AX-4 von Futuhiro ================================================================================ Kapitel 10: ------------ 10 „Kannst du nicht etwas langsamer gehen?“ „Jammer nicht und komm!“, befahl Ayax und zerrte Schuldig unbarmherzig am Handgelenk hinter sich her. Schuldig gab einen mürrischen Protestlaut von sich. Ihr Griff tat weh. Und sie hatte eine Kraft, die man ihr aufgrund ihrer doch recht zierlichen Mädchenerscheinung gar nicht zugetraut hätte. Aber sie war eben eine Maschine. Natürlich hatte sie mehr Kraft als ein Mensch mit seinen paar Muskeln. Leider war sie auch eine Spur skrupelloser als ein Mensch. Über ihre mentale Verbindung wusste sie ganz genau, daß er kurz vor dem Zusammenbrechen war. Es war ja nicht so, als ob er diesbezüglich irgendwie ein Weich-Ei oder gar ein Simulant gewesen wäre. Trotzdem trieb sie ihn gnadenlos in dem Tempo weiter, das ihr gerade genehm war. Schuldig ärgerte sich, daß Crawfords Rettungsversuch gescheitert war. Natürlich machte er Crawford keine Vorwürfe, versagt zu haben. Im Gegenteil, er war mehr als dankbar, daß Crawford überhaupt gekommen war, um ihn zu befreien. Das war innerhalb ihrer Truppe so nicht vereinbart und sagte wohl mehr als tausend Worte, wie sie beide sich wirklich gegenüberstanden. Aber er grämte sich maßlos, daß er Crawford nicht hatte helfen können. Schuldig hätte schon gern zum Gelingen der Rettung auch selbst etwas beigetragen. Es war irgendwie unfair, daß Ayax ihn derart handlungsunfähig machen konnte. Er hatte ja gar keine Chance, für sein Heil zu kämpfen. „Wo sind wir hier eigentlich?“, versuchte Schuldig ein Gespräch am Laufen zu halten, unter anderem, um sich selber von seinem schwächelnden Zustand abzulenken. „Wieso stellst du falsche Fragen?“, gab Ayax emotionslos zurück. „Inwiefern?“ „Du weißt, wo wir sind.“ „Ich weiß nicht, wo wir sind!“, verteidigte sich der Telepath empört. „Und du willst es auch gar nicht wissen. Dich interessiert eigentlich, was wir hier wollen. Ihr Menschen seid echt komisch. Fragt etwas anderes als ihr wissen wollt.“ „Und du Maschine hast keine Ahnung von der menschlichen Denkweise! Ein Mensch hätte sofort verstanden, was sich hinter meiner Frage verbirgt“, maulte Schuldig und stieg über ein paar blutüberströmte Leichen, die ihnen gerade im Weg herumlagen. Himmel, was war hier bloß los gewesen? Man konnte ja fast vermuten, Farfarello sei hier zugange gewesen, so wie es hier aussah. Ein Knurren und ein Klackern von krallenbewährten Tatzen auf hartem Boden ließ ihn hochschrecken. Ayax gab den schmerzhaften Klammergriff um sein Handgelenk endlich frei und blieb ebenfalls stehen. Ein kehliges Knurren kündigte schon vorher an, was da gleich um die Ecke kommen würde. „Ach du Schande“, hauchte Schuldig leise, als der riesige Rottweiler am anderen Ende des Gangs auftauchte. Reflexartig ging er seine Optionen durch. Er war definitiv zu geschwächt, um sich mit so einem Tier anzulegen, wenn er es nicht gerade bequem und in aller Ruhe über den Haufen schießen konnte. Aber bewaffnet war er ja inzwischen auch nicht mehr. Weglaufen? Auch dafür war er nicht in einem erfolgversprechenden Zustand. Hoffentlich würde AX-4 ihn schützen. Bestimmt würde sie das. Sie brauchte ihn doch noch. Der Hund blieb kurz stehen, wie um die Lage einzuschätzen, und tapste dann ohne Eile herbei. Immer näher. „Äääh ... Ayax!?“ „Keine Sorge, sie tut dir nichts.“ „Sie???“ „AX-3“, präzisierte sie. „Wegen ihr sind wir hier.“ „AX-3? Dieses Viech ist genau sowas wie du?“, wollte Schuldig überrascht wissen. „Ist das dein Vorgänger-Modell, oder was?“ „Nein, meine Schwester-Version. Wir wurden parallel entwickelt.“ „Aha!?“, machte der Telepath nur, nicht so recht wissend, was er dazu sagen sollte. Und der Rottweiler kam immer noch Schritt für Schritt näher. „Es gibt vier von uns. Darum heiße ich AX-4. Ich bin die vierte“, klärte Ayax ihn weiter auf, weil sie wusste, daß es ihn interessierte, auch wenn er es gerade nicht in Wort zu fassen vermochte. „Hat sie dieses Massaker hier angerichtet? Diese Forschungsstation wurde doch überfallen, wenn ich mich so umsehe. Hier scheint keiner mehr zu leben.“ „Weiß ich nicht. Aber das wird sie uns sicher gleich verraten. Jedenfalls muss irgendwer sie rausgelassen haben.“ „Und warum ist sie dann noch hier?“ „Ihre Ladestation ist hier. Ihr würde draußen die Energie ausgehen. Ohne einen Wirt kann sie die Einrichtung nicht verlassen. ... Nenne es meinetwegen ‘Besitzer‘, wenn dir das besser gefällt“, fügte sie noch an, als sie bei dieser Wortwahl Schuldigs akuten Unmut aufkeimen spürte. „Als ob du mich noch als Besitzer ansehen würdest ...“ Schuldig gab seiner Schwäche endgültig nach und ließ sich zu Boden plumpsen. Er musste sich setzen. Er war am Ende. Obwohl er sich seit dem letzten Energieraub schon wieder etwas hatte erholen können, war er noch weit davon entfernt, sich fit zu fühlen. Es war ihm egal, daß er sich dabei mehr oder weniger in eine Blutschleifspur setzte. Sein schneeweißer Anzug war sowieso nicht mehr zu retten. Einige Meter vor ihnen richtete sich der riesige Rottweiler plötzlich in einen Zweibeiner-Stand auf und wurde zu einem Menschen. Die Silhouette verschwamm als fließender Übergang vom Tier zum Menschen. Wenngleich Schuldig solche Verwandlungen schon an Ayax erlebt hatte, fand er sie doch immer noch gruselig-faszinierend. Ihre menschliche Erscheinung war Ayax gar nicht ganz unähnlich. Auch sie hatte dieses ebenmäßige Puppengesicht ohne individuelle Gesichtszüge und einen jugendlich-reifen Mädchenkörper. Allerdings waren ihre Haare im Gegensatz zu denen von Ayax nur knapp schulterlang, wuschelig und dunkelgrün. Schuldig überlegte, warum man diesen Maschinen unbedingt Mädchen-Körper hatte geben müssen. Was hatten die Entwickler damit bezweckt? Tarnung? Sollten sie auf offener Straße nicht auffallen? Sollten die AX-Modelle harmlos aussehen? Sollten ihre Opfer sie unterschätzen oder sich verführen lassen? Sollten ihre Wirte ihnen vertrauen und mit ihnen sympathisieren? Wer hatten ursprünglich überhaupt die Wirte für diese Dinger sein sollen? Angeblich waren die ja von normalsterblichen Menschen ohne mentale Fähigkeiten gar nicht einsetzbar. Man würde doch kaum einen riesen Haufen Arbeit und Forschungsgelder in die Entwicklung solcher Nanobot-Waffen stecken, wenn man hernach niemanden hatte, der sie benutzen konnte. Das Zusammentreffen von Ayax und ihrer ‘Schwester‘ AX-3 verlief auffallend emotionslos. Die zwei waren sich noch nie begegnet, soweit Schuldig wusste. Aber die beiden verhielten sich nicht wie zwei Menschen, die sich zum ersten Mal sahen und versuchen mussten, sich gegenseitig kennen zu lernen. Und schon gar nicht wie Geschwister, die sich nach langer, verzweifelter Suche endlich gefunden hatten. Sie standen sich einfach nur stumm und reglos gegenüber.     Nagi saß mit verschränkten Armen herum und wartete. Um ehrlich zu sein, langweilte er sich sogar. Mit der Kerze machen konnte er vorläufig nichts mehr. Er hatte gerade nicht die nötige Ausstattung, um den Chip heraus zu holen oder anderweitig zu analysieren. Weg kam er hier ebenfalls nicht, also brachte es auch nichts, die Kerze heimlich einzustecken. Das Internet war abgeschalten, also konnte er nichtmal irgendwem eine Hilfe-E-mail schicken, solange er unbeobachtet war. Aus Mangel an besseren Beschäftigungen begann er die Daten durchzugrasen, die auf dem PC gespeichert waren. Wann bekam man schon mal die Chance, den Computer von Weiß zu filzen? Hätte ihn ja sehr gewundert, wenn er hier nichts Interessantes fand. Und selber Schuld, wenn man ihn mit dem Computer allein ließ. Er wurde auch schnell fündig. Passwörter, Lagepläne, elektronische Akten, Missionen ... Dieser Rechner hier war ja förmlich ein Geschenk! Nagi durchwühlte die Schubladen des Schreibtisches, fand tatsächlich einen alten USB-Stick darin und stöpselte ihn an, um sich einige dieser Dokumente zu ziehen. Das Fehlen eines Sticks würde hoffentlich länger unbemerkt bleiben als beispielsweise das Fehlen dieser mischuggenen Kerze. Yoji ließ sich Zeit. Als Nagi sich schon längst alles gesichert hatte, was er toll fand, war von dem Playboy immer noch keine Spur zu sehen. Was gab es also noch zu tun? Einfach mal rotzdreist das Laufwerk C formatieren und damit den gesamten PC schrotten? Nein, das war vielleicht zu auffällig. Seine Kidnapper würden ihn totschlagen, wenn sie zurückkamen und das sahen. Andererseits sagte ja keiner, daß das sofort geschehen musste. Er hatte vorhin ein spaßiges Tool von Omi entdeckt, mit dem man programmieren konnte. Der junge Hacker dachte mit einem gehässigen Lächeln über eine stille Countdown-Sequenz nach, die die Festplatte erst in ein paar Stunden automatisch zerstören würde. Bis dahin hoffte er ja wohl von hier wieder weg zu sein. Enthusiastisch machte er sich ans Werk.     „Takatori ...“, murmelte Brad Crawford unglücklich, als er auf sein dudelndes Handy schaute. Der fehlte ihm jetzt gerade noch. Trotzdem ging er ran. Mobiltelefone waren echt eine blöde Erfindung. Musste man denn unbedingt ständig für jeden erreichbar sein? „Oracle, du kommst sofort in mein Büro!“, plaffte der Boss ihn an, noch bevor Crawford auch nur zum Grüßen kam. „Jetzt?“ „Auf der Stelle!“ „Ist was passiert? Das ist gerade sehr ungünstig, Chef.“ „Ich sagte: sofort! Hier rennen überall dubiose, bewaffnete Kerle vor meinem Gebäude rum. Das ist eindeutig eine Bedrohung. Du wirst herkommen und mir die Kerle vom Hals halten, wenn es sein muss.“ „Sie wollen von mir Personenschutz?“ „Personenschutz?“, mischte sich Omi fassungslos von der Seite ein. „Hat der Kerl nicht eine komplette Privatarmee für sich alleine?“ Crawford wedelte unterbrechend mit der Hand, damit der Knirps still war. Aber es war zu spät. Takatori hatte ihn durch das Telefon hindurch gehört. „War das Bombay?“, schrie er so laut ins Telefon, daß Crawford den Hörer etwas weghalten musste, damit ihm nicht das Trommelfell platzte. „Es stimmt also, was meine Leute mir zugetragen haben!? Du machst mit Weiß gemeinsame Sache!“ „Das ist anders, als Sie denken ...“ „Oh, das ist GENAU so wie ich denke! Du verlierst rein zufällig meine Waffe, bevor ich ihre Personalisierung ändere, und gerade bekomme ich einen erpresserischen Anruf von einem Trupp schmieriger Auftragskiller, die Berserker aus dem Verkehr gezogen haben! Auf deine Veranlassung hin!“ „Auf meine ...???“ „Du hast die doch mit Lösegeldforderungen zu mir geschickt, oder etwa nicht? Nebenbei bringt dein Sohn die Kerze aus Hoshites Grab, die er mir beschaffen sollte, zu Weiß. Und jetzt auch noch deine Befehlsverweigerung, wenn ich dir sage, daß du herkommen und dich um die Kerle vor meinem Gebäude kümmern sollst! Es ist eindeutig: du bist ein Verräter, Oracle! Und ich schwöre dir, du wirst die Nacht nicht überleben! Ich hetze dir alle Truppen auf den Hals, die ich habe!“ „Hetzen Sie Ihre dämlichen Truppen lieber auf die Pfeifen vor Ihrem Büro, Sie biologische Bremsspur!“, schrie Crawford ins Telefon, um Takatori zu unterbrechen und selbst mal zu Wort zu kommen. „Ich könnte Ihnen das alles erklären, wenn Sie mich endlich mal lassen würden!“ „Du bist ein toter Mann, Oracle. Mein Wort darauf“, gab Takatori wütend zurück und beendete das Gespräch, ohne auf weitere Einwände zu warten. Crawford hörte sich das Tuten in der Leitung einige Sekunden lang an, bis ihm das Handy vor Kraftlosigkeit aus der Hand rutschte und zu Boden klapperte. Als wären drei gefangene Teamkollegen noch nicht Problem genug, hatte sein Boss jetzt also auch noch beschlossen, ihn als Verräter zu jagen und ihm eine ganze, kleine Armee hinterher zu schicken. Diese Tatsache nahm Crawford völlig reglos auf. Das war jetzt endgültig zu groß für seine seelische Belastbarkeit. Er nahm das nur noch als nackte Information hin, verarbeitete es aber auf der psychischen Ebene nicht mehr. Sein Kopf war völlig leer und emotionslos. Nur sein Körper machte schlapp. Er fühlte sich plötzlich so entsetzlich zittrig auf den Beinen, daß er der Erdanziehung nachgeben musste. Ein Zusammenbruch. Er rutschte an der Wand herunter bis er auf dem Fußboden zu sitzen kam, schlang die Arme um seine Schienbeine und verbarg das Gesicht auf seinen Knien. Das war´s. Game over. Er hatte verspielt. Mit etwas gemischten Gefühlen kauerte Omi sich vor ihm ebenfalls in die Hocke und musterte die resignierte Gestalt. Er hatte den Anführer von Schwarz noch nie so schwach und menschlich erlebt. Der war doch nicht so abgebrüht wie er immer tat. In gewisser Weise beruhigte das Omi sogar ein wenig. „Hey. Es wird sich alles klären, okay? Gib deinem Boss einfach etwas Zeit, sich wieder zu beruhigen, und dann sag ihm nochmal in Ruhe, was passiert ist. Das ist hinzukriegen, überhaupt kein Drama.“ Crawford reagierte nicht. „Vielleicht solltest du diese Rettungsaktion hier erstmal abbrechen und dich in Sicherheit bringen“, fuhr Omi vorsichtig fort. „Wenigstens solange, bis ...“ „Nein“, legte der Hellseher sofort fest und hob den Kopf endlich wieder. „Ich werde Schuldig zurückholen! Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Davon wird mich auch Takatori nicht abhalten!“ Der Junge nickte leicht. War das stur? War das loyal? War das Wahnsinn? Keine Ahnung. Aber wenn Takatori ihn daran nicht hindern konnte, dann konnte Omi das erst recht nicht. Also versuchte er gar nicht erst, Crawford umzustimmen.     Schuldig saß schwer atmend wie ein Marathonläufer auf dem Fußboden, weil er vor lauter Schwäche nicht mehr stehen konnte, und schaute sich besorgt in der Gegend um. Er hätte zu gern gewusst, was mit AX-3 und AX-4 gerade passierte. Der Datenaustausch, der unbestritten zwischen den beiden stattfand, geschah stumm. Aber selbst wenn er Ayax‘ „Gedanken“ lesen konnte, verstand er nichts davon. Sie kommunizierten, wie für technische Geräte üblich, mit Matrizen aus Nullen und Einsen. Das einzige, was er erahnen konnte, war der Eindruck, daß die zwei sich synchronisierten. Und das machte ihn ungewollt nervös. Es musste ja schließlich einen Sinn haben, daß sie das taten. Es steckte sicher mehr dahinter als nur das Bestreben, auf dem gleichen Wissensstand zu sein. Ob die beiden wohl gerade noch auf ihn achteten? Konnte er sich einen Fluchtversuch leisten, in der Hoffnung, daß der Datenaustausch zwischen ihnen gerade sämtliche Kapazitäten verbrauchte und alle anderen Systeme offline legte? Aber wie weit würde er schon kommen? Mit Entsetzen schaute er zu, wie die beiden Mädchen sich wie auf ein stilles Kommando hin gleichzeitig in zwei unförmige, farblose, surreal lebendige Klumpen verwandelten, aus denen sich tentakelartige Auswüchse herausstreckten. Wie überdimensionale Amöben, die sich in alle Richtungen vortasten konnten. Die beiden fielen übereinander her und verschlangen sich ineinander, als würden die kämpfen. Nein, nicht kämpfen, stellte Schuldig fassungslos fest. Sie vermischten sich! Sie wurden eins! Das Spektakel dauerte nur Sekunden. Die fusionierte Masse aus Nanobots dehnte sich in die Höhe und nahm wieder eine humanoide Gestalt an. Vor ihm stand letztlich eine Frau mit den halblangen, dunkelgrünen Strubbelhaaren von AX-3, den rubinroten Augen von AX-4, und splitterfasernacktem Körper. Schuldig hatte das Gefühl, die Schwerkraft hätte sich vervielfacht und würde ihn dreimal so stark Richtung Boden ziehen wie sonst. Er war so schwach, daß er nicht mal mehr aufrecht sitzen konnte, sondern endgültig in sich zusammenklappte und liegen blieb. Selbst das Atmen kostete ihn unglaublich viel Kraft. Diese Fusion hatte wohl eine Menge Energie verbraucht, die Ayax natürlich von ihm abgezogen hatte. Wo hätte sie sie sonst hernehmen sollen? „Du hättest dir ... wenigstens was anziehen können ...“, hauchte Schuldig noch kraftlos, bevor ihm die Sinne schwanden und er in der Dunkelheit versank. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)