß er der Erdanziehung nachgeben musste. Ein Zusammenbruch. Er rutschte an der Wand herunter bis er auf dem Fußboden zu sitzen kam, schlang die Arme um seine Schienbeine und verbarg das Gesicht auf seinen Knien. Das war´s. Game over. Er hatte verspielt. Mit etwas gemischten Gefühlen kauerte Omi sich vor ihm ebenfalls in die Hocke und musterte die resignierte Gestalt. Er hatte den Anführer von Schwarz noch nie so schwach und menschlich erlebt. Der war doch nicht so abgebrüht wie er immer tat. In gewisser Weise beruhigte das Omi sogar ein wenig. „Hey. Es wird sich alles klären, okay? Gib deinem Boss einfach etwas Zeit, sich wieder zu beruhigen, und dann sag ihm nochmal in Ruhe, was passiert ist. Das ist hinzukriegen, überhaupt kein Drama.“ Crawford reagierte nicht. „Vielleicht solltest du diese Rettungsaktion hier erstmal abbrechen und dich in Sicherheit bringen“, fuhr Omi vorsichtig fort. „Wenigstens solange, bis ...“ „Nein“, legte der Hellseher sofort fest und hob den Kopf endlich wieder. „Ich werde Schuldig zurückholen! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Davon wird mich auch Takatori nicht abhalten!“ Der Junge nickte leicht. War das stur? War das loyal? War das Wahnsinn? Keine Ahnung. Aber wenn Takatori ihn daran nicht hindern konnte, dann konnte Omi das erst recht nicht. Also versuchte er gar nicht erst, Crawford umzustimmen.     Schuldig saß schwer atmend wie ein Marathonläufer auf dem Fußboden, weil er vor lauter Schwäche nicht mehr stehen konnte, und schaute sich besorgt in der Gegend um. Er hätte zu gern gewusst, was mit AX-3 und AX-4 gerade passierte. Der Datenaustausch, der unbestritten zwischen den beiden stattfand, geschah stumm. Aber selbst wenn er Ayax‘ „Gedanken“ lesen konnte, verstand er nichts davon. Sie kommunizierten, wie für technische Geräte üblich, mit Matrizen aus Nullen und Einsen. Das einzige, was er erahnen konnte, war der Eindruck, daß die zwei sich synchronisierten. Und das machte ihn ungewollt nervös. Es musste ja schließlich einen Sinn haben, daß sie das taten. Es steckte sicher mehr dahinter als nur das Bestreben, auf dem gleichen Wissensstand zu sein. Ob die beiden wohl gerade noch auf ihn achteten? Konnte er sich einen Fluchtversuch leisten, in der Hoffnung, daß der Datenaustausch zwischen ihnen gerade sämtliche Kapazitäten verbrauchte und alle anderen Systeme offline legte? Aber wie weit würde er schon kommen? Mit Entsetzen schaute er zu, wie die beiden Mädchen sich wie auf ein stilles Kommando hin gleichzeitig in zwei unförmige, farblose, surreal lebendige Klumpen verwandelten, aus denen sich tentakelartige Auswüchse herausstreckten. Wie überdimensionale Amöben, die sich in alle Richtungen vortasten konnten. Die beiden fielen übereinander her und verschlangen sich ineinander, als würden die kämpfen. Nein, nicht kämpfen, stellte Schuldig fassungslos fest. Sie vermischten sich! Sie wurden eins! Das Spektakel dauerte nur Sekunden. Die fusionierte Masse aus Nanobots dehnte sich in die Höhe und nahm wieder eine humanoide Gestalt an. Vor ihm stand letztlich eine Frau mit den halblangen, dunkelgrünen Strubbelhaaren von AX-3, den rubinroten Augen von AX-4, und splitterfasernacktem Körper. Schuldig hatte das Gefühl, die Schwerkraft hätte sich vervielfacht und würde ihn dreimal so stark Richtung Boden ziehen wie sonst. Er war so schwach, daß er nicht mal mehr aufrecht sitzen konnte, sondern endgültig in sich zusammenklappte und liegen blieb. Selbst das Atmen kostete ihn unglaublich viel Kraft. Diese Fusion hatte wohl eine Menge Energie verbraucht, die Ayax natürlich von ihm abgezogen hatte. Wo hätte sie sie sonst hernehmen sollen? „Du hättest dir ... wenigstens was anziehen können ...“, hauchte Schuldig noch kraftlos, bevor ihm die Sinne schwanden und er in der Dunkelheit versank. Kapitel 11: ------------ 11 Ayax analysierte die Vitalfunktionen ihres Wirtes, der gerade ohnmächtig vor ihr weggekippt war. Gut, dann hielt er wenigstens endlich die Klappe und mischte sich nicht mehr ständig ein. Der Puls war stabil, die Atmung auch, ... alles bestens. Kein Grund zur Sorge. Solange er den gesteigerten Energiebedarf zweier fusionierter AX-Waffen aushalten musste, würde er nicht wieder zu Bewusstsein gelangen. Um AX-1 und AX-2 ebenfalls noch zu assimilieren, würde sie ihn allerdings mit Adrenalin-Infusionen und technischer Hilfe zum Weiterleben zwingen müssen, solange sie ihn noch brauchte. Beides sollte in medizinischen Laboren nicht schwer zu finden sein. Auf Basis ihrer Analysen seiner körperlichen Verfassung rechnete sie aus, wie viel Zeit ihr blieb, ihre Mission zu erfüllen. Ein Prioritäten-Protokoll lief in ihr ab. Schuldigs medizinische Versorgung verschwand irgendwo im Ranking zwischen dem Finden der anderen AX-Modelle, dem Ausschalten ihrer Verfolger, dem Verlassen dieser Forschungseinrichtung und dem Aufspüren ihrer Ziele. Noch währenddessen veränderte sie ihre äußere Erscheinung erneut, eher in Richtung eines dicken Panzer-Nashorns, so daß sie den ohnmächtigen Schuldig aufsammeln, in ihrem Bauch einschließen und ungestört mitschleppen konnte wie eine Transportbox auf Beinen.     Farfarello warf den langen, schwarzen Mantel ab, den er sich übergeworfen hatte, um auf die Straße gehen zu können, ohne blöde Blicke auf sich zu ziehen. Seine Klamotten waren immerhin mehr mit Blut versaut, als daß man die Originalfarbe noch erkannt hätte. Er betrachtete sich im Foyer des noblen Bürogebäudes in einer verspiegelten Säule. Obwohl er gerade aussah wie ein Zombie, ließen die Wachposten ihn ungestört hier herumlaufen. Takatoris Spezialtruppe Schwarz war unter den Sicherheitsleuten bekannt. Keiner würde ihn aufhalten. Im Spiegel entdeckte Farfarello nur einen Streifschuss am Arm, dort wo der Halteriemen der Zwangsjacke zerschossen worden war. Abgesehen davon war er unverletzt. Das viele Blut, das er sonst noch mit sich herumtrug, war nicht sein eigenes. Er war also im Medi Tec Labor nicht ernsthaft verletzt worden. Und, hey, er hatte sich selber befreit. Da Crawford ihn ja nicht hatte retten wollen, hatte er sich eben alleine den Weg freigeschlagen. Bist du ein Kind Gottes, dann hilf dir selbst. Farfarello drehte sich um und ging weiter. Auf direktem Weg zu Takatoris Büro. Es schien, als gäbe es hier einiges aufzuklären. Auf dem Weg durch die vielen Etagen und Gänge wurde er entweder ehrfürchtig gegrüßt oder ihm wurde einfach nur schockiert Platz gemacht. Keiner wollte einen wie ihn verärgern. Schon gar nicht so, wie er gerade aussah. Farfarello verstand gar nicht, was die Leute an ein bisschen Blut störte. Er machte sich zumindest noch die Mühe zu klopfen, bevor er in Takatoris Büro eintrat, um tieffliegende Golfschläger zu vermeiden, aber der Boss hatte gerade ganz andere Sorgen. Der stand nämlich gegenwärtig am Fenster und lugte verstohlen durch die Lamellen seines heruntergelassenen Rollos, so daß er die dubiosen, bewaffneten Truppen auf der Straße beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Takatori schaute fragend herum, als die Tür aufging. „Endlich! Warum hat das so lange gedauert!“, maulte er schlagartig miesepetrig und ohne ein Wort der Begrüßung. „Hat Oracle dich geschickt? Hölle, wie siehst du überhaupt aus, Mann?“ Farfarello kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, angesichts dieser grandiosen Freundlichkeit. War er etwa erwartet worden? „Nein, ich wurde nicht geschickt.“ „Nicht? Was willst du dann hier?“ „Ein paar Dinge klären“, entgegnete Farfarello finster. „Mir scheint, hier läuft gerade einiges schief.“ „Ja, das sehe ich auch so“, knurrte der Gangster-Boss, spazierte von seinem Fenster zum Schreibtisch und ließ sich auf den Bürostuhl fallen. „Beginnen wir doch gleich mal mit Oracle, diesem Verräter. Geh los und bring mir seinen toten Kopf auf einem Grillspieß! Dann reden wir weiter.“ Farfarello zog eine Augenbraue hoch. Wenn Crawford alles war, aber ein Verräter ja wohl ganz sicher nicht. „Ich höre.“ „Wie, ‘ich höre‘!? Du kennst die Story doch bestimmt besser als ich. Er lässt meine Waffe AX-4 verschwinden! Den Lösch-Chip dafür bringt er Weiß! Mit Weiß macht er gemeinsame Sache! Für dich schickt er mir alberne Lösegeldforderungen! Als ich ihn um Personenschutz wegen der Spaßvögel da unten auf der Straße gebeten habe, hat er sich geweigert herzukommen ...“ Farfarello seufzte leise. Herrje, hier gab es noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Er sollte wohl besser von Anfang an richtigstellen, was wirklich alles losgewesen war, damit dieser Wahnsinn ein Ende nahm. „Und wieso läufst du Pfeife eigentlich frei und alleine draußen rum?“, fuhr Takatori aufgebracht fort. Ihm entfuhr ein Aufschrei, als Farfarello mit einem Satz auf seine Schreibtischplatte sprang, unvermittelt auf Armlänge vor ihm hockte und ihn am Schlips zu sich heran zerrte. „Du bist in Schlagreichweite. Also halt jetzt die Klappe und hör mir zu!“, verlangte der Ire am Ende mit seiner Geduld. Takatori gaffte ihn perplex an, sagte aber tatsächlich kein Wort mehr. Wohl auch der Tatsache geschuldet, daß Farfarello ein Messer in der Hand hielt. „So ein paar Spaßvögel von Medi Tec fanden es lustig, mich zu kidnappen. Sie haben mich direkt aus unserem Hauptquartier rausgezerrt. Das fand ich überhaupt nicht in Ordnung. Und ich frage mich, woher die überhaupt wussten, wo wir zu finden sind! Keiner kennt die Basisstation von Schwarz. ... außer du! Erklär mir das mal!“ „Was!?“, schnaubte Takatori entrüstet. „Die Kerle wollten Lösegeld von mir haben! Und du glaubst ernsthaft, ich hätte die geschickt?“ „Eigentlich wollten die das Lösegeld von Oracle haben“, klärte Farfarello ihn auf und ließ zumindest den Schlips des Gangster-Bosses wieder los. „Noch dazu diese undurchsichtigen Missionen, auf die wir neuerdings ständig geschickt werden, ohne klare Informationen zu bekommen, und ohne ein erkennbares Ziel zu verfolgen. Für mich sieht das sehr nach einem Komplott von dir gegen Crawford aus! Willst du uns etwa loswerden?“ „Du Idiot“, konnte Takatori sich nicht verkneifen, zutiefst beleidigt, von dem Psychopathen so respektlos mit ‘du‘ angesprochen zu werden. Allerdings machten das eine, goldgelbe Auge in dem humorlosen, narbenübersäten Gesicht, das viele Blut auf seiner Kleidung und das Messer in seiner Hand ihm zu viel Angst, um sich deswegen zu beschweren. „Du hast ja keinen blassen Schimmer, was hier gespielt wird.“ „Nein, vermutlich nicht. Uns sagt ja auch keiner was. Aber das wirst du jetzt schön nachholen. Klär mich mal auf! Leg los!“ Takatori seufzte hinnehmend. „Na schön. Medi Tec gehört mir“, begann er also zu erzählen. Besser, als sich von seinem eigenen Profikiller die Kehle aufschneiden zu lassen. „Das AX-Projekt wurde von meinen Wissenschaftlern ohne mein Wissen entwickelt, vermutlich um damit einen Anschlag auf mich auszuüben. Sie haben schon länger rebelliert und haben versucht, mich abzusägen. Manche da waren mit meiner Politik und meinen Geschäften nicht mehr einverstanden. Als ich von der Arbeit erfahren habe und begonnen habe, das beteiligte Team zu liquidieren, war es schon zu spät. Die Waffe war schon so gut wie fertiggestellt. Darum solltet ihr sie für mich beschaffen, damit sie nicht mehr gegen mich eingesetzt werden kann. Da wusste ich allerdings selber noch nicht, daß es mehrere davon gibt. Die Missionen, von denen du sagst, ihr hättet nicht genug Informationen erhalten, galten unter anderem der Niederschlagung eines Aufstandes in der Medi Tec Foundation. Wenn ich es mir jetzt nochmal recht überlege, schätze ich, daß sie mit dem Lösegeld, das sie für dich verlangt haben, ihre Schulden puffern wollten. Seit ich ihnen den Geldhahn zugedreht habe und auch ihre Sponsoren abgesprungen sind nachdem sie aufgeflogen waren, ist ihre Forschungsarbeit bei dem Versuch, die AX-Reihe doch noch irgendwie fertigzustellen, erheblich ins Minus geraten.“ Farfarello verengte missbilligend die Augen. „Und was wäre so schlimm daran gewesen, uns darüber aufzuklären?“ „Warum sollte ich so leichtfertig irgendjemandem erzählen, wie angreifbar ich bin? Glaubst du, mit der Existenz so einer mächtigen Waffe geht man fröhlich hausieren? Ich bin doch nicht lebensmüde!“ „Lebensmüde!“, fiel Farfarello ihm verächtlich ins Wort. „Wir sind es, die unser Leben riskieren, wenn wir für dich arbeiten und du uns nichts erzählst! Wenn du uns nicht über den Weg traust, dann such dir eine andere Leibwache!“ „Ich kann ja schlecht aussprechen, daß ich meine eigenen Leute nicht im Griff habe. Medi Tec gehört mir immerhin. Hättest du jetzt wohl mal die Güte, von meinem Tisch runter zu gehen und wie jeder normale Mensch einen Stuhl zu benutzen!?“     Nagi schmunzelte diebisch in sich hinein, als sein Exitus-Programm einwandfrei zu laufen begann und der Countdown von 3 Stunden herunterzählte. Die Tage dieses Computers waren gezählt. Die Festplatte würde in 3 Stunden komplett geschrottet werden. Gute Arbeit, auch wenn es Weiß vermutlich nicht lange aufhalten würde. Die würden sich vermutlich einfach einen neuen PC kaufen und fröhlich weitermachen. Aber egal. Den Spaß war es wert. Der Junge klickte das Fenster schnell zu, als er schräg über sich die Tür klappern hörte. Jemand kam herunter. „Na, du kleine Made? Stellst du auch keinen Blödsinn an?“, wollte Ken salopp wissen. Er trug einen Pizza-Karton in der einen Hand und ein Stück des Inhalts in der anderen, in das er gerade biss. „Lass die blöden Sprüche“, erwiderte Nagi nur genervt. „Oh, so schlechte Laune?“ „Was soll ich hier schon groß anstellen können!? Ihr habt mich eingesperrt!“ Ken zuckte mit den Schultern. „Gibt Schlimmeres, was wir mit dir tun könnten. Hast du Hunger?“ Er hielt dem jungen Telekineten einladend die Pizza hin. „Schieb dir deinen Fraß sonst wo hin!“ „Jetzt mach aber mal halblang ...“, grummelte Ken verständnislos. „Ich hasse dich!“ „Ah ja?“ „Erinnerst du dich an die Nonne, die du getötet hast?“ Ken biss gleichmütig wieder in sein Stück Pizza. „Ich hab so einige Leute getötet. Genau wie du. Etwas konkreter wirst du schon werden müssen, wenn ich mich an einen bestimmten erinnern soll.“ „Sie hat das Waisenhaus geleitet, in dem ich war!“ „Ah, da liegt das Problem. Die Frau war dir wichtig, was?“ „Das werde ich dir bis an mein Lebensende nicht verzeihen! Du hast mein Leben ruiniert! Das Waisenhaus wurde geschlossen und ich saß wieder auf der Straße! Du hast mich zu dem gemacht, was ich heute bin!“ Ken lächelte amüsiert. Der Junge hatte einen Sinn für Dramatik. Ihn zu dem gemacht zu haben, was er heute war, diese Ehre fiel ja wohl eindeutig Oracle zu. „Willst du Revanche? Lass uns einen Wettstreit austragen. Du gegen mich. Dann kannst du mich nach Strich und Faden fertigmachen, was sagst du dazu?“ Derweil kam auch Yoji wieder die Treppe herunter und verfolgt interessiert mit, was er hier gerade verpasste. Nagi sah ihn argwöhnisch an. „Welche Art von Wettstreit? Eine Schlägerei ja wohl kaum, oder?“ „Ich hatte eher einen Sport-Wettkampf im Sinn.“ „Gut!“, meine Nagi hasserfüllt. „Ich trete gegen dich an! Aber der Verlierer stirbt! Wenn ich dich schlage, erschieße ich dich auf der Stelle!“ Ken kräuselte die Stirn. Dann warf er einen fragenden Blick zu Yoji hinüber, der inzwischen am unteren Ende der Treppe angekommen war. Beide wirkten plötzlich sehr ernst. Sie konnten den Schwarz-Steppke wohl schwerlich erschießen, bevor Kritiker und Perser mit ihm fertig waren, oder? Aber schließlich nickte Ken langsam. „Einverstanden. Wir spielen Fußball. Nur du und ich. Und der Verlierer stirbt.“ „Deal gilt!“, entfuhr es Nagi, noch ehe er ganz realisierte, was er da gerade sagte. Yoji nickte und ging eine Pistole suchen. „Wer innerhalb von 30 Minuten mehr Tore erzielt, gewinnt. Ich bin Schiedsrichter“, legte er fest. Er nahm es relativ gelassen. Er wusste, daß Ken ein begnadeter und leidenschaftlicher Fußballer war. Daher machte er sich keine Sorgen, daß der dieses Duell verlieren könnte. Nagi wurde etwas blass um die Nase. „Echt jetzt?“, hakte er nach. Er hatte nicht gedacht, daß Ken sich tatsächlich auf so eine Aktion einlassen würde. „Aber sowas von! Und gib dir Mühe! Ich hasse schwache Gegner! ... Ich hol eben einen Fußball“, kündigte sein Kontrahent an. Mit diesen Worten verschwand er. „Lass dir eins gesagt sein, Kind ...“, legte Yoji fest, „wenn du Beschiss machst und den Ball per Telekinese ins Tor schiebst, hast du das Projektil im Kopf, bevor die 30 Minuten Spielzeit rum sind.“     Crawford kam stöhnend wieder zu sich. Er fand sich auf dem Fußboden liegend wieder und fühlte sich steif, ausgekühlt und entsetzlich benebelt. Mehrmals blinzelnd schaute er sich um. Omi lag reglos neben ihm, sonst war niemand hier. Der kleine Raum war abgesehen von einem Tisch mit ein paar Stühlen komplett leer. Nackte Wände, steinerner Boden, ein paar schmale Fenster über der Tür, durch die diesiges Licht vom Flur hereinfiel, und nur eine Tür. Fenster ins Freie gab es nicht. Sah ihm schwer nach einem Verhörzimmer aus, in das er hier eingesperrt war. Aber wie war er hier hergekommen? Das letzte, woran er sich erinnerte, war der Anruf von Takatori. Da war er noch in einem Gebäude der Medi Tec Foundation gewesen. Irgendwie musste man ihn außer Gefecht gesetzt und weggebracht haben. Mit schnell wirkendem Gas über die Belüftungsanlage wohlmöglich. Der Hellseher setzte sich langsam auf, weil er sich immer noch etwas benommen fühlte, und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Ihm fehlten fast 3 Stunden. Mit einem sauren Fluch tastete er nach Omis Hals. Der Junge hatte noch Puls. Er lebte. Von der Berührung der ekelhaft kalten Finger erwachte der Knirps ebenfalls. Auch er hielt sich zunächst wehleidig den Kopf, bis er ganz zu klarem Verstand gelangt war und sah sich aus müden Augen um. „Wo sind wir?“, stellte er die klassische Frage, die in solchen Situationen wohl immer kam. „Keine Ahnung. Ich hatte gehofft, du hättest irgendwas mitbekommen, oder könntest dich noch erinnern.“ Der Junge schüttelte den Kopf, rieb sich nebenbei widerwillig die Schulter und zog dann den Reißverschluss seiner Jacke auf, um zu sehen, was da so unangenehm war. Genau auf dem Gelenk kam ein sichtbarer Einstich mit einer Hautrötung ringsherum zum Vorschein. „Betäubungspfeile ...“, maulte er. „Wer immer das war, hätte wenigstens etwas besser zielen können. Zerstochene Gelenkkapseln tun weh, Mann.“ Er bewegte vorsichtig seine Schulter, machte es damit aber eher schlimmer. „Wer könnte das gewesen sein?“ Omi rieb sich müde die Augen. „Schwer zu sagen. Es gibt genug Leute, die hinter AX-4 her sind.“ „Aber wir haben AX-4 nicht!“ „Nein. Und was wir auch nicht mehr haben, ist das Ortungsgerät“, klärte Omi ihn auf. Das Peilgerät, mit dem man AX-4 finden konnte, war sicher ein hinreichender Grund für so einen Überfall. Nur, wer wusste von diesem Gerät, und woher? „Sieh es positiv: wir leben noch. Hätten die uns umbringen wollen, hätten sie es längst getan. Die hatten es also nicht auf uns angesehen.“ Crawford zog ein mürrisches Gesicht. Er hatte gedacht, nach Takatoris Anruf hätte er nicht mehr tiefer fallen können. Aber es ging immer noch was, wie man sah. Jetzt hatte er nicht mal mehr eine Chance, Schuldig überhaupt zu finden. ‘Anruf‘ war übrigens ein guter Stichpunkt. Crawford durchwühlte seine Taschen auf der Suche nach seinem Handy. Wenn man ihm das nicht weggenommen hatte, konnte er vielleicht Hilfe rufen. Wider Erwarten zog er das Telefon tatsächlich aus seiner Jacke und wollte sich gerade darüber freuen, da brach der Akku vor seiner Nase zusammen. Natürlich. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Jetzt saß er derart in der Tinte, schlimmer ging es nun wirklich nicht mehr. Das war wohl das, was man Dead End nannte, oder so. „Eh, hast du dein Handy noch?“, wollte er von Omi wissen und schaute fragend hoch, als keine Antwort kam. Der Jungspund war bereits unbemerkt aufgestanden und machte sich gerade euphorisch über die Tür her. Da sie abgeschlossen war, hatte er ein Ohr dagegen gepresst, um zu lauschen, was draußen vor sich ging. „Denkst du, wir kriegen die auf?“, wollte Crawford wissen. „Klar“, machte der zuversichtlich. „Durch das bisschen Press-Span kann man mit Anlauf durchspringen, wenn man das will. Da fällt die Tür samt Rahmen raus und dann hat sich´s. Die Frage ist eher, ob das klug wäre.“ „Hörst du denn was?“ „Nein, das ist es ja. Da draußen ist alles verdächtig still.“ Crawford kämpfte sich mühsam auf die Beine und kam näher. Er hätte ja zu gern orakelt, wie das hier weitergehen würde. Aber leider nahm das Betäubungsmittel in seinem Körper ihm immer noch zu viel Konzentration und Kraft dafür weg. „Komm mal her und hilf mir, den Tisch unter die Fenster zu schieben. Damit du gucken kannst, wie es draußen aussieht.“ Omi trat erschrocken von der Tür zurück, als sich unvermutet ein Schlüssel im Schloss drehte. Wer immer das war, musste schon draußen Wache gestanden und nur auf ein Lebenszeichen im Raum gewartet haben und musste den Schlüssel von außen im Schloss stecken gelassen haben. Ein kleingeratener Unbekannter betrat den Raum, der altersmäßig kaum zu schätzen war. Für die dunkelgrauen Haare, die er hatte, wirkte er jedenfalls noch erstaunlich frisch. Entweder war er früh ergraut, oder er hatte sich gut gehalten und war wesentlich älter als er aussah. Seine lockere Freizeitkleidung, bestehend aus Jeans und einem langärmligen Hemd, ließen auch keine rechten Rückschlüsse darauf zu, wer er war. Ein etwas schadenfrohes Schmunzeln lag auf seinen Zügen. „Ah, die Herren sind schon wieder wach? Sehr Sportlich.“ „Haben Sie uns aus dem Verkehr gezogen und hier eingesperrt?“, verlangte Crawford zu wissen. Er verschränkte böse die Arme. „Sie sind unbefugt in Privatgelände eingedrungen, mein Bester“, gab der nur schulterzuckend zurück, womit er die Frage bewusst unbeantwortet ließ. „Erwarten Sie etwa ernsthaft, hier noch irgendwelche Rechte zu haben? Wenn mich mein Gesichtserkennungs-Gen nicht gänzlich trügt, waren Sie es doch sogar, der uns neulich AX-4 gestohlen hat.“ Crawford verengte leicht die Augen. Der Kerl war also ein Angestellter der Medi Tec Foundation. Es lag nahe, daß sie sich hier schon wieder in irgendeinem Standort dieses Konzerns befanden. Er verzichtete darauf, eine Diskussion vom Zaun zu brechen, ob die Waffe wirklich geklaut worden war, oder ob die sich ihnen nicht doch eher ungefragt an die Fersen geheftet hatte. „Na schön. Was wollen Sie von uns?“ „In erster Linie will ich verhindern, daß Sie noch weiter in unserer Forschungseinrichtung herumschnüffeln. Aber vorerst wäre ich Ihnen auch schon sehr verbunden, wenn Sie mir einfach nur ohne Theater folgen würden.“   Diese Einrichtung war etwas wohnlicher aufgemacht als die, in denen Crawford bisher zu Besuch gewesen war. Es hingen nette Gemälde an den Wänden, hier und da lockerten Sitzecken und die eine oder andere große Topfpflanze die Gänge etwas auf, und er hatte auch das Gefühl, daß die Neonröhren über ihnen ein freundlicheres Licht ausstrahlten. Wärmer und nicht so steril. Hin und wieder kamen ihnen beschäftigt aussehende Leute entgegen, grüßten und gingen unbesorgt vorüber. „Benehmen Sie sich einfach wie Gäste“, trug ihr Führer ihnen auf, der sich inzwischen als Herr Yamanaka vorgestellt hatte und immer forsch vorauslief. „Sind wir denn Gäste?“, erwiderte Crawford sarkastisch. „Natürlich nicht. Aber die meisten Mitarbeiter hier ahnen nichts davon, daß wir gerade Verbrecher beherbergen, die hinter ihrer Entwicklung AX-4 her sind. Und es ist auch gesünder für Sie beide, wenn es so bleibt. Sie ahnen ja nicht, was Sie mit ihrem Diebstahl ausgelöst haben.“ „Ich bin nicht hinter AX-4 her. Ich suche einen Freund, der von eurer tollen AX-4 als Geisel verschleppt wurde.“ Auf ihrem Weg kamen sie durch das Foyer. Omi rempelte Crawford an und nickte wild Richtung Ausgang, um ihn stumm auf die unwiederbringliche Fluchtmöglichkeit aufmerksam zu machen. Aber Crawford schüttelte den Kopf. Er wollte dem Medi Tec Angestellten weiter folgen. Omi schloss sich ihm also widerwillig an. Es war ein bisschen frustrierend, sich mit Crawford nicht unbemerkt verständigen zu können, obwohl der Forscher schon extra nicht aufpasste, was hinter ihm geschah. Bei seinen Kollegen von Weiß gab es eine ganze Reihe von Handzeichen, um in solchen Situationen, in denen man nicht sprechen konnte, Kommandos auszutauschen. Etwa, sich aufzuteilen, damit der Gegner nicht mehr wusste, wem er folgen sollte. Oder Zeichen für das Einleiten oder Unterlassen von Angriffen. Oder für Uhrzeiten und vorher definierte Treffpunkte. Crawford würde diese Handzeichen aber wohl kaum verstehen. Falls er bei Schwarz auch welche hatte, dann sicher nicht die gleichen. „Wenn Ihr Freund für AX-4 von Interesse ist, dann nicht ohne Grund“, laberte Herr Yamanaka derweil fröhlich weiter, ohne den stummen Disput hinter seinem Rücken mitzubekommen. Er zückte eine Magnetstreifen-Karte, die er durch den Schlitz eines Lesegerätes neben der Tür zog, und bekam Einlass gewährt. Crawford atmete unmerklich durch, bevor er ebenfalls eintrat. Aber da er keinerlei Anhaltspunkte mehr hatte, wo er AX-4 und damit auch Schuldig suchen sollte, hielt er es für am sinnvollsten, vorerst mit den Medi Tec Leuten zu kooperieren. Vielleicht wussten die mehr als er. „Wenn AX-4 ein Interesse an ihm hat, dann ja wohl, weil Sie sie darauf programmiert haben!“ Herr Yamanaka antwortete nicht. „Zu welchem Zweck wurde diese Waffe denn entwickelt?“, hakte Omi nach. „Das weiß ich nicht.“ „Sie wollen uns ernsthaft einreden, Sie wissen nicht, woran Sie da gearbeitet haben?“ „Ich habe nicht behauptet, mich jemals an den AX-Projekten beteiligt zu haben. Hätte ich das, wäre ich jetzt wahrscheinlich schon längst tot“, hielt der Forscher gleichmütig dagegen. „Das Team wurde innerhalb von kaum 14 Tagen komplett eliminiert. Aber MTF arbeitet auf verschiedensten, wissenschaftlichen Gebieten. Die AX-Serie war nicht unser einziger Forschungsauftrag.“ „Und woran forschen Sie gerade so?“ „Wundheilung beim Menschen“, meinte der mit einem unterschwelligen Kichern in der Stimme. Crawford musterte nachdenklich die verräterische Beule unter dem Hemd des Mannes. Er lief selbst oft genug mit Pistolen im Hosenbund herum, um die Bedeutung solcher Beulen unter der Kleidung zu erkennen, wenn er sie sah. Und dazu Wunden ... Herr Yamanaka wandte sich zur Seite, einer weiteren, gesicherten Tür zu. Crawford trat ungerührt an ihn heran und griff mit solcher Selbstverständlichkeit unter das Hemd und nach der Pistole des Forschers, daß der gar nicht auf die Idee kam, es zu verhindern. Der Hellseher pfiff auf seinen Codex, niemanden umzubringen, ohne einen ausdrücklichen Auftrag von seinem Boss. Er hielt dem Kerl die Faustfeuerwaffe an den Kopf und drückte einfach ab. Omi verzog neben ihm das Gesicht und verschränkte die Arme, als er auf den zusammengebrochenen Körper, das verspritzte Gehirn und die langsam größer werdende Blutlache schaute. „War das jetzt echt nötig, Oracle?“ „Ein Wissenschaftler, der mit ner Knarre rumrennt! Was glaubst du, was der mit uns vorhatte? Der wollte uns sicher nicht auf ein Stück Apfelkuchen einladen.“ „Und wenn den Schuss jemand gehört hat?“ „Wenn jemand hier aufkreuzt, knall ich ihn auch noch ab.“ Der kleine Computer-Spezi konnte sich ein Schnaufen nicht verkneifen. Oracle stand unter enormem Druck, ja. Er war verzweifelt. Er war in Sorge um seinen Kumpel Schuldig und den Rest seines Teams, sah sich dabei mit immer neuen Hürden konfrontiert und wurde jetzt bei der Wahl seiner Mittel und Methoden zunehmend radikaler, um das hier noch irgendwie zu überleben und vielleicht sogar erfolgreich zu beenden. Dennoch fand Omi, daß ein Berufssöldner wie er sich etwas mehr in der Gewalt haben und einen kühleren Kopf bewahren sollte. „Und? Was willst du jetzt als nächstes tun?“ „Überleben!“, entschied Crawford. Er hatte sich bereits enthusiastisch über die Hosentaschen des Erschossenen hergemacht, um die Magnetstreifen-Karte zu suchen, die ihm hier im Gebäude die ein andere Tür öffnen würde. „Nagut, hör zu ...“, seufzte der Junge hinnehmend. „Ich hab mir die Räume, durch die wir geführt wurden, angeschaut. Dem Grundriss nach zu urteilen, müssten wir hier in der Außenstelle Narita Nord sein.“ Crawford warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Ernsthaft? Du bist nicht übel, Kleiner“, stellte er schon zum zweiten Mal fest. „Wart´s ab, es kommt noch besser: Hier in Narita Nord wurde AX-1 entwickelt.“ „AX-1 ist hier? In diesem Gebäude?“ Omi nickte mit einem unterschwelligen Schmunzeln. „Das bedeutet ja, Ayax wird irgendwann hier her kommen müssen!“, kombinierte Crawford völlig aus dem Häuschen. „Ayax sucht doch ihre Schwester-Modelle!“ „Richtig. Wenn du Schuldig wiederhaben willst, brauchen wir theoretisch nur geduldig hier zu warten. Es kann bloß eine Frage der Zeit sein, bis sie hier auftaucht.“ Die Euphorie des Hellsehers nahm spürbar wieder etwas ab. „Aber Zeit ist etwas, das Schuldig nicht hat.“ „Es ist immerhin eine Chance. Eine andere haben wir momentan leider nicht.“ Der Anführer von Schwarz schob sich die beschlagnahmte Pistole in die eine Gesäßtasche, die Magnetkarte in die andere. „Du hast Recht. Lass uns verschwinden, bevor jemand die Leiche hier findet.“ „Sag ich doch! Suchen wir uns lieber irgendwo einen schönen Ausguck, von wo wir Ayax kommen sehen.“ Kapitel 12: ------------ 12 Ungeduldig sah Crawford auf die Armbanduhr. Dann wanderte er wieder auf dem Dach im Kreis herum, um alle Himmelsrichtungen im Auge zu behalten. Die Aussicht von hier oben war sogar ziemlich hübsch. Über ihnen trieben watteweiche Quellwolken über einen strahlend blauen Himmel, unter ihnen waren gesunder Rasen und grüne Bäume, die ein großes Grundstück mit gepflegter Einfahrt säumten. Alles war ruhig und friedlich. Aber gerade diese Ruhe zehrte an Crawfords Nerven. „Sie wird schon kommen“, versuchte Omi ihn zu beruhigen. „Jede Minute ist für Schuldig eine verlorene Minute!“, fauchte der aufgekratzt zurück. Eine Art, die er von sich selber nicht kannte. Ja, er wusste selbst, daß Ayax kommen würde. Inzwischen konnte er wieder orakeln und sah sie im Geiste bereits vor sich. Trotzdem dauerte ihm das zu lange. „Wir stehen uns hier schon seit Stunden die Beine in den Bauch! Wir werden noch von den MTF-Mitarbeitern entdeckt werden, bevor Ayax auftaucht!“ „Wir stehen hier noch nicht mal 2 Minuten, ja? Ääääähm ... Oracle!?“ Omi schlief ein wenig das Gesicht ein, als er die riesige Kreatur auf den Parkplatz zugaloppieren sah. Das Ding musste gut 4 Meter hoch und 6 Meter lang sein, zuzüglich drei ellenlanger, dürrer Peitschenschwänze. Der monströse Kopf hatte Stierhörner, eine lange Schnauze mit reihenweise spitzen Reißzähnen, und die stämmigen Beine endeten in mächtigen Tatzen mit scharfen, gebogenen Krallen. Das Wesen brach wie ein Bulldozer durch den Maschendrahtzaun, walzte auf seinem Weg einige Autos platt und hielt ohne Umwege auf das Gebäude zu. „Das ist sie, oder!?“, entfuhr es Crawford unnötigerweise. Natürlich war das Ayax. Was sollte dieses Vieh sonst sein? „Sie hat die anderen beiden AX-Modelle offenbar schon assimiliert“, vermutete Omi überfordert. „Ihre Stärke muss gigantisch sein. ... und ihr Energiebedarf erst.“ „Wo ist Schuldig?“ „Ich schätze in ihr drin. Sie schleppt ihn sicherlich in ihrem Bauch mit sich rum, weil er nicht mehr ...“ „Ich geh ihn holen!“, fiel Crawford ihm ins Wort und wollte sich abwenden, um das Dach auf der Stelle zu verlassen und nach unten zu rennen. „WAS!? Spinnst du?“ Omi hielt ihn am Ärmel fest. „Mit diesem Ding können wir es nicht mehr aufnehmen!“ „Ich WERDE es damit aufnehmen!“ „Oracle, sei vernünftig! Das schaffst du nicht!“ „Hau doch ab, du Feigling!“ „Gib es auf!“, bat Omi und zerrte ihn grob am Arm zurück, in der Hoffnung, ihn zum Bleiben zu bewegen. „Du kannst Schuldig nicht mehr helfen! Er ist tot!“ „Er ist NICHT tot!“, schrie Crawford und verpasste dem Jungen eine Maulschelle, die ihn zu Boden schickte, womit sich auch sein Griff um Crawfords Arm löste. Omis Basecap flog davon. In Crawfords Augen blitzte der pure Hass auf. Wie konnte dieser kleine Bengel es wagen!? „Er ist! Nicht! Tot! Das will ich nie wieder von dir hören!“ Mit diesen Worten drehte er sich endlich um und ging. Mit einem schmerzlichen Ton wendete sich Omi von seiner bäuchlings vollzogenen Bruchlandung wieder auf den Rücken herum und hielt sich den Unterkiefer. Mürrisch sah er dem Schwarz-Leader nach.   Crawford fiel unten förmlich zur Tür hinaus und stolperte kurz auf der Türschwelle, dann sah er sich auch schon dem gewaltigen Monstrum gegenüber, das mal Ayax gewesen war. Er stockte zurück. Dieses Ding war aus der Nähe betrachtet noch viel größer als es vom Dach aus gewirkt hatte. Ayax blieb vor ihm stehen und schaute geifernd und zähnefletschend auf ihn herunter. Ein kehliges Grollen. „Du schon wieder!“ Crawford presste sich erschrocken beide Hände an die Schläfen, als diese Stimme ihm dermaßen den ganzen Kopf klingeln ließ, daß er beinahe in die Knie brach. Die Kreatur konnte sich mit der langen Raubtierschnauze wohl kaum artikulieren, also war die donnernde Stimme telepathisch in seinen Kopf hinein projiziert worden. Musste die denn unbedingt so laut sein? „Wird man dich denn gar nicht los?“, rumorte Ayax. „Ich dachte, meine Botschaft wäre letztes Mal deutlich genug angekommen, auch wenn Schuldig mich davon abgehalten hat, dich zu töten.“ „Gib mir Schuldig wieder!“, brüllte Crawford zurück. „Du weißt, daß ich das nicht kann. Ich brauche ihn noch. Oder bietest du dich als Ersatz für ihn an, Hellseher? Ich hätte Verwendung für dich. Du bist noch stark und frisch, im Gegensatz zu deinem schon fast toten Kollegen. Und deine mentalen Fähigkeiten sind kompatibel.“ Crawford taumelte unter einem Schwächeanfall. Sie griff tatsächlich nach seinen Energiereserven, wurde ihm klar. Er bekam eine akute Vorstellung davon, wie Schuldig sich gefühlt haben musste. Ihm brach kalter Schweiß aus. Aber er hatte keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, wie das bei ihm funktionierte, ohne ihr Wirt zu sein. Crawford griff sich die Pistole, die er immer noch in der Gesäßtasche trug und legte an. Das verfluchte Ding schien in seinen Händen plötzlich Tonnen zu wiegen, so schwach fühlte er sich. Ayax holte mit einer Klaue aus, bevor er zum Abdrücken kam, und schlug ihn durch die Luft wie einen Tennisball. Ungelenk klatschte er einige Meter weiter auf den Asphalt des Parkplatzes. Sie stapfte ihm knurrend hinterher. Ächzend rappelte sich der Hellseher wieder auf und rannte. Im Vorbeihechten klaubte er seine Pistole wieder vom Boden, dann sprintete er weiter. Als ob er ein 4 Meter großes Viech recht lange hätte abhängen können. Aber er brauchte freie Schussbahn und nur ein bisschen Abstand. Als er meinte, genug Vorsprung zu haben, um ausreichend Zeit zum Zielen zu finden, fuhr er wieder herum und schoss. Leider klickte die Pistole nur mehrfach im Leerlauf. Sie hatte keine Munition mehr. Crawford stieß ein wütendes „Was!?“ aus. Er hatte mit dieser Pistole diesen dubiosen Herrn Yamanaka erschossen, sonst nichts. War in der Waffe etwa nur die eine Patrone drin gewesen? Wer lief bitte mit einer Knarre mit nur einem einzigen Schuss herum? Da konnte man ja auch gleich einen Schreckschuss-Ballermann nehmen. Schnaubend warf er Ayax die nutzlose Kanone an den Kopf und rannte erneut um sein Leben. Sie holte ihn ein und schleuderte ihn abermals durch die Luft. Wieder legte Crawford eine ziemlich unsanfte Landung hin. Der Energieverlust beeinträchtigte auch seine hochtrainierten Reflexe erheblich. Dennoch biss er die Zähne zusammen und sprang wieder auf. Gut, dann anders! Ohne nachzudenken rannte er auf Ayax zu, korrigierte im letzten Moment seine Richtung, so daß ihr zuschnappendes Maul ihn verfehlte, hüpfte mit Anlauf über Motorhaube, Windschutzscheibe und Dach eines geparkten Autos und von dort aus seitlich an Ayax‘ Flanke. Er bekam das lange, zottige Fell zu fassen, stemmte die Füße zum Klettern gegen ihren Rumpf und – ohne selber recht zu wissen, wie – saß er ihr plötzlich im Genick. Das Adrenalin in seinem Körper ließ ihn da einige Details der Kletterpartie vergessen. Das Monstrum knurrte gereizt und begann sich zu schütteln. Crawford blieb nicht viel mehr übrig, als sich erbittert festzukrallen. Das Fell fühlte sich an wie Drahtwolle und eignete sich nicht sonderlich gut, um Halt zu finden. Nun saß er hier auf ihrem Rücken ... und weiter? Von dem wilden Rodeo aus seinem Schwerpunkt gehoben segelte der Anführer von Schwarz ein drittes Mal in hohem Bogen durch die Luft. Noch ehe er auf ein Autodach krachte, schoss ihm durch den Kopf, was für eine blöde Idee diese Aktion gewesen war. Der menschliche Körper war nicht für solche Stürze gemacht. Beim Aufprall splitterte unter ihm Glas. Ayax brüllte animalisch auf, nahm Anlauf und rannte mit offenem Maul auf ihn zu, um ihn einfach in zwei Hälften zu zerbeißen. Ein Schuss. Ayax brach in sich zusammen, überschlug sich dabei und blieb reglos liegen. Luftschnappend fuhr Crawford herum, um zu sehen, woher der Schuss gekommen war. Hinter ihm stand Omi wie eine Halluzination, seine Pistole noch im Anschlag, und atmete erleichtert durch. „Was tust du denn hier?“, wollte Crawford verwundert wissen. Der junge Hacker grinste schelmisch und hielt ihm die Brille hin, die Crawford schon bei seiner ersten Flugstunde verloren hatte. „Dich kann man ja nichts alleine machen lassen, wie man sieht.“ Beide schauten wieder auf Ayax. Ihre Reglosigkeit war gespenstig, nach dem riesigen Aufruhr, den sie veranstaltet hatte. Ihr Körper verlor langsam an Form und sank in sich zusammen wie ein Schwimmring, aus dem man die Luft herausließ. Crawford rutschte von dem Autodach herunter, ignorierte alles was ihm weh tat, tänzelte nervös näher und schaute sich die Misere an. Aus der linken Augenhöhle des Biests hing nur noch ein zerfetztes Stück Kabel heraus. „Junge, du hast ein Auge getroffen! Ihre einzige Schwachstelle!“ „Ja, zum Glück scheint das auch jetzt, nach der Fusion, noch eine Schwachstelle zu sein. Hol Schuldig da raus, schnell.“ Crawford steckte seine Finger in einen der Luftschlitze in den Flanken der Kreatur, die man Schuldig noch gelassen hatte, damit er da drinnen nicht erstickte, und zog daran. Ayax trug zwar äußerlich Fell, war nichts desto trotz aber immer noch aus Metall. Der Stahl gab bei ausreichend Zugkraft auch bald nach. „Ein Glück. Das Zeug ist nicht besser als Konservendosen-Blech. Das lässt sich aufbiegen“, kommentierte Crawford erfreut und machte weiter, völlig ungeachtet der Tatsache, daß er sich an den aufgefetzten Graten die Finger aufriss. Als das Loch groß genug war, griff er hinein und zog den Telepathen an den Schulterpartien der Jacke heraus, was aufgrund der Enge und seiner Reglosigkeit etwas umständlich ging. „Und?“, machte Omi von der Seite. „Bewusstlos, aber lebt noch“, diagnostizierte Crawford knapp. Omi und Crawford erschreckten sich tierisch, als Ayax plötzlich wieder begann zu zappeln und sich zu bewegen. „Gott!“, jaulte der Hellseher hysterisch. „Ich dachte, du hättest sie tot gemacht! Geht der ganze Mist jetzt wieder von vorne los!?“ „Sie rebootet sich und startet ihre Systeme neu. Aber sie scheint Probleme damit zu haben. Wahrscheinlich haben wir doch einiges da drin kaputt gemacht.“ „Schalt sie ab!“ „Wie denn? Hast du noch eine geladene Waffe?“, wollte Omi wissen und zog vielsagend seine leere Patronenstange aus der Pistole. Wem auch immer er dieses Ding abgenommen hatte, bei Medi Tec schien es Standard zu sein, Pistolen nur mit einem einzigen Schuss zu bestücken. „Nein. Mein Magazin ist auch leer.“ Der Junge klopfte suchend seine Taschen ab, aber er hatte nichts mehr einstecken, was sich dazu geeignet hätte, es in Ayax‘ Augenhöhlen zu rammen. „Dann schnapp Schuldig und lauf! Die einzige Chance, die wir haben, ist, sie von ihrer Energiequelle zu trennen. Wir müssen ihren Wirt wegbringen.“ Crawford ließ suchend den Blick über den Parkplatz schweifen. „Sieh nach, ob du ein nicht abgeschlossenes Auto findest! Ich kann das kurzschließen!“, schlug er vor, kümmerte sich aber selbst lieber um seinen Teamkollegen, statt bei der Suche zu helfen. Den Kerl würde er so schnell nicht wieder alleine lassen. Einverstanden nahm sich Omi sofort die erste Parkreihe vor und klapperte die Türen aller Wagen ab. Brad Crawford konnte sich ein kurzes, überglückliches Schmunzeln nicht verkneifen, obwohl er mit Schuldig noch lange nicht in Sicherheit war. Das monströse Vieh, das mal Ayax gewesen war, und nach wie vor ihren Energietribut von Schuldig einzog, zappelte immer noch unkoordiniert neben ihm herum wie ein Duracell-Hase mit Wackelkontakt. Nicht auszudenken, was geschah, wenn sie wieder in einen betriebsbereiten Zustand zurückfinden sollte. Wie weit würde er Schuldig wohl von ihr wegbringen müssen, damit sie nicht mehr von ihm zehren konnte? Wie weit würde er Schuldig wegbringen müssen, damit der wieder aufwachte? Ob der überhaupt wieder aufwachen würde? Seine Haut war kreideweiß. Die Haare klebten ihm schweißnass auf der Stirn, dort wo sein Stoff-Stirnband sie ihm nicht sowieso schon ins Gesicht klitschte. Sein Puls und seine Atmung waren kaum noch feststellbar und er war eiskalt. Crawford hoffte inständig, daß der Telepath keine dauerhaften Schäden davontrug oder seine Vitalfunktionen ganz wegbrachen. Er zerrte Schuldig umständlich hoch und versuchte ihn irgendwie huckepack zu nehmen, um ihn tragen zu können. Echt schlimm, wie schwer so ein lebloser Körper sein konnte, der keinerlei Eigenspannung mehr hatte und schlaff wie ein nasser Sack in seinen Armen hing. Und dabei war der Deutsche schon einer von den Gertenschlanken. „Hier! Hab eins!“, rief Omi und winkte ihn aus der dritten Parkreihe zu sich heran.   Crawford erreichte gerade das von Omi gefundene Auto, etwa 40 Meter von Ayax entfernt, da kam Schuldig das erste Mal wieder zu sich. Mit einem heißeren, kraftlosen, aber dennoch hörbar irritierten „Bombay?“ machte er auf sich aufmerksam. Crawford verdrehte den Hals, um irgendwas von ihm zu erkennen. „Schu‘, hey, du bist wieder wach?“ „Lass mich runter ...“ „Kannst du denn schon stehen?“, zweifelte Crawford, ließ den Telepathen aber doch vorsichtig von seinem Rücken rutschen. Schuldig stand etwas schwankend und zittrig, aber er hielt sich tapfer, während er sich umschaute. Das Gelände kam ihm unbekannt vor. Er entdeckte nur Crawford, den kleinen Weiß-Knirps und etwas weiter entfernt einen undefinierbaren Fellberg, den er wohl oder übel für Ayax halten musste. Überhaupt war er erstaunt, gerade keine telepathische Verbindung mehr zu Ayax zu haben. „Was ist passiert?“ „Erzähl ich dir unterwegs. Wir müssen erstmal schnellstmöglich hier weg.“ „Mit dem da!?“, wollte er wissen und deutete auf Omi. „Ja, mit dem da. Bombay hat uns geholfen. Er war der, der dich gerettet hat.“ Der Telepath gab einen geringschätzigen ‘tse‘-Laut von sich. Als ob sie bei Schwarz ihre Dinge nicht mehr selber geregelt kriegen würden und auf die Hilfe so eines Winzlings angewiesen gewesen wären. „Gut, nehmen wir ihn mit. Farfarello freut sich, wenn er den als Geisel bekommt. Dann hat er was zum Spielen“, entschied er. Dann lachte er auf, als er unvermittelt in den Lauf von Omis Pistole schaute, welcher diesen Plan logischerweise gar nicht lustig fand. „Was wird das denn jetzt? Hast du mich bloß da rausgeholt, damit du mich selber kalt machen kannst? Na los, dann tu es!“ „Nein“, meinte Omi betont ruhig, um sich seine Ernüchterung nicht allzu sehr anmerken zu lassen. War dieser Kerl denn nicht mal im Angesicht des Todes irgendwie klein zu kriegen? Omi richtete seine Pistole wieder nach oben in den Himmel. „Aber ich hoffe, wenn wir uns das nächste Mal begegnen, wirst du dich noch dran erinnern, daß ich dich habe laufen lassen, obwohl ich auch anders gekonnt hätte.“ Der Kleine wollte auf dicke Hose machen? Nicht mit ihm! Schuldig senkte seine Nase etwas und setzte einen durch und durch gehässigen Blick auf, der von Überlegenheit nur so strotzte und Omi einen Schauer den Rücken hinunter jagte. „Du glaubst, auf deine Gnade bin ich angewiesen?“ Er griff mit seinen telepathischen Fähigkeiten härter nach Omis Geist als es nötig gewesen wäre, und nötigte ihn dazu, sich die Mündung an die eigene Schläfe zu heben. Der Junge bekam riesige, schreckgeweitete Augen und seine Hände zitterten sichtlich, als er gegen das Durchbiegen seines Armes ankämpfte. Es war eine unsagbar seltsame Form von Manipulation. Es war keinerlei körperliche Gewalt im Spiel. Er hatte das Gefühl, sich immer noch völlig frei bewegen zu können. Es war eine reinweg psychologisch basierte Zwangshandlung, eine Kopfsache, die Omi dazu brachte, sich die Pistole an die Stirn zu halten. Sowas wie ein Reflex, den man einfach nicht unterbinden konnte, selbst wenn man es noch so sehr versuchte. Er war absolut machtlos dagegen. Er konnte sich gegen Schuldigs Kontrolle nicht im Geringsten zur Wehr setzen. Nur ein Zentimeter im Zeigefinger eingeknickt und er würde sich selber das Gehirn wegblasen. Der Telepath hatte es komplett in der Hand. „Schuldig!“, protestierte Crawford von der Seite. „Hör auf damit!“ Sein Kollege warf ihm nur einen kurzen Seitenblick aus dem Augenwinkel zu. Ein Zeichen, daß er Crawford gar nicht ganz ernst nahm. „Lass mir meinen Spaß!“ „Nein! Er hat dich gerettet, Herrgott nochmal!“ „Ach was!“, machte Schuldig geringschätzig. „Ohne seine Hilfe hätte diese vermaledeite AX-4 dich umgebracht!“ „Kein Grund für den Bastard, mich mit einer Pistole zu bedrohen. Ich hasse es, wenn man mir droht.“ Crawford legte ihm nachdrücklich eine Hand auf die Schulter, als könne ihn das wieder zur Vernunft bringen. „Hör jetzt auf! Du bist noch viel zu schwach, um deine telepathischen Kräfte einzusetzen! So ein dramatischer Auftritt macht wenig Eindruck, wenn du dabei wieder bewusstlos umkippst!“ Omi entfuhr ein erschrockenes Keuchen, als Schuldig ihn schlagartig losließ und er wieder Herr über seinen eigenen Körper war. „Vergiss bei unserer nächsten Begegnung nicht, daß ICH es war, der DICH hat laufen lassen, Rotzlöffel“, wollte der rothaarige Telepath noch klargestellt haben, bevor er sich abwandte und davonstiefelte. Er kam keine fünf Schritte weit, da taumelte er schon wie bei einem Schwindelanfall, und einen Moment später war er zusammengebrochen und blieb reglos liegen. Brad Crawford ließ resignierend die Schultern hängen. Na? Hatte er´s nicht gesagt? Wegen Überlastung weggeklappt. Ende Gelände. Schuldig war fix und fertig, daran änderte auch sein großes Ego nichts. Manchmal war es frustrierend, ein Hellseher zu sein, ganz genau zu wissen was passieren würde, und trotzdem auf taube Ohren zu stoßen. „Dickschädel ...“, grummelte er leise in sich hinein und ging die paar Schritte hinterher, um ihm zu helfen. „Meine Fresse!“, maulte Omi beleidigt und warf die Pistole in hohem Bogen davon. „Ihr seid Pfeifen! Alle beide!“, fuhr Crawford ihn an. „In der Knarre waren doch gar keine Patronen mehr drin!“ „Ja, ich weiß. Das hab ich in dem Moment nicht bedacht. Seine krassen Fähigkeiten haben mich gerade etwas geschockt.“ „Los, hilf mir, ihn ins Auto zu stopfen.“   Omi schaute über die Schulter nach hinten auf den Rücksitz und musterte Schuldig abschätzend. Er hatte bisher nur wenig Gelegenheit gehabt, sich den Kerl mal genauer anzusehen. Im Gefecht, wenn sie mit Knarren aufeinander ballerten, hatte er andere Sorgen. Omi kam nicht umhin, zu bemerken, daß Schuldig eigentlich ganz sympathisch aussah. Mit einer Prise Coolness, durch die langen, feuerroten Haare und das Stirnband. Rein optisch würde man erstmal gar nicht vermuten, daß er so ein hinterlistiger Krakel war. Aber nagut, Crawford musste auch gute Seiten an ihm kennen, sonst hätte er nicht so darum gekämpft, Schuldig zu retten. „Atmet er noch?“, wollte der Hellseher wissen, einerseits, weil er auf die Straße schauen musste und deshalb nicht selber nachsehen konnte, und andererseits, weil er zu gern gewusst hätte, was Omi gerade dachte. „Ja, ich glaube schon“, meinte der, wandte sich ebenfalls wieder der Frontscheibe zu und verschränkte die Arme. „Aber er ist immer noch bewusstlos.“ „Was glaubst du, was aus AX-4 geworden ist?“ „Tja ... Schwer zu sagen. Dazu müssten wir wissen, wie viele und welche ihrer Systeme wir zerstört haben. Wenn sie schnell genug einen neuen Wirt findet, den sie aussaugen kann, wird sie sich regenerieren und fröhlich weitermachen. Wenn nicht, wird ihr System endgültig zusammenbrechen und wir sind sie los. Zumindest lebt ja keiner der Wissenschaftler mehr, der sie wieder zusammenflicken könnte. Ich fürchte, da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.“ Crawford seufzte leise in sich hinein. „Kann sie Schuldig wiederfinden?“ „Wie weit reicht seine telepathische Fähigkeit denn? Über welche Entfernung kann er kommunizieren?“ Crawford hatte durchaus eine recht konkrete Vorstellung davon, wie das Talent seines Kameraden funktionierte: Schuldig konnte die Gedanken eines anderen auslesen, sobald er dessen genaue Position kannte. Also im Prinzip so weit, wie er sehen oder hören konnte. Er musste sein Opfer wenigstens kurz gesehen oder gehört haben, um auszuloten, wo es sich befand. Einmal lokalisiert, konnte der Blickkontakt dann auch wieder unterbrochen werden, ohne daß die telepathische Markierung wieder verloren ging. Wenn die Verbindung einmal stand, konnte Schuldig sich sogar ziemlich weit entfernen. Erst wenn er den telepathischen Kontakt abgebrochen hatte und wieder neu herstellen wollte, musste Schuldig wieder so nah herankommen, daß er sein Opfer neu lokalisieren konnte. Abgesehen davon konnte er mit seinem Geist wohl auch bis zu einem gewissen Grad blind in der Gegend herum suchen, in der Hoffnung, durch Zufall jemanden zu finden. Aber das war dann wirklich nur Glück, soweit Crawford wusste. „Tut das was zur Sache?“, entgegnete er nüchtern. Crawford verspürte eigentlich keine Lust, Omi allzu viel über die Fähigkeiten seines Teamkollegen zu verraten. „Schon. AX-4 hat selber keine telepathischen Fähigkeiten. Die ganze Verbindung zwischen ihr und Mastermind beruhte reinweg auf seiner Gabe. Also kann sie ihn nur in einem Umkreis wiederfinden, in dem es auch ihm selber möglich wäre, den Kontakt wiederherzustellen.“ „Okay ... Das klingt optimistisch. Aber besser wäre es trotzdem, sie aufzuspüren und endgültig aus dem Verkehr zu ziehen.“ Omi nickte zustimmend. Wahrscheinlich mussten die sich gar keine Mühe geben, AX-4 aufzuspüren. Diese Arbeit würde die Waffe ihnen sicher abnehmen. Sie würde früher oder später ganz von alleine zurückkommen, dachte er. Dann zückte er sein Handy und begann kommentarlos eine Nachricht zu schreiben. Eine Weile herrschte Schweigen, nur untermalt vom ruhigen Brummen des Automotors. „Wo hattest du eigentlich das Schießeisen her, mit dem du Ayax zur Strecke gebracht hast? Du warst doch gar nicht bewaffnet.“ „Einer der Medi Tec Wissenschaftler hat sie mir gegeben, den ich gerade noch davon abhalten konnte, AX-1 frei zu lassen. Sie wollten die ernsthaft gegen Ayax in den Kampf schicken. Die Forscher hatten ganz schön Muffensausen, angesichts dieses 4 Meter großen Viehs auf ihrem Firmengelände.“ Crawford nickte verstehend. Das wäre gründlich schiefgegangen. Zum Glück hatte Omi das verhindert. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, um nach Schuldig zu sehen. War er schon wieder blasser geworden? „Na schön ...“, begann Omi irgendwann als Erster wieder, immer noch abgelenkt vom Tippen auf dem Telefon. „Ich schätze, für heute haben wir nichts mehr miteinander zu schaffen. Kannst du mich irgendwo hier an der Seite rauslassen?“ „Mach ich.“ Crawford hielt Ausschau nach einer Parklücke oder zumindest einer Stelle, wo er kurz anhalten konnte. „Danke für deine Hilfe, ja?“ „Gleichfalls danke für deine“, erwiderte der Junge. „Hör mal, nimm es bitte nicht persönlich, wenn sich an unserem Verhältnis künftig nichts ändern wird, okay? Du arbeitest immer noch für Weiß. Und unsere Aufträge werden sich sicher irgendwann wiedermal überschneiden. Rücksicht werde ich auf dich keine nehmen, wenn wir uns wieder auf verschiedenen Seiten gegenüberstehen.“ Der Knirps sah von seinem Bildschirm hoch und feixte. „Ich wäre auch sehr enttäuscht von dir gewesen, wenn du das getan hättest, Oracle“, fand er. Mit diesen Worten hüpfte er aus dem Auto und verschwand. Statt ihm hinterher zu schauen, warf Crawford beim Weiterfahren einen Blick in den Rückspiegel, um sich erneut davon zu überzeugen, daß Schuldig wirklich da war. Er hatte ihn wieder. Omi drückte derweilen fest auf den 'senden'-Knopf und schickte seine Mitteilung ab. In dieser gab er Yoji den Auftrag, Nagi samt dem Lösch-Chip laufen zu lassen. Wenn AX-4 von Schuldig abgekoppelt und ihre Mission gelöscht wurde, war das ja nur im Interesse aller. Warum sollten sie die Gefahr auf sich nehmen, Geiseln gefangen zu halten und sich um den Chip zu schlagen, wenn sie doch alle das gleiche Ziel verfolgten? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)